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Schritt für Schritt zurück zum Mut: Seit 20 Jahren forscht Haim Omer zum Gewaltlosen Widerstand und zur Neuen Autorität. In seinem neuen Buch richtet er sich an Eltern, die mithilfe von Präsenz, Selbstbeherrschung, Unterstützung und Beharrlichkeit Kraft und Zuversicht gewinnen wollen, (wieder) für ihre Kinder da zu sein. In Kontakt bleiben, präsent und wachsam sein, liebevoll Grenzen setzen, achtsam und stützend mit Ängsten umgehen, Wiedergutmachungen in den Fokus nehmen, für sich selbst sorgen: So gelingt es Eltern trotz aller Herausforderungen, die das moderne Familienleben mit sich bringt, ihr Kind auf dem Weg zum Erwachsenwerden gut zu begleiten. Wenn sie selbst zum stabilen Anker werden, können auch ihre Kinder hinderlichen Denk- und Verhaltensmustern, besorgniserregenden Gefühlen und Versuchungen standhalten. Wenn Sie Eltern beraten oder selbst Elternteil sind (oder beides!), erhalten Sie in diesem Buch konkrete Impulse dafür, wie Sie Schritt für Schritt festen Halt auch auf schwankendem Boden gewinnen, wieder Ordnung ins Chaos und sich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lassen. Eltern und Menschen, die Familien begleiten, erhalten darüber hinaus nützliches Handwerkszeug, um das sprichwörtliche "Dorf" aufzubauen, das wir brauchen, um ein Kind zu erziehen.
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Seitenzahl: 361
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Haim Omer
Mutige Eltern: Wie Sie Ihren Kindern ein guter Anker sein können
Aus dem Englischen von Dorothee Hönes und Rachel Grünberger-Elbaz
VANDENHOECK & RUPRECHT
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
© 2024 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe
(Koninklijke Brill BV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich)
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Umschlagabbildung: S.H.exclusiv/Adobestock.com
Satz: SchwabScantechnik, GöttingenEPUB-Erstellung: Lumina Datamatics, Griesheim
Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com
ISBN 978-3-647-99313-3
Vorbemerkungen
Erstes Kapitel
Elternschaft heute – eine Herausforderung
Zweites Kapitel
Selbstbeherrschung
Drittes Kapitel
Unterstützung und Zugehörigkeit
Viertes Kapitel
Präsenz und »wachsame Sorge«
Fünftes Kapitel
Die liebevolle Grenze
Sechstes Kapitel
Ängste
Siebtes Kapitel
Schule
Achtes Kapitel
Bildschirme und Displays
Schluss
Dieses Buch möchte Eltern helfen, Kraft und Zuversicht zu finden, um ihre Kinder inmitten der Flut von schädlichen Einflüssen, Impulsen und Trends einen festen Anker zu bieten. Das Buch ist sowohl das Ergebnis von fünfundzwanzig Jahren Arbeit im Bereich der Kindererziehung als auch der Versuch, den massiven Herausforderungen, mit denen sich Eltern heutzutage konfrontiert sehen, etwas entgegenzusetzen. Wir leben in einer Zeit von nie dagewesenen Herausforderungen, die die Eltern schwächen und die Kinder völlig neuen Versuchungen und Risiken aussetzen.
Nie zuvor waren Kinder mit einem Übermaß an Reizen so konfrontiert wie heute. Als Folge unserer Überflussgesellschaft werden sie mit einer Welle von Versuchungen und Verführungen überflutet, mit schädlichen Trends und Suchtmitteln, die überall zu haben sind. Als sei dies nicht genug, werden sie Tag und Nacht pausenlos mit Werbung berieselt, die ihnen diese Dinge nahebringt – nicht nur über das Fernsehen, sondern auch durch die Smartphones, an denen ihre Augen und Ohren kleben.
Und gerade jetzt, in einem Moment, in dem unsere Kinder all diesen Gefahren ausgesetzt sind, ist der Status als Eltern durch einschneidende Veränderungen in der Sozialstruktur und in der Wertevermittlung durch das Bildungswesen deutlich gesunken.
Schon allein dadurch, dass Eltern einsamer sind, sind sie schwächer. Weltweit sehen wir eine Tendenz weg von der Großfamilie hin zur Kleinfamilie. Dadurch entfällt die Unterstützung durch Großeltern, Geschwister und Nachbarn. Die Scheidungsrate und die Anzahl alleinerziehender Eltern sind stark gestiegen. Die Kleinfamilie, die wir heute kennen, lebt isoliert in ihrer Wohnung. Ein bekanntes Sprichwort besagt jedoch, dass man ein ganzes Dorf braucht, um ein Kind groß zu ziehen.1 Dieses Dorf ist komplett von der Landkarte verschwunden. Die Gemeinschaft spielt keine konstruktive Rolle mehr.
Eltern sind auch dadurch geschwächt, dass sie aufgrund des Wertewandels in der Gesellschaft nicht mehr in gleicher Weise Autorität ausüben können wie früher. Eigentlich ist dies eine positive Entwicklung: Wir sind zu Recht stolz darauf, dass wir körperliche Züchtigung und erzwungenen Gehorsam abgeschafft haben. Trotzdem bin ich nicht sicher, ob den Eltern stattdessen bessere Möglichkeiten an die Hand gegeben wurden. Und wenn Eltern in ihrer Verzweiflung doch wieder zu den alten Methoden greifen, dann ernten sie einen Aufschrei der Empörung, was sie nur noch mehr verunsichert.
Was sie außerdem schwächt, ist das allgegenwärtige Internet. Früher waren Eltern eine Quelle des Wissens und der Weisheit. Heute übernimmt das Internet diese Rolle. Die Kinder wissen inzwischen besser Bescheid als die Eltern. Der Schlüssel zur Weisheit liegt also buchstäblich in Kinderhänden. Manchmal geraten Eltern in Versuchung, den Kindern ihr Handy wegzunehmen – zum Beispiel als Strafe, mit der Begründung: »Alles andere hilft ja nicht!« Das Problem ist, dass auch das nicht hilft. Dazu kommt, dass die Eltern es nicht durchhalten.
Mit diesem Buch möchte ich vor allem ein Bild vermitteln: das der Eltern als Anker für ihre Kinder. Dafür müssen die Eltern in ihrer Rolle selbst fest verwurzelt sein. Der elterliche Anker bringt nicht nur Sicherheit, sondern auch Verwurzelung. Er garantiert dem Kind ein präsentes, stabiles Elternteil. Es ist den Strömungen der Zeit nicht hilflos ausgeliefert.
Die Strömungen und der Anker – das sind die Hauptthemen dieses Buchs. Jedes Kapitel beschreibt das Zusammenspiel der beiden. Mein Anliegen ist, dass Eltern wieder ihre Rolle als Anker wahrnehmen. Dazu braucht es Mut. Aber man kann nicht mutig sein, wenn man schwach und verwirrt ist. Dieses Buch ist nicht einfach als Anweisung zu verstehen, dass Eltern mutig sein sollten, sondern als Wegweiser, der anzeigt, wo dieser Mut zu finden ist.
