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Was tun gegen den Zwang zur Anpassung? Autonomie gilt als zentrale menschliche Eigenschaft. Doch sie gerät von vielen Seiten unter Beschuss: Die Neurowissenschaft erklärt, der Wille sei nicht frei, die Sozialpsychologie zeigt in ihren Experimenten ebenso wie Shitstorms im Internet, wie mächtig der Anpassungsdruck ist. Die Auswirkungen sind beträchtlich, wenn unsere Autonomie in Gefahr ist. Harald Welzer und Michael Pauen analysieren die Situation auf Grundlage eigener Experimente und Forschungen, um Möglichkeiten der Gegenwehr sichtbar zu machen: Wie können Gemeinschaften so gestaltet werden, dass Konformitätszwänge gering bleiben? Gleichzeitig zeigen sie, dass es wirksame Gegenstrategien nur auf der sozialen Ebene geben kann – solange wichtige Freiheitsspielräume noch bestehen. Die Zeit drängt.
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Seitenzahl: 377
Michael Pauen | Harald Welzer
Autonomie
Eine Verteidigung
FISCHER E-Books
Sarah O., eine Schülerin aus Konstanz. Ihr Vater ist Algerier, ihre Mutter Deutsche. Sarah besuchte nach der Grundschule das Gymnasium, ihre Leistungen waren mittelmäßig bis gut, sie ging mit Freundinnen ins Schwimmbad, hatte Spaß und entwickelte sich völlig normal. Eine ganz gewöhnliche junge Muslima in Deutschland eben. Doch mit fünfzehn entschließt sie sich, nach Syrien in den Dschihad zu ziehen; drei Wochen vor ihrem 16. Geburtstag heiratet sie einen deutschen Salafisten türkischer Herkunft, der den Behörden durch seine Straftaten mit extremistischem Hintergrund gut bekannt ist.
»Ihre Freundinnen bekamen bald Nachricht von ihr – über WhatsApp, Facebook und andere soziale Netzwerke. Ein Foto zeigte sie in ihrem langen lila Gewand, verschleiert und mit schwarzen Handschuhen. Sie hielt eine Maschinenpistole im Anschlag. Über ihren Tagesablauf schrieb sie: ›Schlafen, Essen, Schießen, Lernen, Vorträge anhören.‹ Mitte November schickte sie ein Foto, das eine Pistole zeigt, die auf ihrem Handschuh glänzt. ›Meine neue Perle‹, schrieb sie. Eine Nachricht lautete: ›Bin jetzt übrigens bei Al Qaida.‹«[1]
Anfang Juli 2012 sprang die siebenunddreißigjährige Erzieherin Ina K. im Osterwald in Niedersachsen bei einem Ausflug in einen 25 Meter tiefen Bergwerksschacht. Zuvor war dort einer ihrer Schützlinge, ein dreijähriger Junge, auf einer morschen Abdeckung eingebrochen und in die Tiefe gestürzt. Ina K. sprang ihm, ohne zu zögern, hinterher, konnte das Kind in der Dunkelheit des Schachts finden und zwei Stunden lang im fünf Grad kalten Wasser oben halten, bis die Feuerwehr beide retten konnte. Der Junge wie auch Ina K. wurden nur leicht verletzt.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Erzieherin beim Sprung in die Dunkelheit selbst ums Leben kommen würde, war extrem hoch; die Aussicht, das Kind zu finden und zu retten, äußerst niedrig. Ina K. wusste nicht einmal, wie tief der Schacht war, in den sie sprang. Sie wusste auch nicht, wie sie aus ihm jemals wieder herauskommen würde. Ina K. schien es einfach selbstverständlich, dass das Kind gerettet werden müsse.
Ende 2014 befinden sich mindestens eine Million Menschen aus Syrien und aus dem Nordirak auf der Flucht vor einem außerordentlich brutalen Bürgerkrieg, vor der Bombardierung durch das Assad-Regime, vor Mord und Vergewaltigung durch IS-Milizen. Wer ihnen warum jeweils nach dem Leben trachtet, ist undurchschaubar. Die Menschen, die auf der Flucht sind, tragen keine Schuld. Sie kommen, wenn sie Glück haben, notdürftig in Flüchtlingslagern unter, in überfüllten, ungeheizten Zelten, meist ohne medizinische Betreuung. Viele versuchen, nach Europa zu kommen, dort Asyl zu beantragen. Die EU beschließt zum selben Zeitpunkt, das Programm »Mare Nostrum« einzustellen, in dessen Rahmen Italien zuvor mehr als 100000 Flüchtlinge aus unterschiedlichen Ländern vor dem Ertrinken im Mittelmeer gerettet hat. Die Rettung von Flüchtlingen, die bei ihrem Weg über das Mittelmeer in Seenot geraten, wird jetzt der Grenzsicherungsagentur Frontex übertragen. Frontex’ eigentliche Aufgabe besteht in der Sicherung der europäischen Außengrenzen, nicht in der Rettung von Flüchtlingen aus Seenot. Außerdem steht erheblich weniger Geld zur Verfügung, und Frontex rettet nur in Küstennähe. Der deutsche Innenminister Thomas de Maizière hat laut »Deutscher Welle« unlängst behauptet, dass die Seenotrettung der europäischen Staaten die Flüchtlinge ja erst ermutige, die gefährliche Reise zu wagen.[2] Der Münchener Kabarettist Christian Springer und sein Freiwilligenteam fahren dagegen seit Dezember 2011 regelmäßig nach Syrien, nach Jordanien und in den Libanon, um syrischen Flüchtlingen zu helfen. Ihr Ziel: schnell, effektiv und professionell vor Ort Hilfe zu leisten. Dafür hat Springer den gemeinnützigen Verein Orienthelfer e.V. gegründet. Die Orienthelfer organisieren Schulunterricht für Flüchtlingskinder, stellen Krankenwagen und Müllwagen zur Verfügung, aber auch Kuscheltiere für Kinder. Was eben nötig ist.
Der österreichische Schuhfabrikant Heini Staudinger, der sich unter anderem dadurch auszeichnet, dass er in seinem eigenen Unternehmen das niedrigste Gehalt bezieht, ist von der österreichischen Finanzmarktaufsichtsbehörde verklagt worden, weil er eine neue Lagerhalle mit Kleinkrediten von Kunden finanziert hat, die er mit 4 Prozent jährlich verzinst. Dabei handele es sich um ein illegales Bankgeschäft. Zum Schutz der Kreditgeber wurde Staudinger ein Zwangsgeld in sechsstelliger Höhe angedroht, falls er die Kreditgeber nicht sofort auszahle. Staudinger, der sich weigerte, dem nachzukommen, wurde Gefängnis angedroht (Staudinger: »Sehr gern, da komme ich endlich mal zum Lesen!«). Der Fall erfuhr große Aufmerksamkeit in den Medien, Proteste gegen die Finanzmarktaufsichtsbehörde wurden organisiert, es gab Petitionen für eine Gesetzesänderung. Anfang 2014 verliert Staudinger den Prozess. Schon im September 2013 hatte er eine neue Aktivität angekündigt, um die alleinerziehenden Mütter in seinem Unternehmen besser entlohnen zu können, ohne Gerechtigkeitsprinzipien zu verletzen. Da der österreichische Milliardär Dietrich Mateschitz (»Red Bull«) die Ausgaben für seinen Formel-1-Rennstall als Marketing-Aufwendungen von der Steuer absetzen kann, gründete Staudinger die »Formel Z«, in der Kleinkinder in Bobby-Cars gegeneinander antreten. Mit dem Steuervorteil finanziert er die höhere Entlohnung der alleinerziehenden Mütter.
