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Ist eine wissenschaftliche Erklärung unseres Geistes möglich? Diese Frage beantwortet das neue Buch ›Die Natur des Geistes‹ des renommierten Philosophen Michael Pauen. Das »Jahrzehnt des Gehirns« ist lange vorbei, doch eine Erklärung des Geistes scheint ferner denn je. Müssen wir uns also damit abfinden, dass Bewusstsein niemals erklärt werden kann? Michael Pauen legt in seinem neuen Buch dar, dass das Problem lösbar ist. Die Forschungsgeschichte zeigt nämlich, dass sich unsere Vorstellungen von Geist und Gehirn immer wieder tiefgreifend verändert haben. Selbst wenn das Problem in seiner heutigen Gestalt unlösbar wäre – für die Zukunft können wir das noch lange nicht behaupten. Das gilt insbesondere für den scheinbar unüberwindlichen Gegensatz zwischen subjektiver Erfahrung und objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis. Damit wird ein umfassendes naturalistisches Verständnis des Geistes möglich – und eine überraschende Lösung zeichnet sich ab.
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Seitenzahl: 346
Michael Pauen
Die Natur des Geistes
FISCHER E-Books
Die Entdeckung der Natur des Geistes ist eine der letzten großen wissenschaftlichen Herausforderungen, und sie ist vermutlich diejenige mit der längsten Vorgeschichte. Schon in den ältesten Dokumenten unserer Kultur ist das Interesse an einer Erklärung geistiger Fähigkeiten dokumentiert, und es zieht sich von da an wie ein roter Faden durch die Kultur- und Wissenschaftsgeschichte nicht nur der westlichen Zivilisation. In den letzten Jahren hat sich dieses Interesse noch einmal deutlich verstärkt, es sind extrem hoch dotierte Forschungsprogramme initiiert worden, gleichzeitig lassen sich in vielen Bereichen wichtige Fortschritte erkennen.
Es gibt eine Reihe von Gründen für dieses Interesse. Von Geist und Gehirn hängen nämlich praktisch all jene Fähigkeiten ab, die den Menschen zum Menschen und menschliche Gesellschaften zu menschlichen Gesellschaften machen. Diese Fähigkeiten entscheiden also nicht nur darüber, ob wir Fortschritte bei den großen Problemen der Menschheit wie sozialen Konflikten, kriegerischen Auseinandersetzungen oder bislang unheilbaren Krankheiten wie Parkinson und Alzheimer machen; gefordert sind diese Fähigkeiten auch bei all unseren »kleinen« privaten Problemen in Familie und Beruf.
Daneben ist das Problem aber auch schon aufgrund seiner bloßen Schwierigkeit von Interesse, schließlich stellt das Gehirn mit seinen knapp 100 Milliarden Nervenzellen und 100 Billionen Verbindungen bei weitem das komplexeste System dar, das wir kennen. Das bedeutet nicht nur, dass wir zum Verständnis dieses Systems besonders lange benötigen. Vielmehr werden wir hier mit völlig neuartigen Schwierigkeiten konfrontiert. So ist an der Erforschung von Geist und Gehirn eine Vielzahl unterschiedlicher wissenschaftlicher und technischer Disziplinen mit jeweils eigener Entwicklungsdynamik beteiligt. Dies führt nicht nur zu den großen Schwierigkeiten bei der Prognose jeder zukünftigen Entwicklung, vielmehr macht es auch völlig neue Formen der Wissenschaftsorganisation erforderlich.
Zusätzliche Probleme stellen sich aber auch aufgrund der bloßen Quantität der notwendigen Erkenntnisse. Zweifellos gibt es solche Probleme auch in anderen Wissenschaftszweigen. Die übliche Reaktion darauf ist eine steigende Spezialisierung. Wenn es um Geist und Gehirn geht, ist diese Möglichkeit jedoch versperrt: Schon das hochkomplexe System des Gehirns für sich genommen können wir nur verstehen, wenn wir eine große Zahl von Erkenntnissen aus höchst unterschiedlichen Disziplinen zusammennehmen. Die Sache wird noch komplizierter, wenn man sich vor Augen hält, dass es nicht »nur« um die neurobiologische Beschreibungsebene geht, sondern auch um die der Psychologie, nicht nur um das Gehirn, sondern genauso um den Geist. Die neurobiologischen Daten können auf die Dauer nur noch in Computermodellen verarbeitet werden. Dazu müssten Erfassung und Format dieser Daten in hohem Maße standardisiert sein; das aber könnte die bisherige Arbeitsweise unabhängiger Gruppen autonomer Wissenschaftler an ihre Grenzen bringen. Hinzu kommt schließlich, dass die Untersuchungsmöglichkeiten aus naheliegenden Gründen massiv beschränkt sind: Von sehr wenigen Ausnahmen abgesehen, verbietet es sich schlichtweg, in die Funktion der Gehirne von Lebenden einzugreifen.
Immerhin gibt es gleichzeitig aber auch ein großes öffentliches Engagement für diese Forschungsprogramme. Ein Indiz dafür sind die hohen Ausgaben in diesem Bereich. So beschäftigt sich z.B. eines der beiden Flaggschiffprojekte, für die die EU vor einiger Zeit eine Milliarde Euro bewilligt hat, mit dem menschlichen Gehirn. Und die EU steht damit nicht allein: Ähnliche finanziell ebenfalls hervorragend ausgestattete Initiativen gibt es z.B. auch in den Vereinigten Staaten. Sichtbar wird das Engagement aber auch an der Vielzahl der wissenschaftlichen Publikationen in diesem Bereich, es zeigt sich daran, dass es mittlerweile eigene populärwissenschaftliche Zeitschriften speziell zu diesem Thema gibt; schließlich ist es erkennbar an der großen Zahl neuer Forschungseinrichtungen und Studiengänge, die sich mit diesen Fragen befassen.
Eigentlich alles in Ordnung, könnte man meinen: einerseits eine extrem schwierige Aufgabe, gleichzeitig aber ein großes Engagement, verbunden mit der Bereitschaft, substantielle Mittel für die Lösung des Problems einzusetzen!
Irritierend sind allerdings die massiven Unterschiede in den Prognosen über die zukünftige Entwicklung dieses Forschungsprogramms – vor allem wenn man wissen will, wie weit wir noch von einer halbwegs zufriedenstellenden Lösung entfernt sind. Im Grunde genommen finden sich heute nämlich für jede denkbare Position zumindest einige glühende Verfechter. Während Optimisten der Ansicht sind, dass die wichtigsten Wissenslücken innerhalb absehbarer Zeit beseitigt sein werden, bestreiten Skeptiker mit der gleichen Inbrunst, dass dies überhaupt möglich ist, ganz egal wann.