Bei meiner Arbeit mit unzähligen Familien habe ich es immer wieder erlebt, dass Eltern, die ihre Standfestigkeit verloren haben, ihren Glauben an sich selbst, und manchmal sogar ihre Willenskraft, wieder in ihre Elternrolle zurückgefunden haben. Hätte man ihnen das vor Beginn dieser Entwicklung gesagt, hätten sie nur ungläubig gelächelt.
Noch einige Worte zu mir selbst und zu meinem pädagogischen Ansatz. Ich bin emeritierter Professor für Psychologie an der Universität von Tel-Aviv und habe unterschiedliche Ansätze der Elternschaft untersucht und entwickelt. Die wichtigsten Themen sind gewaltloser Widerstand2, neue Autorität3 und elterliche wachsame Sorge4.
Des Weiteren habe ich gemeinsam mit Eli R. Lebowitz ein Buch für Eltern von ängstlichen Kindern und Heranwachsenden5 veröffentlicht sowie gemeinsam mit Nahi Alon einen Band über Dämonisierung und Konflikte, mit einem Vorwort des Dalai Lama6. Mein Anliegen richtet sich sowohl an Eltern als auch an Lehrer und Lehrerinnen. Deshalb erscheint dieses Buch mit dem Begleitwerk »Raus aus der Ohnmacht. Das Konzept Neue Autorität für die schulische Praxis«.7 Als letztes habe ich gemeinsam mit Dan Dulberger ein Buch über die Hilfe für Eltern von »Nesthockern«, also erwachsenen Kindern, veröffentlicht, die weder studieren noch arbeiten noch sonst etwas Sinnvolles tun.8
Neben diesen Büchern sowie über einhundert Aufsätzen9, die ich veröffentlicht habe, bin ich der Gründer und Leiter der weltweit aktiven Bewegung »NVR« (non-violent resistance), die den oben beschriebenen Ansatz für Eltern, Lehrer und Lehrerinnen sowie anderweitig mit der Betreuung von Kindern betraute Personen verbreitet und bereits sieben internationale Konferenzen in London, Antwerpen, München, Malmö, Tel-Aviv, Linz und Osnabrück veranstaltet hat, sowie zahlreiche Konferenzen auf nationaler oder lokaler Ebene, mit Tausenden von Teilnehmenden. Es gibt NVR-Gruppen in Großbritannien, den USA, der Schweiz sowie in Holland, Kanada, Belgien, Deutschland, Österreich, Italien, Frankreich und Israel. Das Konzept wurde auch für besondere Zielgruppen weiterentwickelt, zum Beispiel für Kinder mit ADHS, Angststörungen, Zwangsstörungen, Internetabhängigkeit, Heranwachsende mit unkontrolliertem Diabetes, Jugendliche mit riskantem Fahrverhalten, bei Fällen von Gewalt in der Schule, Gewalt unter Geschwistern, Gewalt von Kindern gegenüber ihren Eltern sowie Straffälligkeit von Jugendlichen, sowie für das, was man in Frankreich »Tyrannenkinder« nennt, und dysfunktionale erwachsene Kinder, die komplett von ihren Eltern oder Pflegeeltern abhängig sind.
1 Das englischsprachige Sprichwort lautet: »It takes a whole village to raise a child.«
2 Omer, H., von Schlippe, A. (2016). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. »Elterliche Präsenz« als systemisches Konzept. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Omer, H., von Schlippe, A. (2023). Autorität durch Beziehung. Gewaltloser Widerstand in Beratung, Therapie, Erziehung und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
3 Omer, H., Streit, Philip (2016). Neue Autorität: Das Geheimnis starker Eltern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Omer, H., von Schlippe, A. (2016). Stärke statt Macht. Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
4 Omer, H. (2016). Wachsame Sorge. Wie Eltern ihren Kindern ein guter Anker sind. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
5 Omer, H., Lebowitz, E. (2015). Ängstliche Kinder unterstützen. Die elterliche Ankerfunktion. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
6 Omer, H., Alon, N., von Schlippe, A. (2014). Feindbilder. Psychologie der Dämonisierung. Mit einem Vorwort des Dalai Lama. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
7 Omer, H., Haller, R. (2019). Raus aus der Ohnmacht. Das Konzept Neue Autorität für die schulische Praxis. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
8 Omer, H., Dulberger, D. (2021). Wenn erwachsene Kinder nicht ausziehen. Leitfaden für die Arbeit mit Eltern von Nesthockern. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
9 Siehe auch www.haimomer-nvr.com (Zugriff am 26. März 2024).
Es ist heutzutage nicht einfach, Eltern zu sein. Warum? Weil die Elternrolle ihre Klarheit verloren hat, Eltern einsamer sind und weil sie an Autorität eingebüßt haben. Früher bestand die Aufgabe darin, die Kinder zu versorgen und ihnen Grundwerte beizubringen. Eltern, denen dies gelang, galten als gut und verantwortungsvoll. Um es kurz zu machen – die Eltern gaben Weisung, und die Kinder respektierten sie und gehorchten ihnen. Unzählige Regeln, Sitten und Gesetze stärkten diesen übergeordneten Status der Eltern und validierten diese Art der Beziehung. Die Annahmen, die diesen Erwartungen zugrunde lagen, wurden nicht in Frage gestellt. Eltern, Lehrer und Lehrerinnen, Geistliche, das Gesetz sowie der Rundfunk und gedruckte Medien – alle stützten dieses Weltbild.
Heute hingegen sind die Verhältnisse anders. Was früher selbstverständlich war, wird in Frage gestellt, wodurch die Rolle der Eltern unklar wird – sowohl für die Eltern selbst als auch für ihr Umfeld. Dieser Verlust an Klarheit hinterlässt bei ihnen ein Gefühl der Verwirrung und der Unsicherheit. Sie leiden heutzutage häufig unter Zweifeln und Schuldgefühlen. Sie sehen sich mit einem Dilemma konfrontiert. »Was haben wir nur falsch gemacht!« – diese Frage wird heute so oft gestellt wie nie zuvor.
Derart verwirrte Eltern kümmern sich keinesfalls weniger liebevoll um ihre Kinder. Ganz im Gegenteil: Eltern, die in unserer komplexen Welt nie verwirrt sind oder zweifeln, sind sich vielleicht nur nicht der Schwierigkeiten und Gefahren bewusst, mit denen ihre Kinder heutzutage konfrontiert sind. Trotzdem kann die Verwirrung die Eltern auch deutlich schwächen – besonders wenn sie mit Herausforderungen konfrontiert sind, bei denen ein entschlossenes Auftreten nottut. In solchen Situationen tun sich verwirrte Eltern schwer damit, einen festen Stand für ihre Rolle zu finden. Gleichzeitig steigt das Risiko, dass das Kind auf Abwege gerät.
Eltern empfinden nicht nur deshalb Verwirrung, Zweifel und Hilflosigkeit, weil die Wertmaßstäbe ihrer Kinder nicht mehr so selbstverständlich mit ihren übereinstimmen, sondern auch weil sie selbst mit größeren Herausforderungen konfrontiert sind als je zuvor: neben neuen technologischen Entwicklungen hat sich auch die Familienstruktur geändert, sowie die soziale Zusammensetzung unserer Gesellschaft.
