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Parents need to know how to gently persuade and nurture their children. But above all it is important that they are simply there for their children – parental presence as the new concept of child guidance.
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Seitenzahl: 323
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Das Wichtigste über elterliche Präsenz haben wir von unseren Kindern gelernt.
Daher widmen wir dieses Buch unseren insgesamt acht Kindern:
Nati
Anna-Lena
Yonathan
Janina
Michael
Max-Simon
Noam
Yael
Haim Omer / Arist von Schlippe
Autorität ohne Gewalt
Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen
»Elterliche Präsenz« als systemisches Konzept
Mit einem Vorwort von Reinmar du Bois
10., unveränderte Auflage
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-647-99506-9
Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter www.v-r.de
Umschlagbild: Eve Aschheim, Razor, 1996,
Graphit, Öl auf Leinwand, 30 × 23 cm.
© Eve Aschheim/Weidle Verlag (Foto: Tom Powel)
© 2015, 2002 Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/
Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A.
www.v-r.de
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.
Satz: KCS GmbH, Buchholz/Hamburg
Inhalt
Vorwort
Vorwort des Zweitautors
Kapitel 1:
Einführung: Die elterliche Stimme
Kapitel 2:
Was ist unter »Elterlicher Präsenz« zu verstehen?
Kapitel 3:
Elterliche Präsenz und gewaltfreier Widerstand
Kapitel 4:
Elterliche Präsenz als schulenübergreifendes Konzept
Kapitel 5:
Für Handeln gibt es keinen Ersatz – Coaching für Eltern
Kapitel 6:
Ein Gespräch
Kapitel 7:
Systemische Präsenz
Kapitel 8:
Persönliche Präsenz: Eine eigene Stimme haben
Kapitel 9:
Flexible Autorität
Kapitel 10:
Die Einbeziehung des Kindes in den Beratungsprozeß der Eltern
Schluß
Literatur
Vorwort
Der interessierte Leser dieses Buches sollte mit den Verfassern einig sein, daß bei vielen Erziehern in hochentwickelten Ländern die Sicherheit abhanden gekommen ist, daß sie über natürliche Autorität verfügen und ihren Kindern fraglos Rückhalt, Selbstvertrauen und Orientierung geben könnten. Er oder sie wird sich vermutlich auch mit den Autoren des Buches einig wissen, daß viele Eltern von Gefühlen der Hilflosigkeit und Ohnmacht ihren Kindern gegenüber geplagt werden und in einen Machtkampf mit ihren Kindern verstrickt sind, der nur Unterwerfung oder Beherrschung zuläßt, begleitet von Schuld- oder Rachegefühlen. Der Leser/die Leserin wird sich möglicherweise auch nicht befremdet abwenden, wenn er zu hören bekommt, viele Eltern fühlten sich heute nahezu wie Kinder, sie könnten sich nicht eindeutig gegenüber ihren Kindern als Erwachsene abgrenzen, sondern verglichen sich in vielem mit den Kindern und setzten sich mit ihnen gleich. Wer dieses Verhalten als bedauerliche Schwäche oder Verfehlung einzelner Eltern betrachtet und sich von diesem Treiben indigniert abwendet, wird nicht einmal dieses Vorwort zu Ende lesen, denn von Eltern mit solchen Schwächen wird auch hier bereits die Rede sein. Die betroffenen Eltern beurteilen sich übrigens so: Sie finden ihr eigenes Verhalten, ihre Hilflosigkeit und die gesamte familiäre Situation höchst peinlich. Daraus folgt, daß sie sich isolieren und ihre Not geheimhalten.
Als Kinder- und Jugendpsychiater bin ich nicht mit allgemeinen erzieherischen Problemen beschäftigt, sondern mit Notlagen einzelner Personen, die als Patienten zu mir kommen. Es hat mich bei der Lektüre des Buches von Haim Omer und Arist von Schlippe sehr berührt, daß offenbar zu einem Thema, das mich bisher ausschließlich bei meiner klinischen psychiatrischen Arbeit beschäftigt hat, nun ein Buch geschrieben wird, das ein allgemeineres pädagogisch interessiertes Publikum ansprechen soll. Vielleicht ist dieses Buch nur das erste einer ganzen Reihe zu ähnlichen Fragen, die wohl in der Luft liegen. Die Effektivität des Ansatzes mag statistisch noch nicht erwiesen sein. Aber es ist nicht von der Hand zu weisen, daß hier ein Trend sichtbar wird, der in Zukunft weiter zunehmen und dann auch weitere Publikationen nach sich ziehen könnte.