Solche gravierenden Divergenzen deuten bereits darauf hin, dass wir vielleicht noch keine klare Vorstellung davon haben, welches Problem hier überhaupt zu lösen ist. Sollten wir wirklich schon wissen, was hier noch zu tun ist, wie kann es dann gleichzeitig derart weitreichende Meinungsverschiedenheiten nicht nur darüber geben, wie lange wir für die Erledigung dieser Aufgaben benötigen, sondern auch, ob dies überhaupt möglich ist? Und umgekehrt: Wenn wir das Problem jetzt schon so genau kennen, dass wir bereits Prognosen über seine Lösung oder seine Unlösbarkeit abgeben können, dann bedeutet dies doch, dass die gesamten noch vor uns liegenden Entdeckungen uns nichts substantiell Neues über Geist und Gehirn vermitteln werden. Andernfalls müssten wir damit rechnen, dass solche Veränderungen unser Problemverständnis beeinflussen und damit auch ganz neue Lösungen eröffnen könnten – unsere Prognosen wären dann wahrscheinlich obsolet. Doch wie will man jetzt schon die Reichweite zukünftiger Entdeckungen beurteilen können, wo wir diese Entdeckungen noch nicht kennen und daher nicht absehen können, ob sie etwas an unseren heutigen Vorstellungen zu ändern vermögen?
Tatsächlich, so möchte ich zeigen, ist das zugrundeliegende Bild der gegenwärtigen Forschungssituation grundsätzlich falsch: Neuere Erkenntnisse füllen eben nicht einfach nur die weißen Flecken auf einer insgesamt bekannten Landkarte. Gerade angesichts der vielfach intensivierten Forschungsanstrengungen spricht vielmehr alles dafür, dass sich unser Verständnis des Problems grundlegend ändern kann. Es werden eben nicht einfach ein paar Daten gesammelt, um die verbliebenen weißen Flecken auszufüllen, vielmehr steht die ganze Karte zur Disposition: Viele Defizite dürften uns noch nicht einmal bekannt sein, vor allem müssen wir uns um ein besseres Verständnis des Phänomens selbst bemühen, das wir heute als Bewusstsein bezeichnen.
Ein Blick auf die bisherige Forschungsgeschichte kann zeigen, warum das so ist. Auch in der Vergangenheit hat es nämlich immer wieder tiefgreifende Veränderungen im Problemverständnis gegeben, an denen man die Dynamik, aber auch die Konsequenzen dieser Umbrüche studieren kann. Besonders gut zu erkennen sind die Unterschiede, wenn man die traditionelle Seelenvorstellung, wie sie sich in vielen alten Kulturen, der Bibel, aber auch in weiten Bereichen der antiken und mittelalterlichen Philosophie findet, neben den modernen Bewusstseinsbegriff stellt. Spricht man von einer Seele, dann hat man es in der Regel[1] mit einer eigenständigen Substanz zu tun, die unabhängig von Gehirn und Körper existiert. Klärungsbedürftig ist dabei vor allem die Herkunft – z.B. aus einem göttlichen Schöpfungsakt. Aufgeworfen werden aber auch Fragen nach den Besonderheiten der Seelensubstanz, ihrem Schicksal nach dem Tode und schließlich – in späteren Phasen der Forschungsgeschichte – ihrer Interaktion mit dem Körper. Die subjektive Erfahrung spielt dagegen in der Regel eine völlig untergeordnete Rolle, solange es um die Seele geht.
Das ist anders beim Begriff des Bewusstseins. Hier ist die subjektive Erfahrung von zentraler Bedeutung, auch wenn der Bewusstseinsbegriff sie bis heute allenfalls rudimentär erfasst. Anders als die Seele ist Bewusstsein zudem eine Eigenschaft, die einen Träger benötigt. Dies können Emotionen und Gedanken sein, Bewusstsein lässt sich aber auch der Seele[2] oder neuronalen Prozessen zuschreiben. Fragen nach Herkunft und Substanz verlieren damit an Bedeutung, stattdessen treten andere Probleme in den Vordergrund, z.B.: Wie kann diese Eigenschaft aus neuronalen Prozessen erklärt werden, welche Funktionen unterscheiden bewusste Prozesse von unbewussten Prozessen, wie kann man bewusste Erfahrung genauer erfassen und – wie ist das Verhältnis zwischen Innen- und Außenperspektive zu verstehen?
Die Konsequenzen sind auch deshalb so weitreichend, weil es hier nicht einfach um den isolierten Wandel einzelner Begriffe wie »Seele« oder »Bewusstsein« geht; vielmehr ist dieser Begriffswandel Ausdruck weitreichender philosophischer, theologischer, wissenschafts- und kulturgeschichtlicher Umbrüche, die gemeinsam zu tiefgreifenden Veränderungen des Problemverständnisses führen. Und diese Veränderungen halten an: Es wäre merkwürdig, ließen die massiv verstärkten Anstrengungen der Gegenwart unser Verständnis des Problems auf die Dauer unberührt. Hätten wir dann wirklich etwas Neues gelernt? Tatsächlich gibt es deutliche Indizien für eine Weiterentwicklung insbesondere des Bewusstseinsbegriffs, der sich z.B. durch die Unterscheidung von phänomenalem und kognitivem Bewusstsein in den letzten Jahren weiter ausdifferenziert hat.
Dies zeigt erstens, dass eine angemessene Beurteilung der gegenwärtigen Situation wie der zukünftigen Aussichten nur möglich ist, wenn wir auch die früheren Phasen unserer Forschungsgeschichte berücksichtigen. Ignorieren wir diese historische Perspektive, dann besteht die Gefahr, dass wir unsere gegenwärtigen Erkenntnisse und unser gegenwärtiges Problemverständnis naiv verabsolutieren und damit zukünftige Entwicklungen wie auch unsere eigene Situation völlig falsch einschätzen.
Zweitens bedeutet dies, dass wir unser eigenes Problemverständnis nicht einfach zur Grundlage von Zukunftsprognosen machen dürfen. Das führt zwar zu einer beträchtlichen Erschwerung solcher Voraussagen. Auf der anderen Seite können wir aber nur so offen bleiben für Lösungen, die aus heutiger Sicht noch überhaupt nicht abzusehen sind. Die Geschichte der Hirnforschung zeigt, warum wir gut daran tun, uns eine solche Offenheit zu bewahren. In der Vergangenheit ist nämlich immer wieder behauptet worden, dass bestimmte Fähigkeiten wie z.B. unser Sprachvermögen oder unsere kognitiven Fähigkeiten niemals auf natürliche Prozesse zurückgeführt werden könnten. Die meisten dieser Behauptungen haben sich zwischenzeitlich als falsch herausgestellt. Es wäre daher vermessen, wollten wir ausschließen, dass es mit den heute unlösbar erscheinenden Problemen ähnlich gehen wird.