Würden wir sagen: Alle erwähnten Personen handeln autonom? Vermutlich ja, obwohl Sarah O., Ina K., Thomas de Maizière, Christian Springer und Heini Staudinger höchst unterschiedliche Dinge tun. Sarah O. entscheidet sich autonom für die Aufgabe ihrer Freiheit und für die Unterordnung unter ein repressives Regime. Ina K. riskiert ihr Leben, um ein anderes zu retten. Thomas de Maizière folgt als Bundesinnenminister seiner Verpflichtung, »Schaden vom deutschen Volk« abzuwenden, Christian Springer versucht den Schaden zu mildern, der dadurch anderen Völkern entsteht. Heini Staudinger bemüht sich, Ungerechtigkeit durch List zu überwinden. Wenn wir sagen, sie alle handeln autonom, bekommen wir aber sofort Schwierigkeiten zu entscheiden, ob sie nicht zugleich auch konform handeln: Sarah O. steigt zwar autonom aus dem für sie vorgesehenen Lebensweg aus, aber nur, um sich radikaler Konformität zu unterwerfen. Ina K. würde ihr Verhalten gar nicht als »autonom« verstehen, sondern als sozial selbstverständliches, also konformes Verhalten. Der Bundesinnenminister ist in seinem Handeln ohnehin der Allgemeinheit verpflichtet, und Christian Springer genauso wie Heini Staudinger tun, was sie tun, um andere zu unterstützen. Kurz: In allen Fällen steht ein mehr oder weniger klar definiertes Kollektiv im Hintergrund, dem sich die Handelnden verpflichtet fühlen. Sind sie, so betrachtet, eigentlich autonom? Und kann es autonomes Handeln und Entscheiden sein, wenn man die eigene Autonomie preisgibt oder die Schädigung anderer durch seine autonome Entscheidung in Kauf nimmt?
Man sieht sofort: Es ist eine schwierige Sache mit der Autonomie. Und es wird noch schwieriger, wenn man sieht, dass niemand so richtig weiß, was Autonomie eigentlich ist, aber das Selbstverständnis moderner pluralistischer Demokratien trotzdem darauf baut, dass Menschen selbstbestimmt, also autonom, handeln und entscheiden können. Wir möchten in dem vorliegenden Buch dieser scheinbar so selbstverständlichen Eigenschaft nachspüren und klären, was das ist: Autonomie. Eine persönliche, unverlierbare Eigenschaft? Das wäre die idealistische Variante, die historisch betrachtet zur Entstehung moderner Staatsgesellschaften passen würde. Eine vor allem in bestimmten sozialen Situationen abrufbare Fähigkeit? Das wäre eine behavioristische Sicht, die den Einzelnen und seine Handlungen vor allem im Ensemble von Umweltreizen betrachtet. Eine nur unter bestimmten Bedingungen zur Entfaltung kommende menschliche Eigenschaft – also eine, philosophisch gesprochen, »dispositionelle Eigenschaft«, die als Potential immer vorhanden ist, aber spezifischer Voraussetzungen bedarf, um wirksam zu werden?
Und umgekehrt: Was sind die gesellschaftlichen Umstände, die Autonomie ermöglichen, einschränken oder blockieren? Hat Autonomie immer schon existiert, oder hat sie sich erst unter bestimmten historischen Bedingungen entwickelt? Was ist überhaupt die Rolle von Kultur und Gesellschaft bei der Entfaltung von Autonomie? Das sind Fragen, denen wir in diesem Buch nachgehen werden – nicht nur, weil wir es unbefriedigend finden, dass es keine klare Vorstellung von Autonomie gibt, obwohl niemand an ihrer zentralen Bedeutung zweifelt. Sondern vor allem auch, weil es gegenwärtig Entwicklungen gibt – in Gestalt von Überwachungstechnologien, Big Data, Transparenzidealen, Shitstorms und Skandalisierungen –, die, sagen wir es zurückhaltend, unseren Vorstellungen von einem selbstbestimmten Leben in einer freien Gesellschaft stark widersprechen: Autonomie ist gefährdet. Und wir halten es, soviel vorweg, für dringend notwendig, diese Errungenschaft zu verteidigen.
Autonomie ist nämlich – zumindest aus heutiger europäischer Sicht – unverzichtbar für ein sinnvolles, selbstbestimmtes Leben. In einem gewissen Sinne kann man davon sprechen, dass Autonomie sowohl eine Tatsache als auch ein Wert ist: Sie ist eine Tatsache, weil Individuen Autonomie besitzen und moderne Staaten sie gewähren, doch sie ist gleichzeitig ein Wert: Wir gehen im Allgemeinen davon aus, dass Autonomie erstrebenswert ist. Das hat vor allem damit zu tun, dass Autonomie uns Freiheitsspielräume gewährt. Autonome Menschen können – in gewissen Grenzen – selbst entscheiden, welche Ausbildung sie machen, welchen Beruf sie wählen und mit welchem Partner sie ihr Leben oder Teile davon verbringen wollen. Doch Autonomie gibt es nicht umsonst: Entscheidungsspielräume können schnell zu Entscheidungszwängen werden, und Offenheit führt oft zu Unsicherheit. Dennoch gibt es eine Vielzahl von Gründen, Autonomie als eine zivilisatorische Errungenschaft zu bezeichnen.
Doch was heißt »Autonomie« eigentlich? Geht man dieser Frage nach, dann stellt sich schnell der Verdacht ein, dass Autonomie ihre Beliebtheit auch ein wenig ihrer Unbestimmtheit verdanken könnte. Das sieht man schon daran, was wir alles als autonom bezeichnen: Autonom können Menschen sein, aber auch Staaten und Teile von Staaten, autonom sind aber auch Kunstwerke und seit einiger Zeit sogar Roboter oder Autos.
Doch was haben Roboter schon mit Kunstwerken oder gar mit autonomen Individuen gemeinsam? Nicht viel, möchte man sagen, doch das wäre zu kurz gegriffen. Gemeinsam ist Staaten, Individuen und Robotern nämlich eine gewisse Unabhängigkeit von äußeren Einflüssen, die ihnen Spielraum lässt, eigenen Regeln und Prinzipien zu folgen. Autonome Roboter werden nicht ferngesteuert, autonome Kunstwerke dienen keinem direkten Zweck, autonome Staaten können ihre eigenen Gesetze erlassen und autonome Individuen – wir hatten das bereits gesehen – können weitgehend selbst bestimmen, was sie tun.
Das ist zunächst einmal eine gute Sache und einer der Gründe dafür, dass wir Autonomie als eine zivilisatorische Errungenschaft betrachten. Tatsächlich scheinen wir Autonomie um ihrer selbst willen zu schätzen, eben weil sie uns Freiheits- und Handlungsspielräume verschafft. Besonderen Respekt haben wir vor autonomen Individuen dann, wenn diese Widerstände überwinden. Darin scheint zumindest einer der Gründe für unsere besondere Wertschätzung von autonomen Personen wie Antigone, Martin Luther, Georg Elser oder den Geschwistern Scholl zu liegen.
