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Die Erschütterung der erzieherischen Autorität gilt als eine der entscheidenden Ursachen für den dramatischen Anstieg von Gewalt und Kriminalität unter Kindern und Jugendlichen. Doch kann elterliche und pädagogische Autorität heutzutage nicht mehr auf Furcht, blinden Gehorsam und Machtausübung gründen. Es müssen die in unserer Gesellschaft vorherrschende Werte von freiem Willen, Individualität und kulturellem Pluralismus berücksichtigt werden. Die Psychologen Haim Omer und Arist von Schlippe führen den Begriff der »neuen Autorität« ein, der das Ergebnis eines langjährigen Denk- und Erfahrungsprozesses darstellt. Zu den zentralen Konzepten dieser neuen Autorität gehören Präsenz und gewaltloser Widerstand. Die Anwendung hat sich auch im Schulbereich bewährt, wo Eltern und Lehrer ein Bündnis gegenseitiger Hilfe und Unterstützung bilden, und bindet im darüber hinaus auch Gemeindemitglieder erfolgreich ein.
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Seitenzahl: 535
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Haim Omer und Arist von Schlippe
Stärke statt Macht
Neue Autorität in Familie, Schule und Gemeinde
Unter Mitarbeit von
Zvia Algali, Idan Amiel, Hila Berger,
Keren Fatal-Asher, Ziv Gilad, Efrat Gilis Grobstein,
Rita Irbauch, Rakefet Katz-Tisona, Yigal Kenigsweld,
Martin Lemme, Nizan Lifshitz, Liron On, Georg Roessler,
Irit Schorr-Sapir, Iris Shachar, Yoni Tshouna
Vandenhoeck & Ruprecht
Aus dem Hebräischen von Miriam Fritz Ami-Ad.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-525-40203-0eISBN 978-3-647-40203-1
© 2010, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen / www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne vorherige schriftliche Einwilligung des Verlages öffentlich zugänglich gemacht werden. Dies gilt auch bei einer entsprechenden Nutzung für Lehr- und Unterrichtszwecke.Printed in Germany.Satz: Daniela Weiland, GöttingenDruck und Bindung: Hubert & Co, Göttingen
Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.
Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe (Christian Hawellek)
Vorwort zur hebräischen Erstausgabe (Idan Amiel)
Zu diesem Buch (Arist von Schlippe)
Kapitel IEin neues Verständnis von Autorität
Autorität erleben – damals und heute
Der Versuch, die Autorität früherer Zeiten wiederherzustellen
Das Erleben einer neuen Autorität
Kapitel IIWachsame Sorge in der Familie
Komponenten der elterlichen wachsamen Sorge
Wachsame Sorge und das Recht auf Privatsphäre
Eine Vertrauensfrage
Grade der wachsamen Sorge
Die Telefonrunde
Die Präsenz vor Ort
Wachsame Sorge im Haus
Kapitel IIIGewalt von Kindern zu Hause
Enthüllung und Schamgefühle
Das Unterstützernetz und die Befreiung des Opfers aus dem Gefühl der Verlassenheit
Das Unterstützernetz und der Wandel der elterlichen Position
Die Verstärkung der wachsamen Sorge
Das Sit-in
Transparenz, Dokumentation und die öffentliche Meinung
Wiedergutmachungstaten
Emotionale Gewalt
Kapitel IVRekrutierung von Helfern in der Schule
Das Rekrutieren von Helfern und der Aufbau von Bündnissen
Das Bündnis unter Lehrern
Das Bündnis zwischen Lehrern und Eltern
Der Schulleiter und die neue Autorität
Das Bündnis mit den Kindern