Doch das ist nicht alles. Abgesehen davon, dass wir eine Lösung nicht ausschließen können, gibt es einen wichtigen Punkt, an dem wir einen wesentlichen Schritt in Richtung auf eine solche Lösung machen können – und auch hier ist der historische Hintergrund wichtig. Die meisten Philosophen glauben, dass das größte Hindernis für eine wissenschaftliche Erklärung geistiger Prozesse in der Kluft besteht, die die subjektive Erfahrung von der objektiven, wissenschaftlichen Erkenntnis zu trennen scheint: Direkten Zugang zu unseren eigenen mentalen Zuständen bietet offenbar nur die Introspektion – sie scheint ein prinzipielles Privileg zu besitzen, wenn es um die Erkenntnis unserer bewussten Erfahrungen geht. Aus der objektiven wissenschaftlichen Perspektive der dritten Person ist uns dagegen nur das Verhalten zugänglich, doch das lässt allenfalls indirekte Rückschlüsse auf die zugrundeliegenden Erfahrungen zu. Einer wissenschaftlichen Erklärung des Bewusstseins scheinen damit enge Grenzen gesetzt; insbesondere die qualitativen Aspekte von Schmerzen oder Farbempfindungen sind offenbar aus der Außenperspektive überhaupt nicht angemessen zu erfassen und zu erklären.
Doch so plausibel diese Auffassung auch erscheinen mag: Ich werde zeigen, dass das behauptete Privileg der Introspektion nicht existiert. Auch hier sind die historischen Hintergründe aufschlussreich; dies gilt insbesondere für die Geschichte des Bewusstseinsbegriffs.
Historisch lassen sich die Ursprünge eines solchen Privilegs der Introspektion bis in die antike Philosophie zurückverfolgen. Schon Platon und Plotin sprechen von einer inneren Erkenntnis, die der Seele offensteht, wenn sie sich – ohne den Umweg über die Sinne zu nehmen – direkt mit ihren eigenen Ideen beschäftigt. Eine wichtige Rolle spielt zudem die engverwandte Gegenüberstellung von unmittelbarer, intuitiver Schau und mittelbarer, diskursiver Erkenntnis. Diese intuitive Erkenntnis ist bei Plotin noch dem göttlichen Geist vorbehalten, später wird sie aber auch als eine besondere Form menschlicher Erkenntnis begriffen. Intuition ist eine unmittelbare, innere Schau, die ebenfalls nicht auf die Sinne angewiesen ist. Anders als beim vermittelten, diskursiven Wissen sind hier zudem Rechtfertigung, Überprüfung und Kritik gleichermaßen unmöglich und unnötig. Und es soll gerade diese Unmittelbarkeit der inneren Schau sein, die das intuitive Wissen dem mittelbaren, diskursiven Wissen gegenüber privilegiert: Die Intuition hat Zugang zu Erkenntnissen, die dem diskursiven Wissen unzugänglich sind, Irrtümer sind zudem ausgeschlossen.[3]
Ohne Zweifel unterscheiden sich Intuition und innere Erkenntnis bei den antiken Autoren von der Introspektion im modernen Sinne. Gegenstand der inneren Erkenntnis sind nicht etwa die eigenen mentalen Zustände, vielmehr geht es um die Ideen oder Gott. Doch die Vorstellung einer unmittelbaren, intuitiven Schau prägt den Begriff von Introspektion, der später von den Autoren des 17. Jahrhunderts in Zusammenhang mit der Etablierung des Bewusstseinsbegriffs entwickelt wird.
Auch die Bewusstseinsvorstellung taucht bereits in der Antike auf, und zwar zuerst in Literatur und Umgangssprache; erste Nachweise gibt es bei Aeschylos und Sophokles. Später findet sich die Vorstellung bei Sokrates und Platon auch in der Philosophie,[4] zudem spielt sie eine wichtige Rolle in der Stoa.[5] Dabei dominieren vor allem Wahrnehmungsmetaphern: Der zentrale Begriff lautet »Synaisthesis« (wörtl.: Mitempfindung). Bewusstsein wird also als eine Form der inneren Wahrnehmung verstanden.[6] Nach einem gewissen Bedeutungsverlust im Mittelalter[7] etabliert sich Bewusstsein bis zum Ende des 17. Jahrhunderts neben den Begriffen Seele und Geist als eine der zentralen Kategorien für die Beschreibung mentaler Phänomene. Eine maßgebliche Rolle innerhalb dieses Prozesses spielen Descartes, Locke und Leibniz; eine ausführlichere Auseinandersetzung liefern zudem der Cambridger Platoniker Ralph Cudworth sowie »Pseudo-Mayne«, der bis heute nicht eindeutig identifizierte Verfasser der Schrift ÜBER DAS BEWUSSTSEIN von 1728.
Dabei kommt es zu einer historisch folgenreichen Weichenstellung, die unsere Vorstellung von Bewusstsein und Introspektion bis heute prägt. Geistige Erfahrung, die seit der Antike wie gesagt vor allem in Kategorien der Wahrnehmung beschrieben wurde, wird nun als ein inneres Wissen begriffen.[8] Damit etabliert sich, was ich im Folgenden als die Engführung von Bewusstsein und Wissen bezeichnen werde. Bewusstsein wird als eine Form des Wissens von den eigenen geistigen Zuständen betrachtet. Der Zusammenhang kann dabei zum einen als begrifflich betrachtet werden: Meine Schmerzen zählen nur dann als bewusste Schmerzen, wenn ich weiß, dass ich Schmerzen habe – Fehler wären in diesem Falle prinzipiell ausgeschlossen. Möglich ist zum anderen aber auch ein sachlicher Zusammenhang. In diesem Falle würden meine bewussten Schmerzen z.B. aufgrund der Unmittelbarkeit des Zugangs eine extrem zuverlässige Basis für den Erwerb des entsprechenden introspektiven Wissens bilden – Fehler wären zwar prinzipiell möglich, aber extrem unwahrscheinlich.
Erkennbar ist der enge Zusammenhang von Bewusstsein und Wissen schon auf der rein verbalen Ebene: Wissen ist das Stammwort, von dem die Komposita »Be-wusst-sein«, »con-scientia«, »con-science« oder »con-sciousness« abgeleitet sind. Wer Bewusstsein von Schmerzen besitzt, so suggeriert diese Begriffswahl, der weiß damit, dass er Schmerzen hat.
Auch hier darf bei allen Gemeinsamkeiten die historische Differenz nicht aus dem Blick geraten: Für die Autoren des 17. Jahrhunderts geht es nämlich zunächst einmal nicht um eine möglichst genaue Beschreibung des Bewusstseins oder des durch Bewusstsein möglichen introspektiven Wissens. Im Mittelpunkt steht auch nicht die Erkenntnis eigener Schmerzen oder Emotionen. Entscheidend ist für Descartes, Locke, Leibniz, Cudworth und Pseudo-Mayne – bei allen Differenzen im Einzelnen – vielmehr die Schaffung einer zuverlässigen Basis für wissenschaftliches Wissen. Das introspektive Wissen dient nicht primär der Selbsterkenntnis, vielmehr soll es unsere Erkenntnis der Außenwelt verbürgen: Bei Descartes betrifft dies nicht nur das berühmte »cogito«, sondern auch den Zugang zu den Ideen, die das mathematisch gestützte wissenschaftliche Wissen ermöglichen und einen Anker gegenüber jeglichem Skeptizismus bilden sollen.