Mir fällt hierzu ein vierzehnjähriger Junge ein, der nur ein mäßig erfolgreicher Hauptschüler war. Seine Eltern waren beide studierte Leute, Lehrer. Bei diesen stand der Sohn nicht besonders hoch im Kurs. Sie hielten ihn für schwach begabt und zusätzlich für faul. Nur letzteres warfen sie ihm angeblich vor. Aber ich glaube nicht, daß sich der Junge sicher war, daß ihm nicht auch die Dummheit vorgeworfen wurde. Er hatte sich einer Gruppe von Skinheads angeschlossen. Er hatte sich die Haare abrasiert und warf mit ordinären Ausdrücken um sich. Gegenüber seiner Mutter verhielt er sich teils wie ein Prolet, teils aber auch schlicht kindisch. Mehrmals stand er am Rand gefährlicher tätlicher Auseinandersetzungen und baute sich bedrohlich vor der Mutter auf, auch mit einem Messer. Er verlangte, daß die Eltern ihm einen Baseballschläger und Springerstiefel kaufen sollten. Er drohte damit, daß er seine Eltern vor allen Nachbarn und Freunden blamieren würde. Die Eltern waren gefährdet, in einem Gemenge von Gefühlen zu versinken und die Übersicht zu verlieren. Sie reagierten mal ironisch, mal nachsichtig, mal spöttisch, mal herablassend, teils auch mit blankem Entsetzen. Der Vater konnte sich in seinen Gesprächen mit mir nicht von der Erinnerung lösen, daß sein Sohn als jüngeres Kind ausgesprochen lieb und bedürftig und daß er ihm als Vater besonders eng verbunden gewesen sei. Es kostete die Eltern ungeheure Überwindung, sich in meine Sprechstunde zu begeben. Sie taten es heimlich und ohne ihren Sohn. Die Angelegenheit war ihnen höchst peinlich. Gestärkt durch die Beratung bei mir, gelang es den Eltern, dem Sohn bestimmte absurde Wünsche nicht mehr zu erfüllen. Es war für mich besorgniserregend, wie triumphal die Eltern davon erzählten, wie sie sich gegenüber dem Sohn durchgesetzt hatten. Sie hatten ihren Sohn wieder einmal gedemütigt. Und so wogte ein regelrechter Kampf zwischen den Eltern und dem Kind hin und her. Schließlich wurde der Sohn in eine Schlägerei zwischen zwei Jugendbanden verwickelt. Als die Staatsanwaltschaft ermitteln wollte, drängte sich der Vater dazwischen. Er versuchte, den Staatsanwalt davon zu überzeugen, daß sein Sohn nur ein unschuldiges Kind sei, vollkommen harmlos und ohne böse Absicht.
Eine andere Begegnung hatte ich mit einer Mutter, die von ihrem siebzehnjährigen Sohn immer wieder »abkommandiert« wurde, daß sie ihm bei den Hausaufgaben helfen möge. Die Hilfe endete jeweils damit, daß der Sohn die Mutter beschimpfte und auch körperlich schlug. Der Sohn warf ihr vor, sie sei schuld an seinem Versagen. Die Mutter brachte ihm dann Essen zur Beschwichtigung, obwohl sie wußte, daß er ihr das heiße Essen schon mehrmals ins Gesicht geworfen hatte. Sie suchte immer wieder Zuflucht bei ihrem Tagebuch. Diesem vertraute sie an, wie krank sich der Sohn verhalte und welches Martyrium sie auf sich nehme, um ihm dennoch zu helfen. Über diese »Krankheit« wollte die Mutter mit mir, dem Psychiater, fachliche Gespräche führen und eine Diagnose genannt bekommen. Die Mutter überblickte nicht mehr, wie absurd sie selbst in ihrer eigenen Isolation gefangen war und wie weit sie sich aus der Realität, so wie sie außerhalb der Familie wahrgenommen wird, entfernt hatte.