Kapitel VPräsenz und Aufsicht in der Schule
Körperliche Präsenz
Emotional-moralische Präsenz
Handelnde Präsenz
Interpersonale Präsenz
Präsenz als Netzwerk
Präsenz im Klassenzimmer
Suspension und Präsenz
Die Präsenz der Eltern an der Schule
Präsenzmentor
Das Alarmsystem
Kapitel VIÖffentlichkeit und Wiedergutmachung
Die Rolle der Gemeinschaft
Führung und Öffentlichkeit in einer bedrohlichen Lage
Art und Aufgabe der Öffentlichkeit im Kampf gegen Gewalt
Wiedergutmachung
Wiedergutmachungshandlungen in Kindergärten
Dorotheas Kindergarten
Kapitel VIIDie Beteiligung der Schüler am Kampf gegen Gewalt
Das Rekrutieren der Schüler zum gewaltfreien Kampf gegen Gewalt
Prinzipien des gewaltfreien Kampfes gegen Gewalt
Der Bann
Die Aneignung von Fähigkeiten zur Eskalationsvermeidung
Breite Front von Kindern und Erwachsenen für den Kampf
Führungseigenschaften im Kampf gegen Gewalt unter Kindern fördern
Die zentrale Stellung des Schülers bei der Umsetzung der neuen Autorität
Kapitel VIIIDie neue Autorität im Gemeinwesen
Elternpatrouille
Die Gemeindepolizei
Der Gemeindepolizist in der Schule
Autorität und Gemeindeleben
Der Kreis der neuen Autorität schließt sich
Literatur
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Das vorliegende Buch »Stärke statt Macht« von Haim Omer und Arist von Schlippe führt den von ihnen begonnenen Diskurs um eine zeitgemäße Neubelebung des Autoritätsbegriffs weiter. Wie Puzzleteile formen die zentralen Konzepte aus früheren Veröffentlichungen der Autoren, nämlich Gewaltlosigkeit, elterliche Präsenz und antidämonische Dialogprinzipien allmählich die Konturen des Begriffs von einer neuen Autorität.
Besonders den deutschen Lesern erscheint der Begriff der Autorität als ein positiver Leitbegriff der pädagogischen Beziehungsarbeit zunächst irreparabel beschädigt: Die schwarzpädagogische Ideologie und Praxis der letzten Jahrhunderte (Rutschky, 1977) in Kombination mit dem institutionalisierten Machtmissbrauch im deutschen Faschismus ließen den Begriff der Autorität in den Fachdiskursen zu einem Unwort werden. So kommt er in pädagogischen Fachlexika der 1960er und 1970er Jahre als eigenes Stichwort vielfach erst gar nicht vor, es sei denn in der ideologiekritischen Revision des Begriffs durch die antiautoritäre Bewegung.
Vielleicht ist es von daher kein Zufall, dass der Impuls, den Autoritätsbegriff neu zu beleben und ihm einen neuen Sinn zu verleihen, aus Israel kommt. Zwar gab es auch hierzulande in den Debatten um den Wert des Autoritätsbegriffs immer auch Stimmen, die hervorhoben, dass »der pädagogische Begriff der Autorität nichts mit […] ›autoritärer‹ Führung zu tun« hat (Groothoff, 1964, S. 79); diese sind jedoch eher blass geblieben und zeigten keine nachhaltigen Wirkungen.
Wie schon in den Vorgängerpublikationen (Omer und von Schlippe, 2002, 2004) stellen die Autoren das Konzept der neuen Autorität in ein Gefüge neuer Prämissen. Ausgangspunkt ist die grundlegende systemtheoretische Erkenntnis, dass die Idee der Macht und damit die Idee der Macht durch Autorität und der Autorität durch Macht »erkenntnistheoretischer Schwachsinn [ist] und […] unausweichlich zu verschiedenen Arten von Katastrophen« führt (Bateson, 1985, S. 625).