Die gravierendsten Veränderungen in der Familienstruktur gehen zurück auf
– eine höhere Scheidungsrate,
– einen höheren Prozentsatz an Alleinerziehenden,
– weniger Rückhalt durch die Großfamilie.
War die Scheidung früher ein Randphänomen, so ist sie heute weitverbreitet. Geschiedenen Eltern fehlt es häufig an Unterstützung und es fällt ihnen schwer, ihre Rollen untereinander abzustimmen.
Parallel dazu gibt es zunehmend Alleinerziehende – oft sind es sehr junge Mütter.10 Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass in solchen Familien das Risiko für Verhaltensauffälligkeiten zunimmt, während die Fähigkeit der Mutter oder des Vaters, mit diesen umzugehen, abnimmt. Wenn beide Elternteile zusammenleben, können sie destruktiven Tendenzen besser standhalten, als wenn ein Elternteil allein ist.
Auch im Hinblick auf ihre Größe trägt die veränderte Familienstruktur dazu bei, die Eltern zu destabilisieren. Früher unterstützten Großeltern, Onkel, Tanten und ältere Geschwister bei der Beaufsichtigung und Erziehung der Kinder, während diese Aufgabe heute ausschließlich den Eltern zukommt, oder sogar einem alleinerziehenden Elternteil. Nur noch selten wächst ein Kind in einer Großfamilie auf. Manchmal leben sie sogar als Einzelkind in einer 1:1-Beziehung mit einem alleinerziehenden Vater oder einer alleinerziehenden Mutter – eine Situation, die auch die Elternrolle destabilisiert. So ist zum Beispiel erwiesen, dass das Risiko für Straftaten in Familien geringer ist, in denen auch die Großeltern an der Erziehung der Kinder beteiligt sind.11 Die Präsenz der Großeltern zusätzlich zur Aufmerksamkeit der Eltern gibt den Kindern ein Gefühl der Geborgenheit.
In Großstädten ist es deutlich schwieriger, Kinder aufzuziehen und sie dabei vor Gefahren zu schützen. Große Städte vermitteln das Gefühl von Anonymität, es gibt zahlreiche Verführungen, und es ist nicht schwer, unerkannt zu bleiben. Kinder sind heutzutage nicht nur mit einer größeren Flut vielfältiger Versuchungen konfrontiert als früher, sondern können sich auch dem Radar ihrer Eltern leichter entziehen. Früher befanden sich Kinder in unmittelbarer Sichtweite der Eltern; deshalb war die Wahrscheinlichkeit, von jemandem gesehen zu werden, der sie kannte, viel größer als heute. Kinder fühlten sich beobachtet und wussten, dass Fehlverhalten früher oder später ans Licht kommen würde. In großen Städten hingegen ist dies anders: Im Schutz der Anonymität einer modernen Metropole bleibt Fehlverhalten oft unerkannt. Die Wirkung der Großstadt weitet sich auch auf die Vororte aus, weil die Jugendlichen zum Zeitvertreib gerne in die Stadt fahren – und zwar nicht nur, weil dort mehr geboten wird, sondern auch, weil sie dort unerkannt bleiben. Die Stadt ist wie ein riesiger Magnet, der die Jugendlichen in ihren Bann zieht.
Eine weitere Herausforderung für Eltern stellt die rapide technologische Entwicklung dar, die sie gegenüber ihren Kindern in eine schwächere Position bringt. Die offensichtlichsten technologischen Veränderungen sind der Computer, das Internet und das Smartphone beziehungsweise Handy. Während Eltern früher davon ausgehen konnten, dass sie ihren Kindern durch ihr Wissen etwas voraushatten, merken sie heute, dass sich die Kinder besser auskennen, und dass die Medien einen größeren Einfluss auf ihre Kinder ausüben als sie selbst. Durch Smartphones fühlen sich Eltern zunehmend marginalisiert:
– Smartphones fesseln die Augen und Ohren ihrer Kinder.
– Was die Eltern sagen, verblasst gegenüber dem, was das Smartphone vermittelt.
– Die Zeit, die die Eltern ihren Kindern widmen können, nimmt ab, weil das Smartphone Zeit und Aufmerksamkeit ihrer Kinder beansprucht.
Das Smartphone ist der Faktor, der den Stand der Eltern am stärksten gefährdet. Sein Einfluss ist ständig präsent: Denn selbst wenn die Kinder gerade nicht darauf schauen, fragen sie sich innerlich, was es in den sozialen Netzwerken wohl Neues gibt. Sie können es kaum erwarten, wieder »online« zu sein. Zeit, die die Kinder ohne das Handy verbringen müssen, empfinden sie als vergeudet. Dadurch wirken dann auch ihre Eltern irrelevant, langweilig und von gestern.
Durch die vielfältigen Versuchungen und Einflüsse auf die Kinder, sowie die zahlreichen Möglichkeiten, der Kontrolle der Eltern zu entgehen, wird es für diese zunehmend schwierig, ihre Söhne und Töchter zu stabilisieren und zu führen. Die Kinder werden von den Wellen der modernen Trends mitgerissen, während ihre Eltern hilflos dabei zusehen. Um aus dieser Position der Schwäche herauszukommen, müssen sie erst einmal erkennen, was sie so schwächt.
Hier einige Kommentare von Eltern, die diesem Muster verfallen sind:
GRETA: »Es ist für mich immer wichtig, meinen Kindern zu erklären, warum ich so handle wie ich es tue, und warum manche Verhaltensweisen nicht richtig sind. Ich bin davon überzeugt, dass die Dinge besser werden, wenn das Kind versteht. Bei meinen beiden Älteren hat das wunderbar geklappt. Auch wenn sie sich manchmal schwer damit getan haben, mich zu verstehen, konnten sie es dann am Ende doch nachvollziehen, und es wurde besser. Nur bei meiner Jüngsten funktioniert das nicht. Schon in der Grundschule hatte ich das Gefühl, dass sie nicht richtig zuhörte. Sie war einfach nicht bei der Sache. Vielleicht wollte sie aber auch einfach nicht verstehen, was man ihr sagte. Obwohl sie es dann doch immer irgendwie kapiert hat. Aber seit sie pubertiert ist alles anders. Sie hält sich die Ohren zu, schreit mich an, ich solle die Klappe halten, oder sie gibt mir zu verstehen, dass alles, was ich sage, doch nur zum einen Ohr rein und zum anderen wieder raus geht. Es gelingt mir einfach nicht, ihr klarzumachen, dass sie am Ende nur sich selbst schadet.«
SAM: »Egal was ich ihm sage, er widerspricht mir einfach immer. Das kann er richtig gut, wie ein Jurist. Schon als er klein war, wollte er immer wissen, warum wir etwas von ihm verlangten. Jede Kleinigkeit führte zu endlosen Diskussionen. Und ehrlich gesagt ist es nicht einfach, seinen Argumenten standzuhalten. Er begründet und rechtfertigt seinen Standpunkt und führt Beispiele an, gegen die wir nicht ankommen.«
Erklärungen und Überredungskunst sind zentrale Vorgänge bei der Erziehung, weil Eltern die wichtigsten Vermittler sind, wenn es darum geht, ihren Kindern die Welt zu erklären. Diese Rolle verleiht ihnen Autorität. Eltern, die positive Autorität ausstrahlen, erklären ihren Standpunkt und vergrößern damit die Wahrscheinlichkeit, dass ihre Position akzeptiert und übernommen wird. Im Gegensatz dazu bieten autoritäre Eltern oft keine Begründung. Manchmal nutzen sie die Weigerung, ihren Standpunkt zu erklären, sogar als Ausdruck ihrer Autorität. Ihre einzige Begründung lautet: »Mach das jetzt, weil ich es will!« Hinter diesem Befehl steht die Annahme, dass man blind gehorchen muss, sonst ist es kein richtiger Gehorsam. Diese Form der Autorität hat ihre Legitimation verloren. Sie hat in der Kindererziehung nichts zu suchen.