Diese zivilisatorische Errungenschaft hat sich in einem vergleichsweise lang andauernden und recht komplexen historischen Prozess herausgebildet. Dieser Prozess vergrößert einerseits die Spielräume, die Gesellschaften ihren Mitgliedern lassen: Traditionelle Gesellschaften in vergangenen Epochen boten in der Regel wenige Alternativen, was Lebensführung, Beruf, die Wahl des Partners oder den Wohnort betraf – von Mode und Musikgeschmack ganz zu schweigen. Das hatte auch damit zu tun, dass viele Möglichkeiten gar nicht zur Verfügung standen: Man kann sich nicht zwischen einer Karriere als IT-Spezialist und einer Laufbahn als Mediendesigner entscheiden, wenn es weder Computer noch Mediendesign gibt.
Doch die Entwicklung erfasst nicht nur die objektiven Möglichkeiten für autonomes Handeln, vielmehr verändert sie auch die Erwartung, wie viel Autonomie einem Individuum zusteht und was man eigentlich unter Autonomie zu verstehen hat. Ablesen lässt sich das z.B. an Entwürfen für ideale Staaten, wie sie sich bei Platon, Thomas Morus, Tommaso Campanella und später bei Ernst Bloch finden. Ursprünglich lassen solche Staatsutopien den Individuen nur ein Minimum an persönlichem Spielraum: Kleidung, Familienstand, Aufenthaltsort und natürlich auch der Beruf werden von Staats wegen festgelegt. Vielfach mischt sich dieser Staat auch in die engste Intimsphäre ein, in Sexualität, Familie und Partnerschaft. Autonomie gilt hier nicht nur als unnötig, vielmehr ist sie ganz offenbar unerwünscht. Später, mit der Entwicklung moderner Gesellschaften, geraten solche Einschränkungen aber in Verruf: In den negativen Utopien von Aldous Huxley und George Orwell taugen solche Eingriffe nur noch als Schreckensszenarien – selbst wenn sie dem Glück der Mehrheit dienen.
In neueren positiven Utopien dagegen wird dem Einzelnen im Gegensatz zu den traditionellen Staatsutopien ein Maximum an Spielraum zugebilligt; Ernst Bloch erklärt einen Prozess der privaten Selbstbesinnung zur Bedingung von Autonomie, die gleichzeitig eine Voraussetzung für die Realisierung seines utopischen Entwurfes darstellt: Das Individuum hängt nicht mehr vom utopischen Staat, sondern der utopische Staat vom Individuum ab.
Immer wieder wird damit ein Zusammenhang sichtbar, der auch für unsere eigene Gegenwart von Bedeutung ist: Autonomie ist an Privatheit gebunden. Sie benötigt einen geschützten Raum, in dem sich individuelle Besonderheiten und Möglichkeiten erst entwickeln können. Wird die Privatsphäre gefährdet, so wie dies in den traditionellen Staatsutopien, in den negativen Utopien, vor allem aber in den totalitären Staaten des 20. Jahrhunderts geschieht, dann steht auch Autonomie auf dem Spiel. Soll diese dagegen gefördert werden, dann muss es auch einen Bereich von Privatheit geben, in dem sich individuelle Besonderheiten zuallererst entwickeln können.
Ernst Bloch liefert nur eines von vielen Beispielen dafür, dass es innerhalb dieser Entwicklung zu einer massiven Steigerung der Erwartungen kommt, wie viel Autonomie ein Staat seinen Bürgern zuzugestehen hat. Gleichzeitig ändert sich aber auch die qualitative Vorstellung davon, was Autonomie eigentlich bedeutet. So hatte z.B. Immanuel Kant, dessen Moralphilosophie zentrale Bedeutung für die Etablierung des Autonomiebegriffs hat, einen direkten Zusammenhang zwischen Autonomie, Moralität und Vernunft hergestellt. Wer moralisch handelt, der handelt in Kants Augen vernünftig, und weil er als Mensch ein vernünftiges Wesen ist, handelt er damit gleichzeitig auch selbstbestimmt. Lässt man sich dagegen von anderen Prinzipien leiten, dann handelt man in Kants Augen nicht nur irrational, sondern auch heteronom, also fremdbestimmt. Kant treibt damit die Emanzipation von sozialen und religiösen Konventionen voran, gleichzeitig grenzt er aber individuelle Merkmale als Bestandteile von Autonomie aus: Wer sich von seinen persönlichen Wünschen und Überzeugungen leiten lässt, der handelt in Kants Augen heteronom.
Doch die Entwicklung geht weiter. Spätestens seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wird Autonomie mehr und mehr als individuelle Autonomie verstanden. Persönliche Wünsche und Bedürfnisse gelten nun nicht mehr als Einschränkungen, sondern umgekehrt als konstitutive Bestandteile von Autonomie; gleichzeitig wird die enge Bindung an die Vernunft aufgegeben. Eine wichtige Rolle spielen dabei Autoren wie Max Stirner, Friedrich Nietzsche und später der bereits erwähnte Ernst Bloch. Während Kant das Individuum praktisch vollständig auf die Rationalität verpflichtet hatte, macht Max Stirner die Ratio in einem nicht ganz ungefährlichen Gegenzug vom Individuum abhängig. Auch bei anderen Autoren treibt das Bemühen um Autonomie zuweilen merkwürdige Blüten. Vor allem die Grenzen, die die Natur dem individuellen Handlungsspielraum setzt, sollen beiseitegeräumt werden. Zu erkennen ist dies bereits bei Charles Baudelaire und später in der Décadence; die russischen Utopisten wollen dann kurz nach der Wende zum 20. Jahrhundert gleich noch die Naturgesetze verändern, den Tod abschaffen und letztlich die totale Kontrolle über die Natur gewinnen.
Autonomie, so kann man hier sehen, hat offenbar auch ihre Schattenseiten. Wir werden uns ausführlich mit ihnen beschäftigen. Dennoch glauben wir, dass es sich insgesamt um eine wichtige Errungenschaft des zivilisatorischen Prozesses handelt. Eine Errungenschaft, die konstitutiv für Freiheits- und Entscheidungsspielräume ist, ohne die ein sinnvolles Leben aus heutiger Perspektive überhaupt nicht mehr vorstellbar wäre. Gleichzeitig ist Autonomie aber auch unverzichtbar für das Funktionieren moderner, hochdifferenzierter Gesellschaften.
Umso bedenklicher sind daher die zahlreichen Hinweise darauf, dass Autonomie heute in mehrfacher Hinsicht gefährdet ist. Zum einen weckt eine Vielzahl wissenschaftlicher Befunde Zweifel an unserer Fähigkeit zu autonomem Handeln. Sozialpsychologische Experimente zeigen beispielsweise, dass es mit unserer Widerstandskraft gegenüber äußeren Einflüssen längst nicht so weit her ist, wie wir das gerne annehmen. Gravierend sind diese Einschränkungen vor allem deshalb, weil sie großenteils unserer Kontrolle entzogen sind. Wir nehmen diese Einflüsse nicht wahr; sie werden unabhängig davon wirksam, ob wir uns selbst als autonom begreifen oder nicht, und in vielen Fällen können wir kaum etwas gegen sie tun: Stellen Sie sich einfach mal mit jemand anderem an eine belebte Straße und schauen Sie auffällig nach oben oder gähnen Sie in einer öffentlichen Veranstaltung. Nach kürzester Zeit werden Sie von Menschen umringt sein, die genau dasselbe tun.
