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Das Nesthocker-Phänomen ist bekannt. Und es verbreitet sich sogar zunehmend: Erwachsene Kinder verbleiben im Elternhaus, weigern sich auszuziehen und auf eigenen Füßen zu stehen. Sie haben eine dysfunktionale Abhängigkeit entwickelt. Ihre Anspruchshaltung gegenüber einer elterlichen Rundumversorgung geht einher mit finanzieller und sozialer Verantwortungslosigkeit bis hin zu Suchtverhalten. Sobald die Eltern aus ihrer gewährenden und beschützenden Rolle auszubrechen versuchen, reagieren diese jungen »Unerwachsenen« mit Machtdemonstrationen, die auch gewalttätig sein können. Es entwickelt sich ein pathologisches Beziehungsmuster, das das Familienleben beherrscht und sich über viele Jahre hartnäckig erhalten kann. Haim Omers bewährtes Therapiekonzept des gewaltlosen Widerstands und der Neuen Autorität unterstützt Eltern von dysfunktional abhängigen Jugendlichen und jungen Erwachsenen, sich aus ihrer Machtlosigkeit oder gar Unterwürfigkeit zu lösen. Ziel einer Beratung oder Therapie ist eine für alle Beteiligten adäquate funktionale Abhängigkeit.
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Seitenzahl: 360
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Haim Omer Dan Dulberger
Wenn erwachsene Kinder nicht ausziehen
Leitfaden für die Arbeit mit Eltern von Nesthockern
Aus dem Englischen von Astrid Hildenbrand
Vandenhoeck & Ruprecht
Mit einer Abbildung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
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Umschlagabbildung: Martijn/stock.adobe.com
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Produktion: Lumina Datamatics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-647-99458-1
Inhalt
Einführung
Globale Vielfalt
Ein Wort der Vorsicht
Mit Dankbarkeit und Anerkennung
Kapitel 1
Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit
Der Übergang ins Erwachsenalter
Von der Krise zum Scheitern: Die Rolle der elterlichen Verunsicherung
Ein realistisches Ziel: Die funktionale Abhängigkeit
Dysfunktionale Abhängigkeit identifizieren
Dysfunktionale Abhängigkeit vom Kindes- bis ins Erwachsenenalter
Kapitel 2
Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit
Fruchtlose Erfahrungen mit therapeutischer Hilfe
Die Entscheidung, therapeutisch mit den Eltern zu arbeiten ohne Einbezug des Nesthockers
Das Narrativ der Totalverantwortung für die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
Die Auswirkungen der elterlichen Rundumversorgung
Schwierigkeiten der Eltern, ihre Rundumversorgung einzustellen
Der gewaltlose Widerstand und dysfunktionale Abhängigkeit
Der Umgang mit elterlichen Vorbehalten
Therapieziele
Kapitel 3
Die Intervention
Rahmenbedingungen und Verlauf
Die Eröffnungsphase
Die Ankündigung
Unterstützung
Unterstützende Rolle anderer Berufsgruppen
Der Prozess des Versorgungsentzugs
Die Versorgungsdienste zurückfahren
Das Recht auf Privatsphäre einschränken
Den Wohnsitz des Unerwachsenen wechseln
Die Abschlussphase
Kapitel 4
Suiziddrohungen
Der Schatten des Suizids in Familien mit dysfunktionaler Abhängigkeit
Der Ansatz des gewaltlosen Widerstands bei Suiziddrohungen
Eine detaillierte Fallstudie zu einer suizidalen Krise
Indikationen und Kontraindikationen für den Einsatz des gewaltlosen Widerstands bei Suiziddrohungen
Kapitel 5
Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten, die am Erwachsenwerden scheitern
Internetabhängigkeit
Schulverweigerung und sozialer Rückzug
»Tyrannische« Verhaltensweisen
Verantwortungsloser Umgang mit Geld
Kapitel 6
Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen
Notfälle
Beunruhigende Situationen
Alte Eltern
Der gewaltlose Widerstand in einem psychiatrischen Kontext
Der gewaltlose Widerstand in einer psychiatrischen Klinik
Kapitel 7
Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen (Ohad Nahum)
Mit dem erwachsenen Kind zusammenkommen
Entwicklungspsychologische Faktoren im Erleben des erwachsenen Kindes
Das therapeutische Zusammentreffen mit dem erwachsenen Kind
Schamgefühle durch ein neues Narrativ transformieren
Schamgefühle durch schrittweise Konfrontation transformieren und Ängste abbauen
Schamgefühle durch Wiedereintritt in die Lebenswelt transformieren
Gespräch mit dem erwachsenen Kind im Rahmen der laufenden Elterntherapie
Die Einzelsitzung mit dem erwachsenen Kind
Paralleltherapie mit den Eltern und dem erwachsenen Kind
Abschließende Bemerkungen
Inspirationen
Ermutigungen
Literatur
Einführung
Dieses Buch ist ein Ratgeber für Therapeutinnen und Therapeuten, die mit Familien arbeiten, in denen erwachsene Kinder auf höchst dysfunktionale Weise von den Eltern abhängig sind, und es beruht auf unserer zehnjährigen klinischen Arbeit mit Hunderten solcher Familien. Es ist das Resümee unserer Erkenntnisse über das dabei angewandte Therapiekonzept des gewaltlosen Widerstands und präsentiert unsere Einsichten in die Prozesse der dysfunktionalen Abhängigkeit, der elterlichen Rundumversorgung und des Versorgungsentzugs sowie deren Funktionen für die Fortsetzung bzw. Linderung der Leiden dieser Familien.
Seit 2009 benutzen wir den Begriff dysfunktionale Abhängigkeit für ein zwischenmenschliches Muster, das sich in bestimmten Familien zwischen jungen Erwachsenen oder Jugendlichen und deren Eltern herausbildet. Die meisten dieser »Unerwachsenen« leben im Elternhaus, sind für gewöhnlich nicht erwerbstätig und machen weder eine Schul- noch Berufsausbildung. Im Kern verweist dysfunktionale Abhängigkeit auf die Vorstellung – die vom erwachsenen Kind und den Eltern geteilt wird –, dass der junge Mensch unzulänglich und unfähig ist. Aufgrund dieser Vorstellung fühlen sich die Eltern dazu verpflichtet, ihre erwachsenen Kinder zu beschützen und zu beschirmen, die ihrerseits das Gefühl haben, ohne die elterlichen Dienste nicht leben zu können. Sobald die Eltern aus ihrer Rolle auszubrechen versuchen, reagieren die »Unerwachsenen« ungnädig mit Säbelrasseln. Im Laufe der Zeit erleben beide Seiten diese Situation als unentrinnbar. Dysfunktionale Abhängigkeit kann sich in einer Familie jahrzehntelang hartnäckig halten.
Die Erforschung des »Nesthockerphänomens« steckt noch in den Kinderschuhen (Pozza, Coluccia, Kato et al., 2019), auch wenn vieles darauf hindeutet, dass es ein weit verbreitetes und wachsendes gesellschaftliches Phänomen ist. Man schätzt, dass insgesamt 40 Millionen Jugendliche und junge Erwachsene in Ländern der OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung) weder erwerbstätig sind noch sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden und dass fast zwei Drittel dieser Bevölkerungsgruppe (28 Millionen junge Menschen OECD-weit) sich auch nicht um Erwerbstätigkeit bemühen (OECD, 2016; OECD, 2019). In den USA leben mehr junge Erwachsene bei ihren Eltern als bei einem Lebenspartner oder einer Lebenspartnerin (Vespa, 2017), und 2019 lag das durchschnittliche Heiratsalter in den USA bei etwa 29 Jahren (U. S. Census Bureau, 2019). Psychiater und Psychotherapeuten befassen sich zunehmend mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die sozial isoliert sind und zurückgezogen in ihrer Wohnung oder ihrem Zimmer leben (Li u. Wong, 2015; Pozza et al., 2019). In Studien über stark suizidgefährdete Jugendliche hat man festgestellt, dass es eine große Gruppe von jungen Menschen gibt, die der »stillen Gefahr der Psychopathologie und suizidalen Verhaltens« unterliegen und Merkmale aufweisen wie festgefahrene Lebensführung, verringerte Schlafdauer und intensiver Medienkonsum (Carli et al., 2014). Unserer Erfahrung nach fallen die meisten Nesthocker mit Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit in diese Kategorien. Doch die Tatsache, dass sie oftmals introvertiert sind und soziale Kontakte meiden, hält viele von ihnen nicht davon ab, ihre Ansprüchlichkeit äußerst lautstark oder sogar ausgesprochen gewalttätig kundzutun. Auch wenn Nesthocker in den meisten Fällen ans Haus, an eine Wohnung oder ein Zimmer gebunden sind, hindert sie das nicht daran, ihre Anspruchshaltung in einer Lebensweise zu manifestieren, die von finanzieller und sozialer Verantwortungslosigkeit sowie von Suchtverhalten geprägt ist.
