Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern - Haim Omer - E-Book

Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern E-Book

Haim Omer

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Beschreibung

Haim Omer und Philip Streit präsentieren den Ansatz der neuen Autorität als allgemeines Erziehungsprinzip im Ratgeberformat und plädieren für ein grundsätzliches Umdenken: Widerstand und Wiedergutmachung statt Strafe und Härte. Selbstveränderung und Unterstützung statt Einzelkampf und Kontrollversuche. Die Wirksamkeit spricht für sich: starke Eltern, starke Kinder, offene Kommunikation und intensive, positive Beziehungen. Dem Erziehungsprinzip neue Autorität gelingt der Spagat, auch unangenehme Dinge zu äußern, ohne die Beziehung in Frage zu stellen. Dieser Eltern- und Erziehungsratgeber besticht durch sein geschlossenes Konzept, die kompakte und verständliche Sprache und eine Fülle von praktischen Beispielen.

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Seitenzahl: 177

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Haim Omer/Philip Streit

Neue Autorität:

Das Geheimnis starker Eltern

Vandenhoeck & Ruprecht

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

2. Auflage 2019

© 2019, 2016, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG,

Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Umschlagabbildung: Denizo71/shutterstock.com

Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprech-verlage.com

ISBN 978-3-647-99755-1

Inhalt

Einleitung

Die Ankerfunktion: Das Grundprinzip gelingender Erziehung

Das Geheimnis gelingender Erziehung

Struktur: Die erste Form der Verankerung

Präsenz und wachsame Sorge: Die zweite Form der Verankerung

Selbstkontrolle und Deeskalation: Die dritte Form der Verankerung

Unterstützung: Die vierte Form der Verankerung

Zusammenfassung

Präsenz oder die Kunst des Daseins

Innere und äußere Präsenz

Wie kann elterliche Präsenz entwickelt und aufgebaut werden?

Exkurs: Helikoptereltern oder wenn die eigene Angst die Erziehung bestimmt

Zusammenfassung

Wachsame Sorge oder die Kunst, Gefahren vorzubeugen

Wachsame Sorge als flexibler Prozess

Fallen der wachsamen Sorge

Die Umsetzung wachsamer Sorge im Alltag

Zusammenfassung

Deeskalation oder die Kunst der Selbststeuerung

Aus Eskalationsspiralen aussteigen

Stressverarbeitung: Etwas Neurobiologie

Wege zur Deeskalation und Selbstbeherrschung

Ist Deeskalation erlernbar?

Zusammenfassung

Gemeinsam erziehen oder die Kunst der Unterstützung

Auf dem Weg zum Unterstützernetzwerk: Stolpersteine umgehen

Grundsätze für die Organisation eines Unterstützernetzwerks

Potenzielle Helfer: Wer kann unterstützen?

Unterstützerrollen: Wie können andere helfen?

Die Funktion therapeutischer Fachkräfte im Unterstützungsprozess

Die Unterstützerkonferenz: Eine besondere Form des Zusammenwirkens

Zusammenfassung

Widerstand oder die Kunst, Alternativen zur Strafe zu entwickeln

Erziehungsziele erreichen: Belohnen, Bestrafen oder Ausdiskutieren?

Die Alternative: Elterlicher Widerstand gegen destruktives und gefährliches Verhalten

Formen des Widerstands

Zusammenfassung

Alles wird gut oder die Kunst der Wiedergutmachung

Die Bedeutung von Wiedergutmachung

Wiedergutmachung als Prozess, an dem Eltern und Kind beteiligt sind

Der Ablauf eines Wiedergutmachungsprozesses

Zusammenfassung

Das Geheimnis starker Eltern: Gelingende Erziehung ist keine Zauberei

Anstelle eine Schlusswortes: Gelingende Erziehung und das elterliche Nein

Danksagung

Zum Weiterlesen

Einleitung

Über neue Autorität ist schon viel geschrieben und noch mehr diskutiert worden. Das Konzept wurde aus verschiedensten Blickwinkeln durchdacht und wissenschaftlich erforscht. Aber warum funktioniert dieser scheinbar so einfache und doch neue Ansatz, der Autorität mit Beziehung verbindet? Es ist in der Tat erstaunlich: Kinder und Jugendliche ändern sich, weil Eltern und Bezugspersonen sich ändern und eine neue, andere Haltung einnehmen. Vielfältige Möglichkeiten positiver Entwicklung entstehen, weil Eltern Provokationen widerstehen, Wiedergutmachung anregen und Unterstützung einfordern, anstatt mit voller Härte zu strafen, um ja nicht die Kontrolle zu verlieren.