Es kommt hinzu, dass sich unsere prinzipielle und oft auch gar nicht problematische Anfälligkeit für soziale Einflüsse durch die Entwicklung des Internets noch deutlich verstärken kann. Dies beginnt mit den sogenannten sozialen Netzwerken, in denen Menschen ihr Privatleben öffentlich ausbreiten, es setzt sich fort mit Medienkampagnen, die in kürzester Zeit ganze Gesellschaften in Aufruhr versetzen können, und es endet mit der Bespitzelung durch Geheimdienste und Internetkonzerne, die früher oder später zu ganz entscheidenden Einschränkungen unserer Spielräume für autonomes Handeln führen können.
Dass unsere Handlungsspielräume gefährdet werden, wenn unsere Privatsphäre in die Öffentlichkeit gezerrt wird oder wir zum Opfer von Überwachung und Medienkampagnen werden, ist nicht weiter überraschend. Wesentlich interessanter ist die Frage, ob nicht auch die aktive Beteiligung an solchen Aktivitäten unsere Autonomie einschränkt. Natürlich stellen wir unsere Privatfotos in der Regel selbst ins Netz. Doch entwickelt sich innerhalb solcher Netzwerke nicht ein regelrechter Druck, es den anderen gleichzutun? Vieldiskutiert ist inzwischen der soziale Druck, der entsteht, wenn man sichtbar online ist und nicht sofort auf eine Frage oder einen Kommentar antwortet. Deutlicher noch zeigen sich neue soziale Zwänge in Fällen von Cybermobbing und Shitstorms. Entwickelt sich hier nicht eine Eigendynamik des Mitmachens, die auch den »Tätern« die Kontrolle darüber entreißt, was hier passiert und eskaliert? In jedem Falle gehört es zur Komplexität von Autonomie, dass sie nicht nur durch offen sichtbaren Zwang gefährdet wird, vielmehr kann sie auch durch subtile, für den Einzelnen kaum erkennbare Einflüsse unterlaufen werden.
Die skizzierten Probleme sind gravierend, aber – so soll hier gezeigt werden – wir sind ihnen nicht einfach ausgeliefert. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, auf die wir uns stützen werden, verraten nicht nur etwas über die Einschränkungen unserer Autonomiefähigkeiten, sie geben auch Hinweise, wie wir diesen Einschränkungen begegnen können. Wenn wir die Mechanismen verstanden haben, die unsere Autonomie gefährden, dann gewinnen wir Mittel und Wege, uns dagegen zur Wehr zu setzen. Dies mag einfacher sein, wenn der Druck von den Mitgliedern des lokalen Fußballvereins ausgeht, und schwieriger, wenn irgendein Geheimdienst oder ein mächtiger Internetkonzern dahinterstecken, aber die Erkenntnis unserer Abhängigkeit gibt uns in jedem Falle bessere Chancen, etwas zu unternehmen, das intelligenter ist als die Kündigung unserer Mitgliedschaft bei Facebook. Obwohl auch die schon intelligent ist.[3]
Kommen wir zunächst noch einmal zurück auf den Begriff der Autonomie. Was heißt es also, wenn wir jemanden als »autonom« bezeichnen? Gemeint ist damit zunächst einmal, dass eine Person nach ihren eigenen Prinzipien handelt, und zwar auch dann, wenn sie dabei Widerstände überwinden oder Gefahren in Kauf nehmen muss. Autonom ist also, wer für seine Überzeugungen einsteht, obwohl diese gerade verpönt oder gar verboten sind, wer zu seinen Freunden steht, auch wenn die gerade nicht wohlgelitten sind, wer sich in Gefahr bringt, um jemandem zu helfen, oder wer ganz einfach seinen eigenen Kopf hat. Autonomie ist nicht gerade bequem. Das gilt für die autonome Person selbst; es gilt aber auch für deren Umwelt. Meist sprechen wir dann von Autonomie, wenn jemand gegen Widerstände für wichtige Werte eintritt, doch Autonomie kann auch darin bestehen, abwegige Überzeugungen gegen eine halbwegs vernünftige Mehrheit zu verteidigen.
Gefährdet werden kann Autonomie durch äußere Widerstände, durch innere Schwäche, aber sie kann auch durch Umstände unterlaufen werden, die uns völlig unbewusst sind. Nehmen wir an, ich sei fest davon überzeugt, dass Diebstahl verwerflich ist. Wenn ich mich dann trotzdem von einem Bekannten überreden oder gar zwingen lasse, eine Tafel Schokolade im örtlichen Supermarkt zu stehlen, dann handle ich offenbar heteronom. Dasselbe gilt, wenn die Schokoladenfirma mit einem ganz neuen Werbetrick dafür sorgt, dass ich der Verlockung nicht mehr widerstehen kann. Doch es kann auch sein, dass ich überhaupt keine festen Überzeugungen in Bezug auf Diebstahl habe und mal stehle, mal bezahle, so wie es gerade kommt. In diesem Falle bin ich nicht heteronom, sondern anom:[4] Mein Handeln ist weder selbst- noch fremdbestimmt, vielmehr ist es unbestimmt oder eben zufällig.
Erkennbar wird hier ein zentrales Merkmal des Autonomiebegriffs: Um beurteilen zu können, ob jemand oder etwas autonom ist, muss man erst einmal wissen, was dieser Jemand oder das Etwas seinem Wesen nach ist. Wenn wir nicht wissen, ob jemand wirklich die feste Überzeugung hegt, dass Diebstahl verwerflich ist, können wir nicht beurteilen, ob er selbstbestimmt handelt, wenn er im Sinne dieser Überzeugung handelt. Autonomie ist also ein Relationsbegriff, der direkt abhängig ist von den Eigenschaften, die wesentlich für eine Person oder Sache sind. Ist eine bestimmte Person vernünftig, dann ist sie autonom, solange sie vernünftig handelt – das entspricht im Übrigen der kantischen Vorstellung von Autonomie. Dagegen handelt eine stark emotionale Person autonom, wenn sie sich von ihren Emotionen leiten lässt.
Es lohnt sich daher, etwas genauer darüber nachzudenken, was denn nun genau die eigenen Prinzipien, Wünsche und Überzeugungen sind. Sind es die Wünsche und Überzeugungen, die die Person gerade tatsächlich hat? Und sind es alle diese Wünsche und Überzeugungen? Wohl kaum! Auf der einen Seite hat jeder von uns eine Reihe von Wünschen und Überzeugungen, über die man lange nachgedacht hat und die man vorbehaltlos akzeptiert, ja die eine zentrale Rolle für das eigene Selbstverständnis besitzen: Gelten könnte dies z.B. für meine Überzeugung, dass Diebstahl verwerflich, dass Demokratie eine gute Sache ist, oder dass man die Umwelt schützen sollte. Wenn man nach solchen Wünschen und Überzeugungen handelt, dann handelt man offenbar selbstbestimmt.
Auf der anderen Seite hat jeder von uns aber auch ein paar Wünsche, Bedürfnisse oder Gewohnheiten, die man am liebsten loswerden würde und die man daher nicht wirklich als eigene Wünsche, Bedürfnisse oder Gewohnheiten akzeptiert. Ganz offensichtlich ist dies bei psychischen und physischen Abhängigkeiten, also z.B. bei Alkoholismus oder Rauschgiftabhängigkeit, aber auch bei psychischen Störungen, etwa bei einer Zwangsstörung. Eine Patientin mit einer Zwangsstörung hat immer wieder das Bedürfnis, sich die Hände zu waschen, aber sie empfindet dieses Bedürfnis im Allgemeinen nicht als ihr eigenes Bedürfnis: Sie würde es gerne loswerden, doch offenbar gelingt ihr das nicht. Auch aus der Außenperspektive wird man in einem solchen Fall wohl kaum von Selbstbestimmung sprechen: Was die Patientin tut, wird nicht von ihr, sondern von ihrer Krankheit bestimmt.