Trotzdem können Erklärungen auch nutzlos sein, und endlose Diskussionen zu einem Mechanismus verkommen, der Entscheidungen und Handlungen verhindert. Vielen Kindern ist das bewusst und sie wissen, wie sie Diskussionen endlos in die Länge ziehen können. Sie wissen genau, dass ihre Eltern nicht handeln, solange sie reden. Je mehr die Eltern erklären und »predigen«, desto mehr schwächen sie ihren Stand und ihre Präsenz.
Eltern können einschätzen, inwieweit sie dieser »Plapperfalle« verfallen sind, und lernen, sich selbst zuzuhören:
– Wiederholen Sie sich häufig?
– Nimmt die Zahl an Bitten und Erklärungen zu?
– »Predigen« Sie immer wieder dasselbe?
– Versuchen Sie, mit verstärkter oder erhobener Stimme zu reden, um mehr Eindruck zu machen?
– Scheint es, als ob die Kinder Spaß an der Diskussion hätten, oder als ob sie die Diskussion dazu missbrauchen, Ihre Position zu schwächen?
All dies sind Zeichen dafür, dass die Eltern mit den Wellen der Beredsamkeit fortgetragen werden und dabei an Gewicht und Präsenz einbüßen.
Viele Eltern haben das Gefühl, dass sie scharf und sofort auf das problematische Verhalten oder die Provokationen ihres Kindes reagieren müssen, weil sie sonst schwach erscheinen und das Gesicht verlieren. Sie halten diese Reaktion für notwendig, damit das Kind den Ernst der Lage versteht. Folgende Aussagen sind typisch für diese Einstellung:
–Ich zahle mit gleicher Münze heim!
– Er glaubt doch nicht etwa, dass er mir drohen kann. Ich werde ihn schon noch das Fürchten lehren!
– Ich muss es ihr ein für alle Mal zeigen.
– Wenn ich nicht reagiere, dann denkt er, er hat mich rumgekriegt!
Solche Aussagen zeigen, dass die Eltern in dem Glauben gefangen sind, dass ihnen nichts anderes übrig bleibt als auf jede Provokation und auf jedes problematische Verhalten sofort zu reagieren, und zwar kräftig. Sie glauben, jede andere Reaktion würde beweisen, dass sie verloren haben. Diese Aussagen bringen eine problematische Erwartung zum Ausdruck: nämlich die Hoffnung, dass das Kind einlenkt, wenn ihre Reaktion als Eltern nur stark genug ist. Diese Hoffnung erfüllt sich fast nie. Fast immer führen Geschrei, Drohungen und Wutausbrüche nur dazu, dass die Spannung eskaliert und die Eltern ihren Einfluss vollends verlieren. Sie verlieren die Kontrolle und werden von einem Sog verschluckt, der ihnen ihre Autorität nimmt.
Der Verlust der elterlichen Rolle in einem Sturm von Geschrei, Geschimpfe und leeren Drohungen ist häufig bei Eltern von unruhigen Kindern zu finden, bei denen ADHS diagnostiziert wurde. Eltern solcher Kinder fühlen sich nicht selten wie in einem Karussell mit ständig wiederkehrenden Mottos wie »Hör auf!«, »Nein!«, »Ich habe dir doch gesagt …«, »Wenn du jetzt nicht aufhörst, dann …« und so weiter und so fort. Kein Wunder, dass diese Eltern am Ende des Tages erschöpft sind. Wir reden von gestressten Eltern. Gestresste Eltern fühlen sich hin und her geworfen, gezogen und geschoben, und verlieren das Gefühl, dass sie den Laden noch im Griff haben. Um solche Situationen zu evaluieren, haben wir einen Fragebogen für gestresste Eltern erstellt. Unsere Studien haben vor allem zwei wichtige Ergebnisse zutage gefördert:
– Eltern von Kindern mit ADHS sind viel gestresster als andere Eltern; und
– mit Unterstützung können Eltern lernen, aus dem Karussell auszusteigen. Sie können ihre Autorität und ihren positiven Einfluss auf ihre Kinder zurückgewinnen.
Eltern, die das Gefühl haben, immer wieder das Gleiche zu sagen oder laut werden zu müssen, um von ihren Kindern wahrgenommen zu werden, verstehen nicht, dass unser Nervensystem die Fähigkeit hat, sich an etwas zu gewöhnen. Dieser Mechanismus führt dazu, dass wir konstante Geräusche einfach ausblenden. Die Stimmen von Eltern, die sich ständig wiederholen, schimpfen und schreien, werden vom kindlichen Gehirn einfach nur als »Hintergrundgeräusch« eingestuft. Damit beginnt ein Prozess der Gewöhnung, sodass das kindliche Nervensystem immer weniger auf die Stimme der Eltern reagiert. Paradoxerweise verstärkt der Versuch der Eltern, die Mauer des Ignorierens durch Wiederholung und Lautwerden zu durchbrechen, diesen Mechanismus der Gewöhnung nur noch mehr. Das Gefühl der Eltern, dass das Kind umso weniger hinhört, je mehr sie schimpfen, trifft auch auf der körperlichen Ebene voll zu: die Signale, die das kindliche Nervensystem und Gehirn von der elterlichen Stimme wahrnimmt, werden zunehmend schwächer. Eigentlich stellen die Eltern durch ihr ständiges Schimpfen und Schreien bloß ihre eigene Stimme auf »leise«.