Haim Omer hat bereits zahlreiche Bücher zum Thema neue Autorität verfasst, die meisten davon richten sich an Fachleute. Sie sind zwar anschaulich und praxisnah geschrieben, aber etwas fehlte bisher: eine Handreichung für Eltern, eine allgemein verständliche Anleitung, die erklärt, warum das Modell der neuen Autorität sowohl für Eltern als auch für Kinder und Jugendliche so hilfreich und stärkend ist.

Hier kommt der Verlag Vandenhoeck & Ruprecht ins Spiel, der uns vorschlug, einen Elternratgeber zu dem Thema zu schreiben. Er brachte uns, das Autorenteam, zusammen: Haim Omer und den Psychologen Philip Streit, der seit über zwanzig Jahren mit Eltern, Kindern, Jugendlichen und ihren Familien sowie großen Gruppen arbeitet.

Das Ergebnis liegt nun vor und darauf sind wir stolz. Dieses Buch lüftet das Geheimnis starker Eltern und demonstriert Schritt für Schritt, wie das Eltern-Kind-Miteinander gelingen kann.

So ungewöhnlich wie der Entstehungshergang des Buches ist, so ungewöhnlich ist auch sein Aufbau. Wenn Sie möchten, können Sie das Buch von hinten anfangen zu lesen. Dort findet sich ein Kapitel über das wohl Entscheidendste, was Eltern für eine gelingende Erziehung brauchen: Es geht um das elterliche Nein. Sie können jedoch auch von vorn mit der Lektüre beginnen. Außerdem ist jedes Kapitel für sich lesbar.

Im ersten Kapitel erläutern wir das Bild, das neue Autorität gelingender Erziehung zugrunde legt. Es geht um den sicheren Hafen und die Ankerfunktion der Eltern. Eltern sollen Schutz bieten, Verantwortung übernehmen, in wachsamer Sorge sein und bei Bedarf das kindliche Schiff, wenn es in Seenot geraten ist, retten.

Das zweite Kapitel befasst sich mit der Kernsubstanz elterlicher Stärke – der Präsenz. Anhand praktischer Beispiele zeigen wir Ihnen, wie Sie sicher, zuversichtlich und mit klarer Haltung erzieherisch auftreten können. Sie erfahren darüber hinaus, wie gute Beziehungen in schwierigen Situationen erhalten bleiben und wie Kindern so manche Herausforderung zugemutet werden kann.

Kapitel drei beschäftigt sich damit, was zu tun ist, wenn sich die Warnzeichen häufen und das kindliche Schiff schutzlos im offenen Meer treibt. Dann ist wachsame Sorge angesagt. In diesem Buchteil erfahren Sie alles über die faszinierende Macht wachsamer Sorge, über die Stärke einseitiger Maßnahmen und über die erstaunliche Tatsache, dass gerade dann sehr oft gemeinsame Lösungen gefunden werden.

Im vierten Kapitel führen wir Sie in die Kunst der Selbststeuerung und Deeskalation ein. Wir erläutern, welche Techniken Sie als Eltern anwenden können, um in den schwierigsten Situationen gelassen und souverän zu bleiben. Lernen Sie überraschende Möglichkeiten kennen, wie Sie sich nicht zu überstürzten Handlungen hinreißen lassen.

Kapitel fünf dient dem Einstieg in die Welt der Unterstützung. Ohne Unterstützung ist die Erziehung von Kindern ungleich schwerer zu meistern, gerade wenn es herausfordernd und schwierig wird. Oft wollen Eltern in Krisensituationen allein bleiben und geraten in einen Sog aus Hilflosigkeit und Verzweiflung. Sie übersehen dabei, dass Hilfe meist ganz nahe ist. Wie man sich Unterstützung organisiert, erfahren Sie in diesem Teil des Buches.

