Wer ist hier eigentlich autistisch? - Brit Wilczek - E-Book

Wer ist hier eigentlich autistisch? E-Book

Brit Wilczek

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Beschreibung

Wer ist hier eigentlich autistisch? - Die Antwort auf diese provokante Frage steht am Ende einer Entdeckungsreise in Welten der Wahrnehmung, des Denkens und Erlebens von Menschen aus dem Autismus-Spektrum und auch sogenannter "neuro-typischer", also "nicht-autistischer" Menschen. Anhand anschaulicher Modelle werden Grundlagen menschlicher Wahrnehmung und Entwicklung verständlich dargestellt. Auf dieser Basis können Besonderheiten im Erleben, Denken und Verhalten von Menschen aus dem Autismus-Spektrum nachvollzogen werden. Leser, die selbst vom Autismus betroffen sind, bekommen zugleich neue Zugänge angeboten, um das ihnen oft seltsam anmutende Denken und Handeln von "Nicht-Autisten" besser zu verstehen. Sie können sich damit auf Expedition begeben und die Welt ihrer Mitmenschen in neuer Weise erkunden, ohne sich selbst dabei zu verlieren. So baut dieses Buch Brücken zwischen Erlebenswelten sogenannter "nicht-autistischer" und sogenannter "autistischer" Menschen.

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Inhalt

Cover

Titelei

Vorwort

Zu den Gründen und Hintergründen dieses Buches

Einige Anmerkungen zur sprachlichen Gestaltung

I Was heißt das eigentlich: »Autismus«?

Grundlagen zum Verständnis des (klinischen) Begriffs

1 Autismus – Ein Begriff und seine Geschichte

1.1 Entstehung und Bedeutung des Begriffs »Autismus«

1.2 »Autismus« als klinisch-diagnostischer Begriff

1.3 Der Begriff des »Autismus-Spektrums«

1.4 »Autismus« als Sammelbegriff für die Beschreibung eines Phänomens

Autismus als Sammelbegriff für ein Phänomen mit vielen Gesichtern

2 Autismus als klinisches Bild – einige Grundannahmen vorweg

3 Neurobiologische und entwicklungspsychologische Aspekte zum Verständnis autistischen Erlebens und Verhaltens

3.1 Die Entwicklung des zentralen Nervensystems – Grundlagen

Die Funktion der Nervenzellen

3.2 Was ist »anders« bei der neuronalen Entwicklung des autistischen Kindes?

Autistische Reizverarbeitung und ihr Einfluss auf die frühe Entwicklung

4 Wie autistische Kinder das Chaos bewältigen

Das Streben nach Weiterentwicklung und die Herausbildung von besonderen Interessen und Fähigkeiten

5 Die Folgen autistischer Wahrnehmungsverarbeitung für die sozio-emotionale Entwicklung

5.1 Die Bedeutung des »ersten Augenblicks«

5.2 Soziales Wechselspiel und die Entwicklung des »Sozialen Autopiloten«

Die Funktionen des »Sozialen Autopiloten«

5.3 Die frühe Entwicklung beim autistischen Kind – wie Besonderheiten bei der Reizverarbeitung die Ausbildung eines Autopiloten verhindern

5.4 Kontakt ist Nahrung

Bewältigungsstrategien im Umgang mit Menschen

5.5 Einfache und komplexe Kontaktformen – Eins-zu-eins-Kontakt vs. Gruppensituation

6 Auswirkungen einer autistischen Entwicklung auf das soziale und psychische Erleben

6.1 Das »Zwei-Welten-Modell« – das Dilemma verstehen und Chancen zur Lösung erkennen

Die Unterscheidung zwischen den Welten und die Abgrenzung zwischen »Ich« und »Du«

Die spontane Entstehung von Schnittmengen

Schnittmenge der Gemeinsamkeiten

Momente der Unterschiedlichkeit und der Notwendigkeit zur Entscheidung zwischen den Welten

Der Einfluss des Sozialen Autopiloten und sein evolutions-biologischer Hintergrund

Die Bedeutung von Beziehungen innerhalb einer Gruppe

Erhalt der Gruppenzugehörigkeit

Wenn spontan keine Schnittmengen zustande kommen

Pest oder Cholera? Oder ewig dazwischen?

6.2 Die Erkenntnis der Unterschiedlichkeit: Chancen und Wege aus dem Dilemma

Die drei Grundaspekte zur Lösung des Dilemmas

Die Chance zum Erleben authentischer Gemeinsamkeiten

7 Was es bedeutet, ein autistisches Kind zu haben – Auswirkungen auf Angehörige und das Familiensystem

7.1 Die frühe Situation aus dem Blickwinkel der Angehörigen

Das gestresste, abwehrende Kind

Das Kind im »autistischen« Rückzug

7.2 Sorge, Verunsicherung, Kränkung – und die Folgen

7.3 Die Situation der Geschwister

Geschwisterbeziehungen

Bewältigungsstrategien von Geschwistern

7.4 Das »Anders-Sein« des Familiensystems

Sonderfall hochfunktionaler Autismus: hohe Kompetenzen zur Anpassung und späte Erkenntnis von Besonderheiten

II Was bedeutet »autistisch sein«? Autistisches Erleben und Vielfalt der Seins-Weisen

8 Besonderheiten in der Wahrnehmungsverarbeitung

8.1 Grundlegende Richtungen der Besonderheiten: zu viele oder zu wenige Reize

8.2 Besonderheiten in der Reizverarbeitung auf verschiedenen Sinneskanälen

8.3 Auswirkungen von Besonderheiten in der Reizverarbeitung auf das Erleben

Probleme bei der Verarbeitung und Integration von Sinneseindrücken

8.4 Detailwahrnehmung und Gestaltbildung

Schwerpunkt: Detailwahrnehmung

Große Fülle von Assoziationen und »Innerer Overload«

9 Besonderheiten bei der Selbstwahrnehmung und beim Körperbild – auf Motorik und Handlungssteuerung

9.1 Reizverarbeitung und Körperbild

9.2 Automatisierung motorischer Abläufe – bewusste gegenüber unbewusster Koordination

9.3 Handlungsplanung und Handlungssteuerung

Umsetzung geplanter Handlungen und Handlungssequenzen

9.4 Stereotypien, »Ticks« und Tics

Komorbidität und fließende Übergänge

9.5 Motorische Unruhe

10 Besonderheiten im Denken

10.1 Aufmerksamkeit und Konzentration

Erfahrungen und Vorstellungsbilder aus der neurotypischen Welt

Folgen extremer Aufmerksamkeitsfokussierung

10.2 Die Bildung von Abstraktionen gegenüber »konkretistischem« Denken

Auswirkungen einer konkreten und detailbetonten Denkweise

Bewältigungsstrategien für Detailwahrnehmung und Probleme bei Abstraktion und Gestaltbildung

Anerkennung der hohen Kompensationsleistung

10.3 Perfektionismus und digitales Denken, Logik und Eindeutigkeit

Auswirkungen von digitalem Denken und Perfektionismus im Erleben

10.4 Assoziatives Denken und Kreativität

Die hohe Assoziationsdichte und ihre Auswirkungen aufs Erleben

Assoziation und Kommunikation

11 Emotionen – Wahrnehmung, Deutung, Verarbeitung und Ausdruck

11.1 Das Drei-Ebenen-Modell

11.2 Die »seismographische« Ebene: das feine Gespür für Spannung und Entspannung und die unmittelbare Reaktion

Die seismographische Empfindsamkeit »autistischer« Menschen

11.3 Automatische Ausdifferenzierung von Stimmungen und Emotionen

Besonderheiten im Erleben und in der Entwicklung des Menschen mit Autismus

11.4 Die »Dritte Ebene« der bewussten Beobachtung und Reflexion

Folgen bewusster Beobachtung, Reflexion und Verhaltensweisen

Auswirkungen der unterschiedlichen Verarbeitung sozio-emotionaler Wahrnehmungen auf das Erleben und Verhalten

11.5 Differenzierung und Deutung eigener Emotionen

11.6 Deutung des emotionalen Ausdrucks bei anderen

11.7 Empathie und »Theory of Mind (ToM)«

Keine spontane Empathie – kein Mitgefühl?