Doch wie kann man eine systematisch nachvollziehbare Unterscheidung treffen zwischen den Wünschen und Überzeugungen, die wir wirklich als unsere eigenen akzeptieren, und den anderen Wünschen und Überzeugungen, die uns fremd oder gar zwanghaft erscheinen? Hier kommen wir wieder auf das Problem zurück, das sich oben angesichts der eingangs erwähnten Beispiele von Sarah O., Ina K., Thomas de Maizière, Christian Springer und Heini Staudinger gestellt hatte.
Unsere Antwort lautet, dass Wünsche und Überzeugungen nur dann als die eigenen gelten können, wenn sie der eigenen Kontrolle unterliegen. Konkret heißt das, dass man sie aufgeben kann, sofern man sich dazu entschließt.[5] Meine Überzeugung, dass Diebstahl verwerflich ist, scheint dieses Kriterium zu erfüllen: Es ist durchaus vorstellbar, dass ich diese Überzeugung aufgeben würde, sofern mir jemand gute Gründe dafür nennen würde, dass Diebstahl nicht verwerflich ist. Umgekehrt würde man zweifeln, dass es sich wirklich um meine Überzeugung handelt, wäre ich nicht dazu in der Lage, die Überzeugung aufzugeben. In diesem Fall würde sich der Verdacht einstellen, dass ich vielleicht gar nicht anders kann, als nicht zu stehlen; in Wirklichkeit ist hier gar nicht meine eigene Überzeugung wirksam, sondern allenfalls die rigorose Erziehung meiner Eltern.
Fremdbestimmtes Wollen. Dieser Satz der Künstlerin Jenny Holzer erschien erstmals 1982 als Lichtinstallation am New Yorker Times Square.
Bei der Überzeugung scheint das Kriterium also zu funktionieren. Doch wie ist es mit der Zwangsstörung? Auch hier scheint die Sache klar: Wenn ich wirklich eine echte Zwangsstörung habe, dann wird der bloße Entschluss, mir nicht mehr die Hände zu waschen, wenig fruchten. Charakteristisch für eine Zwangsstörung ist es ja gerade, dass die entsprechenden Wünsche und Verhaltensweisen meiner Kontrolle entzogen sind.
Halten wir also fest, dass alle die Handlungen selbstbestimmt sind, die auf meine eigenen Wünsche und Überzeugungen zurückgehen. Das wiederum sind die Überzeugungen, die meiner Kontrolle unterliegen, so dass ich sie gegebenenfalls aufgeben kann.
Doch kommen wir zurück zum Autonomiebegriff selbst. Wie schon gezeigt, gerät Autonomie nicht nur dann in Gefahr, wenn die äußeren Einflüsse zu stark werden. Autonomie wird auch dann in Frage gestellt, wenn eine Person gar keine Wünsche und Überzeugungen hat, die ihr Handeln leiten könnten: Wer sich ziellos treiben lässt, ist weder autonom noch heteronom, sondern anom. Eine solche Person steht nicht nur nicht unter den eigenen Prinzipien, sondern unter gar keinen.
Autonomie setzt also voraus, dass man selbstbestimmt handeln kann, doch damit ist es nicht getan. Wir würden niemanden als wirklich autonom bezeichnen, der seinen eigenen Prinzipien nur folgt, sofern die Bedingungen optimal und keine Hindernisse vorhanden sind. Wer wirklich nach seinen eigenen Wünschen, Überzeugungen und Prinzipien leben will, der muss imstande sein, Widerstände zu überwinden. Man muss an den eigenen Prinzipien festhalten, wenn andere widersprechen, man muss in der Lage sein, sie durchzusetzen, wenn es Hindernisse gibt, und man darf sich nicht beirren lassen, wenn andere sich anders verhalten. Autonomie kann man daher genauer als Fähigkeit zu selbstbestimmtem Handeln gegen Widerstände bestimmen. Eine autonome Person hält an ihren Prinzipien fest, und sie tut es auch dann, wenn es schwierig wird.
Autonomie ist zudem keine Eigenschaft, die man entweder besitzt oder nicht, vielmehr scheint sie in unterschiedlichen Graden aufzutreten, so wie man mehr oder minder gut rechnen oder mehr oder minder gut Klavier spielen kann. Allerdings fällt es schon beim Rechnen und Klavierspielen oft schwer genug festzustellen, was besser und was weniger gut ist. Wenn es um Autonomie geht, ist das noch ein ganzes Stück schwieriger. Schwer zu sagen, ob meine Überzeugung, dass Diebstahl verwerflich ist, stärker ist als die entsprechende Überzeugung meiner Nachbarin oder meine eigene Überzeugung, dass die Umwelt geschützt werden muss. Aber so genau müssen wir das vielleicht auch gar nicht wissen. Wichtig ist nur, dass wir besonders starke und besonders schwache Überzeugungen voneinander unterscheiden können, und das erscheint machbar. Wer behauptet, er halte Diebstahl für verwerflich, aber dennoch stiehlt, scheint keine besonders gefestigte Überzeugung zu haben. Es mag sein, dass uns die Psychologie hier früher oder später zu genaueren Angaben verhelfen wird, aber auch so scheint die Unterscheidung sinnvoll, selbst wenn eine ganze Reihe von unklaren Fällen übrig bleibt.
Ähnliche Probleme treten auf, wenn es um die Frage geht, wie gut jemand mit Widerständen umgehen kann. Die Frage ist nicht ganz unabhängig von der nach der Stärke der Überzeugungen: Je stärker die Überzeugung ist, desto leichter dürfte im Allgemeinen auch die Überwindung von Widerständen sein. Doch das ist wohl nicht alles: Es scheint Menschen zu geben, die an Widerständen scheitern, egal wie fest ihre Überzeugungen sind, während andere sich auch dann durchsetzen, wenn sie ihrer Sache nicht völlig sicher sind. Offensichtlich können Widerstände unterschiedlich groß sein, auch wenn eine genaue Bestimmung im Einzelfall wieder schwerfallen mag. Im Alltag sind wir sehr wohl imstande, eine halbwegs sinnvolle Unterscheidung zwischen kleinen und großen Hindernissen zu machen. Wir können unterscheiden zwischen hartnäckigem Widerstand und vorsichtigen Einwänden, zwischen starkem Anpassungsdruck und einem dezenten Hinweis auf die Gepflogenheiten einer Gruppe.
Damit besitzen wir schon eine ganz gute Grundlage für die Unterscheidung zwischen verschiedenen Graden von Autonomie. Gleichzeitig wird damit sichtbar, dass es sinnvoll ist, Autonomie als eine Eigenschaft zu beschreiben, die mal mehr, mal weniger stark auftritt – auch wenn die genaue Bestimmung der Stärke ein eigenes Problem ist.