Das sechste Kapitel ist dem elterlichen Widerstand gewidmet. Widerstand ist ein Schlüssel zu elterlicher Stärke und Souveränität und eine hochwirksame Alternative zur Bestrafungslogik in der Erziehung. Sie lernen in diesem Kapitel die wichtigsten Widerstandstechniken kennen und anwenden.

Kapitel sieben ist schlussendlich wieder der Beziehung und der Wiedergutmachung gewidmet. Stärkt bereits elterlicher Widerstand die eigenständige Entwicklung des Kindes und seine Souveränität, ist die Wiedergutmachung eines angerichteten Schadens die Zugabe.

Am Ende des Buches treffen Sie wieder auf das elterliche Nein, auf das Sie vielleicht schon zu Beginn gestoßen sind.

Wir wünschen Ihnen nun viel Spaß und Gewinn bei der Lektüre! Über Anmerkungen und Rückmeldungen freuen wir uns. Sie erreichen uns auf diesem Weg:

Haim Omer: [email protected]

Philip Streit: [email protected]

Die Ankerfunktion: Das Grundprinzip gelingender Erziehung

Es ist relativ ruhig, als wir uns an einem Sonntagnachmittag dem Haus von Andrea und Stefan nähern. Alle vier Kinder – Jakob, Manuel, Emilia und Valentina – sind zu Hause. Stefan ist unterwegs, da er als Arzt zu einem Notfall gerufen wurde. Andrea, eine gelernte medizinisch-technische Assistentin, bittet uns herein. Wir bemerken die vier Kinder fast gar nicht. Jedes hat was zu tun, vom achtjährigen Jakob bis zum zweijährigen Nesthäkchen Valentina. Jakob liest ein Buch, sein jüngerer Bruder Manuel bastelt gerade etwas. Die vierjährige Emilia versucht sich als Malerin und Valentina spielt mit ihren Stofftieren. Die Zweijährige beäugt interessiert den Besuch, kommt immer wieder zu ihrer Mutter, ist dann aber wieder ganz bei ihren Stofftieren. Dann misslingt Manuel beim Basteln etwas. In seiner Frustration stört er Jakob beim Lesen und will ihm das Buch wegnehmen. Andrea geht ruhig dazwischen, entfernt Manuel und sagt zu ihm: »Das ist nicht in Ordnung. Wenn du dich beim Basteln mit etwas schwertust, kannst du mich ja um Hilfe bitten. Wenn ich da fertig bin, komme ich, um dir zu helfen.« Manuel schickt sich an zu weinen, bastelt dann jedoch weiter. Nicht viel später fühlen Jakob und Manuel gemeinsam bei der Mutter vor, ob sie sich einen Film ansehen dürfen. Mit ruhiger Stimme antwortet Andrea: »Diesen Film hier dürft ihr euch eine Stunde lang ansehen, dann ist Schluss.« Inzwischen hat Emilia ihr Kunstwerk fertiggestellt und präsentiert es uns voller Stolz. Bei all dem Betrieb hat Andrea auch noch Zeit, uns Kaffee und Kuchen zu servieren, und wir kommen angenehm ins Plaudern. Das Erstaunliche ist: Auch wenn sie sich uns zuwendet, ist Andrea trotzdem ganz bei ihren Kindern. Ihre Ruhe und Souveränität durchströmen jeden Winkel dieses Hauses. »Ich weiß einfach, dass es geht«, sagt sie lächelnd und selbstbewusst, als wir fragen, wie sie den ganzen Laden managt und dabei so gelassen bleiben kann. »Manchmal ist es schon anstrengend«, gibt sie zu, »dann bin ich auch am Ende meiner Kräfte, aber in solchen Momenten bekomme ich Unterstützung von Stefan oder den Großeltern, also sowohl von meinen als auch von Stefans Eltern.« Andrea spricht nicht viel, wenn etwas passiert, sie wartet zunächst ab und beobachtet. Das genügt meist und schnell ist alles wieder im Lot. Wir können spüren, wie wohl sich die Kinder in ihrem Elternhaus fühlen.