Der Kinder- und Jugendpsychiater gewinnt bei der therapeutischen Arbeit mit erzieherisch besonders hilflosen und auffällig ohnmächtigen Eltern den Eindruck, daß sowohl bei den Eltern wie bei den Kindern sehr unreife Verhaltensmuster mit widersprüchlichen Bedürfnissen zum Ausdruck kommen, zum Beispiel primitive Haßgefühle mit dem Wunsch, jemanden zu verstoßen, gleichzeitig der Wunsch, jemanden kompromißlos zu beherrschen und zu besitzen. Starke Gefühle von Haß und Liebe wechseln einander ab. Eltern und Kinder können auch bei fortgeschrittenem Alter der Kinder noch eng, aber hoffnungslos miteinander verbunden bleiben. Bei dem erwähnten siebzehnjährigen Jugendlichen wurde mir berichtet, daß er, wenn ihm etwas mißlang oder wenn er sich verletzte, zur Mutter hinstürzte, um sie dafür zu bestrafen. Das kindliche Muster verrät sich auch, wenn Jugendliche ihre Mütter mit immer denselben läppischen Bemerkungen überziehen. Ähnlich wie Kleinkinder versteigen sie sich in tyrannische Forderungen und Maßlosigkeit. Das erklärt auch, warum die gequälten und körperlich bedrohten Eltern das Verhalten als bloßen »Trotz« abtun und warum sie sich nicht ausreichend schützen. Selbst Eltern, die schon gefährliche Angriffe ihrer Kinder hinnehmen mußten, empfinden noch eine geheime Überlegenheit und sind nur zwischendurch kurz entsetzt.
Als Kliniker ist mir aufgefallen, daß entweder Kinder oder Eltern, die in einer solchen tyrannischen und ohnmächtigen Situation steckengeblieben sind, Kontaktschwierigkeiten aufweisen, das heißt, es gelingen nur dürftige oder keine befriedigenden sozialen Außenkontakte im Berufsfeld oder im Freundeskreis. Um so eher droht Eltern und Kindern, in einer tiefen gegenseitigen Abhängigkeit hängenzubleiben, auch wenn die Kinder längst keine Kinder mehr sind. Das anklammernde Verhalten gründet in der Angst, man könnte sich verlieren, wenn die Entwicklung voranschreitet und jeder sich selbst findet. Wer Angst hat, sich in der »Welt da draußen« zu verlieren, muß sich im engsten Kreis aneinander festhalten.
Wenn man diese klinisch-psychotherapeutischen Beobachtungen auf eine gesellschaftliche Ebene überträgt, ergibt sich eine Kritik moderner familiärer Lebensformen. Eltern und Kinder binden sich zu eng und zu ambivalent aneinander und sind komplementär nicht ausreichend gut in die umgebende gesellschaftliche Realität eingebettet und eingebunden. Die Versuche der älter werdenden Kinder, sich aus diesen Bindungen zu lösen, werden als frustran und aussichtslos erlebt.
Dabei ist ein hohes Maß an Autonomie als gesellschaftliche Norm vorgegeben. Mit dieser Norm konfrontiert das Kind auch seine Eltern. Es will »mächtig und unabhängig« sein, ohne dies aber eigentlich zu können. Das Kind weiß auch, daß es den Eltern mit dieser Forderung große Angst bereitet. Die Hilflosigkeit gegenüber diesem Anspruch ist allseits vorhanden. Hiermit ist ein typisches Risiko umrissen: Die Familien streben im Binnenraum eine hohe Intimität und Geborgenheit an. Sie versuchen sich auf diese Weise vor der Gesellschaft zu schützen, die sie als undurchschaubar und feindselig erleben. Wenn die Familien längere Zeit zusammenleben, ergeben sich durch die Befolgung gesellschaftlicher Anforderungen unweigerlich Kränkungen und Enttäuschungen. Ehepartner müssen die Erfahrung machen, daß sie aus der Familie sehr viel weniger Gratifikation und Lebenssinn schöpfen können, als sie ursprünglich erhofft hatten und als sie ursprünglich den Kindern versprochen hatten. Das ist ein wichtiger Auslöser für die Wut und für die Ohnmacht der Kinder gegen ihre Eltern.