Das zeigt sich auch, wenn wir diese Kriterien auf die eingangs erwähnten Beispiele für autonomes Verhalten anwenden. Was Sarah O. betrifft, die Konstanzer Schülerin, die in den Dschihad geht, so sieht es so aus, als hätte sie eine autonome Entscheidung getroffen – auch wenn aus dem Bericht nicht hervorgeht, dass sie bei ihrer Entscheidung Widerstände überwinden musste. Dass es hier zu einer drastischen Wende in ihrem Leben kommt, spricht nicht gegen die Autonomie; vielmehr gehört die Fähigkeit, sein Leben zu ändern, gerade zu den Vermögen, die ein autonomes Individuum auszeichnen. Ob ihre Entscheidung sonderlich klug war, ist eine ganz andere Frage. Genauso wenig spricht es gegen die Autonomie dieser Entscheidung, dass sie letztlich zum Verlust von Autonomie führt. So etwas passiert häufiger: Auch die Entscheidung, ins Kloster zu gehen, kann autonom getroffen werden, selbst wenn sie zu einem Autonomieverlust führt. Fraglich ist allenfalls, ob Sarah O. nicht unter dem Einfluss ihres salafistischen Ehemanns gestanden hat – das könnte ihre Autonomie eingeschränkt oder gar aufgehoben haben. Aber dazu sagt der Bericht nichts.
Auch bei Ina K., der Erzieherin, liefert der Bericht uns nicht alle Fakten, die für eine eindeutige Antwort nötig wären. Doch soweit es zu erkennen ist, handelt sie ebenfalls autonom. Dafür spricht vor allem, dass ihr eigenes Handeln ihr im Nachhinein selbstverständlich erscheint – offenbar hat sie im Sinne ihrer eigenen Überzeugungen gehandelt. Zudem gibt es keine Indizien für irgendwelche Zwänge oder sozialen Druck, die sie zu ihrer Handlung veranlasst haben könnten. Ganz im Gegenteil müssen wir vielmehr annehmen, dass sie ihre Angst vor dem Sprung in die Tiefe überwinden musste. Insofern spricht hier alles für ein hohes Maß an Autonomie.
Was den deutschen Innenminister betrifft, so ist die Antwort schwieriger. Offenbar handelt er ganz so, wie es die Wähler und seine oberste Parteifreundin von ihm erwarten. Auch wenn er dazu sicher nicht seinen eigenen Überzeugungen untreu werden muss, so stellt sich doch ein gewisser Eindruck von Konformismus ein, zumal es für ihn zumindest in seinem näheren Umfeld kaum größere Widerstände zu überwinden gab; letztlich ist die Sache jedoch nicht eindeutig zu entscheiden. Anders sieht es bei Christian Springer aus: Soweit man das sehen kann, handelt er nicht nur im Sinne eigener Überzeugungen, vielmehr scheint er dabei auch viele Widerstände zu überwinden und stellt sich schließlich auch gegen die mehrheitliche Meinung in seinem eigenen Land.
Noch klarer scheinen die Dinge im Falle des österreichischen Schuhfabrikanten zu liegen: Er handelt ganz offensichtlich im Sinne eigener Überzeugungen und wendet sich dabei gegen die Macht des Staates, ja er nimmt sogar einen Gefängnisaufenthalt in Kauf.
Obwohl diese Beispiele etwas anderes nahelegen, ist wichtig zu beachten, dass autonomes Handeln nicht automatisch moralisch verdienstvoll ist. Ein Verbrecher oder ein Diktator kann seine eigenen Überzeugungen und Wünsche gegen Widerstände durchsetzen. Er wäre dann autonom – und für seine Verbrechen verantwortlich.
Autonomes Handeln lässt sich zudem erklären, es kommt nur darauf an, dass es mit Bezug auf die Überzeugungen und Wünsche erklärt wird, die die Person selbst hat. So scheint Heini Staudinger der Ansicht zu sein, dass die sozial schwachen Angestellten seiner Firma seine Hilfe benötigen, und diese Überzeugung erklärt offenbar, warum er sich so und nicht anders verhält, wenn er autonom handelt. Wollte man derartige Erklärungen ausschließen, dann müsste man ja unsere Handlungen auch dann als selbstbestimmt und autonom bezeichnen, wenn sie nicht durch unsere eigenen Überzeugungen und Wünschen zu erklären wären, z.B. weil sie ihnen widersprechen. Das macht wenig Sinn!
Und was ist mit Wünschen, Prinzipien und Überzeugungen? Würden wir nicht zumindest hier größere Freiheitsspielräume mit der Forderung gewinnen, dass man sich voraussetzungslos für oder gegen die Annahme eines neuen Wunsches oder einer neuen Überzeugung entscheiden können muss?[6] Dies wäre offensichtlich nicht sinnvoll: Wenn wir vor der Frage stehen, ob wir eine bestimmte Auffassung oder einen Wunsch akzeptieren sollen oder nicht, dann müssen wir unsere bisherigen Erfahrungen, Überzeugungen und Wünsche zurate ziehen. Wie sonst sollten wir hier zu einer sinnvollen Antwort kommen? Eine Auffassung anzunehmen und dabei die bisherigen Erfahrungen und Einsichten zu ignorieren, wäre nicht nur widersinnig, es würde uns auch der Gefahr aussetzen, Auffassungen anzunehmen, die im Widerspruch zu unseren bisherigen Erkenntnissen stehen – mit Selbstbestimmung hätte all das sicher nichts zu tun. Abgesehen davon würde sich dann auch die Frage stellen, mit welchem Recht wir überhaupt noch von unserer Entscheidung für oder gegen die Präferenz sprechen – die Entscheidung für die fragliche Auffassung fand ja unabhängig von all unseren Wünschen und Überzeugungen statt. Es wäre nicht unsere Entscheidung gewesen, sondern ein reines Zufallsereignis. Halten wir also fest, dass es auch bei dem Erwerb von Überzeugungen und Wünschen auf Entscheidungen ankommt, die im Lichte unserer Wünsche und Überzeugungen getroffen werden.
Wenn wir also erfahren würden, dass die Erzieherin aus einer Familie stammt, in der solche Handlungen häufiger vorkommen, ja in der die Kinder von den Eltern in diesem Sinne erzogen werden, so würde dies ihr Handeln erklären. Ob es die Autonomie antasten würde, hinge davon ab, ob die Hilfsbereitschaft zwanghaft geworden ist und sich daher ihrer Kontrolle entzieht. Wenn die Erzieherin sie hätte überwinden können, sie aber aus voller Überzeugung beibehalten hat, handelt sie nach wie vor autonom.
Das Gleiche gilt für Martin Luther: Solange er im Sinne eigener Überzeugungen und gegen den Widerstand von Papst und Kaiser gehandelt hat, erweist er sich als autonom – auch wenn es möglich wäre, sein Handeln zu erklären. Wichtig ist nur, dass in der Erklärung keine Tatsachen zum Vorschein kommen, die Luthers Kontrolle über sein Handeln in Frage stellen.
Die immer noch weit verbreitete Vorstellung, wir würden an Handlungsspielraum gewinnen, wenn wir uns voraussetzungslos und sozusagen völlig »frei« für oder gegen eine Handlungsmöglichkeit entscheiden würden, ist, wie schon gesagt, verfehlt: Eine voraussetzungslose Entscheidung wäre nicht nur unabhängig von äußeren Einflüssen, sondern eben auch von unseren eigenen Wünschen und Überzeugungen. Auch unsere Erfahrungen würden keine Rolle mehr spielen. Weder unser besseres Wissen noch unsere tiefverwurzelten Abneigungen würden uns mehr davor schützen, Dinge zu tun, von denen wir längst erkannt haben, dass sie schlecht für uns und andere sind. Wichtig ist dagegen, dass wir immer imstande sind, alte Gewohnheiten durch neugewonnene Erkenntnisse zu verändern. Genau das ist aber nach der hier vertretenen Vorstellung von Selbstbestimmung möglich, weil sie uns die Kontrolle über unsere eigenen Wünsche und Überzeugungen sichert.