An die Stelle einer Autorität durch Macht tritt eine neue Autorität durch Beziehungsarbeit, die Erwachsene wie Kinder in ihren Stärken anspricht und verbindet. Im Wesentlichen besteht diese Beziehungsarbeit in einer gelebten und vorgelebten Vermittlung von Werten wie Achtung, Be-achtung, Achtsamkeit, Würde, Pflicht und Ehre. Damit wird eine Dimension positiver Orientierung und werteorientierter Gesinnung respektvoll in die pädagogische Alltagsarbeit eingeführt, die vielfach illustriert, dass aller menschlicher Umgang, der diese Bezeichnung verdient, seine Grundlage in einer mutig gelebten Beziehungsethik findet.
Die vielen Beispiele des Buches zeigen, wie Eltern eine Stärke entwickeln können, die sie zu ihrer Selbstachtung als Eltern und Menschen (zurück)finden lässt. Die in den beschriebenen Vorgehensweisen erkennbare Haltung ist ein wirksames Gegenmittel zu der vielerorts beklagten »parentalen Hilflosigkeit« (Pleyer, 2003).
Durch die zunehmende Stärke der Erwachsenen und ihre respektvolle Haltung wird für die Kinder modellhaft erfahrbar, was ein präsenter, humaner Umgang miteinander im Alltag bedeutet. Damit herrschen gute Voraussetzungen, dass die positiven Stimmen in den Kindern ebenfalls stärker werden.
Sich auf den Weg zu einer neuen Autorität zu machen – das zeigen vielfältige Beispiele in diesem Buch auch sehr anschaulich –, erfordert den Mut, zu den eigenen Grenzen zu stehen, die partiellen Allmachts- und Ohnmachtsphantasien hinter sich zu lassen und vor allem, sich aus der Isolation der Privatheit hinauszuwagen, um sich für Unterstützernetzwerke zu öffnen. Die Beiträge des Buches veranschaulichen solche Entwicklungsprozesse anhand vielfältiger Beispiele von Familien, Schulen und sogar ganzer Gemeinwesen. Die Unterstützernetzwerke folgen dem Prinzip »Solidarität« (Richter, 1994) und verleihen den Handlungen der Einzelnen die Kraft einer Solidargemeinschaft.
Spätestens an dieser Stelle ist zu spüren, dass der Impetus zu diesem Buch aus einer Kultur kommt, in denen den Gemeinschaften eine prägende Bedeutung zukommt; man denke nur an die israelische Tradition der Kibbuzim. In der Gestaltung der Text-beispiele wird darüber hinaus eine offenbar auch kulturell geprägte, durchweg kämpferische Haltung spürbar, die sich bis in die Sprache niederschlägt und die durchaus gemischte Gefühle auslösen kann, etwa wenn davon die Rede ist, Unterstützernetzwerke zu »rekrutieren« oder »Elternpatrouillen« zu bilden.
Der Gedanke, mit dem die Autoren dem Leser helfen, daran keinen Anstoß zu nehmen, ist der Umstand, dass es in der Tat immer ein Kampf ist, der geführt werden muss: nicht gegen Menschen, sondern gegen Vereinzelung und gewalttätiges Verhalten in allen seinen Facetten. Noch mehr ist es ein Kampf für ein achtsames und respektvolles Miteinander. Bei der Ausübung dieses Kampfes, der immer ein solidarisch getragener Kampf um die Menschenwürde ist, sind die Prinzipien Gandhis, insbesondere die Gewaltlosigkeit und die Beharrlichkeit, leitend.
Als Erziehungs- und Familienberater freue ich mich, ein Buch vorzustellen, das sich durch seine engagierte und parteiliche Haltung für die Fundamente eines humanen und liberalen Miteinanders einsetzt. Im wohltuenden Gegensatz zu so manchem aktuellen Erziehungsratgeber bleibt es nicht vordergründig bei den Verhaltensweisen und -ratschlägen stehen, sondern arbeitet an dahinter stehenden Haltungen, die allen am Erziehungsgeschehen Beteiligten gleichermaßen Respekt zollen und Stärke zusprechen.