Im Zentrum unseres Verstehens und unserer Behandlung von dysfunktionaler Abhängigkeit liegt der Prozess der Rundumversorgung. Die Eltern stellen sich auf die Bedürfnisse und Erwartungen ihres Kindes ein, wenn sie beharrlich ihren Gestus, ihre Verhaltensweisen und Regeln anpassen, damit ihr Nachwuchs nicht leiden muss. Die Rundumversorgung kann freiwillig geschehen, wenn die Eltern aus Mitgefühl für ihr Kind handeln, oder unter Zwang erfolgen, wenn sie sich durch extreme Reaktionen des Kindes dazu genötigt fühlen. Eine Rundumversorgung führt nachweislich dazu, dass sich Angst, Vermeidungsverhalten und Dysfunktion bei Kindern und Erwachsenen mit den unterschiedlichsten Störungen perpetuieren (Shimshoni, Shrinivasa, Cherian u. Lebowitz, 2019). Die elterliche Rundumversorgung prognostiziert auch, dass die (sowohl medizinische als auch psychologische) Behandlung des Nesthockers misslingt (Garcia et al., 2010).
Dysfunktionale Abhängigkeit in Verbindung mit Rundumversorgung bildet ein pathologisches Beziehungsmuster (Tomm, St. George, Wulff u. Strong, 2014), von dem das Familienleben beherrscht wird. Mit dem Begriff Versorgungsentzug bezeichnen wir die einseitige und therapeutische Demontage dieses Musters.
In diesem Buch stellen wir den Behandlungsansatz des gewaltlosen Widerstands vor, um damit Eltern von jugendlichen und erwachsenen Kindern mit Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit zu helfen. Unseres Wissens ist dieses Konzept die erste systematische Therapie von Eltern, mit dem wir diesem schnell wachsenden Problem begegnen. Es gibt therapeutische Programme bei Sozialphobie, Internetabhängigkeit und dem Hikikomori-Phänomen1, aber sie alle konzentrieren sich auf die problembehafteten jungen Menschen. Wir halten dies für eine schwerwiegende Einschränkung; denn die meisten dieser jungen Erwachsenen sind überhaupt nicht an Therapie interessiert. Interessiert daran sind die Eltern.
Der Ansatz des gewaltlosen Widerstands (Omer, 2001; Omer u. von Schlippe, 2011; Omer, 2010)2 ist besonders geeignet, um die Eltern beim Zurückfahren ihrer Rundumversorgung zu unterstützen. Dafür gibt es mehrere Gründe:
a)Durch gewaltlosen Widerstand werden die Eltern für Situationen sensibilisiert, in denen sie ausgebeutet und unter Druck gesetzt werden. In dieser Hinsicht folgt der gewaltlose Widerstand seitens der Eltern seinem gesellschaftspolitischen Modell. Der erste Schritt des gewaltlosen Widerstands als Form des politischen Kampfes besteht darin, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass die Unterwerfung der Opfer weder Gottes Wille noch ein Naturgesetz ist. Entsprechend besteht der erste Schritt des gewaltlosen Widerstands seitens der Eltern darin, ihr Bewusstsein dafür zu schärfen, dass sich ihre Unterwürfigkeit nicht zwangsläufig aus der Verfassung ihres Kindes ableitet, sondern das Resultat von Gewohnheit, Angst und Druck ist. Wenn die Eltern verstehen, wie zerstörerisch sich die Rundumversorgung des Nesthockers auswirkt, erkennen sie schnell, welcher Schaden dadurch auch für ihr eigenes Leben und das ihrer anderen Kinder entsteht.
b)Das Konzept des gewaltlosen Widerstands wurde entwickelt, um das Risiko der Eskalation zu verringern, das die Eltern meistens in kompletter Angst vor der Durchführung der notwendigen Veränderungen verharren lässt.
c)Durch gewaltlosen Widerstand werden die Eltern und die Familie von der Isolation erlöst. Wir werden zeigen, dass Isolation zu den wichtigen Faktoren gehört, die dysfunktionale Abhängigkeit aufrechterhalten. Der Übergang von der Einsamkeit zur Unterstützung ist der Schlüssel, der die Eltern dazu befähigt, sich selbst und ihr Kind aus der Falle dysfunktionaler Abhängigkeit zu befreien.
Folglich ist der gewaltlose Widerstand nicht nur der erste Ansatz in der Therapie von Eltern von Nesthockern, sondern auch die einzige Behandlung, bei der die Schwierigkeiten der Eltern die gleiche Aufmerksamkeit erfahren wie die des Kindes.
In diesem Buch beschreiben wir den Begriff der dysfunktionalen Abhängigkeit im Sinne einer familiensystemischen Situation, die mit dem gescheiterten Eintritt ins Erwachsenenalter verknüpft ist. Vorgestellt wird auch der gewaltlose Widerstand als Behandlungsansatz, um Eltern von Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit zu helfen.
Als wir zum ersten Mal Familien mit Nesthockern in Behandlung hatten, gab es fast keine Fachliteratur zu dem Phänomen, das wir sahen. Wir erlebten dysfunktionale Abhängigkeit als unbekanntes Gelände und gewannen Erkenntnisse hauptsächlich durch direkte klinische Beobachtungen, auf deren Grundlage wir unsere eigenen Landkarten erstellten. Dabei stellten wir fest, dass dysfunktionale Abhängigkeit vielleicht nicht nur ein wichtiger Faktor der psychischen Gesundheit, sondern auch ein wachsendes soziales Phänomen ist, das der interdisziplinären Erforschung auf breiter Basis bedarf.
Therapeutisch gesehen ist dieses Buch ein Leitfaden für den gewaltlosen Widerstand bei Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit. Es beruht auf einer jahrelangen Praxis und Verfeinerung in Hunderten von Fällen und bildet den Abschluss einer Reihe von manualisierten Umsetzungen des Konzepts des gewaltlosen Widerstands bei unterschiedlichsten Krankheitsbildern wie etwa: Störungen des Sozialverhaltens mit oppositionell-aufsässigem Verhalten (Omer u. von Schlippe, 2011), Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen (ADHS; Schorr-Sapir, 2018), Angststörungen (Lebowitz u. Omer, 2013), Jugenddelinquenz (Lothringer-Sagi, 2020), Diabetes bei Adoleszenten (Rothman-Kabir, 2018), Computerabhängigkeit (Sela, 2019), gefährlichem Autofahrverhalten von Jugendlichen (Shimshoni et al., 2015) sowie vermeidender/restriktiver Nahrungsaufnahme (Shimshoni, Silverman u. Lebowitz, 2020). Weitere Leitlinien zum gewaltlosen Widerstand wurden nicht auf der Grundlage von Diagnosen entwickelt, sondern in Kontexten von Umsetzungen, beispielsweise durch Pflegeltern (Van Holen, Vanderfaeillie, Omer u. Vanschoonlandt, 2018) und in psychiatrischen Kliniken (Goddard, Van Gink u. Van der Stegen, Van Driel u. Cohen, 2009).