Wie bereits erwähnt, lässt sich Autonomie sowohl von Anomie wie auch von Heteronomie unterscheiden. Solche Gegenüberstellungen helfen dabei, den in Rede stehenden Begriff genauer zu bestimmen. Von Anomie kann man dann sprechen, wenn jemand nicht selbstbestimmt zu handeln vermag, weil ihm Wünsche und Überzeugungen entweder ganz fehlen oder aber nicht handlungswirksam werden können. Dies betrifft Patienten, die z.B. aufgrund einer Depression an schwerer Antriebslosigkeit leiden. Anomie kann aber auch dann vorliegen, wenn jemand zwar aktiv bleibt, aber völlig ziellos handelt. Solche Verhaltensweisen treten häufiger nach schwerwiegenden Schädigungen des Frontalhirns auf. Patienten mit dieser Störung haben Schwierigkeiten bei der Steuerung ihres eigenen Verhaltens. Ein Beispiel hierfür liefert Phineas Gage, ein amerikanischer Eisenbahnarbeiter, dessen Fall von Antonio und Hanna Damasio[7] ausführlich beschrieben worden ist. Nach einer schwerwiegenden Verletzung des Frontalhirns durch eine Eisenstange, die ihm bei einer Sprengung mitten durch den Schädel geschossen war, begann der ursprünglich sehr zielstrebige und zuverlässige Arbeiter ein völlig unstetes Leben zu führen. Auch Antonio Damasios andere Fallstudien sprechen insgesamt dafür, dass Patienten mit derartigen Verletzungen zwar durchaus sinnvolle theoretische Vorstellungen von ihren längerfristigen Zielen und Bedürfnissen haben können, aber praktisch nicht mehr imstande sind, im Sinne dieser Ziele zu handeln.
Anomie wird im Folgenden allerdings keine entscheidende Rolle spielen. Wir möchten uns stattdessen auf die Einschränkung von Autonomie durch soziale Einflüsse und Zwänge konzentrieren. Damit kommt Heteronomie ins Spiel, der zweite Gegenbegriff zur Autonomie. Anders als anomes Handeln ist heteronomes Handeln zielgerichtet. Im Unterschied zur Autonomie sind hier aber nicht die eigenen Wünsche und Überzeugungen der handelnden Person relevant, entscheidend sind nun vielmehr externe Einflüsse. Dabei kann es sich um Einflüsse aus der Umwelt handeln, um die Gepflogenheiten einer Gruppe, aber auch um die Wünsche und Überzeugungen anderer. In den beiden zuletzt genannten Fällen kann man auch von Konformismus sprechen – vorausgesetzt, es wird dabei kein direkter Zwang ausgeübt.
Konformismus bedeutet also, dass man die eigenen Überzeugungen, Wünsche und Prinzipien denen anderer unterordnet. Wer konformistisch handelt, der trägt die Kleidung, die gerade in Mode ist, übernimmt die derzeit dominierenden politischen Vorstellungen oder orientiert sich am gängigen Musikgeschmack. Dies kann bewusst stattfinden, häufig geschieht es jedoch unbewusst. Konformistisches Handeln wird weder von direkten Zwängen noch von physischen Determinanten diktiert, vielmehr spielt der Wille der Person immer noch die entscheidende Rolle. Wer sich an den Musikgeschmack seiner Mitmenschen anpasst, will hören, was andere hören, und er handelt nach diesem Willen. Konformität ist jedoch nicht die einzige Form der Einschränkung von Autonomie. Psychische und physische Zwänge, aber auch die Grenzen, die uns die Natur setzt, schränken unsere Autonomie ebenfalls ein, ja es scheint so, als hätten wir es mit wesentlich gravierenderen Formen von Heteronomie zu tun.
In der Tat: Verglichen mit psychischem oder gar physischem Zwang, mit denen z.B. Diktaturen ihre Bürger zu politischem Wohlverhalten bringen wollen, erscheint reiner Konformismus, wie er auch in modernen Demokratien gang und gäbe ist, vergleichsweise harmlos. Doch das ist nur eine Seite der Medaille. Natürlich ist es viel schlimmer, physischen Zwang zu erleben, als dem Modegeschmack seiner Zeitgenossen hinterherzuhecheln. Doch auf der anderen Seite greift der Konformismus viel tiefer als physischer Zwang in unser Denken, ja in unsere Persönlichkeit ein: Konformismus verändert unsere eigenen Wünsche und Überzeugungen, und zwar – wie sich noch zeigen wird – oftmals, ohne dass uns das selbst überhaupt bewusst wird. Physischer Zwang mag imstande sein, uns von Protesten abzuhalten; der Konformismus dagegen kann dafür sorgen, dass wir zu Unterstützern der Diktatur werden, ja es kann passieren, dass wir uns als Mitglieder einer Gruppe zu Handlungen hinreißen lassen, die unseren tiefsten Überzeugungen widersprechen.
Wer sich ein wenig mit der Debatte über das Problem der Willensfreiheit auskennt, wird in der vorangegangenen Klärung des Autonomiebegriffs eine wichtige Parallele entdeckt haben: Auch Willensfreiheit lässt sich nämlich als Selbstbestimmung definieren. Ist also Autonomie nur ein anderes Wort für Willensfreiheit? Das ist aus einer ganzen Reihe von Gründen nicht der Fall. Tatsächlich gibt es wichtige Unterschiede zwischen Willensfreiheit und dem hier vorgestellten Begriff der Autonomie.
Der erste wesentliche Unterschied besteht darin, dass Freiheit eine Eigenschaft von einzelnen Handlungen, Autonomie dagegen eine Eigenschaft von Personen ist. Mal wieder so eine philosophische Haarspalterei? Nicht ganz! Weil Freiheit eine Eigenschaft einzelner Handlungen ist, können die unterschiedlichen Handlungen einer Person mal frei und mal unfrei sein, die Person dagegen kann autonom bleiben. Ich war frei, als ich mich dafür entschieden habe, mit dem Fahrrad und nicht mit der S-Bahn in die Uni zu fahren, aber ich war nicht frei, als ich den Zug genommen habe, um von Berlin nach Hamburg zu kommen: Ein Auto habe ich nicht, und mit dem Fahrrad ist es einfach zu weit. Mein Status als autonome Person muss dadurch nicht tangiert sein, sofern ich weiterhin in der Lage bin, gegen Widerstände selbstbestimmt zu handeln.
Um von Freiheit sprechen zu können, müssen wir nur die Umstände einer einzelnen Handlung kennen, die aber ganz genau. Was die Person vorher oder nachher getan hat, ob ihre früheren Handlungen frei waren oder nicht, spielt hier zunächst keine Rolle. Von Freiheit können wir auch bei einer Person sprechen, die in ihrem Leben nur ein einziges Mal frei gehandelt hat. Interpretiert man Freiheit als Selbstbestimmung, dann müsste die Person dieses eine Mal aufgrund ihrer eigenen Wünsche und Überzeugungen gehandelt haben – nicht aufgrund äußerer Umstände. Wer meint, dass Freiheit nicht mit Determination vereinbar ist, wird dazu noch verlangen, dass die Entscheidung nicht determiniert war: Die Person musste also in der Lage sein, unter genau denselben Umständen auch etwas anderes zu tun, und auch diese Bedingung kann bei einer Handlung erfüllt sein, bei der nächsten dagegen nicht.