Als Vater hätte ich mir gewünscht, diese Texte schon zu Zeiten gekannt zu haben, als die schwierigsten Auseinandersetzungen mit meinen Kindern stattfanden.
Ich wünsche diesem Buch Leser, Fachmenschen und Eltern, die die vielfältigen, reichen Anregungen auf sich und ihre Situationen übertragen können und daraus Ermutigung und Stärkung beziehen.
Christian Hawellek
Leiter des Norddeutschen Marte-Meo-Instituts, Vechta
Literatur
Bateson, G. (1985). Krankheiten der Erkenntnistheorie. In G. Bateson, Ökologie des Geistes (S. 614–626). Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Groothoff, H. (Hrsg.) (1964). Pädagogik. Fischer Lexikon Frankfurt a. M.
Omer, H., Schlippe, A. von (2002). Autorität ohne Gewalt. Coaching für Eltern von Kindern mit Verhaltensproblemen. »Elterliche Präsenz« als systemisches Konzept. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Omer, H., Schlippe, A. von (2004). Autorität durch Beziehung. Gewaltloser Widerstand in Beratung und Therapie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
Pleyer, K. H. (2003). Parentale Hilflosigkeit. Familiendynamik 28 (4) 467–491.
Richter, H. E. (1994). Lernziel Solidarität. Reinbek: Rowohlt.
Rutschky, K. (1977). Schwarze Pädagogik. Frankfurt a. M., Berlin: Ullstein.
Vorwort zur hebräischen Erstausgabe1
Das wesentliche Ziel dieses Buches ist die Beantwortung der Frage, welche moralisch vertretbare Autorität der heutigen pluralistischen und freiheitsliebenden Gesellschaft entspricht und wie sie umgesetzt werden kann.
Die Erschütterung der erzieherischen Autorität im Allgemeinen und der elterlichen im Besonderen während der letzten Jahrzehnte gilt als eine der entscheidenden Ursachen für den dramatischen Anstieg von Gewalt und Kriminalität unter Kindern und Jugendlichen. Heutzutage besteht in der Öffentlichkeit Konsens darüber, dass elterlicher und pädagogischer Autorität eine wichtige Bedeutung zukommen. Auf dieser Einsicht basiert der Ruf nach ihrer Wiederherstellung. Eltern und Lehrer sind jedoch mit Recht nicht an einer Autorität interessiert, die auf Furcht und Angst, auf blindem Gehorsam und der Anwendung von Macht, also auf alten autoritären Strukturen, basiert. Der Wunsch, Autorität zu installieren, und die Notwendigkeit, sie an die gesellschaftlichen Wertvorstellungen unserer Zeit anzupassen, erzeugen ein Dilemma für Eltern und Pädagogen: Wie können sie eine neue Autorität aufbauen und umsetzen und gleichzeitig die Werte von freiem Willen, Erziehung zu Eigenständigkeit und kulturellem Pluralismus berücksichtigen?
Das vorliegende Buch skizziert die theoretischen und praktischen Ansätze einer Lösung dieses Dilemmas. Zu diesem Zweck wird der Begriff der »neuen Autorität« eingeführt. Dieser Begriff ist das Ergebnis eines langjährigen und umfassenden Denk- und Schaffensprozesses. Am Anfang dieses Prozesses steht die Veröffentlichung des Buches »Parental Presence: Reclaiming a Leadership Role in Bringing up our Children« von Haim Omer, das 2002 in Deutschland unter dem Titel »Autorität ohne Gewalt« gemeinsam mit Arist von Schlippe als Koautor erschien. Dieses Buch löste eine rege Diskussion aus. Zur Zeit der Erstveröffentlichung galt der Begriff der Autorität im öffentlichen Bewusstsein wie auch unter Therapeuten beinahe als Schimpfwort, und seine Verwendung in Verbindung mit Elternschaft erzeugte einigen Ärger und stieß auf Unverständnis. Mehr als ein Mal wurde der Begriff als Ausdruck einer fordernden und unnachgiebigen Elternschaft interpretiert, die den Bedürfnissen des Kindes nicht genügend Aufmerksamkeit widme.