Anders geht es Eltern, die versuchen, ihrem Kind »ein für alle Mal« zu zeigen, dass es so nicht weitergeht. Manche Eltern (meistens Väter) erteilen für einen kompletten Monat Hausarrest oder Fernsehverbot. Oft spricht ein Elternteil ein Verbot aus und erwartet vom anderen, sie oder ihn dabei zu unterstützen. Es ist kein Wunder, dass diese Strafen meistens nicht durchgehalten werden und nur eine weitere Etappe im Prozess sind, die elterliche Autorität zu untergraben. Das Ergebnis macht es oft nur noch schlimmer: Der Vater ärgert sich über die Mutter, wenn sie die Strafe nicht durchzieht, die er angeordnet hat – und die Mutter ihrerseits ärgert sich über den Vater, der das von ihr erwartet. So wird die Kluft zwischen den Eltern größer und der Einfluss auf das Kind nimmt entsprechend ab. Oft reagiert der Vater mit demonstrativer Resignation: »Wenn die sowieso nicht machen, was ich will, dann sollen sie doch allein mit ihrem Kram fertigwerden!« – wodurch er sich nur noch mehr von der Familie entfremdet. Manchmal ist der Schaden, der durch drastische Strafen entsteht, noch gravierender – besonders dann, wenn das betreffende Kind sowieso zur Rebellion neigt. Solche Kinder geben niemals nach, und wenn sie es tun, fühlen sie sich wie ausgelöscht. Wenn sie sich unterwerfen, werden sie »ausgerottet« – zumindest empfinden sie das so. Solche Kinder kämpfen bis zum Letzten gegen jeden Versuch, sie gefügig zu machen. Und selbst wenn sie sich äußerlich fügen, dann aus Taktik: Im Stillen schwören sie Rache für die Erniedrigung, die sie erfahren haben.
Viele Eltern geraten aus tiefer Sorge um ihre Kinder in eine solche Lage. Ihnen ist klar, dass sie einen hohen Preis zahlen: Sie verzichten auf persönlichen Freiraum, Karriere, Freizeit und intime Beziehungen. Aber sie haben aus ihrer Sicht keine andere Wahl, wenn sie vermeiden wollen, dass ihr Kind leidet. Manchmal identifizieren sie sich so stark mit ihrem Kind, dass sein Leiden ihr gesamtes Universum füllt. Sie haben keine eigenen Empfindungen mehr, sondern werden zu einem Barometer des emotionalen Zustands ihrer Kinder.
Untenstehende Aussagen stehen beispielhaft für Eltern, die mit ihrer Selbstaufopferung unter Umständen zu weit gehen:
– »Mein Sohn schläft bei uns im Bett, weil er nicht schlafen kann, wenn er allein ist. Er leidet auch unter schweren Trennungsängsten. Wir können keine Minute für uns allein verbringen und ein Urlaub als Paar steht nicht zur Debatte!«
– »Meine Tochter im Teenageralter erlaubt mir nicht, zwei meiner Freundinnen einzuladen, die sie nicht leiden kann.«
– »Ich habe meinen Job aufgegeben, weil ich merkte, dass mein Sohn meine uneingeschränkte Zuwendung braucht.«
Ein behindertes oder schwer krankes Kind stellt die Hingabe seiner Eltern maximal auf die Probe. Deshalb ernten Eltern, die Opfer bringen, um für ihr Kind da zu sein, großen Respekt. Wenn die emotionalen Probleme des Kindes jedoch dazu führen, dass Eltern sich und ihre komplette Lebensroutine den Bedürfnissen des Kindes anpassen, um ihm Schmerz, Stress oder Angst zu ersparen, dann erreichen sie genau das Gegenteil: Anstelle des Kindes, dem seine Angst eigentlich genommen werden sollte, werden sie selbst überängstlich und können nicht mehr angemessen funktionieren. So können sie dem Kind keinen festen Halt geben und ihm nicht dabei helfen, sein Problem zu bewältigen. Stattdessen werden sie instrumentalisiert, damit sich das Kind seinen Problemen nicht stellen muss; es wird dysfunktional.
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Kinder es verlernen, selbstständig zu funktionieren, wenn sich das Leben der Eltern ständig um sie dreht.12 Der Begriff elterliche Anpassung weist schon darauf hin, dass Eltern gefügig werden und lieber ihre Gewohnheiten ändern, damit dass Kind nicht leidet, oder damit sie in Ruhe gelassen werden. Auch bei Angststörungen – egal ob in Form sozialer Ängste, Trennungsangst, spezieller Phobien, posttraumatischer Belastungsstörungen oder zwanghafter Impulsstörungen – hat sich gezeigt, dass das Anpassungsverhalten der Eltern, die den Erwartungen oder Anforderungen ihrer Kinder immer gerecht werden wollen, das Problem nur noch verschlimmert. Auch der Erfolg oder Misserfolg einer Therapie – egal ob in Form von Medikamenten oder Psychotherapie – hängt wesentlich vom Anpassungsverhalten der Eltern ab: Ein starkes Anpassungsverhalten der Eltern verringert die Erfolgsaussichten für die Behandlung des Kindes signifikant. Systematisches Coaching der Eltern, bei dem sie lernen, ihr Anpassungsverhalten zu reduzieren, verringert hingegen die Angststörungen und verbessert die Funktionsfähigkeit der Kinder.
Die tragischen Folgen der untergrabenen elterlichen Autorität und des übertriebenen Anpassungsverhaltens der Eltern ziehen sich durch das ganze Leben des Kindes. Wenn also Eltern den Erwartungen und Forderungen nachgeben, ohne dass das Kind bereit ist, selbst etwas zum Erfolg beizutragen, erhöht dies das Risiko, dass diese Kinder auch als Heranwachsende und Erwachsene eine pathologische Abhängigkeit beibehalten: Sie gehen nicht mehr zur Schule und auch nicht zur Arbeit, und manche meiden sogar soziale Kontakte und ziehen sich selbst zu Hause zurück. Auch hier lassen sich die Eltern von den Schwierigkeiten ihrer Kinder und ihrem offensichtlichen Leid dominieren. Sie beschützen ihr Kind vor den Anforderungen des Lebens. So findet das erwachsene Kind eine »degenerative Zuflucht«, einen elterlichen Schirm, der es vor den Herausforderungen des Lebens schützt – sie aber gleichzeitig dauerhaft zu einer dysfunktionalen und reduzierten Persönlichkeit macht. Wir haben ein Programm entwickelt, das Eltern helfen kann, ihr Anpassungsverhalten zu reduzieren und ihren Einfluss wie ihre Eigeninitiative im Hinblick auf pathologisch abhängige Kinder wiederzugewinnen. Dieses Programm hat sowohl Eltern dabei geholfen, sich vor den Forderungen ihrer Kinder schützen, als auch Kindern dabei, als Erwachsene zu funktionieren.13
Folgende Fragen zum Verlust von persönlichem Freiraum und zum Thema Grenzen können Eltern helfen, herauszufinden, ob und inwiefern sie das Kind positiv unterstützen oder krankhaft beschützen:
– Gehört meine Zeit (zum Beispiel Arbeitszeit oder Freizeit) noch mir oder wird sie vollständig von den Ängsten und Problemen meines Kindes in Anspruch genommen?
– Schränken die Probleme meines Kindes meinen persönlichen Freiraum ein?
– Fühle ich mich gezwungen, sofort zu reagieren, damit mein Kind nicht leidet?
– Werden das tägliche Familienleben und die Alltagsroutine von den Ängsten, Problemen oder Forderungen meines Kindes bestimmt?