Claudia hat auch vier Kinder, den 14-jährigen Matteo, den elfjährigen Benedikt, den fünfjährigen Leon und die zweijährige Leonora. Chaos pur herrscht in der geräumigen Wohnung. In der Mitte des Wohnzimmers läuft ein überdimensionierter Samsung-Fernseher, während Matteo auf der Couch liegt und sich mit seinem i-Pad beschäftigt. Benedikt ärgert abwechselnd die kleine Leonora oder überhäuft die Mutter mit immer neuen Wünschen. Leon läuft oft wie wild durch die Wohnung. Die Kinder wurden bereits psychologisch untersucht, hyperaktiv oder minderbegabt ist keines von ihnen. Claudia sitzt am Küchentisch und versucht Ordnung zu schaffen, dabei wird sie immer lauter: »Mach das nicht, Benedikt! Kannst du bitte die Kleine in Ruhe lassen? Matteo, kannst du bitte ein bisschen helfen? Leon, sei endlich ruhig, so geht es nicht! Leon, geh in dein Zimmer! Benedikt, hör auf, die Kleine zu schlagen!« So geht es stundenlang, wenn alle vier Kinder zu Hause sind. Robert, der Vater, ist nicht da, er zieht es vor, sich auswärts zu betätigen. Claudia ist am Rande der Verzweiflung: »Ich bin überfordert, lange halte ich das nicht mehr aus.« Inzwischen droht sie beinahe schreiend Konsequenzen an und spricht Fernseh-, Handy- oder Computerverbote aus, die jedoch nicht eingehalten werden. Dann kann es auch zu drakonischen Maßnahmen kommen. Die Kinder werden einfach weggesperrt, bis sie wieder ruhig sind. Geschlagen wird jedoch keines. »Ich schaffe es nicht anders«, seufzt Claudia, »und Robert hilft mir nicht. Es wäre toll, wenn er auch etwas übernehmen könnte. Ich habe schon richtig Angst, wenn ich mit allen vier Kindern allein zu Hause bin. Ich weiß nicht, wie das dann gehen soll, und hoffe nur, dass die Kinder nicht allzu übermütig werden.«

Kindererziehung ist ein Abenteuer, ein Wagnis, nicht nur bei vier Kindern, oft auch bei einem oder zweien. Manchmal läuft alles glatt, einige Eltern müssen nur wenig sagen und trotzdem funktioniert das Miteinander ohne große Probleme. In anderen Familien herrscht das totale Chaos und die Kinder verhalten sich ihren Eltern gegenüber wie kleine Tyrannen. Für uns drängt sich die Frage auf: Wovon hängt es ab, ob Erziehung gelingt, ob Eltern stark und souverän sind? Welche Bedingungen, Prozesse und Entwicklungen lassen Eltern immer schwächer und hilfloser werden? Die Frage, die viele Eltern und Erziehenden beschäftigt, lautet: Was ist das Geheimnis gelingender Erziehung?

Das Geheimnis gelingender Erziehung

Wir wissen ziemlich genau, was wir nicht mehr möchten: nämlich ein autoritäres Erziehungsverhalten, wie es bei unseren Großmüttern und Großvätern oft noch gang und gäbe war. Das Eingehen auf kindliche Bedürfnisse wurde eher kleingeschrieben. Die autoritäre Instanz forderte das Einhalten von Regeln ein, Nichtbeachtung wurde mit strengen Strafen geahndet. Eltern waren unnahbar und entschieden, was richtig und was falsch war. Das vorherrschende Gefühl autoritärer Erziehung war und ist immer noch Angst: Angst, etwas falsch zu machen, Angst zu versagen, Angst, nicht geliebt zu werden. Autoritäre Erziehung setzte oft auf Beziehungsabbruch und Liebesentzug als steuerndes Mittel, häufig kam auch Gewalt hinzu, die heutzutage zum Glück unter Strafe gestellt ist.

Es kann nicht behauptet werden, dass die autoritäre Erziehung nichts fruchtete. Allerdings waren die Resultate in den meisten Fällen oft wenig wünschenswert. Je nach Temperament konnte sich ein Kind oder ein Jugendlicher beispielsweise entweder zu einem angepassten Duckmäuser entwickeln, der sich passiv in die Situation ergibt, oder zu einem Rebellen, der mit offenem Machtkampf und Gegengewalt reagiert.