Diese Vorstellung hat sich bis heute erhalten. Auch wenn die zugrundeliegende Idee intuitiver Erkenntnis ansonsten längst aufgegeben wurde und die Unterscheidung zwischen der bewussten Erfahrung und dem Wissen über diese Erfahrung weitgehend anerkannt ist, so hat sich doch nach wie vor die Auffassung erhalten, dass bewusste Erfahrung ein introspektives Wissen über die Erfahrung garantiere, das vor allem aufgrund seiner Unmittelbarkeit gegen Fehler ganz oder zumindest weitgehend immun sei.
Entscheidend ist hier die Konsequenz dieses Privilegs: Sie besteht in einer prinzipiellen Begrenzung der Reichweite wissenschaftlicher Erklärungen und Beschreibungen mentaler Zustände. Wenn Bewusstsein eine privilegierte Form des Wissens von den bewussten Zuständen begründet, dann muss drittpersonales Wissen notwendigerweise defizitär bleiben. Die wissenschaftliche Erkenntnis mentaler Zustände wäre dann prinzipiell in einer äußerst problematischen Situation, schließlich gäbe es hier – anders als in sämtlichen übrigen Bereichen der wissenschaftlichen Erkenntnis – eine Instanz, die allen wissenschaftlichen Methoden weit überlegen ist, nämlich das bewusste Subjekt selbst.
Anders ausgedrückt: Ausgerechnet die subjektive Erkenntnis, die ansonsten in den Wissenschaften als eindeutig defizitär gegenüber methodisch abgesichertem, objektivem Wissen gilt, scheint hier einen klaren Primat zu haben. Viele Autoren, unter ihnen Leibniz, Du Bois-Reymond, Friedrich Albert Lange, Thomas Nagel, Frank Jackson, Joseph Levine oder David Chalmers haben sich – mehr oder minder ausdrücklich – auf dieses Defizit berufen, um zu zeigen, dass eine hinreichende wissenschaftliche Erklärung vor allem des qualitativen Charakters bewusster Zustände prinzipiell ausgeschlossen ist. Der subjektive Charakter z.B. einer Schmerzerfahrung entziehe sich grundsätzlich jeder objektiven wissenschaftlichen Erklärung. Dies gelte selbst dann, wenn dazu alles nur denkbare Wissen von Psychologie und Hirnforschung zur Verfügung stünde. Das Projekt einer naturalistischen Erklärung des Geistes sei daher zum Scheitern verurteilt, und zwar auch dann, wenn man geistige Prozesse für biologische Vorgänge hält: Man könne den Zusammenhang zwischen biologischer Aktivität und erstpersonaler Erfahrung allenfalls akzeptieren, zu verstehen sei er prinzipiell nicht.
Hier scheint sich ein Dilemma aufzutun: Entweder man hält an den Grenzen einer auf objektives, methodisch gesichertes Wissen verpflichteten Forschung fest, dann muss man auf eine Erklärung subjektiver Erfahrungen verzichten. Oder man besteht auf der Erklärung dieser Erfahrungen, dann muss man die Grenzen der üblichen wissenschaftlichen Standards überschreiten. In den Worten von Thomas Nagel:
»Wenn der Physikalismus verteidigt werden soll, müssen phänomenologische Eigenschaften selbst physikalisch erklärt werden. Wenn wir aber ihren subjektiven Charakter untersuchen, scheint so etwas unmöglich zu sein.«[9]
Ziel dieses Buches ist es zu zeigen, dass sich das Dilemma auflösen lässt, wenn man hinreichend genau zwischen bewusster Erfahrung und der Erkenntnis dieser Erfahrung unterscheidet und dabei erkennt, dass nur die Erfahrung selbst, nicht aber deren Erkenntnis ein subjektives Privileg ist.
Gegen das Introspektionsprivileg und die ihm zugrundeliegende Engführung von Wissen und Bewusstsein gibt es nämlich massive systematische und empirische Einwände. Systematisch ist diese Engführung schon alleine deshalb anfechtbar, weil sie einen äußerst merkwürdigen Begriff des Wissens voraussetzt. Wissen wird üblicherweise[10] als gerechtfertigte, wahre Meinung verstanden, die ihrerseits einen satzförmigen Inhalt hat, z.B. »dass vor meinem Fenster ein paar Steine liegen«. Wahr ist diese Meinung, wenn vor meinem Fenster tatsächlich ein paar Steine liegen, gerechtfertigt ist sie, wenn ich Gründe für diese Annahme vorweisen kann. Offensichtlich muss diese gerechtfertigte, wahre Meinung unterschieden werden von den Gegenständen und Sachverhalten in der Außenwelt, auf die sie sich bezieht. Die Steine vor meinem Fenster sind etwas ganz anderes als mein Wissen bzw. meine Überzeugungen über diese Steine. Erstere liegen bei Wind und Wetter in der Außenwelt herum; Letzteres befindet sich in meinem Kopf; in abgeleiteter Form mag es seinen Weg in Bücher und Datenbanken finden. Ein weiterer Unterschied besteht darin, dass die Überzeugungen, die die Grundlage des Wissens bilden, wahr und falsch sein können; für Steine und Schmerzen gilt das nicht.
Halten wir daher fest, dass wir in jedem Falle erstens zwischen subjektiver Erfahrung und dem Wissen über diese Erfahrung, also zwischen meinem Schmerz und dem Wissen über meinen Schmerz unterscheiden müssen. Dieses Wissen kann ich selbst erwerben, es kann aber auch von anderen erlangt werden. Im ersten Falle spricht man von subjektivem, introspektivem Wissen, im zweiten Fall werde ich – in Ermangelung einer treffenden, bereits eingeführten Bezeichnung – von »extrospektivem mentalem Wissen« oder kurz einfach von »extrospektivem Wissen«[11] sprechen. Extrospektives Wissen ist also das Wissen über die mentalen Zustände anderer im Gegensatz zu dem introspektiven Wissen über die eigenen bewussten Zustände.
Die Unterscheidung alleine sagt natürlich noch nichts über die epistemische Rolle des extrospektiven Wissens. Wie schon gesagt, bestehen viele Philosophen auf dem introspektiven Privileg, auch wenn sie die Unterscheidung von Erfahrung und introspektivem Wissen durchaus akzeptieren. Tatsächlich könnte introspektives Wissen durchaus privilegiert gegenüber extrospektivem Wissen sein – z.B. weil nur die Introspektion einen direkten Zugang zu mentalen Zuständen hat oder weil dieser Zugang wesentlich zuverlässiger ist als der extrospektive Zugang.
Die zentrale These dieser Arbeit lautet jedoch, dass dies nicht der Fall ist. Ein subjektives Privileg gibt es nur für die Erfahrung mentaler Zustände, nicht jedoch für das introspektive Wissen über diese Erfahrung. Zwar erfahre ich meine Schmerzen auf eine Weise, die jedem anderen verschlossen ist. Doch wenn es um mein Wissen über diese Schmerzen geht, dann existiert ein solches Privileg nicht. Zwischen introspektivem und extrospektivem Wissen gibt es vielmehr eine prinzipielle Symmetrie. Andere können also prinzipiell genauso gut, im Einzelfall sogar besser über meine Schmerzen Bescheid wissen als ich selbst. Das gilt nicht so sehr im Alltag, wo ich in der Tat meist besser als jeder andere weiß, ob ich Schmerzen habe oder nicht. Doch schon im Falle von psychiatrischen Erkrankungen liegen die Dinge anders: Mein Psychiater kann wesentlich besser als ich selbst z.B. über Erfahrungen Bescheid wissen, die ich verdränge. Mehr noch gilt dies für sorgfältig geplante wissenschaftliche Experimente: Sie können schon heute beispielsweise Irrtümer der Introspektion offenlegen; Prognosen über prinzipielle Grenzen derartiger Experimente fallen zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt sehr schwer.