– Mache ich selbst immer mehr und übernehme damit Dinge, die eigentlich mein Kind tun sollte?
– Entwickeln sich zu Hause langsam Gewohnheiten, die einzig und allein den Zweck haben, den Bedürfnissen meines Kindes gerecht zu werden, oder es ihm leichter zu machen?
– Kann ich mein Kind daran hindern, mich zu unterbrechen, wenn ich rede oder wenn ich gerade mit etwas beschäftigt bin?
– Habe ich ein Recht auf eigene Wünsche und Pläne? Kann ich sie auch verwirklichen?
Manche Eltern werden quasi »ausradiert« bei dem schleichenden Prozess, bei dem sie allmählich ihren Platz aufgeben, ihre Stimme verlieren und angesichts der Bedürfnisse, Erwartungen und Forderungen ihrer Kinder resignieren. Manchmal handelt es sich dabei um ein freiwilliges Opfer, manchmal ist es jedoch auch Zwang. Manchmal droht das Kind mit drastischen Reaktionen, wenn die Eltern nicht tun, was es erwartet. Manchmal scheint aber auch das Leiden des Kindes so unerträglich, dass die Eltern sich gezwungen fühlen, seinen Forderungen nachzugeben. Das Ergebnis ist jedoch immer dasselbe: Die Eltern verlieren sich selbst und ihren Einfluss, während das Kind seinen Selbstrespekt verliert und verlernt, klarzukommen.
SAMANTHA: »Ich weiß nicht, wer die Freunde meiner Tochter sind. Wenn sie uns besuchen, macht sie es mir absichtlich unmöglich, mit ihnen zu sprechen.«
RICHARD: »Wenn ich ihn frage, wohin er geht, gibt er mir allgemeine Antworten wie ›Mit Freunden weg‹ und weigert sich, das näher auszuführen. Es ist auch schon vorgekommen, dass er mir sagte, er gehe zu einem bestimmten Freund nach Hause, und letztlich stellte sich heraus, dass er gar nicht dort war!«
LAURA: »Wenn mein Sohn zu Hause am Computer sitzt, sperrt er die Zimmertür ab. Sein Handy ist sein bester Freund!«
ROBERT: »Ich fühle mich in der Welt meiner Kinder wie ein Fremder!«
MARTHA: »Wenn ich etwas wissen will, spioniere ich es lieber hinter ihrem Rücken aus. Das ermöglicht mir, ohne Konfrontationen herauszufinden, was Sache ist.«
Vielen Eltern scheint es, als lebte ihr Kind in einer zunehmend fremden Welt, zu der sie keinen Zutritt haben. Dieses Gefühl der Marginalisierung ist aufgrund der sich überschlagenden technologischen Entwicklungen besonders stark geworden. Die Kinder von heute wachsen in einer ganz anderen Welt auf als die, in der ihre Eltern groß wurden. Handys, soziale Netzwerke und Onlinespiele haben eine fast undurchdringliche Parallelwelt geschaffen. Wenn ein Kind in der virtuellen Realität versinkt, ist es schwierig, auch nur eine einfache Unterhaltung mit ihm zu führen oder Augenkontakt mit ihm aufzunehmen. Die Zeit, die Eltern bewusst mit ihren Kindern verbringen, wird immer weniger. Es wurde viel über den Einfluss der digitalen Welt auf die kindliche Entwicklung geredet; das Versinken der Kinder in ihrem Handy wirkt sich jedoch auch auf die Entwicklung der Eltern aus, die dadurch schon früh zu Randfiguren im Leben ihrer Kinder werden. Sie gewöhnen sich daran, diese nicht bei den Unterhaltungen zu stören, die sie mit anderen führen. Die Kinder empfinden die Appelle der Eltern als lästig. Viele Eltern gehen mit dem Trend und erkennen nicht, dass sie damit ihre elterliche Rolle massiv einschränken. Das Einzige, was sie sich vielleicht noch trauen, ist, dass sie dem Kind androhen, ihm das Handy wegzunehmen, wenn es sich nicht benimmt. Diese Drohung macht den Streit nur schlimmer und verringert den elterlichen Einfluss noch mehr.
Ein weiteres Novum, das die Eltern an ihre Grenzen bringt, ist die Unantastbarkeit der Privatsphäre, die heute nicht mehr nur ein Wert von vielen ist, sondern als geradezu heilig gilt. Wir nennen diese weitverbreitete und als selbstverständlich akzeptierte Haltung »Privatsphärenreflex«. Heutzutage beschuldigen Heranwachsende ihre Eltern mit dem Gefühl gerechtfertigter Empörung auch dann, wenn sie ihre Privatsphäre offensichtlich für Aktivitäten missbrauchen, die nicht gut sind. Dieser Protest ist aus mehreren Gründen laut und effektiv:
– Das Kind fühlt sich absolut im Recht, wenn es die Flagge der Privatsphäre schwenkt.
– Die Eltern fürchten, beschuldigt zu werden, dass sie die Privatsphäre ihrer Kinder verletzen.
– Das heutige soziale Milieu bestärkt das Recht auf Privatsphäre und gestattet Eltern nicht, diese Grenze im Hinblick auf ihre Kinder zu überschreiten.
Der Einfluss der Eltern schrumpft in dem Maße, in dem sich die vermeintliche Privatsphäre auf bedenkliche Art und Weise erweitert. Zu den Bereichen, die die Kinder als Privatsphäre und damit als »Tabu-Zone« für die Eltern betrachten, gehören ihr Zimmer, ihre Besitztümer, ihr Geld, ihre Freunde, ihre Freizeitaktivitäten und selbstverständlich auch ihr Handy.
Eltern respektieren diese unantastbare Privatsphäre oft auch dann noch, wenn das Kind offensichtlich gefährdet ist. Das verstärkt ihre Hilflosigkeit in ihrer Fürsorge für das Kind, und ihr Einfluss nimmt weiter ab. Im Namen von Diskretion und Privatsphäre bringen sich die Eltern in eine Position der Isolation und der Hilflosigkeit. Wenn der Anspruch der Kinder auf die uneingeschränkte Diskretion der Eltern trifft, verschwindet der elterliche Einfluss vollends. Es resultiert eine tödliche Gleichung, die zur Lähmung der Elternrolle führt:
Manchmal versuchen Eltern, die Falle aus Privatsphäre und Diskretion zu umgehen, indem sie ihre Kinder ausspionieren. Spionierende Eltern machen sich jedoch etwas vor: Während sie vermeintlich ihre Kinder unter Kontrolle haben, vertieft sich ihre Hilflosigkeit. Denn sie belasten ihr Verhältnis zum Kind, indem sie es anlügen. Dadurch dass die Eltern sich nicht auf das Wissen berufen können, das sie hinter dem Rücken ihrer Kinder heimlich erworben haben, wird ihre Hilflosigkeit noch größer. Manchmal lassen sich Eltern zu komplizierten und riskanten Manövern hinreißen, wenn sie versuchen, Konsequenzen aus einer Entdeckung zu ziehen, die sie heimlich gemacht haben.