Trotz dieser Schwierigkeiten setzt sich langsam die Erkenntnis durch, dass elterliche Autorität auch ein legitimer und positiver Begriff sein kann. Tatsächlich stellt die elterliche Autorität eine notwendige Grundbedingung für ein intaktes Verhältnis zwischen Kind und Eltern dar. Dieses Verständnis regte etliche Eltern und Experten an, ihr Handeln an den Grundsätzen auszurichten, die im oben genannten Buch vorgestellt werden. Viele Eltern suchten Beratung auf, einige im Rahmen der Elternberatungsstelle, die im Schneider-Zentrum2 errichtet wurde, andere bei verschiedenen Therapeuten, die das Konzept der elterlichen Autorität für die Elternberatung und -therapie übernahmen. Der Begriff der elterlichen Präsenz, der den Mittelpunkt des Buches bildet, half den Eltern, ihre Autorität auf eine moralisch vertretbare und die Bedürfnisse des Kindes berücksichtigende Weise wiederherzustellen. Die Einsicht in die natürliche Verbindung zwischen Autorität und Elternschaft hielt Einzug in den pädagogischen, psychologischen und öffentlichen Dialog über Erziehungsmethoden. Heutzutage ist der Begriff der elterlichen Präsenz und Autorität ein wesentlicher Bestandteil dieses Dialogs.
Das zweite Buch, 2004 wieder mit Arist von Schlippe als Mitautor in Deutschland erschienen, bietet sozusagen eine Antwort auf eine offene Frage des ersten Buches: »Autorität ohne Gewalt« lässt ja noch die Frage offen, wie sie denn dann zu gewinnen sei. Daher trug dieses Buch den Titel »Autorität durch Beziehung«. Es behandelt Eskalationsdynamiken zwischen Kind und Eltern. Im Mittelpunkt stehen das Leid und die Schwierigkeiten der Eltern im Umgang mit der Situation, während praktische Wege zur Bewältigung und Vorbeugung solcher Probleme aufgezeigt werden. Das Buch verknüpft theoretische Überlegungen, die auf dem Konzept des gewaltfreien Widerstands beruhen, mit konkreten Lösungswegen für Eltern, wie sie sich widersetzen und das Kind vor Eskalationsdynamiken, Gewalt und Selbstgefährdung schützen können – Phänomene, die in den letzten Jahren zur gesellschaftlichen Belastung geworden sind.
Es ist wichtig zu betonen, dass den Ausgangspunkt dieser beiden Bücher die Anerkennung der Notlage der Eltern und das Verständnis für deren Schwierigkeiten darstellen. Dies steht der allgemeinen Neigung entgegen, die Eltern beinahe automatisch für das Fehlverhalten ihres Kindes verantwortlich zu machen. Das Verständnis für ihre Notlage und die Betonung der Unterstützung für die Eltern führten zu einem wesentlichen Wandel in der Präsenz und der Stellung der Eltern zu Hause. Ein ähnlicher Prozess vollzieht sich an den Schulen, die sich an uns wenden; auch hier steht die Notlage der Lehrer und Erziehungspersonen im Vordergrund. Es geht um den Aufbau eines Interventionsprogramms, das die Stärkung der Lehrerpräsenz und -autorität zum Ziel hat.