Meine Behauptung einer prinzipiellen Symmetrie von Introspektion und Extrospektion stützt sich auf eine ganze Reihe weiterer Überlegungen. Diese wenden sich zum einen gegen die Argumente und Intuitionen, auf die sich die Befürworter des Introspektionsprivilegs stützen. Eine dieser Intuitionen hatten wir bereits kennengelernt, nämlich die Engführung von Wissen und Bewusstsein. Dieser Vorstellung zufolge ist introspektives Wissen privilegiert, weil es in einem besonders engen Verhältnis zu bewussten Erfahrungen steht. Doch abgesehen davon, dass Unmittelbarkeit im Allgemeinen keine gute Voraussetzung für den Erwerb von Wissen darstellt, werde ich zeigen, dass introspektives Wissen auf vielfältige Weise vermittelt und eben gerade nicht unmittelbar ist.
Fragwürdig sind auch viele der Gedankenexperimente, auf die sich die Verfechter eines introspektiven Privilegs berufen: Solche Gedankenexperimente sollen beispielsweise zeigen, dass es massive Unterschiede in den bewussten Erfahrungen geben kann, die nur introspektiv, nicht aber von außen zu erkennen sind. Ein bekanntes Gedankenexperiment befasst sich mit Zombies. Zombies sind in Verhalten, ihren Gedanken und allen anderen kausal wirksamen und daher äußerlich erkennbaren Eigenschaften identische Doppelgänger bewusster Personen. Der einzige Unterschied ist, dass Zombies kein Bewusstsein haben. Zwar geht niemand davon aus, dass es Zombies wirklich gibt; doch unsere Vorstellungen von Bewusstsein scheint mit der Existenz von Zombies verträglich zu sein. Dann aber würde nichts, wirklich nichts, was aus der Außenperspektive zugänglich ist, sicherstellen, dass eine Person bei Bewusstsein ist. Das Gedankenexperiment erscheint intuitiv äußerst plausibel, bei näherer Betrachtung zeigt sich indessen sehr schnell, dass es zu absurden Konsequenzen führt. Wenn mein Zombie-Doppelgänger nämlich dieselben Gedanken hat wie ich, dann wird er ebenso wie ich denken, er sei bei Bewusstsein – fälschlicherweise natürlich. Doch warum kann ich mir dann sicher sein, dass meine Überzeugung, bei Bewusstsein zu sein, die richtige, und die des Zombies die falsche ist? Auch wenn ich der Zombie wäre, hätte ich ja diese Überzeugung!
Diese Überlegung illustriert das generelle Problem der Argumente, die zugunsten des Introspektionsprivilegs vorgebracht worden sind. Es wird sich nämlich herausstellen, dass alle Annahmen, die das extrospektive Wissen in Frage stellen, auch die Introspektion untergraben. Oder umgekehrt: Was wir introspektiv wissen können, können wir – zumindest prinzipiell – auch extrospektiv in Erfahrung bringen. Und das bedeutet wiederum, dass es eine prinzipielle Symmetrie von Introspektion und Extrospektion gibt.
Wie schon erwähnt, betrifft diese Symmetrie weniger den Alltag, in dem ich im Allgemeinen immer noch besser als alle anderen über meine Schmerzen Bescheid weiß. Wirklich bedeutsam ist diese Symmetrie dagegen in den Wissenschaften – und genau darauf kommt es an, schließlich geht es ja um eine wissenschaftliche Erklärung von Bewusstsein. Hierfür gibt es bereits heute eine Reihe von Belegen. Dazu gehört das schon erwähnte Schicksal der Introspektion in psychologischen Experimenten.[12] Gegen Ende des 19. Jahrhunderts, als die ersten psychologischen Labore von philosophisch geschulten Forschern wie Wilhelm Wundt, Oswald Külpe oder Edward Titchener gegründet wurden, spielte die Introspektion eine zentrale Rolle auch in empirischen Untersuchungen – so wie man es angesichts der in der Philosophie weitverbreiteten Vorstellung eines besonderen Privilegs der ersten Person erwarten sollte. Das ging so weit, dass z.B. in Gedächtnisexperimenten auch einfache Kontrollen unterlassen wurden, weil man sich auf die introspektiven Berichte verließ. Den Versuchspersonen wurden einfach zweimal nacheinander exakt dieselben Stimuli präsentiert, und sie sollten dann angeben, an welche Stimuli sie sich noch erinnern konnten.[13]
Trotz einer intensiven Methodendiskussion unter den beteiligten Forschern hielten sich die Erfolge der introspektiven Psychologie jedoch in Grenzen. Nach dem Tod ihrer Verfechter wurde sie in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts durch den Behaviorismus verdrängt. Selbst heute, nachdem die Hochzeiten des Behaviorismus längst hinter uns liegen, spielen introspektive Methoden immer noch eine untergeordnete Rolle.
Das wäre schwer zu verstehen, wenn die Introspektion tatsächlich den Königsweg zur Erkenntnis eigener mentaler Zustände bieten würde. Schließlich könnten Psychologie und Neurowissenschaften dann über die Befragung von Versuchspersonen direkt an diesem Privileg partizipieren.
Tatsächlich ist das Vertrauen in die Introspektion mittlerweile auch durch eine große Zahl von Studien in Zweifel gezogen worden. Nisbett und Wilson[14] haben bereits 1977 eine Vielzahl von Belegen dafür geliefert, dass Menschen sich in introspektiven Berichten manchmal fundamental täuschen. So konnten die Probanden in zwei Experimenten dazu gebracht werden, ihre Meinung zu einem sehr kontroversen Thema zu ändern. Doch die Versuchspersonen nahmen ihren Meinungswechsel introspektiv gar nicht zur Kenntnis.
Deutlich werden die Grenzen der Introspektion auch bei der Alexithymie, einer psychiatrischen Erkrankung, bei der die betroffenen Patienten Emotionen zwar erfahren, diese aber introspektiv nicht erkennen. Abermals fallen Introspektion und Erfahrung auseinander, weil die Introspektion ein offenbar unvollständiges Bild der Erfahrung vermittelt.[15]
Ein letztes Beispiel für eine Dissoziation von Erkenntnis und Erfahrung liefern die berühmten Versuche von George Sperling zum »ikonischen Gedächtnis«.[16] Sperling wies nach, dass Versuchspersonen unter bestimmten Bedingungen nur einen Teil der Objekte introspektiv erkennen konnten, die sie bewusst gesehen haben. Man nimmt an, dass das Arbeitsgedächtnis mit seiner begrenzten Kapazität den entscheidenden Flaschenhals auf dem Weg von der Erfahrung zur Introspektion bildet. Mit anderen Worten: Unser introspektives Wissen kann aufgrund der begrenzten Kapazität der beteiligten kognitiven Prozesse nicht die gesamte Erfahrung erfassen. Schon hier kommt es also zu einer systematischen Verzerrung, und diese Verzerrung lässt sich mit wissenschaftlichen Methoden feststellen.