Aber selbstverständlich wollen wir nicht nur wissen, ob eine einzelne Handlung frei ist. Natürlich ist es interessant, auch nach der Person selbst zu fragen. Offenbar gibt es Menschen, die häufig in der Lage sind, frei zu handeln. Andere dagegen vermögen dies nur selten. Der Autonomiebegriff, so wie er hier verstanden wird, dient dazu, diese Unterschiede zu erfassen. Es ist also keineswegs nur eine philosophische Haarspalterei, wenn Autonomie als eine Eigenschaft von Personen und nicht von Handlungen verstanden wird.
Doch wie hilft der Autonomiebegriff, die Unterschiede zwischen Personen zu erfassen, die häufig frei handeln, und solchen, die es nur selten vermögen? Hier kommt die oben bereits genannte Widerstandsfähigkeit ins Spiel. Sie bezeichnet einen zweiten wichtigen Unterschied zwischen Willensfreiheit und Autonomie, denn in der Willensfreiheitsdebatte spielt Widerstandsfähigkeit keine entscheidende Rolle.[8] Doch wer sehr widerstandfähig ist, der ist – unter sonst gleichen äußeren Umständen – häufiger in der Lage, selbstbestimmt zu handeln, als jemand, der weniger widerstandsfähig ist. Dies kann wie gesagt einerseits daran liegen, dass eine widerstandsfähige Person sehr feste Überzeugungen hat, es kann aber auch daran liegen, dass sie imstande ist, ihre Überzeugungen besonders gut und hartnäckig durchzusetzen.
Zieht man in Betracht, dass wir zur Durchsetzung unserer Wünsche und Überzeugungen fast immer irgendwelche Widerstände überwinden müssen, dann wird deutlich, dass Widerstandskraft unerlässlich ist, wenn Menschen selbstbestimmt handeln sollen. Wie oben bereits angedeutet, ist die Sache allerdings noch ein wenig komplizierter: Offenbar gibt es Umstände, die uns daran hindern können, von unserer Widerstandsfähigkeit Gebrauch zu machen, und damit unsere Autonomie untergraben. Wir werden darauf noch genauer eingehen (s. S. 115ff.).
Ein dritter Unterschied wird deutlich durch einen Vergleich mit der klassischen Willensfreiheitsdebatte. In dieser Debatte geht es darum, einen möglichst anspruchsvollen Begriff von Freiheit zu bestimmen, um so einen Maßstab z.B. für die Zuschreibung von Verantwortung zu gewinnen. In diesem Zusammenhang ist es dann zu einer bis heute nicht abgeschlossenen Debatte gekommen, ob Freiheit mit Determination vereinbar ist: Während die sogenannten Kompatibilisten eine solche Vereinbarkeit behaupten, wird sie von Inkompatibilisten bestritten. In deren Augen sind nur nichtdeterminierte Handlungen frei.[9]
Es scheint jedoch wenig sinnvoll, diese alte Debatte hier wieder aufzunehmen, zumal eine Lösung in absehbarer Zeit kaum zu erwarten ist. Tatsächlich bleibt der Unterschied zwischen Menschen, die auch unter Widerständen an ihren eigenen Überzeugungen festhalten, und solchen, die hierzu nicht in der Lage sind, auch dann erhalten, wenn man an der Existenz von Willensfreiheit in einem besonders starken Sinne zweifelt. Der Unterschied zwischen Martin Luther, der für seine Überzeugungen auch gegenüber Kaiser und Papst einsteht, und vielen anderen namenlosen Augustinermönchen, die an solche Auseinandersetzungen vermutlich noch nicht einmal gedacht haben, bleibt auch dann erhalten, wenn Luther – so wie er es selbst annahm – nicht wirklich frei war. Und genau dieser Unterschied ist es, der durch den Autonomiebegriff erfasst wird.
Tatsächlich ist Autonomie eine Eigenschaft, die sich bei Menschen in der Regel im Verhalten zeigt. Natürlich könnte man sich Szenarien ausdenken, in denen jemand rein äußerlich autonomes Verhalten zu zeigen scheint, in Wirklichkeit jedoch nur ein bewusstloser Automat ist oder von Zwängen getrieben wird. In Ridley Scotts Film »Blade Runner« von 1982 werden sogenannten Replikanten, künstlich geschaffenen Menschen, autobiographische Erinnerungen implantiert, so dass sie nicht wissen, dass sie Replikanten sind. Würden wir sie als autonom bezeichnen? Nein. Autonomie setzt eben auch voraus, dass jemand sich von den eigenen Wünschen und Überzeugungen leiten lässt, und die besitzen die Replikanten ja nicht. Dann aber scheint Autonomie nicht zweifelsfrei am Verhalten ablesbar zu sein. Doch der Einwand verfängt nicht: Zum einen hatten wir ja vorausgesetzt, dass wir es mit dem Verhalten von Menschen zu tun haben. Wie man Menschen von Replikanten mit einem Scheingedächtnis oder von bewusstlosen Automaten unterscheidet, das muss in einer Theorie des Gedächtnisses oder einer Theorie des Bewusstseins geklärt werden, nicht in einer Theorie der Autonomie. Auf der anderen Seite machen sich Zwänge selbstverständlich im Verhalten bemerkbar, egal ob sie von innen oder von außen kommen; es mag nur sein, dass man sich ein wenig Zeit nehmen muss, um sie zu entdecken.
Insofern bleibt es dabei: Autonomie ist von außen zu erkennen – auch wenn man, wie der Detektiv Rick Deckard, der Replikanten identifizieren kann, vielleicht mehrmals hinschauen muss, um echte Autonomie vom bloßen Anschein autonomen Verhaltens zu unterscheiden. Autonomie taucht zudem in unterschiedlichen Graden auf, manche Menschen sind in höherem Maße autonom als andere, und in einigen Fällen mag man zweifeln, ob jemand grundsätzlich überhaupt imstande ist, autonom zu handeln. Überdies ist anzunehmen, dass sich Autonomie über die Lebensspanne eines Individuums verändert: Babys sind noch nicht und sehr alte Menschen sind häufig nicht mehr autonom, und auch in der Zeit dazwischen gibt es eine Vielzahl von Veränderungen. Schließlich spricht alles dafür, dass Autonomie ihre Grundlage in bestimmten biologischen Prozessen im menschlichen Gehirn hat – auch wenn diese Prozesse derzeit noch zum großen Teil unbekannt und ihre Bedeutung für die Autonomie unverstanden sind.
So gesehen ist Autonomie eine natürliche Fähigkeit wie Lesen, Sprechen, Rechnen oder Schreiben. Wir entwickeln diese Fähigkeiten, die eine mehr, der andere weniger, sie haben natürliche, biologische Grundlagen, doch auch kulturelle Prozesse spielen eine wichtige Rolle – insbesondere beim Erwerb. Wie wir noch sehen werden, ist Autonomie eine komplexe Eigenschaft, die eine Reihe von Besonderheiten aufweist. Dennoch erfordert sie keine Ausnahmen von den Naturgesetzen, keine Lücke in den kausalen Zusammenhängen, und es erscheint prinzipiell möglich, sie mit den üblichen Methoden der empirischen Wissenschaften, insbesondere mit denen der Psychologie und der Neurowissenschaften, zu untersuchen – auch die Sozialwissenschaften können dabei eine wichtige Rolle spielen. Über die Erfolgsaussichten dieser Versuche ist damit natürlich noch nichts gesagt, doch die bisherigen Forschungen einschließlich unserer eigenen Untersuchungen sprechen dafür, dass es prinzipiell möglich ist, die natürlichen Grundlagen von Autonomie zu verstehen.