Die Schwierigkeit zu »trösten«

Mit-Leiden und Hilfsbereitschaft

Empathie und Mitgefühl

11.8 Hinweise zu emotionalen Aspekten von Spezialinteressen

12 Ausdruck, Kommunikation und Sprache

12.1 Nonverbaler Selbstausdruck

Besonderheiten im nonverbalen Selbstausdruck – und die Folgen

Ein Mangel an Wahrnehmungs- und Deutungsfähigkeit für soziale Signale – und die Folgen

12.2 Was verstehen wir unter Kommunikation? – Unterschiedliche Sichtweisen hinsichtlich Funktionen, Sinnhaftigkeit und Gestaltung

Das Kommunikationsquadrat nach Friedemann Schulz von Thun

Sinn-volle und »Sinn-freie« Kommunikation – und Erkenntnisse über den Smalltalk

Sinn und Gestaltung von Smalltalk

Smalltalk aus der Sicht des Menschen mit Autismus

12.3 Die vier Aspekte der Kommunikation aus verschiedenen Blickwinkeln

Der Sachinhalt als zentraler und eigentlicher Sinn von Kommunikation?

Beziehungsbotschaften

Selbstkundgabe

Appell

12.4 Sprachentwicklung, Sprachverständnis und Sprachgebrauch

Bemerkungen zur Sprachentwicklung

Übersetzungsarbeit vom jeweils ganz eigenen Denken in verbale Sprache

Überblick: Besonderheiten beim Sprachverständnis und beim verbalen Ausdruck

13 Das Bedürfnis nach Kontakt – Aufbau und Gestaltung von Beziehungen

13.1 Das existenzielle Bedürfnis nach Kontakt und Zugehörigkeit

Ein Blick zurück – Exkurs in die Evolutionsbiologie

Psychischer Schmerz gleicht körperlichem Schmerz

Die prägende oder gar traumatische Wirkung von Kontaktabbrüchen und Gruppenausschluss

Was, wenn der soziale Autopilot fehlt?

13.2 Das Ideal vom Kern-Kontakt gegenüber einem peripheren Kontakt und Smalltalk

Peripherer Kontakt und Smalltalk

13.3 Der Grundkonflikt: Gefangen zwischen den Welten

Die »inneren Alarmanlagen« gegen Kontaktverlust und Selbstverlust

Die Lösung bzw. der Weg aus dem Dilemma

Zusammenfassung

14 Identität

14.1 Überlegungen zum Begriff der Identität

Die Unterscheidung zwischen »Ich« und »Du«

Konkrete Folgen im Erleben und Verhalten

14.2 Das Erleben grundlegender Unterschiedlichkeit – und die Auswirkungen auf die Identitätsbildung

Identifikation mit anderen auf dem Autismus-Spektrum

14.3 Spannungsfelder zwischen verschiedenen Entwicklungsbereichen

14.4 Autonomieentwicklung

14.5 Sinn, Würde und Fremdbestimmung

Was macht Sinn?

»Was ist meine Bestimmung?«

Würde

Fremdbestimmung

15 Krise und Trauma – Momente von Kontrollverlust und Haltlosigkeit

15.1 Begriffsklärung: »Krise«, »Katastrophe«, »Trauma«

Krise oder Katastrophe

Trauma

15.2 Entwicklungspsychologische Betrachtungen zum Konzept »Krise«

Unterstützende und erschwerende Bedingungen

15.3 Die besondere Situation bei Menschen auf dem Autismus-Spektrum

Die Folgen von Überforderung

15.4 »Trauma« – Was verstehen wir darunter im klinischen Sinne?

Folgen: »Posttraumatische Belastungsstörung«

15.5 Traumatisches Erleben vor dem Hintergrund des Autismus

Auf der Ebene der Wahrnehmungsverarbeitung

Auf der Ebene der sozialen Interaktion

Erhöhte Gefahr, tatsächlich Opfer von Mobbing und Übergriffen zu werden

16 Besonderheiten im Bereich der Grundbedürfnisse – Schlaf, Ernährung, Sexualität

16.1 Besonderheiten beim Schlafbedürfnis und Schlafverhalten

Besonderheiten beim Schlafbedürfnis

Besonderheiten im Schlaf-Wach-Rhythmus

16.2 Ernährung – Besonderheiten im Essverhalten

16.3 Besonderheiten hinsichtlich der Sexualität und der Geschlechtsidentität

Besonderheiten hinsichtlich sexueller Bedürfnisse

Besonderheiten hinsichtlich der Geschlechtsidentität

Zusammenfassung zu Teil II

III Wer ist hier eigentlich autistisch? – Und was ist eigentlich menschlich?

Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Brücken zum (gegenseitigen) Verständnis

Über spontane »Wiedererkennungseffekte« und das Erleben von Befremden

17 Gemeinsamkeiten der Menschen und warum wir uns bei aller Unterschiedlichkeit ineinander erkennen

17.1 »Das kenn ich von mir auch!« – Momente des Wiedererkennens

Das Problem von Verallgemeinerungen

Wiedererkennungsmomente als Initialzündung für Interesse und Brückenschläge

17.2 Menschliche (Grund-)‌Bedürfnisse und Strebungen

Das Bedürfnis nach Sicherheit

Das Bedürfnis nach Weiterentwicklung und Wachstum

Das Streben nach Autonomie

Kreativität und Gestaltungswille

Der Wunsch, zu teilen, zu helfen und anderen Gutes zu tun

Das Streben nach Vollkommenheit

Das Bedürfnis nach Kontakt

Das Bedürfnis nach Zugehörigkeit

Das Bedürfnis nach Würde

Das Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung

Das Bedürfnis, einfach sein zu dürfen, ohne Erwartung, Ziel und Absicht

17.3 Menschliche Bewältigungsstrategien

Klarheit, Struktur und Ordnung

Logik

Wissen zur Erlangung von Kontrolle und Sicherheit

Die Fähigkeit zur Bewusstheit, zur Reflexion und zur Bildung von Vorstellungen

Wiederholungen, Routinen und Rituale für innere und äußere Sicherheit

Aufmerksamkeitsfokussierung und Trance

»Andocken« an andere Menschen

18 Die Erkenntnis der Unterschiedlichkeit – Erleben und Umgang

18.1 »Das kann nicht sein!« – Über die Schwierigkeit, sich Unterschiedlichkeiten vorzustellen

18.2 Unterschiedlichkeiten – ein Überblick

Wahrnehmung und Wahrnehmungsverarbeitung

Selbststeuerung und automatisierte Handlung

Denken und Lernen

Gefühle

Kontaktbedürfnisse und -vorstellungen

18.3 Der Moment des Befremdens als Gefahr und als Chance

Reaktionen von Menschen mit Sozialen Autopiloten

Reaktionen auf Seiten des Menschen auf dem Autismus-Spektrum

19 Wer ist hier eigentlich autistisch‍(er)?

19.1 Warum neurotypische Menschen oft so starr an (Denk-)‌Gewohnheiten und (sozialen) Ritualen festhalten

Loslassen und Umdenken

Bedingungen fürs »Umdenken« und das Zulassen neuer Perspektiven

Metaebene nur, wenn's nicht anders geht?

Wohl und Wehe des »Sozialen Autopiloten«

Die Chance der Metaperspektive

19.2 Warum Menschen auf dem Autismus-Spektrum bei genauem Hinsehen meist offener und wertfreier sind

Weniger Sicherheit, mehr Herausforderungen und Krisenerfahrungen

Das frühe Erleben von Unterschiedlichkeit

Metaebene statt Autopilot

Präsenz – der Modus des »Einfach Seins« im Kontakt

Zusammenfassung: Warum sind Menschen mit Autismus im Kontakt mit ihren Mitmenschen oft offener und wertfreier?

20 Bewusstheit und Präsenz – Chancen für alle

20.1 Die »Dritte Ebene« – Bewusstheit und Reflexion

20.2 Präsenz

Der Modus des »Einfach Seins« als menschliche Grunderfahrung – und als Grunderfahrung von Menschlichkeit

20.3 Und schließlich: Die Entdeckung der Gemeinsamkeit in der Vielfalt

IV

Schlusswort

Literatur

Die Autorin

Dipl.-Psych. Brit Wilczek ist psychologische Psychotherapeutin. Seit 1989 arbeitet sie mit Menschen im Autismus-Spektrum, seit 2009 in eigener Praxis. Dort bietet sie Psychotherapie für Erwachsene im Autismus-Spektrum an, berät Angehörige und Bezugspersonen. Seit 1997 teilt sie ihre Erfahrungen mit Fachkräften der Medizin, Psychologie und Pädagogik im Rahmen von Fortbildung und Supervision.