Die Experimente von Sperling zeigen auch, warum pauschale Behauptungen über die prinzipielle Über- oder Unterlegenheit der Introspektion so problematisch sind: Zwar mögen die Wege und Methoden der Introspektion feststehen, für die wissenschaftliche Forschung gilt dies sicher nicht. Aus den bereits genannten Gründen ist es unmöglich, die Methoden oder gar die Resultate zukünftiger Experimente vorwegzunehmen, vor allem, wenn sie so intelligent sind wie die von Sperling. Auch deshalb steht man auf sehr unsicherem Boden, wenn man dem naturwissenschaftlichen Wissen über geistige Zustände prinzipielle Grenzen zu setzen sucht.[17]
Mittlerweile gibt es zudem eine ganze Reihe von neurobiologischen Untersuchungen, die mehr über die neuronalen Grundlagen von Wissen und Erfahrung mentaler Zustände verraten. Dabei zeichnet sich ab, dass in diesen beiden Fällen jeweils ganz unterschiedliche Areale involviert sind: So sind die neuronalen Grundlagen der primären Erfahrung eher in den peripheren Bereichen, z.B. in den sensorischen Arealen des Okzipital- und Temporallappens zu finden. Dagegen scheint dem Wissen über diese Erfahrung offenbar eher Aktivität in frontalen Arealen zugrunde zu liegen.[18]
Schließlich gibt es Hinweise dafür, dass neben den oben bereits genannten historischen Ursachen auch noch psychologische Gründe für die Überschätzung des introspektiven Wissens existieren. Emily Pronin hat gezeigt, dass wir die Bedeutung introspektiver Erkenntnisse massiv überschätzen, wenn es um unsere eigenen mentalen Zustände geht.[19] Extrospektive Erkenntnisse vernachlässigen wir dagegen auch dann, wenn sie uns wichtige Informationen liefern könnten. Vor diesem Hintergrund ist es nicht schwer zu verstehen, dass wir objektiven Methoden nicht viel zutrauen, wenn es um die Erklärung subjektiver Erfahrungen geht. Das hat aber weniger mit einem unbefangenen Urteil über die Grenzen dieser Methoden zu tun, als vielmehr mit einer offenbar tiefverwurzelten Neigung zur Überschätzung der Introspektion.
Natürlich kann man praktisch jeden der genannten Befunde und jedes der vorgebrachten Argumente für sich genommen anzweifeln – das hat nicht nur mit der Anfechtbarkeit empirischer Erkenntnisse generell zu tun, sondern auch mit den Schwierigkeiten, Erfahrung und introspektive Erkenntnis in einem Experiment sauber voneinander zu trennen. Zusammengenommen fügen sich diese Befunde jedoch zu einem Bild, das nicht mehr so ohne weiteres in Frage zu stellen ist. Auch wenn es uns schwerfällt: Wir täten gut daran anzuerkennen, dass extrospektive Erkenntnis unserem introspektiven Wissen gegenüber nicht prinzipiell benachteiligt ist. Dies gilt wie gesagt nicht für den Alltag. Doch bei wissenschaftlichen Erkenntnissen stehen unsere Vorbehalte gegenüber der Extrospektion auf schwachen Füßen. Dies gilt umso mehr, als die neuro- und kognitionswissenschaftliche Forschung, die heute intensiver denn je betrieben wird, zu einer massiven Zunahme des extrospektiven Wissens, zu einer Verbesserung der Methoden und damit wohl auch zu einer weiteren Korrektur und Ausdifferenzierung unserer Begriffe von geistigen Zuständen führen wird.
Bestätigt wird damit noch einmal eine weitere zentrale These dieser Arbeit: Die Entwicklung der Forschung bei der Erklärung des Verhältnisses von Geist und Gehirn ist prinzipiell offen. Zum einen vermögen wir unsere eigenen methodischen Defizite nicht abzuschätzen, zum zweiten und vor allem aber haben wir noch keine Vorstellung von der endgültigen Gestalt des Problems, ja, uns fehlt eine hinreichend genaue Erfassung des Phänomens des bewussten Erlebens. Die Veränderungen, die die entsprechenden Begriffe in der Vergangenheit durchgemacht haben, werden daher wohl auch in Zukunft anhalten. Doch gerade weil sich die Argumente gegen die Erklärbarkeit geistiger Prozesse trotz ihrer großen intuitiven Plausibilität als überraschend schwach erweisen und weil sich außerdem die systematischen und empirischen Belege zugunsten eines Zugriffs wissenschaftlicher Methoden auf die subjektive Erfahrung häufen, spricht vieles dafür, dass es am Ende möglich sein wird, das Phänomen hinreichend genau zu erfassen und die natürlichen Grundlagen geistiger Prozesse – mehr oder minder gut – zu verstehen.
Die Zweifel an der Möglichkeit eines solchen Verständnisses erklären sich vor allem aus der Komplexität des Problems, die es uns bislang nicht gestattet hat, auch nur eine ansatzweise überzeugende Theorie zu entwickeln. Wann eine solche Theorie entwickelt werden wird und wie sie aussehen wird, welche Begriffe wir dann verwenden und wie genau wir dann das Problem beschreiben werden, das auf diese Weise gelöst wird – all das ist heute einfach noch offen.
Das vorliegende Buch hat drei Kapitel. Im ersten Kapitel werde ich einen Abriss der Geschichte des Problems geben, das lange Zeit als das Leib-Seele-Problem bezeichnet wurde und heute wohl besser Geist-Gehirn-Problem genannt wird. Diese Geschichte zeigt zum einen, dass sich die Methoden und Forschungsstrategien kontinuierlich verändert haben, und zwar häufig genug auf eine zuvor unabsehbare Art und Weise. Daher werden die wichtigsten Defizite üblicherweise erst im Nachhinein erkennbar. Zum zweiten hat sich aber auch das Problemverständnis bis heute immer wieder fundamental verändert, und offenbar halten diese Veränderungen an. Dies heißt auch, dass wir unseren derzeitigen Wissensstand und unser gegenwärtiges Problemverständnis nicht einfach zur Grundlage von Prognosen über die weitere Forschungsentwicklung machen können.
Keineswegs sollte man daraus schließen, dass alles möglich und die Sache völlig offen wäre und wir eigentlich nur zuwarten könnten, bis sich alles von selbst entschieden hat. Die historische Auseinandersetzung zeigt nämlich auch, dass schon die Etablierung der Engführung von Wissen und Bewusstsein, die sich auch im Begriff des Be-wusstseins spiegelt, Anlass zu gewissen Zweifeln gibt: Ursprung dieser Engführung ist nämlich nicht eine Analyse der epistemischen Eigenheiten der Introspektion, vielmehr spielen hier metaphysische und wissenschaftstheoretische Interessen eine wichtige Rolle.