Ein Vater, der herausfand, dass seine Tochter mit ihrem Freund zu Hause gekifft hatte, verstieg sich zu einer ziemlich extremen Lösung: Damit nicht herauskäme, dass er das Zimmer des Mädchens durchsucht hatte, schmiedete er ein Komplott mit einem Freund, der bei der Kriminalpolizei arbeitete. Der wandte sich an die Tochter und teilte ihr angeblich im Vertrauen mit, dass die Drogenpolizei hinter ihr und ihrem Freund her sei. Sie versprach dem Polizisten, sofort mit dem Drogenkonsum aufzuhören, nahm ihm jedoch das Versprechen ab, ihrem Vater nichts zu verraten. Auf diese Weise war das Problem scheinbar gelöst. Aber um welchen Preis? Die Spionage und die Lügen des Vaters haben die Beziehung letztlich nur vergiftet.
Eltern, die herausfinden möchten, inwieweit sie sich von ihren Kindern entfremdet haben und marginalisiert worden sind, und inwiefern sie bereits in der Blase der Hilflosigkeit gefangen sind, können sich folgende Fragen stellen:
– Fällt es mir schwer, mein Kind zu erreichen, weil es sich hinter dem Computer oder dem Handy verkriecht?
– Kenne ich die Freunde meiner Kinder und weiß ich, wie sie ihre gemeinsame Zeit verbringen?
– Weiß ich, wie es ihnen in der Schule geht?
– Bekomme ich Antworten auf meine Fragen?
– Versuche ich, den Grund für mein Interesse zu verheimlichen und ihnen Informationen zu entlocken, ohne dass sie merken, warum ich ihnen diese Fragen stelle?
– Habe ich das Gefühl, in ihrem Leben eine Randfigur zu sein?
Diese Muster und Fragen können Eltern dabei helfen, herauszufinden, inwieweit ihre Präsenz bereits Schaden genommen hat. Das Untergraben elterlicher Aufmerksamkeit ist ein destruktiver Prozess; denn die aufmerksame elterliche Fürsorge ist der wichtigste Faktor, wenn es darum geht, Kinder vor Gefahren zu schützen. Die Kombination aus mangelnder Aufmerksamkeit, das Überhandnehmen der Versuchungen, mit denen unsere Kinder konfrontiert sind, und die Anonymität in unserer modernen Welt sind ein gefährliches Umfeld, in dem Kinder einer größeren Gefahr ausgesetzt sind, während die Eltern gleichzeitig aus dem Leben ihrer Kinder ausgeschlossen werden.
Die Antwort auf dieses Abdriften, die Marginalisierung und den Verlust des elterlichen Einflusses besteht darin, dass Eltern einen festen Stand einnehmen und für ihre Kinder ein zuverlässiger Anker sind. Ein Anker stabilisiert ein Schiff, indem er fest im Boden steckt. Genauso müssen Eltern fest in ihrem »elterlichen Boden« verankert sein, um ihren Kindern Halt geben zu können. Die Verankerung des Kindes beginnt mit der elterlichen »Selbst-Verankerung«. Wenn Eltern in ihrer Rolle keinen festen Stand haben, dann werden sie nicht in der Lage sein, die Kinder vor dem Abdriften zu bewahren. Stattdessen werden sie selbst von den Strömungen hinweggespült, die an ihren Kindern reißen. Der elterliche Anker beruht auf vier Säulen: Präsenz, Selbstbeherrschung, Unterstützung und Struktur.
Verankerte Eltern haben eine spürbare Präsenz. Kinder erleben ihre Eltern als präsent, wenn sie die Nachricht vermitteln: »Wir sind deine Eltern! Du kannst uns weder kündigen noch dich von uns scheiden lassen. Hier bin ich und hier bleibe ich.« Wenn Eltern sich so verhalten, dass sie diese Präsenz vermitteln, dann spüren die Kinder, dass sie Eltern haben und nicht nur Versorger und Dienstleister. Auch die Eltern empfinden sich selbst dann als präsent: Sie haben etwas zu sagen und ihr Einfluss macht sich bemerkbar. Diese bewusste Präsenz ist die Basis für Stabilität in der Familie. Elterliche Präsenz macht sich nicht durch Wutausbrüche oder autoritäre Salven bemerkbar. Präsenz ist das Gegenteil von impulsiven Ausbrüchen. Die Botschaft »Hier bin ich und hier bleibe ich« schafft eine Atmosphäre, in der der elterliche Anker hält – selbst wenn sich die Kinder dessen gar nicht bewusst sind, und auch wenn sie etwas mit ihren Freunden unternehmen oder in sozialen Netzwerken unterwegs sind.
Aidy (13) war ein frühreifes und unabhängiges Mädchen. Ihr Vater Maury, bei dem sie lebte, hatte wieder geheiratet. Aidys Beziehung zu ihrem Vater und seiner neuen Frau schwankte zwischen Phasen der Nähe und Phasen der Kälte und Feindseligkeit. In schlechteren Zeiten kam sie stundenlang nicht nach Hause und übernachtete sogar mehrmals bei einer Freundin. Maury hatte das Gefühl, dass Aidy nicht nur unabhängig sei, sondern auch verantwortungsbewusst. Er vermied es, klar abzustecken, wann und unter welchen Bedingungen sie bei ihrer Freundin übernachten dürfe, nicht zuletzt deshalb, weil sie nach ein paar Tagen außer Haus für gewöhnlich viel versöhnlicher gestimmt zurückkam.
Das änderte sich, als Maury herausfand, dass Aidy öfters die Schule geschwänzt hatte und seinen Fragen auswich. Als er stärker nachhakte, drohte sie damit, zu ihrer Mutter zu ziehen. Obwohl das nicht realistisch war, da man ihm das gerichtliche Sorgerecht für seine Tochter zugesprochen hatte, erschütterte es sein Vertrauen. In einem Gespräch mit der Schulberaterin sagte Maury, er wolle Aidy gegenüber nicht autoritärer auftreten, um die Harmonie zu wahren und eine Verschlechterung ihrer Beziehung zu vermeiden. Maury gestand, dass Aidys Drohung, zu ihrer Mutter zu ziehen, ihn stark erschüttert hatte. Die Schulberaterin sagte: »Ich glaube, Aidy hält Sie mit ihrer ständigen Kündigungsdrohung in Schach. Sie gibt Ihnen das Gefühl, ein Vater auf Probe zu sein, aber das verschlimmert lediglich ihr eigenes Empfinden, haltlos zu treiben wie ein Blatt im Wind. In Wahrheit kann Aidy Ihnen nicht kündigen!« Die Schulberaterin hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
Daraufhin vereinbarte Maury mit der Klassenlehrerin seiner Tochter, dass sie ihn jedes Mal sofort informieren sollte, wenn das Mädchen die Schule schwänzte. Außerdem nahm er Kontakt mit den Eltern von einigen Freundinnen seiner Tochter auf, und bat sie, sich bei ihm zu melden, wenn Aidy bei ihnen übernachten wollte.