Brit Wilczek

Wer ist hier eigentlich autistisch?

Ein Perspektivwechsel

2., aktualisierte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Ich widme dieses Buch meinem Vater.

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1. Auflage 2023

Alle Rechte vorbehalten© W. Kohlhammer GmbH, StuttgartGesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:ISBN 978-3-17-044076-0

E-Book-Formate:pdf: ISBN 978-3-17-044077-7epub: ISBN 978-3-17-044078-4

Vorwort

Zu den Gründen und Hintergründen dieses Buches

Es ist nun zehn Jahre her, dass ich mich daran gemacht habe, dieses Buch zu schreiben. Dies geschah vor allem aus dem Wunsch heraus, Erfahrungen und Erkenntnisse mit allen denjenigen zu teilen, die sich aus unterschiedlichen Gründen und Situationen heraus mit dem Thema Autismus beschäftigen. Auch war von verschiedenen Seiten die Bitte an mich herangetragen worden, doch etwas zu verfassen, das wesentliche Grundlagen und Erkenntnisse nachvollziehbar darstellt, so dass sie nachgelesen und zur eigenen näheren Beschäftigung mit verschiedenen Aspekten der Thematik genutzt werden könnten.

In den letzten Jahren sind viele Bücher erschienen, die sich in unterschiedlichster Weise mit dem Thema »Autismus« oder speziell mit dem Asperger-Syndrom befassen. Fachärzte und Forscher, Betroffene und Angehörige legen ihre Sichtweisen und ihre Erfahrungen dar. Manche tun dies aufgrund sehr detaillierter wissenschaftlicher Studien und in entsprechend fachlicher Ausdrucksweise, manche aus ihrer eigenen menschlichen Erfahrung heraus und in einer Sprache, die oft leichter zugänglich ist. Manchen gelingt eine Kombination aus beidem.

Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch, ein »wissenschaftliches Werk« zu sein, auch wenn es stets bemüht ist, für das Thema relevante wissenschaftliche Erkenntnisse oder Thesen zu berücksichtigen und Bezüge herzustellen. Vielmehr ist es ein Versuch, zumindest einen Teil der Erfahrungen zusammenzufassen, die Kinder, Jugendliche und Erwachsene aus dem gesamten Autismus-Spektrum mir während der vergangenen drei Jahrzehnte ermöglicht und mit mir geteilt haben. Im Laufe der Zeit habe ich daraus Erkenntnisse, Bilder und Erklärungsmodelle destilliert, die sich dann wiederum für sie, für ihre Angehörigen und für Menschen, die sie unterstützen, als hilfreich, klärend und weiterführend bewährt haben. Dahinter steht der Wunsch, dass dieses Buch allen Beteiligten dabei helfen möge, sich selbst und einander besser zu verstehen.

Auch möchte ich »neurotypische« (das heißt »nicht-autistische«) Leser einladen, sich mit mir auf eine Reise zu begeben. Dabei haben sie die Chance, einen Einblick in autistische Seins- und Erlebenswelten sowie eine Vorstellung davon zu gewinnen, was »Autismus« tatsächlich für diejenigen bedeutet, die davon betroffen sind. Sie stellen dann vielleicht fest, dass sich dabei für sie selbst neue Welten öffnen, und daraus können sich vielleicht auch neue Perspektiven auf die eigene Erlebens- und Erfahrungswelt ergeben.

Damit ist die Hoffnung verbunden, dass Menschen mit einer autistischen Wahrnehmungsverarbeitung und den daraus sich entwickelnden Denk-‍, Erlebens- und Handlungsweisen gewürdigt werden: von anderen – aber auch von sich selbst. Ich möchte mit meinen Lesern die Erkenntnis teilen, welche Schätze sie in sich tragen. Und ich möchte ihnen allen die Erfahrung vermitteln, welch reiche Erkenntnisse auch sie gewinnen können, sobald sie beginnen, einander gegenseitig in ihrem jeweiligen Sein zu erkennen und zu verstehen.

In den vergangenen vier Jahren seit Erscheinen der ersten Ausgabe beim Verlag Mad Man's Magic habe ich viele Zuschriften erhalten sowie Rezensionen gelesen, die mich hinsichtlich dieser Wünsche und Hoffnungen bestätigt und sehr gefreut haben. Angesichts dieser erfreulichen Resonanz und der ungeahnt großen Nachfrage fühlte ich mich ermutigt, die nächste Auflage dieses Buches dem Kohlhammer Verlag anzuvertrauen. Dass ich es hier in guten, kundigen und unterstützenden Händen weiß, stimmt mich sehr froh.

Mein Dank gilt Herrn Poensgen und Frau Kastl für ihr Interesse sowie für die fruchtbare Zusammenarbeit bei der Vorbereitung der Neuauflage. Und ich danke allen, die mich dazu ermutigt haben, dieses Projekt anzupacken – insbesondere Pater Anselm Grün für den Initialanstoß: »Schreib Dein Buch!«. Harald Holeczek, Karen Ritterhoff und Dominik Sonders danke ich für das geduldige und wertschätzend-kritische Gegenlesen des Manuskripts, Manfred Prior für ermutigendes Feedback, Coaching und die Vermittlung konkreter Wege zur Erstveröffentlichung sowie natürlich Christian Schwegler für die Bereitschaft, mein Buch in seinem Verlag Mad Mans Magic herauszubringen – sowie für seinen »Segen« zur Neuauflage beim Kohlhammer Verlag.

Darüber hinaus gilt mein Dank Herrn Prof. Gerald Hüther für entscheidende Erkenntnisse und für die Erlaubnis, diese in mein neuro-biologisches Betrachtungsmodell einfließen zu lassen, wie auch Prof. Friedeman Schulz von Thun, von dem ich schon während meines Studiums viel Wertvolles lernen durfte und der mir erlaubte, sein Kommunikationsmodell in diesem Buch zu verwenden. Ich danke Tony Attwood für kollegialen Austausch, fachliche und moralische Unterstützung und die langjährige Freundschaft. Auch danke ich meinen Kollegen sowie allen Angehörigen, Fachkräften und Helfern, die ihre Erfahrungen und Perspektiven mit mir teilen.

Vor allem aber danke ich allen meinen Klientinnen und Klienten, die mich all die Jahre hindurch so Vieles gelehrt haben, so viel Geduld mit mir als Lernender hatten, mir so viel Vertrauen geschenkt, bei mir Tränen vergossen und mit mir gelacht haben. Ihr habt mir Welten eröffnet, habt mich hineinschauen lassen in die Euren und wart mir ein Spiegel, in dem ich mich und meine Welt und »die Welt der Anderen« immer wieder neu sehen lernen durfte.

Danke Euch allen! – Ohne Euch wäre die Welt ärmer. Ich hoffe, ich kann Euch hiermit ein wenig zurückgeben.

Einige Anmerkungen zur sprachlichen Gestaltung

Da mir die Lesbarkeit und der Sprachfluss sehr am Herzen liegen, habe ich darauf verzichtet, immer die weibliche und die männliche Form eines Wortes zu benutzen oder zu »gendern«. Dies hat nichts mit einer mangelnden Wertschätzung des weiblichen Geschlechts als vielmehr mit der Überzeugung zu tun, dass jedem Menschen der gleiche Wert zukommt, der unschätzbar und unabhängig von Geschlecht, Hautfarbe oder sonstigen Eigenschaften, Merkmalen ist. Und damit auch unabhängig von der sprachlichen Bezeichnung und Einordnung. Dasselbe trifft auch auf den Begriff »Klient« zu, den ich aufgrund meiner professionellen Rolle, jedoch stets mit vollem und tiefem Respekt der Person gegenüber benutze, die sich ratsuchend an mich wendet.