Gegen Ende der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts hatte die autoritäre Erziehung, auch aufgrund der schrecklichen Erfahrungen in den Zeiten des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs, eigentlich ausgedient. Die darauffolgenden Konzepte der Laissez-faire- oder der kooperativen Erziehung setzten auf Begegnung, Offenheit, Freiheit, Ermutigung und Vertrauen. Man müsse das Kind nur tun lassen, was es wolle, dann werde es sein Potenzial schon entfalten. Elterliches Regulieren war verpönt und wenn schon, dann galt es alles zu besprechen, auszudiskutieren und Vereinbarungen in Verträge zu fassen.

Die Ergebnisse der antiautoritären kooperativen Erziehung sind ernüchternd. Es ist, wie auch Studien belegen, wenig vom gewünschten Aufblühen und Entfalten der Potenziale zu sehen. Da sich Kinder nach diesem Erziehungsmodell nie anpassen mussten, zeigen viele eine geringe Frustrationstoleranz und eine Tendenz zur Grenzüberschreitung. Vom Temperament her »schwache Kinder« scheinen in der antiautoritären Erziehung, bei der jedes auf sich selbst gestellt ist, schnell unter die Räder zu kommen, um sich ängstlich, depressiv und mit mangelndem Selbstwert in einer immer komplexer werdenden Welt wiederzufinden. Kinder mit stärkerem Temperament, die alles tun und lassen können, was sie wollen, entwickeln sich oft zu richtigen Tyrannen ihrer Familien, denen nichts heilig ist und die ohne Rücksicht auf Verluste ihre eigenen Interessen durchsetzen. Um ihren Selbstwert ist es meist trotzdem nicht gut bestellt, da sie ebenfalls nie gelernt haben, mit Schwierigkeiten zurechtzukommen.

Die Folgen erleben wir heute oft, wenn Eltern jammern und schimpfen, dass ihre kooperativ erarbeiteten Vereinbarungen nicht eingehalten werden und sie nur hoffen können, dass trotzdem alles irgendwie gut geht. Sie verfallen häufig in Passivität oder Resignation, ihnen ist alles egal. Wollen sie dann doch einmal ihre Macht unter Beweis stellen und sich durchsetzen, erschrecken sie vor ihrer eigenen Massivität.

Was also tun, welchen Weg wählen? Ein Modell, das unumstritten einen großen Beitrag zu gelingender Erziehung und guter Entwicklung von Kindern leistet, ist das Modell der sicheren Bindung. Es geht um nicht mehr und nicht weniger als die Vermittlung des Gefühls, immer für seine Kinder da zu sein und so ihr Urvertrauen zu fördern. Der englische Psychoanalytiker und Kinderpsychiater John Bowlby und die amerikanischen Psychologen Mary Ainsworth, Richard Ryan und Edward Deci bezeichnen eine sichere Bindung als Grundvoraussetzung für die Entwicklung kindlicher Eigenständigkeit und Zuversicht, die Kinder die Herausforderungen des Lebens meistern lässt. Damit Kinder sich gut entwickeln, brauchen sie einen Zufluchtsort, einen sicheren elterlichen Hafen. Der sollte so angelegt sein, dass er Booten Schutz bietet, sie aber auch hinausfahren und Erfahrungen machen lässt.

Die Leitsätze dieses Hafens lauten: Ich bin immer für dich da. Du kannst immer zu mir zurückkommen, um aufzutanken, um dich zu erholen oder trösten zu lassen. Der Hafen symbolisiert die offenen Arme der Eltern und ihre bedingungslose Präsenz, auch wenn sich der Grad der Wachsamkeit im Laufe des Lebens verändert. Wenn das Kind anfängt zu krabbeln, sich irgendwo stößt und zu weinen beginnt, findet es Trost in den Armen der Mutter oder des Vaters. Später, wenn es den Kindergarten besucht und am Ende eines langen Tages erschöpft ist, sind ihm seine Eltern ein Hort der Ruhe und der Erholung. Wenn sich Jugendliche aufs weite Meer begeben, können sie sich schon beim Hinausfahren sicher sein, wieder in den heimatlichen Hafen zurückkehren zu können. Diese Gewissheit tragen sie wie eine Kompassnadel in sich. Sie leitet sie und weist ihnen stets die Richtung zum rettenden Festland, auch wenn sie bereits ins Erwachsenenalter eingetreten sind: Dieses Stück Zuhause überdauert alle Krisen und bietet Zuflucht und Sicherheit. Wenn die Sonne scheint und das Meer ruhig ist, ermuntern die Hafenmeister ihre Seeleute, in die Welt hinausfahren und Neues zu erleben und zu erfahren. Wie ein Leuchtfeuer signalisieren Eltern, immer da zu sein und stets Platz zu haben für Heimkehrer.