Bis jetzt ist eine klinische Studie mit 27 Familien, die sich unserer Intervention unterzogen haben, veröffentlicht worden (Lebowitz, Dolberger, Nortov u. Omer, 2012). Inzwischen ist unser Ansatz aus unserer Sicht reif für weitere Forschungen, und wir hoffen, dass dieses Buch zu einer Erweiterung seiner Evidenzbasis anspornt. Auch wenn die Wirksamkeit des Konzepts des gewaltlosen Widerstands bei Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit bislang noch sehr begrenzt bewiesen ist, haben die momentane Begriffsbildung und Therapiemethode eine breiter angelegte Forschungsbasis. Erstens hat sich der Ansatz des gewaltlosen Widerstands bei vielen Krankheitsbildern als wirksam erwiesen (um nur einige Literaturhinweise zu erwähnen: Omer u. Lebowitz, 2016; Weinblatt u. Omer, 2008; Lebowitz, Marin, Martino, Shimshoni u. Silverman, 2020; Ollefs, von Schlippe, Omer u. Kriz, 2009).3 Zweitens gibt es zunehmend Belege dafür, dass bei einer Reihe von Krankheitsbildern ein Zusammenhang besteht zwischen der Rundumversorgung durch die Familie und der Schwere der Symptome, der funktionellen Beeinträchtigung, der Wirksamkeit der Therapie und der Belastung der Betreuungspersonen (Shimshoni et al., 2019).
Wie erwähnt, gab es wenig wissenschaftliche Literatur über Familien mit Nesthockern, die unsere früheren klinischen Erkundungen hätten stützen können. Dafür fanden wir aber einen reichhaltigen Bestand an saloppen und abfälligen Begriffen für Erwachsene, die auf dysfunktionale Weise von ihren Eltern abhängen. Begriffe wie »Unerwachsene« und »Hotel-Mama-Kinder« könnten im Sinne einer weiteren Stigmatisierung gedeutet und verwendet werden. Eine solche Absicht schließen wir kategorisch aus, wenn wir Begriffe wie »Unerwachsene« benutzen. Wir sehen die dysfunktionale Abhängigkeit nicht als eine solitäre »Geisteshaltung«, die es zu behandeln gilt, sondern als Teil eines Systemmusters, das sowohl die »beschuldigten« Nesthocker als auch die »bedrohten« Eltern einschließt. Dieses Muster ist keine Störung, die dem Nesthocker inhärent ist (es hat nichts zu tun mit der DSM-IV-Diagnose einer abhängigen Persönlichkeitsstörung). Unsere Arbeit zielt darauf ab, dieses Systemmuster zu transformieren und zu zeigen, wie kontextspezifisch dysfunktionale Abhängigkeit ist.
Ähnliche Überlegungen gelten für unsere Verwendung des Begriffs »Unerwachsene«. Erwachsenwerden ist noch nie schwieriger gewesen als in unserer Zeit der verlängerten Adoleszenz und des Übergangs ins Erwachsenenalter. Angesichts dieser Schwierigkeit sind Fehlschläge beim Erwachsenwerden erwartbar, wodurch Millionen von Individuen und Familien aus den normativen Diskursen hinsichtlich Kindes- und Jugendalter und Erwachsensein herausfallen. Die genannten Zahlen von jungen Menschen in OECD-Ländern, die weder erwerbstätig sind noch sich in Schul- oder Berufsausbildung befinden, sprechen für sich. Werden diese Menschen gesellschaftlich als Einzelfälle stigmatisiert, kommt das einer Leugnung der sozialen Verantwortung für ihre Situation gleich.
In Kapitel 1 (Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit) verknüpfen wir dysfunktionale Abhängigkeit bei Unerwachsenen mit dem Irrgarten des Übergangs ins Erwachsenenalter (Arnett, 2004) und beschreiben sie als Scheitern am Erwachsenwerden. Die Abhängigkeit eines Kindes von seinen Eltern kann als funktional oder dysfunktional beschrieben werden. Wir zeigen, wie beide Arten voneinander unterschieden werden können, und machen deutlich, dass wir mit unserem Ansatz nicht »Unabhängigkeit« pflegen (was wir für ein recht problematisches Ziel halten), sondern beim Übergang von dysfunktionaler Abhängigkeit zu funktionaler Abhängigkeit helfen wollen. Die wichtigen Veränderungen, die wir zu fördern versuchen, sind: a) Entwicklung einer Zeitperspektive, die es den Eltern erlaubt, sich um größere Bereitschaft zum Handeln zu bemühen; b) Unterstützung der Eltern, damit sie aus dem Hintergrund heraustreten und Präsenz gewinnen können; c) Befreiung der Eltern von ihrer Opfermentalität zugunsten eines neuen Willens zum eigenen Wohlbefinden; d) Unterstützung der Eltern, damit sie der Ansprüchlichkeit des Nesthockers entgegentreten können; e) Verschiedene Formen von Gewalt, Erpressung und Ausbeutung erkennen und sich diesen widersetzen.
In Kapitel 2 (Der gewaltlose Widerstand im therapeutischen Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit) zeigen wir, warum sich der gewaltlose Widerstand seitens der Eltern zur Behandlung von dysfunktionaler Abhängigkeit eignet. Wir schildern auch, warum Versuche der Einzeltherapie des oder der Unerwachsenen oder eine herkömmliche Elternberatung meistens scheitern und unterschiedlich gestaltet sein können, beispielsweise: a) Der oder die Unerwachsene lehnt eine Therapie ab; b) Der oder die Unerwachsene willigt in die Therapie ein, die dysfunktionale Abhängigkeit besteht aber weiter; c) Den Eltern wird geraten, bedingungslose Akzeptanz zu zeigen, die Abhängigkeit bleibt dadurch aber unbeeinflusst; d) Den Eltern wird geraten, standhaft zu sein, sie sind aber entmutigt, wenn sie vor einer drohenden Eskalation einknicken. Wir behaupten, dass die Eltern fast immer die motivierten Partner sind, dass sie es verdienen, als Klienten um ihrer selbst willen betrachtet zu werden, und dass Eltern und Therapeut von ihrer Aufgabe abgelenkt würden, wenn der Unerwachsene einbezogen würde. Das Kapitel schließt damit, dass wir Behandlungsziele bestimmen und uns überlegen, was realistischerweise therapeutisch erwartet werden kann.
In Kapitel 3 (Die Intervention) präsentieren wir detailliert die Leitlinien des Konzepts des gewaltlosen Widerstands bei dysfunktionaler Abhängigkeit. Die Therapie wird nicht Sitzung um Sitzung beschrieben, da dies die Berücksichtigung der besonderen Merkmale einer Familie behindern würde. In den Leitlinien werden die wesentlichen Behandlungsphasen, die mit jeder Phase verbundenen Ziele und Aufgaben sowie Weisen des Umgangs mit elterlichen Einwänden beschrieben. Solche Leitlinien sind schon in früheren Forschungen über den Ansatz des gewaltlosen Widerstands formuliert worden, um eine hinreichende Einheitlichkeit zu gewährleisten.