Gerade in der Jugendzeit geht die Schere zwischen den gesellschaftlichen Anforderungen und den begrenzten eigenen Möglichkeiten immer weiter auf. Gerade bei Menschen, die persönliche Schwächen mitbringen, erweist sich die Bindung an die Familie als unentrinnbar. Manche Jugendliche ziehen sich ins Elternhaus zurück und beginnen dort ihre Eltern zu tyrannisieren, ohne die Kraft zu finden, sich in der Gesellschaft zu bewähren. Andere Jugendliche beginnen zu streunen, sich den Eltern zu entziehen, fühlen sich aber telepathisch in derselben Ohnmacht den Eltern noch verbunden.
Bei Haim Omer ist in fast jeder Passage seines Buches die hier skizzierte Problemlage gegenwärtig. Sie wird als Verständnis vorausgesetzt. Das Buch unternimmt den mutigen Versuch, Eltern konkrete Verfahrensweisen vorzuschlagen, wie sie ihre Hilflosigkeit überwinden können, wie sie die Eskalation von Gewalt zwischen sich und den Kindern überwinden und den absurden Forderungen der Kinder entkommen können.
Haim Omer gründet seine Erfahrung auf der Arbeit mit Eltern, die bei bester Absicht ihrem Kind zu wenig Halt und Sicherheit geben – aus purer Angst, dem Kind in seinem Autonomiestreben zu nahe zu treten. Man könnte sagen: Beim jüngeren Kind haben die Eltern die Autonomiebedürfnisse noch übersehen. Später, wenn sie unübersehbar werden, jagen sie ihnen einen Mordsrespekt ein. Die Eltern, an die sich Omer wendet, erleben sich als handlungs- und entscheidungsunfähig, wenn sich ihr Kind tyrannisch verhält. Der Wunsch, die Handlungsfähigkeit wiederzuerlangen und sich durchzusetzen, wird nicht selten von der Phantasie begleitet, man brauche nur brachiale Gewalt einsetzen, genau dies dürfe man aber nicht, denn man würde sich ins Unrecht setzen, seelischen Schaden anrichten, oder – schlimmer noch – das Kind verlieren.
Vor allem die Furcht, das Kind könnte sich von den Eltern abwenden, macht die Eltern erpreßbar. Im Grund ist es der Gedanke an die Autonomieentwicklung der Kinder, der von den Eltern nicht ertragen wird. Haim Omer und Arist von Schlippe sprechen auch davon, daß Eltern vor der Eigenmächtigkeit der Kinder Angst haben. Genaugenommen betrachten solche Eltern ganz zentrale Tatsachen der menschlichen Entwicklung als Bedrohung. Die Autoren sagen im weiteren: Die Eltern erleben ihr Kind als jemanden, der stärker sein will als sie selbst und dem die Eltern daher nur begegnen können, indem sie sich selbst als die stärkeren erweisen. Das Buch ist ein Versuch, eine dritte Möglichkeit darzubieten, wobei die Eltern sich der kindlichen Destruktion entschieden widersetzen können, ohne sich dabei in einen eskalierenden Machtkampf zu verwickeln.
Es ist bedenkenswert, daß Elterngenerationen bis vor etwa vierzig Jahren noch keinen Gedanken darauf verschwendeten, ob klare erzieherische Regeln und Verbote für die Kinder schlecht seien oder diese beschädigen könnten. Es wurde erzieherisch für positiv erachtet, wenn alles getan wurde, damit Kinder die von Erwachsenen erlassenen Regeln einhielten. Von den Kindern wurde sogar gefordert, daß sie sich die Regeln der Erwachsenen zu eigen machen sollten. Natürlich ist eine Pädagogik pervertierbar, wenn sie Regeln vorgibt, ohne zu erlauben, daß diese hinterfragt werden. In der Kritik dieser Pädagogik spielte das Argument eine wichtige Rolle, den Kindern müßten Möglichkeiten eingeräumt werden, ihre eigenen Normen neu zu definieren und die alten Normen zu überprüfen. Das war die Ära der »Aushandlungspädagogik«.