Im zweiten Kapitel versuche ich zu zeigen, dass diese Skepsis durch systematische Überlegungen gestützt wird. Wir haben daher gute Gründe, diese Engführung von Wissen und Bewusstsein aufzugeben. Das ist insofern wichtig, weil die scheinbar tiefe Kluft zwischen der subjektiven Erfahrung von Bewusstsein und der objektiven Erkenntnis durch wissenschaftliche Theorien eines der entscheidenden Hindernisse bei der Lösung des Leib-Seele-Problems darstellt. Im Einklang mit der oben skizzierten Engführung wird nämlich häufig argumentiert, Bewusstsein lasse sich nur aus der Perspektive der ersten Person beschreiben und erkennen. Hieraus würden sich fundamentale Nachteile für die objektive wissenschaftliche Erkenntnis und damit enge Grenzen für jede wissenschaftliche Theorie des Bewusstseins und seiner neuronalen Grundlagen ergeben.
Hier werde ich zeigen, dass starke systematische Gründe gegen diese Auffassung sprechen. Grundlage meiner Argumentation ist die Unterscheidung zwischen (1) bewusster Erfahrung, (2) introspektiver und (3) extrospektiver Erkenntnis. Ein subjektives Privileg gibt es nur hinsichtlich der bewussten Erfahrung. Die Erkenntnis dieser Erfahrung dagegen kann sowohl introspektiv wie auch extrospektiv erfolgen, wobei zwischen diesen beiden Erkenntnisformen eine grundlegende Symmetrie besteht: Was introspektiv erkannt werden kann, ist im Prinzip auch Gegenstand der extrospektiven Erkenntnis. Umgekehrt untergraben Bedingungen, die die extrospektive Erkenntnis beeinträchtigen, auch die introspektive Erkenntnis.
Im dritten Kapitel wird es dann darum gehen, empirische Belege für diese Symmetrie vorzustellen. Konkret werde ich Belege dafür präsentieren, dass extrospektive Erkenntnis Irrtümer oder Verzerrungen der Introspektion offenlegen kann. Zum zweiten soll aber auch nach den konkreten Mechanismen der Introspektion gefragt werden: Können wir also besser verstehen, was bei der introspektiven Erkenntnis passiert und wie solche Irrtümer und Verzerrungen zustande kommen? Schließlich werde ich ein erstes Modell zur systematischen Beschreibung der Qualität bewusster Erfahrungen vorstellen. Zumindest im Ansatz möchte ich damit zeigen, wie wir mit Hilfe von philosophischen, psychologischen und neurobiologischen Erkenntnissen zu einem besseren Verständnis der natürlichen Grundlagen des Phänomens kommen können, das wir heute als bewusste Erfahrung bezeichnen.
Wenn man sich mit der Vorgeschichte der heutigen Erforschung von Geist und Gehirn befassen will, muss man weit zurückgehen. Bereits in den frühesten erhaltenen Kulturzeugnissen, z.B. in den Wandbildern der Höhlen von Lascaux, in neolithischen Dolmengräbern,[20] den Homerischen Epen, den Platonischen Dialogen, aber auch in vielen Zeugnissen aus nicht-westlichen Kulturen[21] finden sich Belege dafür, dass dieses Problem die Menschheit schon seit sehr langer Zeit beschäftigt hat. Von einem Problem und dessen Vorgeschichte zu sprechen stellt allerdings schon eine grobe Vereinfachung dar, die den Kern einer der zentralen Thesen dieses Buches betrifft: Es geht in dieser Geschichte eben nicht um die Auseinandersetzung mit einer klar umrissenen Fragestellung. Zentrale Behauptung dieser Arbeit insgesamt und des vorliegenden Kapitels im Besonderen ist vielmehr, dass sich in der bisherigen Geschichte der Auseinandersetzung mit Geist und Gehirn auch die Vorstellung von dem zu lösenden Problem fundamental gewandelt hat. Dies zeigt sich schon an dem Begriffswandel, der sich hier beobachten lässt: Während am Beginn dieser Geschichte seelenähnliche Vorstellungen dominieren, ist später eher vom Geist die Rede; seit dem 17. Jahrhundert tritt dann der Bewusstseinsbegriff zunehmend in den Vordergrund. Die Entwicklung setzt sich bis in die Gegenwart fort, und auch in Zukunft müssen wir mit weiteren Veränderungen unserer Vorstellung von dem Problem rechnen.
Doch warum kann man dann überhaupt noch davon ausgehen, dass hier ein Zusammenhang besteht, der es erlaubt, mehrere Jahrtausende alte Seelenvorstellungen für unsere heutigen Auseinandersetzungen mit Geist und Gehirn in Anspruch zu nehmen? Die Antwort auf diese Frage ist ein wenig komplizierter. Grob zusammengefasst hat sie zwei zentrale Aspekte: Zum einen erhalten sich trotz aller Verschiedenheiten gewisse inhaltliche Übereinstimmungen über die Zeit hinweg: Wenn der biblische Gott Adam den Lebensatem einhaucht, dann verwandelt er damit ein Stück unbelebter Materie in ein Lebewesen. Doch offenbar besitzt Adam auch geistige Fähigkeiten – nur deshalb ist er für die Einflüsterungen der Schlange empfänglich und empfindet später so etwas wie Scham und Reue. Deutlicher noch ist dies im platonischen TIMAIOS, der den Schöpfungsprozess der Seele beschreibt und dabei ausführlich auf Schmerzempfindungen, Emotionen und Wahrnehmungen eingeht.[22]
Seelen sind zwar zunächst vor allem Dinge oder Substanzen, die von außen beschrieben werden: als Vogel, als Hauch oder als Homunculus. Doch zumindest am Rande dienen sie auch der Erklärung dessen, was wir heute unter Bewusstsein verstehen. Vor allem aber befassen sich Seelenlehren mit den Unterschieden zwischen belebter und unbelebter Materie, zwischen menschlichem und nichtmenschlichem Leben, aber sie beschäftigen sich auch mit der Wahrnehmung oder dem Willen.
Tatsächlich kann denn auch aus einem zweiten Grund von einem übergreifenden Problemzusammenhang gesprochen werden: Es kommt nicht einfach zu einer zufälligen Abfolge unterschiedlicher Begriffe und Problemvorstellungen, vielmehr gibt es hier eine Kontinuität mit einer klar erkennbaren Entwicklungslogik: Während die ursprünglichen Seelenvorstellungen vergleichsweise umfassend und dabei gleichzeitig wenig ausdifferenziert und explizit sind, kommt es im weiteren Verlauf vor allem mit der Etablierung des Bewusstseinsbegriffs zu einer Ausdifferenzierung, die eine genauere Beschreibung und eine explizite Benennung einzelner Phänomene wie Wahrnehmung, Emotionen und später dann auch unterschiedlicher Formen des Bewusstseins erlaubt. Verbunden ist damit eine bereits angesprochene Subjektivierung. Während die alten Seelenlehren meist von Substanzen oder Objekten sprechen, geht es für die Bewusstseinstheoretiker vor allem in späteren Phasen der Forschungsgeschichte mehr und mehr um die subjektive Erfahrung.