Was schließlich den Sprachgebrauch bezüglich des Autismus bzw. der davon betroffenen Menschen betrifft, werden sich im Text verschiedene Begrifflichkeiten finden. Die im Moment von Befürwortern eines politisch korrekten Sprechens bevorzugte Bezeichnung »Mensch‍(en) auf dem/im Autismus-Spektrum« wird an bestimmten Stellen gebraucht, vor allem dort, wo mir eine solch verallgemeinernde Zusammenfassung nicht allzu problematisch erscheint. Der Ausdruck wird jedoch nicht durchgängig benutzt, da er zum einen schlicht zu sperrig ist, zum anderen eine mögliche Verallgemeinerung und Vereinheitlichung impliziert, die in den seltensten Fällen haltbar ist. Im Hinblick auf spezifische Aspekte der kindlichen Entwicklung wird auch an entsprechenden Stellen vom »autistischen Kind« die Rede sein – wiederum nur dort, wo ich eine solche Verallgemeinerung als zulässig erachte.

An dieser Stelle möchte ich darauf hinweisen, dass ich zwar viele Einblicke in autistisches Erleben den Schilderungen von Menschen mit hochfunktionalem Autismus entnehme und viele der hier dargelegten Erkenntnisse daraus ableiten konnte oder durch sie bestätigt bekam. Ich habe jedoch Grund zur Annahme, dass sehr vieles von dem, was sprach- und ausdrucksgewandte Betroffene berichten, durchaus auch für Menschen gilt, die in ihrer verbalen Sprachfähigkeit und generell in ihrem Ausdrucksvermögen stark beeinträchtigt sind. Dies geht nicht nur aus vorliegenden schriftlichen Darlegungen solchermaßen Betroffener (wie beispielsweise Dietmar Zöller) hervor, sondern auch aus Beobachtungen, die ich in meiner langjährigen Tätigkeit mit Menschen auf dem gesamten Autismus-Spektrum sammeln und in der gemeinsamen Arbeit oftmals auch verifizieren konnte.

Die Begriffe »Autist« bzw. »Autisten« sind nie Teil meines Sprachgebrauchs geworden, da eine solche Begriffsverwendung einige Risiken mit sich bringt: Sie lädt – wie sich leider immer wieder zeigt – zu Klischeebildung und Stigmatisierung ein. Anstelle dieses Begriffs spreche ich in diesem Buch zumeist von »Betroffenen« oder auch, gegebenenfalls, von »meinen Klienten« im Vertrauen darauf, dass meine Hochachtung und Würdigung ihnen allen gegenüber aus dem Inhalt abzuleiten sind.

Brit Wilczek, Kiel im Sommer 2023

I Was heißt das eigentlich: »Autismus«?

Grundlagen zum Verständnis des (klinischen) Begriffs

Der Begriff »Autismus« und vor allem auch seine Ableitungen wie »autistisch« und »Autist« sind inzwischen in den allgemeinen Sprachgebrauch übergegangen. Dabei wird das Wort, wie viele andere auch, von seiner ursprünglichen Bedeutung weggeführt und es schwingen darin eher negative Assoziationen und Bewertungen mit.

Als »autistisch« gilt, im aktuellen Sprachgebrauch, wer sich nicht um seine Mitmenschen schert, nur seine eigenen Interessen im Blick hat, keinerlei Gefühlsregungen zeigt und erst recht keine Empathie, kein Mitgefühl für andere aufbringt.

Da das Wort aus dem medizinisch-psychiatrischen Kontext stammt, wird es zugleich als Begriff für eine Störung oder gar eine Krankheit verstanden. Mangels grundlegender Informationen und Wissensvermittlung zur Entstehung und zum Wesen autistischer Strukturen an den meisten psychologischen und medizinisch-psychiatrischen Fakultäten ist auch das Bild, das Fachkräfte mit den Begrifflichkeiten verbinden, stark geprägt durch das, was von den Medien und im allgemeinen Sprachgebrauch vermittelt wird. Allenfalls sind ganz bestimmte Formen und Erscheinungsbilder des Frühkindlichen Autismus in Erinnerung. Diese treffen jedoch nur auf einen Teil der Menschen auf dem Autismus-Spektrum zu und schließen vor allem in keiner Weise ein Wissen um die Hintergründe dieser Erscheinungsformen ein.

Wer allerdings hinter die äußere Erscheinung schaut, wird schnell gewahr, dass das Klischee vom egozentrischen, gefühlskalten Menschen, der gemeinhin unter einem »Autisten« verstanden wird, nichts mit dem tatsächlichen Wesen und Erleben von Menschen auf dem Autismus-Spektrum zu tun. Das falsche Bild, mit allen Urteilen und Vorurteilen, die daraus erwachsen, hat jedoch einen erheblichen Einfluss sowohl auf das Leben der Betroffenen als auch auf den klinischen Bereich der Diagnostik und Therapie.

Dieser erste Teil des Buches dient daher erst einmal dem Verständnis des Begriffs »Autismus«. Es soll der ursprünglichen Bedeutung nachgespürt und die Entwicklung des klinischen Begriffs »Autismus« dargestellt werden.

Des Weiteren wird die Ätiologie (Entstehung) autistischer Strukturen mit Hilfe von neurobiologischen und entwicklungspsychologischen Erklärungsansätzen dargestellt. Damit werden auch erste Einblicke ins Erleben und in die Bewältigungsstrategien betroffener Menschen gegeben, die ein Verständnis von nach außen hin auffälligen Verhaltensweisen ermöglichen.

Schließlich wird ein Perspektivwechsel hin zum Erleben der Angehörigen – insbesondere Eltern und Geschwister – gegeben, der das grundlegende Dilemma der Unterschiedlichkeit zwischen innerem Erleben betroffener Kinder und den Wirkungen nach außen hin deutlich macht sowie erste Ansätze zum Umgang mit einem autistischen Kind andeutet.

1 Autismus – Ein Begriff und seine Geschichte

Um einen Begriff zu verstehen, ist es meistens sinnvoll, an seinen Ursprung zurück zu gehen und dann zu schauen, wie er sich im Laufe der Zeit weiterentwickelt hat. In diesem Falle führt die Suche nach dem Ursprung in die Medizingeschichte. Dabei zeigt sich, wie die Auseinandersetzung mit einem Phänomen zur Entwicklung und Wandlung von Begriffen und deren Bedeutungen führt.

1.1 Entstehung und Bedeutung des Begriffs »Autismus«

Ursprünglich wurde der Begriff »Autismus« geprägt, um einen Zustand zu beschreiben. Eugen Bleuler, Psychiater und von 1889 bis 1927 Direktor der Klinik am Burghölzli in Zürich, war bemüht, seine Patienten als menschliche Individuen zu betrachten und sie so zu beschreiben, wie er sie in ihren jeweiligen Seins-Weisen und in unterschiedlichen Zuständen wahrnahm. Einer der Zustände, die er beobachtete, wurde zur Grundlage des von ihm geprägten Begriffs »Autismus«: Die jeweilige Person wirkt von außen betrachtet so, als sei sie ganz bei sich. Sie schaut vor sich hin oder scheint versunken in irgendeine Betrachtung; der außenstehende Betrachter ist sich nicht sicher, ob er überhaupt wahrgenommen wird, ob die Person Kontakt möchte. Sie wirkt wie unter einer Glasglocke, nur auf sich selbst und auf ihre eigene Welt bezogen. Kurz gesagt: Von außen gesehen könnte man diesen Zustand als extreme Selbstbezogenheit wahrnehmen bzw. deuten.

Aus dem Wort »autos« (griechisch für »selbst«) leitete Bleuler daher den Begriff »Autismus« ab im Sinne einer – zumindest von außen so wahrgenommenen – Selbstbezogenheit. Man kann aus diesem Begriff »Autismus« jedoch auch die Idee eines »Ganz-bei-sich-Seins« herauslesen.

1.2 »Autismus« als klinisch-diagnostischer Begriff

Erst Jahre später, Ende der 1930er Jahre, wurde dieser Begriff des Autismus von zwei Kinder- und Jugendpsychiatern aufgegriffen, um ein Phänomen zu beschreiben, das ihnen bei Kindern in ihrem jeweiligen Arbeitsfeld auffiel.