Haim Omer und Arist von Schlippe gehen nun einen Schritt weiter, oder auch wieder einen Schritt zurück. Sie vertreten die Verteidigung klarer Positionen. Sie warnen vor wortreichen Diskussionen und vor Überzeugungsversuchen. Für sie haben auch unmißverständlich klare und unbeugsame Positionen wieder einen hohen Wert, jedoch finden sie andere Begründungen. Sie sehen den Wert fester Regeln nicht darin, daß Traditionen bewahrt und übernommen werden, sondern in dem Umstand, daß es den Jugendlichen so leichter fällt, sich gegen solche festen Positionen abzugrenzen und ein eigenes Terrain zu verteidigen. Omer und von Schlippe plädieren also dafür, daß Eltern sich auf klare und unmißverständliche Konfrontationen mit den Kindern einlassen sollen. Die Konfrontation muß allerdings so gestaltet werden, daß sie nicht in einem Kampf endet, der Sieger und Besiegte zurückläßt. Aus der Tierverhaltensforschung ziehen sie die Zuversicht, daß solche Konfrontationen letztlich mit dem Wunsch nach Versöhnung enden. Versöhnung bedeutet für sie nicht, daß Eltern oder Kinder die eigene Position aufgeben müssen. Vielmehr erwarten sie, daß beide Seiten in diesem Prozeß eigenständige Individuen bleiben oder sich zu solchen Individuen entwickeln.
Wie soll es Eltern gelingen, von ihrer Hilflosigkeit ausgehend, zu festen klaren Positionen zu kommen, ohne sich zwischen Macht und Ohnmacht zu verzetteln? Eine wichtige Rolle in Omers und von Schlippes Ansatz spielt der gewaltfreie Widerstand, praktiziert etwa in »Sit-ins«. Diese »Sit-ins« sind die interessante Wiederauflage einer Widerstandsform, welche die Generation der heutigen Eltern seinerzeit zur Selbstbehauptung gegen die eigenen starren und unbeugsamen Eltern einsetzte. Nun richtet sich dieser Widerstand also gegen die eigenen Kinder. Immerhin hat die Generation der heutigen Eltern einen inneren Bezug zu diesem Verhalten, es ist für sie bestenfalls nicht fremd und wirkt nicht aufgesetzt. Hier und an vielen anderen Stellen ist das Buch von Omer und von Schlippe reich an Vorschlägen, wie die Eltern Handlungsfähigkeit und Entscheidungsfähigkeit zurückerlangen und wie sie ihre Ohnmacht überwinden können. Dazu gehören auch Vorschläge, ihre Isolation zu überwinden. So können sie weitere Personen auf den Plan rufen oder sich mit ihren erzieherischen Schwierigkeiten »outen« und aufhören, sich für ihre erzieherische Hilflosigkeit zu schämen.
Als Kliniker, der mit den schlimmsten Formen erzieherischer Ohnmacht konfrontiert ist, bin ich beeindruckt, wie weit sich Omer und von Schlippe im Bestreben vorwagen, die Eltern zu ermutigen und sie handlungsfähig zu machen. An manchen Punkten hätte ich bei meiner klinischen Tätigkeit den Eltern längst geraten, sich von ihren Kindern zu trennen. An manchen Punkten wäre ich längst überzeugt gewesen, daß ich den Eltern nur durch diesen endgültigen Schritt Handlungsfähigkeit zurückgeben und zugleich die Autonomie der Kinder wiederherstellen könnte. Aber dann sei eingeräumt, daß der Psychiater in pädagogischen Fragen stets zur Kleingläubigkeit und nicht zum Optimismus neigt, wohl weil er mit Extremgruppen zu tun hat. Das in diesem Buch beschriebene Vorgehen verlangt jedenfalls hohen Einsatz und große Kraftanstrengungen von den Eltern, die seine Ratschläge aufgreifen.
Und noch eine letzte Frage: Versuchen Omer und von Schlippe nicht im Grunde eine Neigung der Eltern pädagogisch-kreativ zu nutzen, die ein Teil des Verhängnisses ist, das sie doch mit ihren Vorschlägen abwenden wollen, nämlich die hohe, zu hohe emotionale Verstrickung der Eltern mit ihren Kindern, das Nicht-loslassen-Können trotz starker negativer Gefühle? Von solchen Widersprüchen und Paradoxien lebt das Buch. Es ist spannende Lektüre. Ich wünsche dem Buch viel Erfolg.