Die Auseinandersetzung des Lehrpersonals mit der Einmischung der Eltern in den Schulalltag ist eine der schwersten Herausforderungen für heutige Pädagogen. Man muss sich bewusst machen, dass sich Lehrer und Schulleiter heutzutage in ständiger Abwehr von Drohungen, Beschuldigungen und in extremen Fällen sogar Gewalttaten der Eltern befinden. Die verständlichen Ängste der Lehrerschaft vor den Reaktionen der Eltern führen nicht selten dazu, Vorfälle an der Schule zu verheimlichen und deren Berichterstattung zu vermeiden. Diese Verhaltensweisen sind fruchtbarer Boden für das Wachsen der Gewalt an Schulen. Die Zwickmühle, in der sich das Lehrpersonal heute befindet, besteht darin, dass gerade das sich Einmischen der Eltern einer der belastendsten Faktoren im Lehrberuf darstellt. Andererseits ist das Mitwirken der Eltern auch der ausschlaggebende Faktor, der den Lehrern bei der Wiederherstellung ihrer Autorität helfen kann. Ähnlich wie das Streben nach der Wiederherstellung der »alten Autorität« unrealistisch ist, so ist es auch unmöglich, die Eltern von der Schule zu verbannen. Diese Einsicht führt unumgänglich zu der Notwendigkeit, einen gemeinsamen Lösungsweg für Eltern und Lehrer zu finden.
Die Prinzipien der neuen Autorität ermöglichen eine grundlegende Veränderung im gegenseitigen Erleben von Eltern und Lehrern, weil das Bündnis zwischen Eltern und Lehrern einen wesentlichen Angelpunkt in ihrem Verhältnis darstellt. Die Zusammenarbeit von Eltern und Lehrern, die wir zu fördern suchen, ermöglicht auf der einen Seite den Lehrern, die elterliche Präsenz in der Schule als unterstützendes und stärkendes Element zu erleben. Sie hilft auf der anderen Seite den Eltern, sich von ihrer misstrauischen und feindseligen Haltung der Schule und den Lehrern gegenüber zu befreien. Dieses Bündnis zeichnet sich durch die gegenseitige Unterstützung und Hilfe der Lehrer untereinander und durch ein gemeinsames Vorgehen von Lehrern und Eltern aus.
Während unserer Arbeit erlebten wir zunehmend, dass bei Aktionen, die von Eltern und Lehrern unternommen wurden, zusätzliche Unterstützung aus dem weiteren Umfeld rekrutiert wurde. Das Einbeziehen des gesellschaftlichen Umfelds in die Auseinandersetzung mit radikalisierter Gewalt in unserer Gesellschaft stellt eine wünschenswerte Ausweitung unserer pädagogisch-therapeutischen Arbeit dar. Eltern, Pädagogen, Verwandte, Sozialarbeiter, Polizisten in der Gemeinde, Schüler und weitere Personen aus dem Freundes- und Bekanntenkreis arbeiteten bei verschiedenen Interventionen mit und leisteten dadurch einen wesentlichen Beitrag zur Ausweitung der Handlungsprinzipien unseres Konzepts. Das Mitwirken so vieler Beteiligter machte jedoch das Finden eines gemeinsamen Nenners, einer Botschaft erforderlich, mit der die Funktion aller Beteiligten erfasst und verbunden werden konnte. Diese Verbindung wurde durch den Begriff der neuen Autorität erzielt. Er bildet die Grundlage für die verschiedenen Projekte in den Familien, den Schulen und den Gemeinden, die in diesem Buch beschrieben werden.
Es ist wichtig zu betonen, dass das Konzept einer neuen Autorität kein geschlossenes System darstellt, das die Zusammenarbeit aller Beteiligten voraussetzt. Im Gegenteil: Eine der wesentlichen Stärken des Konzepts der neuen Autorität entspringt gerade der »Modularität«, die in ihrer Definition enthalten ist und daher nicht zwingend eine hundertprozentige Umsetzung erfordert. Der Vorteil des hier vorgeschlagenen Interventionsprogramms liegt darin, dass jeder Einzelne eine Veränderung in einem ihm gemäßen Tempo und auf eine ihm angemessene Art und Weise erzielen kann. In diesem Sinne können Eltern oder Lehrer anfangen, ihre Autorität »im Kleinen« wiederherzustellen. Gleichzeitig ist die Beschaffenheit des Konzepts systemischer Art: Sobald man anfängt, nach dem Konzept der neuen Autorität zu arbeiten, wird die Folge sein, dass Eltern nicht nur sich selbst stärken, sondern auch die Lehrer, und dass die Lehrer nicht nur sich selbst unterstützen, sondern auch die Eltern, und sie beide gemeinsam das Gemeinwesen stärken. Diese Tatsache vereinfacht die Umsetzung des vorgeschlagenen Interventionsprogramms wesentlich: Es besteht keine Notwendigkeit, von vornherein von ihrem Erfolg überzeugt zu sein, es genügt die Bereitschaft, anzufangen und Erfahrungen zu sammeln.