Dann setzte er sich mit seiner Tochter zu einem Gespräch zusammen und sagte: »Ich hatte während der vergangenen Monate das Gefühl, dass du die Orientierung verlierst. Anfangs habe ich nicht reagiert, weil ich dachte, wenn ich nichts unternehme, kommst du von selbst wieder zur Vernunft. Nun verstehe ich, dass das weder für dich gut war noch für mich. Da du die Schule geschwänzt hast und verschwunden bist, habe ich beschlossen, dich jetzt stärker im Blick zu behalten. Ich bin mit den Eltern deiner Freundin in Kontakt und auf täglicher Basis auch mit deiner Schule. Wenn du schwänzt, werde ich nach dir suchen. Wenn du bei einer Freundin übernachtest, werde ich mit ihren Eltern sprechen und notfalls dort hinkommen. Ich bin und bleibe dein Vater, egal was geschieht. Du bist mir zu wichtig, um dich aufzugeben!«
Maury hatte das Gefühl, jeder seiner neu geknüpften Kontakte und jeder Besuch in der Schule vermittelte die Stärke seiner Präsenz: »Ich bin da! Ich bin da! Ich bin da!« Er verhielt sich weder aggressiv, noch drohte er oder schlug einen autoritären Ton an. Ganz im Gegenteil … er sprach liebevoll und aufrichtig. Aidy antwortete ihm nicht, aber schon innerhalb von einer Woche hatte sich ihr Verhalten stabilisiert. Die Standhaftigkeit ihres Vaters ermöglichte es ihr, sich nicht länger zu fühlen wie ein trockenes Blatt im Wind, das von jeder neuen Laune oder jedem neuen Einfluss hochgewirbelt wird.
Selbstbeherrschung befähigt Eltern, den Herausforderungen des Alltags und auch ungewöhnlichen Situationen gewachsen zu sein. Viele Studien haben bewiesen, dass Eltern Fähigkeiten entwickeln können, mit Hilfe derer sie ihre impulsiven Reaktionen überwinden und entschlossener auftreten können, als sie es für möglich gehalten hätten. Die »Muskeln« der Selbstbeherrschung können genauso trainiert werden wie alle anderen Muskelgruppen. Bei unseren Eltern-Trainingsprogrammen gibt es drei Mottos, die das Prinzip der Selbstbeherrschung demonstrieren:
1. Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist!
2. Du musst nicht gewinnen, nur beharrlich sein!
3. Fehler sind unvermeidbar, aber sie sind auch korrigierbar.
Eltern, die diese Prinzipien verstanden haben und sie anwenden, entdecken, dass Situationen, die früher zu Konflikten führten, tatsächlich kontrollierbar sind.
Rita verbrachte viel Zeit mit ihrem Sohn Tom (8) allein, nicht zuletzt, weil sein Vater, der im Hightech-Bereich tätig war, lange Arbeitszeiten hatte und oft beruflich verreiste. Mit ihren drei älteren Kindern hatte sie die Situation gut im Griff gehabt, Tom jedoch führte sie hart an ihre Grenzen. Er war anhänglich und fordernd. Wenn er verlangte, dass sie ihm etwas kaufe, wiederholte er seine Forderung mit zunehmend schriller Stimme, und wenn sie nicht einwilligte, bekam er einen Wutanfall.
Rita war erschöpft. Manchmal gab sie nur nach, um ein wenig Ruhe und Frieden zu bekommen. Sie sagte, seine Stimme ginge ihr bis ins Mark und durchdringe sie wie ein Bohrer. Sie begann, an Migräne zu leiden, was sie umso lärmempfindlicher machte. Jedes Schreien und jede Forderung von Tom wurden für sie zur ernsten Herausforderung. Sie verkrampfte sich schon, sobald sie den gewissen Ton in seiner Stimme vernahm, der signalisierte, dass eine neue Forderung ins Haus stand.
Schließlich erzählte sie einer Freundin, die zwei an ADHS leidende Kinder hatte, von ihrem Problem. Diese Frau, die im Rahmen unseres Programms ein Eltern-Training absolviert hatte, erklärte Rita eine einfache und überraschende Methode, wie sie ungeachtet von Toms Gezeter ihren mentalen Freiraum erweitern und ihr Kontrollgefühl verbessern könne. Der Grundgedanke war das Prinzip des verzögerten Handelns – »Schmiede das Eisen, wenn es kalt ist« – mit einem einfachen Mittel der Selbstverteidigung zu kombinieren, genauer gesagt: ihre Ohren zu schützen.
Nach diesem Gespräch teilte Rita Tom mit, dass sie von nun an jedes Mal, wenn er verlange, ihm etwas zu kaufen, erst am nächsten Tag antworten wolle. Sie zeigte ihm, dass sie seinen Wunsch mit Datum und Uhrzeit in ein eigens dafür bestimmtes Notizbuch eintrug.
Natürlich änderte Tom sein Verhalten auch nach dieser Ankündigung Ritas nicht und verfiel sofort wieder in seine Gewohnheit des ewigen Nörgelns und der vokalen Zermürbung. Nun führte seine Mutter die zweite Maßnahme ein. Sie benutzte Ohrstöpsel und sagte ihrem Sohn: »Ich stecke mir jetzt Ohrstöpsel ein, damit ich nicht wütend werde, wenn du schreist! Ich kann dich nach wie vor hören, aber viel leiser, damit ich nicht durchdrehe!« Um Tom zu demonstrieren, dass dadurch zwar die Lautstärke seiner Stimme gedämpft wurde, sie ihn aber immer noch hören konnte, steckte sie die Stöpsel in seine Ohren und sagte etwas. So konnte Tom sich selbst überzeugen. Zudem übte Rita sich darin, ein ruhiges, fast gleichgültiges Gesicht aufzusetzen, als habe man sie hypnotisiert.
Zwar wurde Tom nach dieser innovativen Maßnahme gewiss kein ruhiges Kind, Rita fühlte aber, dass sie ihr Verhalten zunehmend positiv verändern konnte. Sie gab viel seltener nach und hatte auch ihre Wutausbrüche weitgehend im Griff. Toms nervtötende Forderungen reduzierten sich auf ein wesentlich vernünftigeres Maß. Rita hingegen spürte, dass sie nicht nur ihre Position als Mutter gerettet hatte, sondern auch ihr Gehör.
Schon ein relativ kleiner Anker kann ein großes Schiff stabilisieren, weil er drei Spitzen hat. Genauso ist es für Eltern leichter, ein Anker für ihre Kinder zu sein, wenn sie Verwandte und gute Freunde haben, die sie unterstützen.
Vielen Eltern fällt es nicht leicht, von Verwandten, Freunden oder der Schule Hilfe anzunehmen. Das Bedürfnis nach Privatsphäre und die Überzeugung, dass sich jeder um seine eigenen Angelegenheiten kümmern sollte, macht es ihnen schwer, darum zu bitten. Wenn es ihnen gelingt, diese Hürde zu überwinden, entdecken sie jedoch, dass es ihnen leichter fällt, die Last zu tragen. Und die Hilfe ihrer Unterstützer verleiht ihnen Legitimität, Einfluss und Stabilität.