In der Eröffnungsphase geht es darum: die therapeutische Allianz aufzubauen; das Problem neu zu rahmen, damit neue Optionen möglich sind; über die elterliche Rundumversorgung zu sprechen; am Problem der elterlichen Übernahme der Totalverantwortung zu arbeiten; die Notwendigkeit eines unterstützenden Netzwerks zu erklären; und zu trainieren, wie eine Eskalation vermieden werden kann. Zum Abschluss dieser Phase wird ein therapeutischer Fahrplan präsentiert. Im nächsten therapeutischen Schritt wird die Ankündigung formuliert und mitgeteilt. Diese ist ein halbformelles Ereignis, bei dem die Eltern ihrem unerwachsenen Kind sowohl mündlich als auch schriftlich übermitteln, welche Veränderungen in ihrer Einstellung und ihrem Verhalten sie einzuführen beschlossen haben. In der Ankündigung wird das Konzept des gewaltlosen Widerstands so dargelegt, dass die Betonung auf dem Widerstand liegt und nicht auf der Kontrolle. Bei der Vorbereitung der Ankündigung und ihrer Übergabe werden die Eltern in das Prinzip des gewaltlosen Widerstands eingeführt, das heißt: a) Sie lernen, ihren Widerstand als Funktion ihrer eigenen Bereitschaft zu sehen, statt als Funktion der Reaktionen ihres Kindes; b) Sie bereiten sich auf den Umgang mit den Reaktionen ihres Kindes vor, ohne dass die Situation eskaliert; c) Sie lernen, sich auf Veränderungen in ihrem Verhalten zu konzentrieren, statt auf sofortige Verbesserungen bei ihrem Unerwachsenen zu fokussieren. Die nächste Aufgabe ist dem Aufbau einer Unterstützergruppe gewidmet und kann parallel zur Vorbereitung der Ankündigung durchgeführt werden. Der Therapeut oder die Therapeutin hilft den Eltern, soziale Unterstützung zu bekommen, er bzw. sie leitet die Sitzung mit den Unterstützern und betreut die Gruppe nach der Sitzung weiter. Die nächste therapeutische Phase zielt auf die konkrete Umsetzung des Versorgungsentzugs, die allmählich und systematisch verläuft. In dieser Phase hat die Bewältigung gewalttätiger, zerstörerischer und gefährlicher Verhaltensweisen oberste Priorität. Der Versorgungsentzug umfasst eine Reihe von Vorgängen, in denen die elterlichen Dienste allmählich zurückgefahren und gegebenenfalls Lebensmodalitäten verändert werden. Der Therapeut hilft den Eltern, sich Ziele zu setzen, Reaktionen ihres Unerwachsenen aufzufangen und die Beziehung zum Kind zu erhalten. Die Abschlussphase hat meistens ein offenes Ende und bietet den Eltern die Möglichkeit, im Krisenfall die Therapie für kurze Zeit wieder aufzunehmen.
In Kapitel 4 (Suiziddrohungen) stellen wir das Konzept des gewaltlosen Widerstands bei Suiziddrohungen vor, die in Familien mit Unerwachsenen implizit oder explizit sehr präsent sind. Die Fachliteratur über Suizid ist zwar sehr umfangreich, aber wenig ist darüber geschrieben worden, wie Eltern mit Suiziddrohungen umgehen können. Beim Ansatz des gewaltlosen Widerstands helfen wir den Eltern, dass sie den Schritt von der Hilflosigkeit zur Präsenz, von der Isolation zur Unterstützung, von der Unterwerfung zum Widerstand, von der Eskalation zur Selbstkontrolle und von der Distanzierung zur unterstützenden Betreuung schaffen.
In Kapitel 5 (Hilfe für Eltern von Kindern und Adoleszenten, die am Erwachsenwerden scheitern) befassen wir uns damit, wie sich dysfunktionale Abhängigkeit schon im Kindesalter oder in der Adoleszenz abzeichnet. Zu den hauptsächlichen Risikofaktoren gehören Computerabhängigkeit, Schulverweigerung, soziale Zurückgezogenheit, »tyrannische« Verhaltensweisen und verantwortungsloser Umgang mit Geld.
In Kapitel 6 (Der Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit in besonderen Situationen) zeigen wir, wie man mit Situationen umgeht, die Anpassungen an die in Kapitel 3 beschriebene Vorgehensweise erfordern. Dazu zählen unter anderem: Notfälle (z. B. psychotischer Akutzustand, Suizidversuch oder Ärger mit der Polizei), beunruhigende Zustände, die noch keine vollentwickelte dysfunktionale Abhängigkeit darstellen, sehr alte Eltern und die Umsetzung des Konzepts des gewaltlosen Widerstands in einer psychiatrischen Klinik.
In Kapitel 7 (Überlebensmodus: Die Erfahrung des Unerwachsenen), das Ohad Nahum mit uns verfasst hat, beschreiben wir dysfunktionale Abhängigkeit aus der Perspektive des Unerwachsenen und gehen der Frage nach, wie der Kontakt zu ihm (entweder im Rahmen einer parallelen Einzeltherapie oder einer Einzelsitzung mit dem Therapeuten der Eltern) die Chancen auf Verbesserung erhöhen kann.
Als Fazit des Buches weisen wir auf einige der vielen Fragen hin, die noch der Untersuchung und Erforschung bedürfen, wobei wir die Ätiologie und die sozialen Auswirkungen dysfunktionaler Abhängigkeit wie auch die Wirksamkeit unserer Intervention betrachten. Erwähnt wird auch, dass es Mut braucht, um die Intervention zu einem Erfolg zu machen. Das Phänomen der dysfunktionalen Abhängigkeit kann bei den Eltern, den Unerwachsenen und bei Therapeuten große Angst hervorrufen. Das Konzept des gewaltlosen Widerstands ist für uns sowohl auf gesellschaftlicher Ebene wie auch in familialen Kontexten mit dem Vorteil verbunden, dass er beim Sanftmütigen, beim Ängstlichen und beim Unterdrückten zu Mut inspiriert.
Globale Vielfalt
Ein nicht gelingendes Eintreten ins Erwachsenenalter und dysfunktionale Abhängigkeit werden in vielen Kulturen beobachtet. Es ist noch ein großes Stück Arbeit nötig, um das Zusammenspiel von globalen Entwicklungen und kulturspezifischen Faktoren bei der Ausprägung dieser Phänomene zu verstehen (Teo u. Gaw, 2010). Das Gleiche sollte für die Entwicklung effektiver kulturspezifischer Interventionen gelten. Größtenteils sind wir damit im Kontext unserer eigenen Kultur beschäftigt. Gleichwohl sind wir sicher, dass viele andere Kulturen es nützlich fänden, wenn bei der Anwendung der in diesem Buch vorgestellten Interventionsmodelle in einer bestimmten Kultur deren spezifischen Bedeutungen, Symbole und Krisen des Erwachsenwerdens berücksichtigt würden.
Ein Wort der Vorsicht
Dieses Buch ist als Leitfaden für Fachleute für psychische Gesundheit gedacht, die an Interventionen nach dem Konzept des gewaltlosen Widerstands interessiert sind. Der therapeutische Umgang mit dysfunktionaler Abhängigkeit kann in professioneller Hinsicht sehr bereichernd sein und zugleich Sorgfalt voraussetzen, da er einige tief verwurzelte Familienmuster ins Wanken bringt. Wir raten davon ab, unsere therapeutischen Leitlinien ohne den entsprechenden Hintergrund der Profession für psychische Gesundheit oder ohne Unterstützung durch ein Team oder eine Supervision durch einen auf diesem Gebiet erfahrenen Mitarbeiter umsetzen zu wollen.
Mit Dankbarkeit und Anerkennung
Für zehn Jahre therapeutischer Arbeit, auf die wir zurückblicken dürfen, möchten wir den Personen unseren Dank aussprechen, deren Kooperation, Einsatz und Weitblick diese möglich gemacht haben.
In allererster Linie sind es die bemerkenswert mutigen Eltern, ihre erwachsenen Kinder und deren erweiterter Familienkreis, die uns ersucht haben, sie durch ihre tiefen Täler der Schatten und Ängste zu begleiten. In vielerlei Hinsicht wollen wir dazu beitragen, dass durch ihr Bemühen andere Menschen motiviert werden.
Danken möchten wir auch den Teammitgliedern, die an unserer klinischen Reise in das unbekannte Gelände der dysfunktionalen Abhängigkeit teilgenommen haben: Ohad Nahum, Eli Lebowitz, Yuval Nuss, Amos Spivak, Dana Mor, Lital Mellinger, Efi Nortov, Nevo Pik, Mazal Landes und Uri Nitsan.