Leo Kanner – gebürtiger Österreicher – arbeitete damals an der Johns Hopkins University in Baltimore. Ihm fielen Kinder auf, die von Anfang an so wirkten, als seien sie »ganz bei sich«, als nähmen sie ihre soziale Umwelt kaum wahr und seien aus sich heraus gar nicht an zwischenmenschlichem Kontakt interessiert. Sie konzentrierten ihre Aufmerksamkeit auf bestimmte, meist gegenständliche Objekte und Themen. Viele von ihnen kommunizierten aus sich heraus nicht und konnten umgekehrt mit Kontakt und Kommunikationsangeboten ihrer Mitmenschen offenbar nichts anfangen. Auch ihre Sprachentwicklung war deutlich verzögert und in spezifischer Weise beeinträchtigt. Wenn Sprache erlernt wurde, dann wurde sie häufig nur echolalisch angewendet, das heißt dass einzelne Wörter oder Sätze wohl korrekt nachgesprochen bzw. wiederholt wurden; die Sprache konnte jedoch nicht sinnvoll und situationsangemessen oder gar zum spontanen Selbstausdruck eingesetzt werden. Manche Kinder entwickelten ihre ganz eigene Phantasiesprache, die nur von ihnen selbst – oder manchmal von einem Zwilling oder Geschwisterkind – verstanden und eingesetzt wurde. Rund 50 Prozent der betroffenen Kinder entwickelten jedoch gar keine Sprache, weder verbal noch ersatzweise irgendeine Zeichensprache. Dass dies auch zu Schwierigkeiten beim Lernen und in der – messbaren – kognitiven Entwicklung führte, ist leicht nachzuvollziehen.

Leo Kanner konzentrierte sich in seiner Arbeit zunehmend auf diese Gruppe von Kindern und prägte für das von ihm beforschte und beschriebene Phänomen den Begriff »Frühkindlicher Autismus« – wohl um es vom ursprünglich im Kontext der Schizophrenie beschriebenen Autismus als reiner Zustandsbeschreibung abzusetzen. Bei diesen Kindern war von Anfang an etwas anders. Es konnte hier also nicht von einer psychischen Erkrankung wie der Schizophrenie als Grundproblematik ausgegangen werden – wenngleich damals zeitweise auch der Begriff »kindliche Schizophrenie« kursierte.

Etwa zeitgleich mit Leo Kanner, jedoch völlig unabhängig von dessen Forschung, griff Hans Asperger den Begriff des »Autismus« ebenfalls auf, um eine Gruppe von Kindern zu beschreiben, die ihm in seiner Arbeit besonders aufgefallen waren. Er war als Kinderarzt und Heilpädagoge an der heilpädagogischen Abteilung der Universitätsklinik in Wien tätig. Bereits 1938 hielt er dort einen Vortrag, in dem er einige dieser jungen Patienten eingehend beschrieb.

Sie alle fielen zunächst durch eine hohe Empfindsamkeit auf, die zugleich dazu führte, dass sie leicht störanfällig waren, Ängste entwickelten und in Situationen die Fassung verloren, die von anderen Kindern als neutral oder sogar besonders attraktiv erlebt wurden. Sie alle waren mindestens durchschnittlich, manche von ihnen auch deutlich überdurchschnittlich begabt. In ihrer Sprachentwicklung waren sie ihren Altersgenossen eher voraus und drückten sich sprachlich sehr gut aus. Dennoch – und das erschien vor diesem Hintergrund besonders auffällig – kamen sie mit anderen Menschen, insbesondere mit Gleichaltrigen, nicht zurecht. Sie schafften es nicht, Freundschaften aufzubauen und zu gestalten, hatten Schwierigkeiten sich in Gruppen zu integrieren und blieben so oft Außenseiter.

Hans Asperger sprach bereits in diesem ersten Vortrag in sehr wertschätzender, ja sogar anerkennender Weise von diesen Patienten, die ihm ganz offenbar besonders am Herzen lagen. Er war überzeugt: Diese Menschen können und müssen wir erreichen – weil sie wertvolle und wichtige Mitglieder unserer Gesellschaft sind. Ohne sie, ohne ihre Originalität, ihre ganz eigene Wahrnehmung und Sicht der Dinge, hätte sich die Menschheit nie so weit entwickeln können.

Jahre später kam er dann gar zu dem Schluss:

»Es scheint uns als wäre für gewisse wissenschaftliche oder künstlerische Höchstleistungen ein Schuss ›Autismus‹ geradezu notwendig.« Hans Asperger

Eine solche Sichtweise öffentlich zu vertreten, war zu seiner Zeit in Wien allerdings nicht ganz unproblematisch. Die Nationalsozialisten hatten schließlich ganz eigene Vorstellungen davon, was mit Kindern zu passieren hatte, die »anders«, »nicht leicht erziehbar« und nicht problemlos in Gruppen zu integrieren und zu führen waren.

Dass die überaus hohe Wertschätzung, die Hans Asperger gerade diesen Patienten, die er als »autistisch« bezeichnete, auch eine Schattenseite hat, stellt sich jetzt, fast achtzig Jahre später heraus bzw. ist inzwischen historisch belegt (siehe Sheffer 2018, Czech 2018). Denn während er die autistischen Kinder, mit denen er arbeitete, sehr hoch schätzte und nicht müde wurde, ihren »Wert« und ihre Bedeutung für die menschliche Gesellschaft zu betonen, schätzte er andere Kinder, die im damaligen Sprachgebrauch als »schwachsinnig« galten, offenbar so gering, dass er ihr Leben nicht unbedingt als schützenswert ansah. So ließ er zu, dass einige von ihnen, wie viele andere Kinder, die den damals unter Nationalsozialisten vorherrschenden Vorstellungen von Gesundheit und »Brauchbarkeit« nicht entsprachen, u. a. in der Klinik am Spiegelgrund in Wien zu Tode kamen.

Vor diesem historischen Hintergrund wird erklärbar, warum die Beobachtungen und Sichtweisen Hans Aspergers sich zunächst nicht verbreiteten, während Leo Kanners Beschreibungen zum »frühkindlichen Autismus«, die in den USA frei beforscht und in englischer Sprache veröffentlicht wurden, bald auch international Verbreitung fanden. So setzte sich also erst einmal ein Bild vom Autismus durch, das dem klinischen Bild des von Kanner beschriebenen Frühkindlichen Autismus oder »Kanner-Syndrom« entsprach.

Erst Mitte der 1980er Jahre entdeckte die britische Psychologin Lorna Wing, die mit autistischen Kindern und Jugendlichen arbeitete, die Arbeiten von Hans Asperger wieder und sorgte dafür, dass sie ins Englische übersetzt und als Beschreibung einer »anderen Form des Autismus« anerkannt wurden. Mitte der 1990er Jahre wurde dann das nach ihm benannte »Asperger-Syndrom« bzw. die »Asperger-Störung« als eigenständige Diagnose in die offiziellen diagnostischen Handbücher (International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems [ICD] und Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders [DSM]) aufgenommen.

Hinzu kam noch die diagnostische Kategorie des »atypischen Autismus«, da es immer wieder Fälle gab, bei denen das Gesamtbild zwar durchaus dem einer autistischen Ausprägung entsprach, die jedoch nach den gegebenen Kriterien keiner der beiden Kategorien zugeordnet werden konnten.

Die Autismus-Forschung versuchte indessen, herauszufinden und zu definieren, was genau nun das Asperger-Syndrom vom Bild des Frühkindlichen Autismus unterscheidet. Ist es ein eigenständiges Syndrom mit einer eigenen Ätiologie (Entstehungsgeschichte) und womöglich eigenen biologischen Markenzeichen? Ist es eine »Variante« des Frühkindlichen Autismus? Und wenn das so wäre, was rechtfertigte dann die Formulierung einer eigenen Diagnosekategorie?

1.3 Der Begriff des »Autismus-Spektrums«

Nach 20 Jahren Forschung wurde letztlich erklärt: Es lassen sich keine eindeutigen grundlegenden Unterschiede zwischen den Syndromen feststellen, die sie klar voneinander abgrenzen würden. Es gibt fließende Übergänge. Zudem kommt es durchaus vor, dass Menschen, die als Kind die Diagnose »Frühkindlicher Autismus« erhalten haben, später einen solchen Entwicklungssprung machen, dass sie in ihrem Erscheinungsbild nicht mehr von einem Asperger-Betroffenen zu unterscheiden sind. Damit wird die klare Unterscheidung diagnostischer Kategorien hinfällig.