Reinmar du Bois
Vorwort des Zweitautors
Es ist sicher ungewöhnlich, daß ein Buch von zwei Autoren mit einem Vorwort des Zweitautors eröffnet wird. Es hat damit zu tun, daß ich gern diese Gelegenheit nutzen würde, um die Umstände, die zu diesem Buch geführt haben, zu erläutern.
Ich lernte Haim Omer vor einigen Jahren kennen, und wir freundeten uns sehr schnell an; tatsächlich hatten wir beim ersten Zusammentreffen in Osnabrück auf den zehn Minuten Autofahrt vom Bahnhof bis zu unserer Wohnung uns gegenseitig unsere Lebensgeschichten schon fast komplett erzählt. Er hielt an der Universität Osnabrück einen Vortrag und führte anschließend einen Workshop für das Lehrtherapeutenteam des Instituts für Familientherapie Weinheim durch. Sein Konzept elterlicher Präsenz faszinierte mich und forderte mich gleichzeitig heraus. Haim hatte im Rahmen des Workshops mit einer Familie gearbeitet, genauer gesagt mit dem Elternpaar dieser Familie, die mich schon mehrfach an den Rand meiner therapeutischen Möglichkeiten gebracht hatte. Die Art seiner Interviewführung beeindruckte mich, die kurz- und mittelfristigen Ergebnisse ebenfalls. Die Kreativität, Experimentierfreude und konzeptuelle Bandbreite Haim Omers, verbunden mit seinem Mut, in existentiellen Situationen auch ungewöhnliche Schritte zu gehen, erlebe ich als überzeugend und als eine Bereicherung für die therapeutische Landschaft.
Dennoch – es blieb auch eine gewisse Skepsis, eine Frage, die mir auch von vielen anderen immer wieder gestellt wird: Ist das Modell der elterlichen Präsenz eigentlich mit den Vorstellungen systemischer Therapie zu vereinbaren? Kommen da nicht alte Konzepte (im Jiddischen sagt man: »Alte Sache«) in moderner Verkleidung wieder zum Vorschein? Kommt da nicht wieder einer, der den Eltern sagt, wie sie zu handeln haben?
Wie ist das eigentlich mit solchen Etiketten – »systemisch« – »nichtsystemisch«? Ja, man kann sie vergeben, und zwar meines Erachtens in einer Hinsicht, nämlich im Hinblick auf die Frage, ob ein Modell die Optionen der Personen, denen es angeboten wird, eher begrenzt als vergrößert, ob es also einen Raum von Möglichkeiten öffnet, und ob es auf der Basis einer beweglichen, »konstruktivistischen« Sicht auf die Dinge beruht – dann können wir es »systemisch« nennen. Wenn dagegen ein Modell Menschen normativ vorschreibt, was zu tun sei und was nicht, dann ist das nicht mit systemischem Denken zu vereinbaren.
Ich vertrete heute überzeugt die Position, daß das Modell der elterlichen Präsenz in diesem Sinn ein systemisches ist, doch ist die Gefahr von Mißverständnissen gerade bei diesem Konzept sehr groß. Aus diesem Grund haben wir immer wieder im Buch Hinweise darüber eingestreut, daß wir nicht empfehlen, elterliche Präsenz als Modell für »die gute Erziehung« zu nehmen, daß wir nicht – wie etwa bei Minuchin – von einem festgefügten Bild ausgehen, wie eine Familie zu sein habe, wie sich Eltern zu verhalten haben, sondern daß wir elterliche Präsenz als Angebot an Familien in Not sehen, das wir dann machen, wenn wir von Eltern darauf angefragt werden.