Danken möchten wir auch dem Personal der Psychiatrischen Frauenstation des Sheba Medical Center, Ramat Gan, Israel, das 2013–2014 unsere Arbeit mit Familien, deren erwachsene Kinder dort stationär behandelt wurden, unterstützt hat, vor allem Yosef Zohar, Alzbeta Juven Wetzler, Bruria Nussbaum, Sinaya Cohen und Nava Peri.
Besonderer Dank und Anerkennung gelten unseren Kolleginnen und Kollegen, die über die Jahre mit uns kooperiert haben, um in ihren eigenen Ländern die Praxis des gewaltlosen Widerstands bei Anzeichen von dysfunktionaler Abhängigkeit zu etablieren: Peter Jakob in England, Willem Beckers in Belgien, Jan Olthof und Henk Breugem in den Niederlanden, Michaela Fried in Österreich und Tamara Wilson in Kanada.
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1In Japan werden Menschen, die niemals ihr Haus verlassen, als Hikikomori bezeichnet – Anm. d. Übers.
2Eine umfassendere Liste von Publikationen zum Thema gewaltloser Widerstand (NVR, Non-Violent Resistence) siehe https://www.haimomer-nvr.com.
3Eine vollumfängliche Publikationsliste zum Thema gewaltloser Widerstand siehe: https://www.haimomer-nvr.com/publications-and-research.
Kapitel 1
Der Unerwachsene: Funktionale und dysfunktionale Abhängigkeit
Noch nie war die Reise eines jungen Menschen ins Erwachsenendasein so langwierig und risikoreich wie zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Die Komplexität an Wahlmöglichkeiten, die Unsicherheit ihres Ausgangs, die Herrschaft von Individualismus und Konkurrenzdruck können zu einer schweren Last werden. Vielen jungen Menschen erscheint der Weg ins Erwachsenendasein an manchen Stellen wie ein bedrohlicher Irrgarten.
In diesem Buch geht es um Familien mit jungen Menschen, die an dem einen oder anderen Punkt aufhören, sich in die psychosoziale Erwachsenenwelt hineinzuentwickeln. Statt sich immer weiter vom Elternhaus zu entfernen, graben sie sich noch tiefer darin ein. Die Nähe zu anderen Menschen wird durch soziale Netzwerke und Computerspiele ersetzt. Auf biologischer Ebene sind diese jungen Menschen Erwachsene, aber im psychosozialen Sinn sind sie noch Kinder. Wir nennen sie Nesthocker oder Unerwachsene, und das um sie herum sich entwickelnde Familienmuster bezeichnen wir als dysfunktionale Abhängigkeit.
In diesem Buch versuchen wir, die Familiendynamik zu verstehen, durch die eine solche Situation zum Dauerzustand wird, und Wege zu eröffnen, um diese zu verhindern oder umzukehren. In diesem Prozess sind die Eltern unsere potenziellen Partner. Sie sind meistens diejenigen, die motiviert sind und denen geholfen werden kann, die eingefrorene Entwicklung ihres Unerwachsenen aufzutauen.
Seit Beginn der frühen 2000er Jahre untersuchen und behandeln wir Hunderte von Familien mit jungen Erwachsenen oder Adoleszenten, die in dieser Hinsicht gefährdet sind. Allein die Anzahl von Eltern, die bei uns Hilfe gesucht haben, weist auf ein wachsendes Problem hin, das trotz seiner Schwere oft hinter Mauern von Schamgefühlen, Hilflosigkeit und Angst versteckt bleibt.
Nesthocker bzw. Unerwachsene sind meistens weder erwerbstätig, noch stehen sie in Schul- oder Berufsausbildung. Ihre sozialen Bindungen zu Gleichaltrigen sind sehr gering. Viele von ihnen haben einen umgekehrten Tag-Nacht-Rhythmus und sind abhängig von sozialen Netzwerken oder Computerspielen. Oft verbringen sie ihre wachen Stunden zu Hause und verschanzen sich in ihrem Zimmer. In gewissen Fällen schließt der Nesthocker die Tür ab und kommt nur nachts aus seiner Höhle. Manche Unerwachsene verbringen zwar einen Teil ihrer Zeit außerhalb des Elternhauses und gehen auch mit Freunden aus, hängen aber physisch und finanziell vollkommen von ihren Eltern ab. Über die Jahre verbringen selbst die besonders extrovertierten unter den Unerwachsenen die meiste Zeit ihres Lebens abgeschottet von der Umwelt.
Die Eltern von Unerwachsenen leben in ständiger Sorge und Angst. Dieser Seelenzustand belastet ihre Schlafqualität, ihre Gesundheit, ihre Arbeitsfähigkeit und das Familienleben. Spannungen in der Paarbeziehung haben tendenziell mit dem Unerwachsenen zu tun und sind mit vielen Schuldzuweisungen verbunden. Ein Schleier der Heimlichkeit umgibt die Familie. Besuche werden meistens vermieden, und der Kontakt zur Verwandtschaft und zum Freundeskreis ist auf ein Minimum reduziert.
Die Geschwister von Unerwachsenen sind in der Regel unabhängig und halten physisch oder emotional Abstand zu ihrem problematischen Geschwisterteil. Manchmal fühlen sie sich verpflichtet, sich auf die Seite der Eltern zu stellen, stehen aber deren Überfürsorglichkeit auch äußerst kritisch gegenüber und ärgern sich über das Unmaß an Aufmerksamkeit und Ressourcen, das dem Nesthocker zuteilwird.
Der Unerwachsene erwartet und verlangt von seinen Eltern diverse emotionale und materielle Zuwendungen, zum Beispiel Geld, hauswirtschaftliche Dienste, Beförderung. Gleichzeitig stülpt er akzeptablen elterlichen Verhaltensweisen ungewöhnliche Einschränkungen über. Diese Forderungen unterlegt der Unerwachsene mit Erklärungen über seine Unfähigkeit (»Ich kann nicht zur Schule oder zur Arbeit gehen!« oder: »Ich kann nicht aus dem Haus gehen!« oder: »Ich bin krank!«), mit Schuldzuweisungen (»Daran seid ihr schuld!« oder: »Ihr habt mich zu dem gemacht, was ich bin!«) und mit Drohungen (»Wenn ihr das nicht macht, dann geschieht etwas ganz Schreckliches!«). Derlei Botschaften werden nicht immer explizit gemacht. Manchmal ist die einzige klar geäußerte Forderung die, in Ruhe gelassen zu werden; aber die Botschaft »Lasst mich in Ruhe!« läuft auf jede Menge Dienstleistungen hinaus, mit deren Hilfe der Unerwachsene erst in die Lage versetzt wird, in Ruhe gelassen zu werden. Seine von Unfähigkeit, Schuld und Drohung gesättigte Botschaft verstärkt diese Forderungen mit dem Unterton eines unveräußerlichen Rechts – zu einem Gefühl der Anspruchsberechtigung.
Abbildung 1: Dysfunktionale Abhängigkeit
Die Eltern reagieren auf derlei Botschaften meistens mit Mitleid, Schuldgefühlen und Angst. Diese Einstellung bildet die perfekte Ergänzung zu dem von Unfähigkeit, Schuldzuweisungen und Drohungen durchzogenen Verhaltensmuster des Unerwachsenen. Die Eltern entwickeln ein Gefühl von Verpflichtung als Gegenstück zu der Dysfunktion ihres Kindes und stellen sich auf dessen ständig zunehmende Bedürfnisse und Erwartungen ein. Diese Zugeständnisse verstärken die Hilflosigkeit des Unerwachsenen, was wiederum das Gefühl der Eltern intensiviert, dass sie keine andere Wahl haben, als ihre Zugeständnisse auszudehnen (Abb. 1). Frustriert darüber präsentiert der eine oder andere Elternteil dem Nesthocker gelegentlich ein paar wütende Forderungen, was meistens zur Eskalation führt, bei der die Unerwachsenen in Panik geraten, Tobsuchtsanfälle bekommen oder mit Suizid drohen. Dann fühlt sich ein Elternteil zu Zugeständnissen verpflichtet, was die Misere der Familie weiter verschlimmert. Dieser Teufelskreis kann über Jahre oder gar Jahrzehnte andauern.