So einigte man sich in der Fachwelt darauf, fortan vom »Autismus-Spektrum« zu sprechen und dies auch in den diagnostischen Handbüchern entsprechend anzupassen. Für den Diagnostiker heißt das, dass fortan festgestellt werden muss,

1.

ob sich eine Person nach den gegebenen Kriterien auf dem Autismus-Spektrum befindet oder nicht und

2.

wie genau sich der Autismus bei dieser Person zeigt und auswirkt.

Auf diese Weise soll die Diagnostik dazu dienen, möglichst individuell herauszufinden, wo genau Schwierigkeiten oder Besonderheiten bestehen, so dass daraus abgeleitet werden kann, welche spezifischen Maßnahmen zur Entlastung und Unterstützung erforderlich sind.

Diese Herangehensweise könnte an sich durchaus sinnvoll und zielführend sein. Allerdings widerspricht sie so sehr der bisher vorherrschenden, kategorisierenden Denkweise der medizinischen Diagnostik, dass sie sich nur zögerlich durchsetzt und aufgrund ihrer scheinbaren Ungenauigkeit auch einige Kritik hervorruft.

Menschen mit Asperger-Syndrom, die sich mit der Thematik eingehend auseinandersetzen, sehen hingegen einen anderen Aspekt als besonders kritisch: Die Linearität des Spektrums kann schnell zu der Annahme führen, es gäbe »schwere Formen« und »leichte Formen« des Autismus. So wird die Variante des Asperger-Syndroms – ein Begriff, der aufgrund seiner Prägnanz weiter gebräuchlich bleiben wird – bereits jetzt oft als »leichte« oder »milde Form des Autismus« bezeichnet. Dies entspricht jedoch durchaus nicht dem Erleben eines jeden Betroffenen. Es wird also eine lineare Zunahme von Beeinträchtigungen angedeutet, anstatt – wie wohl eigentlich beabsichtigt – die Vielfalt individueller Ausprägungen zu berücksichtigen.

Von einer wirklich differenzierten Sicht auf das jeweils betroffene Individuum ist das Konzept des Spektrums – trotz bester Absichten – also leider noch weit entfernt. Eine solche zu ermöglichen, ist das Anliegen dieses Buches.

1.4 »Autismus« als Sammelbegriff für die Beschreibung eines Phänomens

Nachdem wir die Entwicklung des Begriffs »Autismus« mit seinen unterschiedlichen Bedeutungen in der klinischen Welt in aller Kürze nachvollzogen haben, stellen sich nun verschiedene Fragen. Wie kann dieser Begriff in seinem Kern verstanden werden? Wie kann er in einer Weise eingesetzt werden, die eben nicht zu einer Kategorisierung führt – und damit leider auch schnell zu Wertungen und Stigmatisierungen –, sondern so, dass er zu einem Verständnis des damit bezeichneten Phänomens und auch des dahinterliegenden Erlebens beiträgt?

Immerhin wird das Wort »Autismus« mittlerweile geradezu inflationär und dann meist in eher abwertender Weise gebraucht: Als »autistisch« gilt, wer egozentrisch nur seine eigenen Ziele verfolgt und sich nicht um das Befinden seiner Mitmenschen schert. – Aber ist das tatsächlich ein Charakteristikum von Menschen auf dem Autismus-Spektrum? Oder ist dies nur der Schein, der bei einer Betrachtung von außen entsteht – so wie ursprünglich ja Egon Bleuler herangegangen war: von außen betrachtend?

Die in diesem Buch dargelegten Betrachtungen und Erfahrungen werden, so hoffe ich, eine differenziertere Sicht ermöglichen und den Blick frei machen für die außerordentliche Vielfalt menschlicher Perspektiven, Erlebens- und Seins-Weisen, die wir gerade auch bei Menschen auf dem Autismus-Spektrum finden. An dieser Stelle sei auch darauf hingewiesen, dass sich die allermeisten Menschen im einen oder anderen Aspekt des Autismus wiederfinden werden. Das ist insofern nicht verwunderlich als alle autistischen Auffälligkeiten zunächst einfach menschliche Bewältigungsstrategien darstellen und dahinter zutiefst menschliche Bedürfnisse und Funktionsweisen liegen.

Die eine oder andere scheinbare »Besonderheit« kennt daher also jeder Mensch, sei es aus seiner Kindheit, sei es zeitlebens. Tony Attwood, ein sehr geschätzter Kollege, der selbst seit Jahrzehnten mit Asperger-Betroffenen arbeitet und darüber in Büchern und Vorträgen berichtet, gibt dafür folgendes Bild zur Erklärung:

»Autismus ist ein 100-Teile-Puzzle. Mit 20 bis 30 Puzzleteilen laufen wir alle herum. Interessant (im diagnostischen Sinne) wird es bei 60 bis 80 Teilen von 100.« Tony Attwood

Umgekehrt habe er in all den Jahren seiner Tätigkeit nicht einen einzigen Menschen erlebt, der alle 100 Puzzleteile aufgewiesen hätte.

Für die Entscheidung, ob die Diagnose »Autismus-Spektrum-Störung« vergeben werden kann, spielt aus meiner Sicht daher auch folgendes Kriterium eine wichtige Rolle.

Im Diagnostischen Manual DSM-IV heißt es unter dem Kriterium C. für die »Asperger-Störung«:

»Die Störung verursacht in klinisch bedeutsamer Weise Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen und anderen wichtigen Funktionsbereichen.« DSM-IV

Das bedeutet zum einen: Wenn es im Leben einer Person ernsthafte Schwierigkeiten bei der sozialen oder beruflichen Integration gibt, dann müssen diese auf eine autistische Grundstruktur zurückzuführen sein, um die Diagnose zu rechtfertigen.

Und zum anderen: Ein Mensch kann alle Kriterien erfüllen – wenn sich daraus keine ernsthaften Probleme ergeben, ist eine Diagnose unzulässig.

Ähnlich sieht es das Kriterium D im Nachfolgemanual DSM-5:

»Die Symptome/Auffälligkeiten bedingen klinisch bedeutsame Beeinträchtigungen in sozialen, beruflichen oder sonstigen wichtigen Funktionsbereichen.« DSM-5

Dieses Kriterium wird als notwendig, und damit als Bedingung für eine Diagnosestellung erachtet. Es erscheint insofern sinnvoll, als wir heute davon ausgehen können, dass circa ein Prozent aller Menschen irgendwo »auf dem Autismus-Spektrum« liegen und dass es – wie oben dargelegt – unterschiedlichste Ausprägungen und fließende Übergänge gibt. Zudem hängt es von sehr vielen Faktoren ab, wie problematisch sich das Leben durch eine autistische Wahrnehmungsweise tatsächlich gestalten wird.

Immerhin kommt es durchaus vor, dass eine Person mit autistischer Grundstruktur sich sozial wie beruflich integrieren kann oder dass sie eine Lebensweise findet, die ihrer Seins-Weise entspricht und in der sie sich wohlfühlt.

Autismus als Sammelbegriff für ein Phänomen mit vielen Gesichtern

So können wir hier davon ausgehen, dass Autismus als eine Art Sammelbegriff dienen kann für ein Phänomen, das bei einem Teil der Menschheit auftritt. Zum Teil wird dies dann nach außen hin deutlich sichtbar. In seiner wirklichen Bedeutung und seinen Auswirkungen jedoch wird es vor allem vom Individuum selbst erlebt.

Wir können postulieren, dass es sich um eine mehr oder weniger stark ausgeprägte »andere« Seins-Weise handelt, die an sich zunächst das Erleben des Betroffenen bestimmt. Die Unterschiedlichkeit zur Seins- und Erlebensweise der anderen Menschen ist es, die dann allerdings meistens spezifische Probleme mit sich bringt. Denn sie ist es auch, die zu äußerlich sichtbaren Besonderheiten in den Verhaltensweisen der Betroffenen führt.

Was die eigentliche Unterschiedlichkeit ausmacht und wie sie sich auf die Entwicklung, das Verhalten und das Zusammenleben mit anderen Menschen auswirkt, wollen wir im Folgenden eingehend betrachten.