Für eine weitere Anmerkung möchte ich dieses Vorwort nutzen. Dieses Buch wurde für die USA und Israel von Haim Omer als Alleinautor geschrieben – und auch in der deutschen Fassung ist die Urheberschaft sehr asymmetrisch unter uns verteilt. Ich möchte es sehr klar betonen: Dies ist und bleibt in erster Linie Haim Omers Buch. Er hat das Konzept der Parental Presence entwickelt, die meisten Fallbeispiele entstammen seiner Praxis. Doch habe ich mich sehr gern an dem Projekt beteiligt, das Buch auf deutsch mit auf den Weg zu bringen. Wir haben entschieden, nachdem wir nun so viele gemeinsame Erfahrungen mit diesem Konzept haben und vor allem so viele und intensive Diskussionen darüber führten, dieses Buch in Deutschland nicht nur einfach in einer Übersetzung der englischen Ausgabe herauszubringen. Vielmehr habe ich als Co-Autor auch die Ergebnisse unserer Gespräche und an vielen Punkten eigene Akzentsetzungen und eigene Beispiele in das Buch mit hineingearbeitet. In diesem Sinn ist es nun auch unser gemeinsames Werk geworden.
Noch zwei redaktionelle Anmerkungen:
– Wir haben Axel Timner aus Celle sehr zu danken, der eine ausgezeichnete Übersetzung des Originaltextes von Haim Omer anfertigte, die die Basis für die überarbeitete deutsche Version darstellte.
– Im Englischen gibt es mit den männlichen und weiblichen Formen keine Probleme. Wir haben entschieden, uns wegen der besseren Lesbarkeit meist an der männlichen Form zu orientieren, jedoch um die Bedeutsamkeit der Thematik immer wieder einmal wachzurufen, auch mit verschiedenen anderen Formen der Schreibweise zu experimentieren.
Ich bin froh und dankbar, Haim Omer kennengelernt zu haben, unsere Freundschaft ist mir sehr wertvoll.
Arist von Schlippe
Kapitel 1:
Einführung: Die elterliche Stimme
Es gibt zahllose Möglichkeiten, Kinder aufzuziehen. Die Vielfalt bis heute existierender Familienstrukturen, Werte und Praktiken entzieht sich jeder Kategorisierung. Die gegenwärtige Generation hat eine Verbreitung von Erscheinungsformen und Möglichkeiten von Familienkonstellationen erlebt, die noch vor wenigen Jahrzehnten für inakzeptabel angesehen wurden. Offenbar können Kinder aus höchst unkonventionellen Familienstrukturen zu ausgeglichenen Erwachsenen heranwachsen. Die Zeiten sind vorbei, als man die wahre Art des Kindererziehens und die beste Familienstruktur zu kennen glaubte. Und doch gibt es, selbst in unserer modernen babylonischen Vielfalt von Familienformen, eine feste Übereinkunft, die von allen liebevollen Eltern geteilt wird: Sie wollen nicht, daß ihre Kinder Drogen nehmen, Gewalt anwenden, sich an kriminellen Akten beteiligen, in sexuelle Promiskuität verfallen oder sich und andere anderweitig schädigen. Positiv ausgedrückt, Eltern möchten aktiv an der Gestaltung eines familiären Kommunikationssystems mitwirken, in dem ihre Kinder Erfahrungen machen können, die mit dazu beitragen, daß sie in dem Bewußtsein groß werden, in der Verbundenheit mit anderen Menschen zu leben, und bereit sind, ihren Platz in der sozialen Gemeinschaft einzunehmen. Dies gelingt ja auch – mehr oder weniger gut – in vielen Familien. Glücklicherweise gibt es eine unglaubliche Vielfalt von Möglichkeiten, wie solche Werte vermittelt werden können, und es wäre verfehlt, aus professioneller Perspektive Familien vorzuschreiben, wie sie dies tun sollen: Es wäre völlig verfehlt, zu denken, es gebe »die« eine richtige Art der Kindererziehung. Was für die eine Familie richtig und gut ist, kann für die andere falsch sein. Wenn sich jedoch Eltern hilflos fühlen angesichts der Selbstzerstörung oder Gewalttätigkeit ihres Kindes, dann kann eine Wiederherstellung der elterlichen Präsenz ein wichtiger Schritt sein. In diesem Sinn bieten wir mit dem vorliegenden Buch explizit kein normatives Modell dafür an, wie eine Familie zu sein habe, und orientieren uns ausdrücklich daran, daß gerade die aktiv aufrechterhaltene Vielfalt der Lebensformen die Farbigkeit einer Kultur ausmacht. Vielfalt selbst stellt einen bedeutsamen Wert dar, den auch wir vertreten.
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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