Die Isolation des Nesthockers wird dadurch verschärft, dass die Eltern sich sträuben, ihr Geheimnis zu lüften. Die Familie zieht sich in sich selbst zurück, sodass Einflüsse von außen nicht mehr zum Familiensystem durchdringen können.
Mit zunehmender Erfahrung im Umgang mit solchen Familien stellten wir fest, dass bestimmte Muster dysfunktionaler Abhängigkeit einhergingen mit den vielfältigsten klinischen Krankheitsbildern (z. B. Angststörungen, Lernschwächen, Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitätsstörungen – ADHS, Zwangsstörungen, Depressionen, Sozialphobie, hochfunktionalem Autismus, Anorexia nervosa, Verhaltensstörungen), oft aber keine eindeutige Pathologie zu erkennen war. Wir stellten auch fest, dass viele von uns behandelten Eltern, die ihre Rundumversorgung ohne Eskalation erfolgreich zurückfahren und den Forderungen und Angriffen des Unerwachsenen widerstehen konnten, signifikante Verbesserungen erreichten (Lebowitz et al., 2012). Durch unsere Interventionen konnten wir die zugrunde liegenden psychischen Störungen zwar nicht beheben, aber abmildern, indem wir die Handlungskompetenz des Unerwachsenen verbesserten, wodurch das Leiden verringert und die Chancen erhöht wurden, dass der Unerwachsene mehr Verantwortung übernahm.
Als wir diesen Eltern zuhörten, erkannten wir viele Muster, die wir in unserer therapeutischen Arbeit mit Familien sahen, deren jüngere Kinder dysfunktionale Verhaltensweisen zeigten und die in der Falle aus Mitleid, Schuldgefühlen und Angst gefangen waren. Auch diese Eltern schwankten zwischen Rundumversorgung und wütenden Forderungen. Der wesentliche Unterschied war der, dass die Muster der Familien mit Unerwachsenen rigider und extremer, die Drohungen bedrohlicher und die Verzweiflungsgefühle stärker waren. Die Entwicklungsuhr der Familien war anscheinend angehalten worden und konnte nicht wieder zum Laufen gebracht werden.
Ein weiterer markanter Unterschied lag in der großen Sorge der Eltern, der Unerwachsene könne Suizid begehen. Diese Drohung war bei sehr vielen von uns behandelten Fällen ein Thema und zeigte sich als mächtiges Abschreckungsmittel für elterliche Initiativen. Das macht deutlich, welch zwanghafter Natur die Abhängigkeitsbeziehung ist. Der Nesthocker hat den Schutz, den die Eltern ihm bieten, so erlebt, als ob das deren einzige Lebensoption sei. Dieses Gefühl der existenziellen Bedrohung war bei den Eltern jüngerer Kinder deutlich weniger ausgeprägt.
Eine individuelle Psychotherapie empfindet der Unerwachsene oftmals als Bedrohung oder als Möglichkeit, Initiativen der Eltern, die deren Schutzverhalten untergraben könnten, hinauszuzögern. Meistens sagen diese Unerwachsenen zu ihren Eltern: »Ich brauche keine Therapie!« oder: »Ihr seid doch diejenigen, die ein Therapie machen müssten!«. Der Unerwachsene hat aber nicht deshalb recht, weil die Eltern mehr Hilfe brauchen als er selbst, sondern weil sie üblicherweise die Motivation zu einer Therapie haben.
Als wir uns auf Nesthocker bzw. Unerwachsene zu konzentrieren begannen, betraten wir unbekanntes Gelände, eine dunkle Galaxie isolierter Eigenwelten, alle bewohnt von in sich eingeschnürten Familien und gefangen in einer Blase der Verzweiflung. Die Familienstruktur schien sich einzig und allein auf den Zweck hin entwickelt zu haben, einen Unerwachsener in einer komplett abgeschiedenen Welt zu konservieren.
Überrascht von unseren Beobachtungen, nahmen wir die klinische Literatur als Leitfaden. Viele der Unerwachsenen hatten eine glaubhafte psychiatrische Diagnose, mit der sich aber ihre extreme Abhängigkeit, Hilflosigkeit, Gewaltbereitschaft, ihr Festkrallen und Gefühl der Anspruchsberechtigung kaum erklären ließen. Die von uns beobachtete Familiendynamik war über eine breite Palette an Diagnosen hinweg sehr ähnlich; und war der Teufelskreis aus Abhängigkeit und Rundumversorgung einmal durchbrochen, besserte sich – unabhängig von der Diagnose – das Klima zwischen Unerwachsenem und Familie merklich. Die dysfunktionale Abhängigkeit scheint folglich ein diagnoseübergreifendes Phänomen zu sein. Allmählich stellten wir fest, dass »Unerwachsene« mit ähnlich dysfunktionalen Verhaltensweisen in vielen modernen Kulturen stigmatisiert werden, zum Beispiel als »Bumerang-Kinder« oder »Nesthocker« (Deutschland), »adultescents« (junge Erwachsene, die noch im Teenageralter stecken), »NEETs« (not in employment, education or training; weder erwerbstätig noch in Schul- oder Berufsausbildung), »KIPPERS« (kinds in parents’ pockets eroding retirement savings; Kinder, die den Eltern auf der Tasche liegen und deren für den Lebensabend Erspartes aufbrauchen), »Parasaito Shinguru« (parasitäre Einzelwesen, Japan), »bamboccioni« (Kindsköpfe, Jammerlappen, Italien) oder »mammoni« (Muttersöhnchen, Italien), »Hotel Mama« (Elternhaus, in dem junge Erwachsene nach der Adoleszenz wohnen, Österreich) und »Tanguy-Syndrom« (junge Erwachsene, die sich nur zögernd vom Elternhaus lösen; nach dem französischen Film »Tanguy«). Derlei Etikettierungen lassen darauf schließen, dass Erwachsenwerden in der heutigen Gesellschaft sich als riskant und schwierig erweist. Das Konzept des Übergangs ins Erwachsenalter, das zu Beginn des 21. Jahrhunderts formuliert wurde, bot einen kulturübergreifenden Blick auf dieses Phänomen (Arnett, 2000) und ist von daher eine gute Ausgangsbasis.
Der Übergang ins Erwachsenalter
Viele in den 1950er und 1960er Jahren geborene Erwachsene reiben sich die Augen angesichts ihrer Kinder, die mit Mitte zwanzig noch bei den Eltern und auf deren Kosten leben, zwischen Jobs and Liebesbeziehungen hin und her huschen, freizügig mit unrealistischen Berufsplänen experimentieren und ihr mageres Einkommen für hochwertige Konsumgüter ausgeben. »Als ich in deinem Alter war«, beschweren sich die Eltern, »war ich schon verheiratet und hatte zwei Kinder!« oder: »Als ich 18 war, konnte ich es kaum erwarten, aus meinem Elternhaus auszuziehen!«. Aus elterlicher Perspektive ist die richtige Entwicklungsordnung zerbrochen und droht nun, zu einer Kluft zwischen Adoleszenz und Erwachsensein zu werden. Eine diesbezügliche Theorie besagt, dass diese Kluft eine neue Entwicklungsphase, eine Übergangsphase bzw. emerging adulthood (Arnett, 2004) darstellt. Diese Transitionsphase ist nicht einfach eine verlängerte Adoleszenz, weil sie einen viel weiteren Erkundungshorizont fern von der elterlichen Kontrolle ermöglicht. Sie ist aber auch kein Erwachsensein, weil sie nicht mit den Verantwortlichkeiten einhergeht, die ein Erwachsener traditionell übernimmt. Diese Phase wird als eine Zeit beschrieben, in der man die eigene Identität, berufliche Neigungen und zwischenmenschliche Beziehungen erkundet. Es ist eine Zeit der Instabilität, wenn Wohnsitze sich verlagern und Pläne gemacht werden, damit man sie revidieren kann. Die Transitionsphase ist die Lebensphase von offenen Zukunftsmöglichkeiten und hohen Erwartungen und bietet dem allmählich ins Erwachsenendasein übergehenden Menschen die Gelegenheit, sich von der in vielen Herkunftsfamilien eigenen chronischen Unzufriedenheit zu befreien.