2 Autismus als klinisches Bild – einige Grundannahmen vorweg

Alle bisherige Forschung, alle Erfahrungen im Autismus-Bereich und alle Beschreibungen Betroffener deuten aus meiner Sicht auf folgende Prämissen hin:

Autismus ist diagnostisch eingeordnet unter die »Tiefgreifenden Entwicklungsstörungen«. Dieser Begriff mag zwar im ersten Moment für Betroffene wie für Angehörige erschreckend klingen. Mit der Einordnung in diese Kategorie konnten jedoch zumindest die nicht minder erschreckenden Theorien der sogenannten »Psychogenese« ad acta gelegt werden: Alle Vermutungen, dass Autismus aufgrund traumatischer Erlebnisse oder unzureichender emotionaler Angebote in den Primärbeziehungen (sprich: »fehlender Liebe in der Kindheit« oder einer »schlechten Mutter-Kind-Beziehung«) »entsteht«, sind widerlegt. Sie wurden ersetzt durch die Erkenntnis, dass Autismus auf Besonderheiten in der neuronalen Entwicklung zurückzuführen ist, die von Anfang an wirksam sind. Mit anderen Worten: Das Gehirn entwickelt sich nicht besser oder schlechter, sondern anders als bei den meisten Menschen.

Der leider recht defizitorientierte Begriff »tiefgreifende Entwicklungsstörung« steht also – wertfrei gesprochen – für frühe Besonderheiten in der Entwicklung. Diese betreffen primär das zentrale Nervensystem und damit die Wahrnehmungsverarbeitung. Was ursprünglich auslösend für eine solche »besondere« Entwicklung des Nervensystems ist, konnte bislang nicht eindeutig geklärt werden.

Man geht jedoch in der Autismus-Forschung von einer multifaktoriellen Genese aus. Das bedeutet, dass verschiedene Faktoren wirksam werden, die dann eine autistische Entwicklung bedingen. Der genetische Faktor spielt dabei zwar eine große Rolle (aktuelle Studien sprechen von 80 Prozent), er ist jedoch nicht alleinbestimmend. Auch bei bestehender genetischer Vorveranlagung müssen also zusätzliche Faktoren wirksam werden, um die Entwicklung in einer solchen Weise zu beeinflussen, dass es zum Phänomen des »Autismus« kommt. Die Vielfalt der Ausprägungen autistischer Persönlichkeiten, die sehr häufig auftretenden Probleme im sozio-emotionalen Bereich und diverse psychische Beeinträchtigungen im Kontext mit Autismus sind als sekundäre Entwicklungen auf diesem Hintergrund der neuronalen Besonderheiten zu betrachten und werden so auch nachvollziehbar.

3 Neurobiologische und entwicklungspsychologische Aspekte zum Verständnis autistischen Erlebens und Verhaltens

In den vergangenen Jahren hat die Neurobiologie immer mehr an Bedeutung und Popularität gewonnen. Insbesondere in psychologischen, therapeutischen und pädagogischen Fachkreisen werden zunehmend neurobiologische Erkenntnisse eingesetzt, um Beobachtungen zu erklären oder Sachverhalte darzustellen. Dabei wird manches Mal vielleicht über das Ziel hinausgeschossen und erwartet, die Neurobiologie solle jegliches menschliche Verhalten, jedes Phänomen erklären und möglichst gar in bildgebenden Verfahren (wie etwa in Computertomographien) sichtbar machen. Andererseits werden in vielen Bereichen zwar neurobiologische Erkenntnisse diskutiert, jedoch kaum Schlüsse für die Praxis gezogen.

Lange Zeit haben die Bereiche der Neurobiologie und der Autismus-Forschung einander kaum wahrgenommen. Dabei könnten sie sich meines Erachtens gegenseitig sehr befruchten und weiterbringen.

Als ich vor mehr als zehn Jahren erstmals einen Vortrag von Professor Gerald Hüther hörte und seine neurobiologischen Darstellungen und Bilder betrachtete, wurden mir schlagartig einige Zusammenhänge klar, die ich zuvor wohl erahnen konnte, die zu erklären und darzustellen mir jedoch schwergefallen wären. Erst mithilfe der von Professor Hüther sehr anschaulich dargelegten Grundkenntnisse der Reizverarbeitung (vgl. auch »Hebb'sche Lernregel« nach Donald Olding Hebb) und deren Auswirkungen auf die Entwicklung hatte ich Erklärungsansätze an der Hand, die ich unmittelbar in meiner Arbeit einsetzen konnte.

Sowohl im Rahmen der Diagnostik als auch in der Psychotherapie und darüber hinaus in meiner Fortbildungstätigkeit wende ich seither ein Erklärungsmodell an, das ich mithilfe der Darstellungen Hüthers entwickelt habe und das sich erfahrungsgemäß sehr zur Vermittlung eines eingehenden Verständnisses autistischer Besonderheiten eignet. Dieses möchte ich in der Folge darstellen, um eine Basis für die weitere Erkundung des Phänomens Autismus zu legen.

3.1 Die Entwicklung des zentralen Nervensystems – Grundlagen

Um Autismus-spezifische Besonderheiten auszumachen und zu verstehen, ist es sinnvoll und notwendig, sich erst einmal die Grundzüge der Entwicklung und Funktion des zentralen Nervensystems anzusehen. Hierzu möchte ich einige schematische Zeichnungen anbieten, um – sehr vereinfacht – die Entwicklung der Wahrnehmungsverarbeitung nachzuvollziehen und ihre Funktion zu veranschaulichen.

Jedes Kind entwickelt schon im Mutterleib sein ganz individuelles Nervensystem. Die Nervenzellen (Neuronen), die im ganzen Körper und in allen Organen und Gliedmaßen angelegt werden, und auch das zentrale Nervensystem, das Gehirn, arbeiten von Beginn an zusammen, um vielfältige Reize zu verarbeiten. Basierend auf den Ergebnissen dieser Verarbeitung werden der Organismus und das Verhalten gesteuert.

Die Aufnahme und Weiterleitung von Außenreizen ins Gehirn geschieht über die nach und nach sich herausbildenden Sinneskanäle: Das Kind spürt Bewegung und Druck, seine eigenen Körpergrenzen, die eigene Lage und Muskelaktivität; es kostet das Fruchtwasser und lernt zu unterscheiden, ob dies gerade mehr oder weniger süß schmeckt (was sich daran erkennen lässt, dass Kinder im Mutterleib oft etwas mehr Fruchtwasser trinken, wenn die Mutter gerade etwas Süßes gegessen hat ...). Es nimmt Geräusche und Klänge wahr, speichert diese Eindrücke und erkennt sie wieder – und wird dementsprechend unterschiedlich reagieren, je nachdem, was es hört.

Für all dies wird bereits eine große Menge an Neuronen im Gehirn angelegt (in ▸ Abb. 1 als Punktewolke dargestellt). Die Natur neigt hier zum Überfluss und hält ein ungeheuer großes Potential an Verarbeitungs- und Speicherkapazität vor.

Abb. 1:Nervenzellen entwickeln sich

Dabei ist im Mutterleib die Zufuhr an Außenreizen noch sehr dosiert. Mit dem Augenblick der Geburt ist das Kind allerdings schlagartig einer ungekannten Fülle von Reizen ausgesetzt. Diese plötzliche starke Reizzufuhr regt wiederum die geradezu explosionsartige Bildung neuer Nervenzellen an – eine Entwicklung, die während der ersten Lebensmonate, ja sogar bis zum dritten Lebensjahr weitergeht, dann stagniert und allmählich rückläufig ist. Es werden also zeitlebens jeden Tag viele Nervenzellen abgebaut.

Hinsichtlich der neuronalen Entwicklung halten wir an dieser Stelle fest: Plötzliche starke Reizzufuhr regt in diesem Entwicklungsstadium die Bildung neuer Nervenzellen an.

Die Funktion der Nervenzellen

Was genau »tun« Nervenzellen? Wie funktionieren sie? Und warum sind sie in ihrer Funktion so entscheidend?

Das Grundprinzip der Funktion und Entwicklung sieht (laut der Hebb'schen Regel) stark vereinfacht und schematisiert etwa folgendermaßen aus:

Wahrgenommene Reize werden ins Gehirn weitergeleitet und aktivieren dort Neuronen (▸ Abb. 2).