Es gibt jedoch, um beim Bild des Hafens zu bleiben, auch noch etwas anderes, was dringend notwendig ist. Denn: Wer oder was verhindert, dass das Schiff im Hafen bei unruhiger See an die Kaimauer schlägt? Wer hält es im Hafen oder bringt es dorthin zurück, wenn auf hoher See plötzlich ein Sturm oder ein Unwetter aufzieht? Wer schützt es vor allerlei Versuchungen, Gefahren und Strömungen? Wer stabilisiert das Schiff, wenn es führerlos in Süchte, Haltlosigkeit, Orientierungslosigkeit, Aggressivität oder Depression abzugleiten droht? Wer sorgt für einen klaren Rahmen, wenn zu viel auf es einströmt? Neben der Funktion des sicheren Hafens zeichnet sich gelingende und selbstbewusste Erziehung auch durch eine sogenannte Ankerfunktion aus, die Regeln und Strukturen vorgibt und das Schiff bei Gefahr im Verzug auf dem richtigen Kurs hält.

Das Grundprinzip starker und gelingender Erziehung ist es daher, erinnern wir uns an Andrea, den Kindern und Jugendlichen ein starker Anker zu sein. Der Anker repräsentiert eine sichernde, wachsame Funktion elterlicher Erziehung. Es steht ohne Zweifel fest, dass Eltern einiges abverlangt wird, um diese Ankerfunktion ausüben zu können. Sie müssen dazu selbst gut verankert sein und von ihrer Selbstwirksamkeit überzeugt sein. Sie müssen vertrauen und daran glauben, dass ihre Kinder sie grundsätzlich brauchen und lieben, und die Fähigkeit entwickeln, ihnen etwas zuzumuten.

Ist diese Fähigkeit, ein guter Anker zu sein, nun manchen Eltern gegeben und manchen nicht? Eine starke Ankerfunktion beruht auf vier wichtigen Elementen, die erlern- und einübbar sind: erstens Struktur, zweitens Präsenz und wachsame Sorge, drittens Unterstützung und viertens Selbstkontrolle und Deeskalation.

Struktur: Die erste Form der Verankerung

In unserer modernen, liberalen Zeit ist es beinahe verpönt, von Struktur, Ordnung und Regeln zu reden, wird diesen doch nachgesagt, die kindliche Entwicklung zu blockieren. Deswegen scheuen sich viele Eltern davor, klare Regeln aufzustellen, weil sie Angst haben, die Beziehung zu ihrem Kind zu gefährden und die gegenseitige Liebe und Freundschaft aufs Spiel zu setzen. Alle unsere Erfahrungen in der Arbeit mit Kindern in Deutschland, Österreich, der Schweiz und Israel sowie weltweite Untersuchungen zeigen hingegen: Wenn in der Erziehung Chaos statt Ordnung herrscht, kommt es zu gravierenden Problemen und Schwierigkeiten. Kindern brauchen einen Rahmen, mit einer reinen, eigenverantwortlichen Bedürfnisbefriedigung sind sie heillos überfordert. Sie wissen noch nicht, was richtig und was falsch ist. Außerdem kreiert Chaos hilflose Eltern, die strukturlos alles akzeptieren. Eine fehlende Ordnung verstärkt kindliche Ängste, fördert und schürt Gewalt, Orientierungs- und Aussichtslosigkeit. Gelingende Erziehung durch eine stabile Ankerfunktion setzt auf verlässliche Strukturen. Die Angst bei Kindern reduziert sich, wenn sie mit in einem klaren Regelwerk aufwachsen. Studien zu Hyperaktivität zeigen außerdem, dass verbindliche Regeln und Rahmenbedingungen, festgelegt durch die Eltern, die betroffenen Kinder deutlich stabilisieren. Struktur wirkt sich also positiv auf das Wohlergehen und die Entwicklung der Kinder aus. Wichtig dabei ist: Die Eltern führen diese Struktur ein, sie ist kein Diskussionsgegenstand. Dies können sie mit folgenden Worten tun: »Das sind unsere Regeln und unsere Rahmenbedingungen – sie festzulegen ist unsere elterliche Pflicht.« Auf diese Weise stärken die Eltern sich und ihre Ankerfunktion.