Einige Beobachter der Transitionsphase sehen diese Zeit als äußerst wünschenswertes Phänomen. Sie befürworten begeistert das Recht von jungen (und weniger jungen) Menschen, ihre Identität zu erforschen und verschiedene Beschäftigungen und Beziehungen auszuprobieren. Sie sehen in dieser Schwellenphase eine kreative Reaktion auf ein verwirrendes postindustrielles Zeitalter. Diese jungen Menschen werden in optimistischen Begriffen beschrieben, beispielsweise als »erfolgreich, kämpferisch und hoffnungsfroh« (Arnett u. Schwab, 2012) oder »umtriebig, freudvoll und großen Träumen folgend« (Arnett u. Schwab, 2014). Auch die Neurobiologie scheint die Transitionsphase positiv zu sehen und beruft sich auf Studien, die nahelegen, dass die strukturelle Entwicklung des adoleszenten und postadoleszenten Gehirns nach neuen und vielfältigen Erfahrungen verlangt. Demnach entspricht diese Transitionsphase der Gehirnentwicklung und fördert sogar den IQ (Steinberg, 2014).
Es kommt nicht von ungefähr, dass die meisten begeisterten Befürworter der Transitionsphase selbst in dieser Phase stehende junge Menschen sind. Wie ein sich in dieser Phase befindlicher Blogger feststellte: »Als ich das sich abzeichnende Erwachsensein verdaute, schmeckte nichts so süß und erfüllend – als ob man ohne Schuldgefühle und Blähungen einen ganzen Käsekuchen verspeist. Denn man hat uns das ganze Leben lang gesagt, wir sollten einfach nur immer diese Treppen hochklettern. Transition ist das das, was geschieht, wenn wir die Treppe verlassen und mit der Erkundung beginnen – all die Sackgassen und falschen Abzweigungen eingeschlossen« (Angone, 2014). Menschen im Übergang zum Erwachsensein rechtfertigen sich gern damit, dass sie ihren Eltern die Theorie der Schwellenphase erklären. Viele Eltern finden diese Transitionsphase auch gut und unterstützen ihre zwanzigjährigen und noch älteren Kinder bereitwillig.
Doch das Ganze hat auch eine Schattenseite. Viele sehen den Übergang zum Erwachsenen eher als Krise denn als eine Zeit des Experimentierens. Das dysfunktionale Abhängigkeitsmuster, das wir hier thematisieren, veranschaulicht diese Krise und das Scheitern, sie zu lösen.
Unerwachsene scheinen tatsächlich keine neue Identität zu erkunden. Sie entfalten nicht dieses dynamische Versuch-und-Irrtum-Prinzip, nach dem angehende Erwachsene hinsichtlich Wohnort, Partnerwahl und Korrekturen von Plänen vorgehen. Zwar experimentieren einige von ihnen vielleicht mit alternativen Selbstbildern, aber dies geschieht nur in der Fantasie oder in der virtuellen Welt. Sie erforschen nicht ihre eigenen Möglichkeiten und haben kein Interesse an anderen Menschen, abgesehen von ihren Eltern, die für sie aber nur Objekte von Schuldzuweisungen und Dienstleister sind. Dysfunktionale Abhängigkeit scheint demnach die andere Seite der Medaille der Transitionsphase zu sein. Genau das geschieht, wenn der Übergang zum Erwachsensein scheitert.
Von der Krise zum Scheitern: Die Rolle der elterlichen Verunsicherung
Im Rahmen der Transitionsphase müssen die heutigen Eltern junger Erwachsener eine Rolle spielen, für die sie kein Vorbild haben, und gegen ihre eigenen Wertvorstellungen handeln. Als sie selbst heranwuchsen, mussten die jungen Menschen nicht aus dem Elternhaus hinauskomplimentiert werden. Im Gegenteil: Die junge Generation zog schon in einem relativ frühen Lebensalter in die Welt hinaus. Das durchschnittliche Heiratsalter bei Frauen und Männern zwischen Ende des Zweiten Weltkriegs und Mitte der 1970er Jahre war stabil: 21 Jahre bei den Frauen und 23 Jahre bei den Männern. 2000 war das durchschnittliche Heiratsalter bei den Frauen auf 25 bzw. auf 27 bei den Männern gestiegen. Heute liegen die Vergleichszahlen besonders in den Mittel- und Oberschichten bei 28 bzw. 30 Jahren (U. S. Census Bureau, 2018).
Nach der traditionellen Rollenverteilung zwischen Eltern und Kind halten die Eltern an ihrem Kind fest, und das Kind versucht, sich abzulösen. Früher wurde der Übergang ins Erwachsensein so formuliert, als ob er etwas sich von selbst Ereignendes sei. Kinder wurden »volljährig«, »mündig«, »reif«, »flügge«, »selbstständig« oder »verließen das Nest«. Die Eltern von heute sind viel stärker daran beteiligt, ihre Kinder zum Erwachsensein anzustoßen, als es ihre eigenen Eltern waren. Es braucht neue Ausdrücke, um diese aktive Rolle zu beschreiben. Wir sprechen davon, das Kind »loszulassen« und es »fortzuschicken«. Heute kann man nicht mehr darauf zählen, dass das Nest sich von selbst leert. Manchmal muss es geleert werden.
Viele Eltern von Unerwachsenen erleben »Vergleichsmomente«, wenn sie an die Bedingungen denken, unter denen sie unbarmherziger aufwuchsen als ihre eigenen Kinder und ihr Übergang in die erwachsene Unabhängigkeit abrupter geschah. Fast die Hälfte der Eltern von angehenden Erwachsenen gab in einer 2013 von der Clark University durchgeführten Umfrage an, dass sie ihren 18- bis 29-Jährigen »häufige Unterstützung bei Bedarf« oder »regelmäßige Zuschüsse zum Lebensunterhalt« (Arnett u. Schwab, 2013) gebe. Als die Eltern nach der finanziellen Unterstützung gefragt wurden, die sie von ihren eigenen Eltern erhalten hatten, sagten nur 14 Prozent dieser Eltern, dass sie »häufige Unterstützung« oder »regelmäßige Zuschüsse zum Lebensunterhalt« bekommen hätten, als sie selbst in den Zwanzigern gewesen waren.
Dieser Unterschied zwischen dem, was heutige Eltern ihren Kindern geben, und dem, was sie von ihren eigenen Eltern erhalten hatten, ist eine ständige Quelle der Ambivalenz beim elterlichen Geben. Hin und wieder fragen sich die Eltern: »Wo sollen wir die Grenze ziehen zwischen zu wenig, genug und zu viel?« Aus dieser Verunsicherung erwächst oft eine gemischte Botschaft, in der übertriebene Zuwendungen verknüpft sind mit Klagen wie »Als ich in deinem Alter war«, Nörgeleien über die Abhängigkeit des Kindes und unrealistischen Erwartungen von Dankbarkeit und Leistungen.