Treffen mehrere Reize gleichzeitig ein und werden daher mehrere Neuronen gleichzeitig aktiviert, könnte diese Gleichzeitigkeit von Bedeutung sein. Die zugleich aktivierten Neuronen nehmen daher Verbindung untereinander auf – sie bilden Verknüpfungen (▸ Abb. 3).

Bleibt die gleichzeitige Aktivierung ein einmaliger Zufall, bilden sich diese Verknüpfungen wieder zurück. Kommt das gleichzeitige Eintreffen dieser Reizkonstellation und damit die Aktivierung der betreffenden Neuronen häufiger vor, verstärken sie ihre Verbindungen untereinander und es entstehen klare, wiedererkennbare Verarbeitungsmuster im Gehirn. So sieht – stark vereinfacht und schematisiert – Lernen aus (▸ Abb. 4).

Wofür werden diese Verarbeitungsmuster im Gehirn angelegt? – Wahrgenommene Reizkonstellationen oder auch »Reizmuster«, zum Beispiel Bilder, Klänge und Klangfolgen, Gerüche usw., werden zeitlebens »verglichen« mit den bereits angelegten bzw. geprägten Verarbeitungsmustern (▸ Abb. 5).

Wann immer ein wahrgenommenes Reizmuster mit einem bereits vorhandenen Muster übereinstimmt (also »kongruent« ist), erleben wir den sogenannten Kongruenzeffekt. Dabei geschieht im Gehirn etwas äußerst Spannendes: Es werden Hormone ausgeschüttet, die uns ein gutes Gefühl geben. Wir kennen dies auch als den Wiedererkennungseffekt: »Ah, das hab ich schon einmal gesehen!«, »Das hab ich schon gehört«, »Dieser Geruch ist mir vertraut«.

Wir kennen diesen Effekt aber auch als Aha- oder Lösungsmoment, wenn eine solche Kongruenz eine Lösung bedeutet (ein Puzzleteil passt, eine Gleichung geht auf, »eines passt zum anderen»...). Zugleich begünstigen die ausgeschütteten Hormone die Bildung neuer Verknüpfungen und somit das Lernen.

Damit haben wir nun einige allgemeine Grundlagen der Entwicklung und Funktion des Gehirns und der Wahrnehmungsverarbeitung betrachtet, die uns beim weiteren Verständnis autistischer Besonderheiten dienen können.

Abb. 2:Eintreffende Reize aktivieren Nervenzellen

Abb. 3:Gleichzeitig aktivierte Nervenzellen verknüpfen sich miteinander

Abb. 4:Durch Wiederholung entstehen klare Verarbeitungsmuster

Abb. 5:Reizmuster von außen verglichen mit gespeicherten Verarbeitungsmustern

3.2 Was ist »anders« bei der neuronalen Entwicklung des autistischen Kindes?

Um zu verstehen, was die autistische Wahrnehmungsverarbeitung und neuronale Entwicklung von einer sogenannten »normalen« bzw. »neurotypischen« Entwicklung unterscheidet, müssen wir zunächst einmal feststellen, dass Menschen generell nur einen Bruchteil dessen aufnehmen, was an Reizen tatsächlich und permanent zur Verfügung steht. Es muss also eine Art automatischer (das heißt auch unwillkürlicher) Reizfilterung stattfinden, die auf den verschiedenen Sinneskanälen von vorneherein nur jeweils einen bestimmten Teil von Reizen »hindurchlässt«.

Diese Filterfunktionen scheinen individuell unterschiedlich ausgeprägt zu sein. Manche Menschen sind auf einem Sinneskanal empfindlicher, andere auf einem anderen, manche sind generell empfindsamer, andere robuster auch gegenüber einer großen Fülle von Reizen.

Die Frage, wie und wodurch genau die Ausprägung einer mehr oder weniger starken Reizfilterung oder Empfindsamkeit zustande kommt, ist – soweit ich es übersehen kann – bislang noch nicht befriedigend beantwortet worden.

Was den Autismus betrifft, darf jedoch davon ausgegangen werden, dass es sich dabei – wie oben erwähnt – um eine Besonderheit in der Wahrnehmungsverarbeitung handelt, wobei die Filterfunktionen primär nur wenig ausgeprägt sind.

Allerdings können unterschiedliche Sinneskanäle sehr unterschiedlich reizoffen sein. Betroffene berichten über Hypersensibilitäten, also außerordentlich hohe Empfindsamkeiten, beispielsweise im visuellen, im auditiven oder in anderen Sinnesbereichen. Umgekehrt kann jedoch auch ein Sinneskanal sehr wenig sensibel ausgebildet sein und kaum auf Reize reagieren. So mag ein Betroffener auf dem visuellen Kanal extrem empfindlich, auf dem sensorischen hingegen auffallend unempfindlich sein – bis hin zur sensorischen »Taubheit«.

Generell kann jedoch offenbar eher von einer mangelnden Reizfilterung und damit von einer Neigung zu einer hohen Empfindsamkeit ausgegangen werden. Diese kann mehr oder weniger gravierend sein und in manchen Fällen auch wiederum reaktiv zu einer Überselektion in bestimmten Sinnesbereichen führen.

Autistische Reizverarbeitung und ihr Einfluss auf die frühe Entwicklung

Wollen wir nun die »autistische Entwicklung« verstehen, sollten wir erst einmal – unter Berücksichtigung der oben dargestellten Vorannahmen – überlegen, was wohl im Gehirn eines Neugeborenen abläuft, das bis zu zehnmal mehr Reize wahrnimmt als ein anderes Kind.

Erst einmal strömen noch mehr Reize auf das Neugeborene ein als normalerweise, was die Bildung von noch mehr neuen Nervenzellen anregen dürfte. (Tatsächlich gibt es Studien, die darauf hinweisen, dass autistische Menschen eher zu einer höheren Dichte an Neuronen neigen.) – Man kann hier also wahrlich nicht von einem Defizit sprechen. Wenn überhaupt, dann haben wir es hier mit einem Überschuss an Potential zu tun.

Da stets viele Reize gleichzeitig einströmen, werden viele Nervenzellen gleichzeitig aktiviert (▸ Abb. 6).

Nervenzellen, die gleichzeitig aktiviert werden, verknüpfen sich miteinander. Das ist ihre »Aufgabe«. Was bei der Überfülle an gleichzeitig einströmenden Reizen herauskommt, gibt ▸ Abb. 7 wieder.

Aufgrund der kaum zu bewältigenden Fülle von einströmenden Reizen und der daraus erwachsenden hohen Dichte an Nervenzellen und Erstverknüpfungen erlebt das Kind die Welt als ein Chaos, das kaum zu bewältigen ist (▸ Abb. 8).

Darin wird es ihm erschwert, klare, wiedererkennbare Verarbeitungsmuster herauszubilden. Wenn solche ausreichend deutlichen Verarbeitungsmuster fehlen, wird es zudem auch viel schwieriger, Reizkonstellationen aus der Außenwelt wiederzuerkennen. Es sei denn, sie sind exakt gleich oder konstant, also gleichbleibend.

Bei kleinsten Abweichungen jedoch wird die Wiedererkennung bereits stark erschwert bis unmöglich. Es findet kein Kongruenzeffekt statt. So erlebt das betroffene Kind die Welt also als ein Chaos, das es zu überwältigen droht und in dem es kaum klare Strukturen erkennen kann. Dies ist die Situation, die das Kind zu bewältigen lernen muss – und die es zeitlebens als Grundproblematik begleiten wird.

Abb. 6:Durchlässige Filter – Reizfülle

Abb. 7:Mehr gleichzeitig eintreffende Reize – mehr Erstverknüpfungen

Abb. 8:Mehr Erstverknüpfungen

4 Wie autistische Kinder das Chaos bewältigen

Die betroffenen Kinder reagieren auf diese Situation der Überforderung sehr unterschiedlich. Einige sind so sehr gestresst, dass sie ununterbrochen schreien. Sie stehen derart unter Spannung, dass sie kaum zur Ruhe finden – was letztlich ihre Situation freilich noch verschlimmert. Denn Stress kann wiederum die Reizempfindlichkeit noch erhöhen.