Präsenz und wachsame Sorge: Die zweite Form der Verankerung

Was ist nun elterliche Präsenz? Sie umfasst alle Handlungen und Haltungen, mit denen Eltern ausstrahlen: »Ich bin hier und ich bleibe da. Ich bleibe auch da, wenn es unangenehm wird und du mich vielleicht wegschicken willst, oder wenn Gefahren und Probleme drohen.«

Präsenz ist die sich entwickelnde Fähigkeit und Fertigkeit von Eltern, ihre Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder wahrzunehmen, Auseinandersetzungen konstruktiv zu führen und stets Anker zu sein, auch wenn es manchmal schwierig ist. Präsenz ist auch die Überzeugung, selbstwirksam zu sein, und die Überzeugung, dass die eigenen Kinder einen mögen. Präsenz ist die innere Haltung, dass man seinen Kindern etwas zumuten kann.

Die praktische Seite der Präsenz ist die sogenannte wachsame Sorge – ein wichtiges Element der Ankerfunktion. Wachsame Sorge zeichnet sich durch die Haltung aus: »Alles, was mit meinem Kind passiert, ist mir wichtig! Ich möchte im Bilde bleiben und Anteil am Leben meines Kindes nehmen!« Durch wachsame Sorge erkennen Eltern frühzeitig Gefahren und können darauf achten, wann das Tau des elterlichen Ankers straffer gezogen werden sollte und wann es gelockert werden kann. Wachsame Sorge begleitet das Schiff bei hohem Seegang und hält es sicher auf Kurs, lässt es aber zugleich, wenn sich die Wogen geglättet haben, wieder auf die hohe See hinaus.

Es gibt drei Ebenen der wachsamen Sorge: erstens die grundsätzliche Wachsamkeit bezüglich aller möglichen Probleme und Nöte (offene Aufmerksamkeit), zweitens die fokussierte Aufmerksamkeit, wenn Notsignale von Kindern und Jugendlichen gesendet werden, und drittens darauf folgend aktive einseitige Maßnahmen, um das Boot in Gefahrensituationen zu schützen. Die Erfahrung zeigt, dass vor allem Jugendliche beim Einholen des Bootes in den Hafen zwar protestieren, aber in Wirklichkeit sehr dankbar dafür sind, wenn sie im Nachhinein erkennen, wie stark der Sturm eigentlich war. Davon zeugt folgendes kurze Beispiel:

Ein 16-Jähriger erzählte seiner Freundin, dass seine Mutter total cool sei, ihn alles allein angehen lasse und ihn überhaupt nicht kontrolliere. Er sei frei und unabhängig. Das Mädchen antwortet darauf: »Wirklich? Kümmert sich denn deine Mutter gar nicht mehr um dich?«

Selbstkontrolle und Deeskalation: Die dritte Form der Verankerung

Erinnern wir uns an Claudia: Ihr Versuch, das Verhalten ihrer Kindern zu steuern, endete im Chaos, und dies aus einem einfachen Grund: So gern wir auch möchten, wir können das Verhalten von anderen nicht kontrollieren und schon gar nicht das unserer Kinder. Das Einzige, was wir kontrollieren können, ist unser eigenes Verhalten. Wir haben es in der Hand, ob wir in ein hilfloses Jammern, Kritisieren oder Ignorieren verfallen oder ob wir auf unsere Kinder und Jugendlichen mit klaren Ansagen und Meinungen zugehen. Wir haben die Möglichkeit, unsere Emotionen und Impulse des Zorns, der Wut und der Unbeherrschtheit gerade in schwierigen Situationen im Zaum zu halten. Uns steht das Instrument der Deeskalation zur Verfügung. Es stärkt unsere Selbstkontrolle und eröffnet auf diese Weise neue Möglichkeiten im Prozess der Erziehung.