Es gibt keine festgelegten Leitlinien, wie man mit einem Kind in der Übergangsphase zum Erwachsenwerden umgehen soll. Es gibt aber eine Menge Entwicklungstabellen und Leitlinien, wann die Sauberkeitserziehung beginnen sollte, wann Mädchen in die Pubertät kommen und welche normativen kognitiven Fähigkeiten ein Adoleszenter hat. Dieser Entwicklungsweg hört bei 18 Jahren auf und nimmt dann die Form eines langen, nebligen Tunnels an, eines Irrgartens, der (mit Glück) zu Ende ist, wenn das Kind in den Dreißigern ist, manchmal in Verbindung mit einer Heirat, mit Elternschaft, eigener Wohnung und finanzieller Unabhängigkeit. Die Eltern von angehenden Erwachsenen wissen nicht, was richtig ist und was sie erwarten können. Tut es unserem Kind gut, wenn es bei uns wohnt? Sollten wir von ihm Miete verlangen? Müssen wir wirklich noch wissen, wohin und mit wem es ausgeht?
Dieses normative Vakuum führt dazu, dass Eltern heutzutage weitaus verwundbarer sind. Um unangemessenen Forderungen widerstehen zu können, brauchen Eltern einen festen Grund unter ihren Füßen. Doch heutige Eltern stehen auf Treibsand. Die Situation wird noch schwieriger, wenn die Eltern Angst und Schuldgefühle haben und sich nicht einig sind. Wenn solche Bedingungen sich mit der Anpassung an Schwierigkeiten seitens des Kindes paaren, werden Risiken der Krise beim Erwachsenwerden zu einem Scheitern am Erwachsenwerden. Der mit sich ringende Adoleszente kann sich dann zu einem Unerwachsenen entwickeln.
Ein realistisches Ziel: Die funktionale Abhängigkeit
Die persönliche Unabhängigkeit gehört als höchster Wert so sehr zur modernen Weltsicht, dass ein zufriedenes Erwachsenenleben ohne sie nur schwer vorstellbar ist. Unabhängigkeit ist ein Synonym für ein normatives Erwachsensein. Sie ist Voraussetzung einer modernen Gesellschaft und eng verknüpft mit hochwertigen Begriffen wie Authentizität, Individualität und Freiheit. Unabhängigkeit ist die Krönung des Selbstseins. Der Begriff der Abhängigkeit ist dagegen voller negativer Assoziationen. Aber das war nicht immer so. Früher hielt man die Unabhängigkeit eher für eine Idealvorstellung als für einen normativen Zustand. Sie galt nicht als Qualitätsmerkmal des Erwachsenseins.
Die Auffassung von persönlicher und finanzieller Unabhängigkeit als Wesensmerkmal des Erwachsenseins wurde durch den Wirtschaftsboom nach dem Zweiten Weltkrieg befeuert. Seit den späten 1940er Jahren wird durch die Verfügbarkeit von Autos, Darlehen, Hypotheken und erschwinglichen Konsumgütern jungen Menschen das Gefühl vermittelt, dass Unabhängigkeit sofort greifbar ist. Seit den 1980er Jahren jedoch scheint sich das Narrativ der Unabhängigkeit im Belagerungszustand zu befinden. Sinkende Löhne, Marktzusammenbrüche und steigende Wohnkosten lassen den Traum von Unabhängigkeit zunehmend schwerer realisieren.
Doch bei genauerer Betrachtung kann Erwachsensein nicht mit Unabhängigkeit gleichgesetzt werden. Die finanzielle Unabhängigkeit von den Eltern bedeutet fast automatisch die Abhängigkeit von einem Arbeitsmarkt und der ihn regulierenden Wirtschaft. Die Heirat als ein traditionelles Merkmal der Unabhängigkeit von der Herkunftsfamilie bedeutet eigentlich eine neue wechselseitige Abhängigkeit zwischen den Eheleuten. Auch in der florierenden Nachkriegswirtschaft waren die Menschen zwangsläufig von einem Arbeitgeber abhängig, damit sie ihre Hypotheken bezahlen konnten. Sie hatten einfach genug Kaufkraft, Beschäftigungssicherheit und Zugang zur Technik, um sich in ihrer Abhängigkeit unabhängig fühlen zu können. Alles in allem könnte die volle Umsetzung von Unabhängigkeit im Sinne eines Ideals der totalen Freiheit eher auf Exzentrik und Marginalität hindeuten als auf menschliche Reife. Der komplett unabhängige Mensch wäre wahrscheinlich auch unzuverlässig, wie viele verlassene Ehepartner, Kinder oder Eltern bestätigen würden.
Tatsächlich ist das Leben gewissermaßen eine unendliche Kette von Abhängigkeiten. Unabhängigkeit ist das Erleben von Abhängigkeiten, die so zuverlässig sind, dass wir sie als selbstverständlich hinnehmen. Die im Leben so zahlreich vorhandenen Unfälle, Brüche und Störungen erinnern uns daran, wie fragil unsere Unabhängigkeit sein kann. Deshalb wollen wir Eltern und Unerwachsenen nicht helfen, von der Abhängigkeit zur Unabhängigkeit zu gelangen, sondern sie unterstützen, sich aus einer dysfunktionalen Abhängigkeit zu lösen und zu einer funktionalen Abhängigkeit zu gelangen. Funktionale Abhängigkeit stellt sich ein, wenn Menschen auf eine Weise voneinander abhängen, dass ihr gegenseitiges Überleben, ihre Anpassung und ihr Wohlergehen erhalten werden. Dabei geht es um die Fähigkeit, einen Mittelweg zu finden zwischen meinem Vorteil und dem der anderen, um die Balance zwischen Geben und Nehmen und zwischen Helfen und Hilfe bekommen.
Es gibt viele gesellschaftliche Normen, mit deren Hilfe wir zwischen akzeptablen und inakzeptablen Formen von Abhängigkeit unterscheiden können. Wenn Nachbarn gelegentlich etwas voneinander ausleihen und es dann wieder zurückbringen oder wenn Freunde sich gegenseitig helfen, nachdem das Problem allein nicht zu lösen war, oder wenn behinderte Menschen pflegerische Betreuung brauchen, sind das allgemeine Beispiele für sozial akzeptable Abhängigkeit. Wenn aber Nachbarn immer nur von anderen leihen, aber selbst nichts verleihen, oder wenn Freunde einander zum Helfen nötigen, sind das Beispiele für inakzeptable Formen von Abhängigkeit. Die Unterscheidung zwischen akzeptablen und inakzeptablen Formen von Abhängigkeit ist auch für Eltern und Kinder von Bedeutung. Selbst kleine Kinder wissen schon, dass sie manche Dinge selbst bewältigen müssen. Wenn sie größer sind, lernen sie, dass ihre Mithilfe im Haushalt erwartet wird. Und wenn sie erwachsen werden, erwartet man, dass ihre Beziehung zu den Eltern zunehmend symmetrisch wird. Wenn die Eltern älter werden, kann sich die Abhängigkeitsrichtung umkehren, und die Kinder müssen vielleicht die Eltern unterstützen. Im Fall von dysfunktionaler Abhängigkeit brechen diese Erwartungen in sich zusammen. Die Eltern unterstützen ihr Kind nicht mehr auf konstruktive Weise, sondern erfüllen dessen ungemessene Erwartungen. Unerwachsene empfangen keine angemessene Unterstützung von ihren Eltern, sondern beuten sie durch Passivität, emotionalen Druck und Nötigung aus.
Dysfunktionale Abhängigkeit identifizieren
Lernen, zwischen dysfunktionaler und funktionaler Abhängigkeit zu unterscheiden, ist vielleicht die allererste Aufgabe der Eltern von Unerwachsenen. Im Rahmen unserer therapeutischen Arbeit haben wir fünf Fragen formuliert, mit deren Hilfe Eltern die eine Art der Abhängigkeit von der anderen Art unterscheiden können.
Haben wir eine zeitliche Perspektive? Können wir einem Horizont des besseres Zusammenwirkens entgegensehen?