Außerdem wird der Bereich des Übernatürlichen mit zunehmendem wissenschaftlichem Wissen immer enger gefasst. Bis zu Descartes wurden die meisten seelischen Fähigkeiten einschließlich der Wahrnehmung, der Emotionen und auch der Belebtheit selbst als übernatürlich betrachtet: Es ist Gott selbst, der Adam den Lebensatem einhaucht. Descartes glaubt dann, die Lebensfunktionen, aber auch weite Teile von Wahrnehmungen und Emotionen auf natürliche Prozesse zurückführen zu können, während die höheren Seelenfunktionen wie Geist und Sprache einer solchen Erklärung entzogen seien. Hier kommt es erst im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zu entscheidenden Veränderungen. Nach einer Vielzahl spektakulärer Entdeckungen in der Hirnforschung scheint die wissenschaftliche Erklärung höherer kognitiver Funktionen einschließlich der Sprache in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nach den Entdeckungen von Broca, Wernicke, Hitzig und Fritsch plötzlich in die Reichweite der Naturwissenschaften zu gelangen; die Details werden im Folgenden zu erörtern sein. Hier ist zunächst entscheidend, dass es zusätzlich zu den inhaltlichen Gemeinsamkeiten mit heutigen Bewusstseinsvorstellungen noch eine Kontinuität der Entwicklung gibt, die es erlaubt, über alle Veränderungen hinweg von einem Problemkomplex zu sprechen.
Wie gerade bereits geschehen, wird es auch im weiteren Verlauf dieses Kapitels immer wieder nötig sein, zwischen »natürlichen« und »übernatürlichen« Prozessen und Erklärungen zu unterscheiden. Typische Beispiele von natürlichen Prozessen sind die Bewegung eines Pendels oder die Entladung eines Neurons, also Vorgänge, die sich auch in einer – aus heutiger Sicht – naturwissenschaftlichen Sprache beschreiben lassen.[23] Andere Beschreibungen sind dabei ausdrücklich erlaubt. Ein halbwegs angemessener Bericht von einer Opernaufführung wird kaum physikalische Formeln verwenden; dennoch wäre die Aufführung ein natürliches Phänomen, solange eine Beschreibung in der Sprache der Naturwissenschaften möglich ist – auch wenn sie in den meisten Fällen völlig uninformativ und vermutlich unfassbar lang wäre. Typische Beispiele übernatürlicher Prozesse sind göttliche Schöpfungsakte, Wunder oder aber die Lösung einer immateriellen Seele vom Körper. Der Bericht von einer Opernaufführung würde daher die Grenzen des Naturalismus überschreiten, wenn er die Leistungen der Sänger auf ihre göttlichen Fähigkeiten zurückführen würde, statt sich auf z.B. ihre gute Ausbildung zu berufen.
Als naturalistisch werden dann konsequenterweise solche Theorien bezeichnet, die sich ausschließlich auf natürliche Phänomene beziehen, also auf Phänomene, die auch mit naturwissenschaftlichen Methoden erfassbar sind. Eine naturalistische Theorie des Bewusstseins sollte sich auf die Methoden beschränken, die wir auch sonst zur Erklärung natürlicher Phänomene heranziehen. Dabei kann sie mit einer Phänomenologie subjektiver Erfahrung beginnen, ja sie sollte dies sogar, weil andernfalls die Gefahr bestünde, dass das zu erklärende Phänomen verfehlt wird. Gleichzeitig muss eine solche Theorie davon ausgehen, dass der subjektiven Erfahrung Prozesse zugrunde liegen, die z.B. auch in der Sprache der Neurobiologie erfasst werden können. Die Grenze wäre wiederum überschritten, wenn die Erklärung stattdessen Bezug auf eine immaterielle Seele nähme.
Die Unterscheidung von natürlichen und übernatürlichen Phänomenen erscheint sinnvoll, auch wenn sie von heutigen Maßstäben ausgeht. Für Menschen früherer Epochen hat es eine solche Dichotomie von natürlich und übernatürlich häufig nicht gegeben – die Einflüsse von Göttern, Sternen und Wundern waren Bestandteil der alltäglichen Lebenswelt und wurden in der Regel auch von Philosophen akzeptiert. Doch der bloße Glaube wird an der faktischen Wirkungslosigkeit übernatürlicher Kräfte wenig geändert haben. Der Tod dürfte auch im Mittelalter im Allgemeinen durch Organversagen eingetreten sein und nicht durch das Aushauchen einer immateriellen Seele. Insofern kann man die heutige Unterscheidung zwischen natürlichen und übernatürlichen Phänomenen auch verwenden, wenn es um Epochen geht, die selbst ganz andere Kategorien benutzten.
Voraussetzung ist natürlich, dass man sich dieser historischen Differenz bewusst bleibt. Nur so kann man die Rationalität historischer Theorien auch dort erkennen, wo sie dem gegenwärtigen Erkenntnisstand zuwiderlaufen. Tatsächlich erweisen sich viele aus heutiger Sicht obsolete Theorien als bestens nachvollziehbar, wenn man ihren zeitgenössischen Kontext berücksichtigt. Das bedeutet auch, dass unsere eigene Rationalität uns – natürlich – nicht davor bewahren kann, revisionsbedürftige Theorien aufzustellen.
Das folgende Kapitel gliedert sich in vier Abschnitte. Im ersten Abschnitt werde ich zunächst einen Überblick über alte, vorphilosophische Seelenvorstellungen geben, so wie sie sich in religiösen und literarischen Texten, aber auch in Zeugnissen der bildenden Kunst und in der Philosophie der Antike finden. In zweiten Abschnitt wird es dann um die Etablierung des Bewusstseinsbegriffs im 17. und frühen 18. Jahrhundert bei Autoren wie Descartes, Cudworth, Locke, Leibniz und Pseudo-Mayne gehen. Dabei werde ich insbesondere die Engführung von Bewusstsein und Wissen verfolgen, die bis heute eines der wichtigsten Hindernisse bei der Suche nach einer wissenschaftlichen Erklärung darstellt. Im dritten Abschnitt wird mein Augenmerk dann der Entwicklung gelten, die zwischen dem frühen 18. und dem Ende des 19. Jahrhunderts zur endgültigen Abwendung vom Seelenbegriff und damit zu einem substantiell veränderten Problemverständnis führt: Während sich der Erklärungsbedarf bei der Seelensubstanz vor allem auf die – meist übernatürliche – Herkunft und den Schöpfungsprozess richtete, geht es bei der Erklärung des Bewusstseins eher um die Zurückführung auf basale natürliche Prozesse wie etwa die Aktivität von Nervenzellen. Im vierten Abschnitt werde ich schließlich eine kurze Skizze der Entwicklung von der introspektionistischen Psychologie des 19. Jahrhunderts über den Behaviorismus und den Funktionalismus bis zu den empirischen Bewusstseinstheorien der Gegenwart liefern. Auch dabei werde ich nicht zuletzt die Veränderungen des Problemverständnisses hervorheben.