Die Praxis des gewaltlosen Widerstands ist nicht das Werk eines Einzelnen, das würde auch nicht zum Konzept passen. Er wurde durch eine Gruppe von Fachleuten, die mit Haim Omer und unter seiner Supervision arbeiten, unterstützt. Daher erscheint bei den meisten Kapiteln eine Auflistung von Koautoren, die für die im Kapitel beschriebenen Projekte verantwortlich waren.
Meiner Einschätzung nach besteht ein wesentlicher Beitrag des hier vorgestellten Konzepts der neuen Autorität in dem Versuch, die in unserer Kultur hochstehenden Werte der Individualität und der Unantastbarkeit der Privatsphäre kritisch zu betrachten und zu überdenken. Das absolute und unanfechtbare Recht auf Privatsphäre hat in der westlichen Kultur allmählich zu einer allgemeinen Entfremdung geführt, eine Situation, in der Kinder und Jugendliche ohne die Präsenz und Aufsicht der Erwachsenen einsam und verletzlich zurückbleiben. Die Prinzipien der neuen Autorität betonen die Bedeutung der Gemeinschaft und schaffen eine legitime Basis, um zum Schutz ihrer Mitglieder verschiedene Hilfsmittel einzubeziehen. Das verringert nicht nur die radikalisierte Gewalt, sondern stärkt gleichzeitig das Zugehörigkeitsgefühl von Kindern und Erwachsenen. Auf diese Weise wird es möglich, das Streben nach Individualität und nach Zugehörigkeit zu vereinbaren. Gleichzeitig wird die Autonomie des Einzelnen durch die Präsenz und das Engagement der Erwachsenen geschützt.
Ich hoffe, dass dieses Buch eine Diskussion anregen wird, das Konzept von Elternschaft auf die Gesellschaft im Ganzen auszuweiten. Ähnlich wie die Begriffe der Präsenz und der elterlichen Autorität eine Neuerung dargestellt haben und einen Wandel im Verständnis der Beziehung zwischen Eltern und Kind erzeugt haben, so könnte auch die Definition der neuen Autorität in diesem Buch das Verständnis und das Handlungsfeld im Beziehungsraum zwischen Eltern, Lehrern und Gemeindemitgliedern verändern.
Die Konzepte, die in diesem Buch vorgestellt werden, bilden nicht nur den Abschluss eines langjährigen Denk- und Schaffensprozesses, sondern laden auch zur Erschließung neuer Möglichkeiten ein. Wir würden uns über den Austausch mit Ihnen freuen. Ihre Meinungen und Ideen interessieren uns, bitte senden Sie uns eine Mail unter [email protected].
Idan Amiel
Leiter der Elternberatungsstelle am Schneider Children’s Medical Center of Israel, Tel Aviv
1 Bearbeitet und gekürzt von Arist von Schlippe.
2 Die Elternberatungsstelle der Kinderklinik »Schneider Children’s Medical Center of Israel«, deren Leiter ich seit einigen Jahren bin, arbeitet unter der Supervision von Prof. Haim Omer, um Eltern bei der Wiederherstellung ihrer Autorität zu helfen. Die Beratungsstelle wurde mit Unterstützung von Abteilungsleiter Prof. Alan Apter und Dr. Orit Krispin, leitender Psychologin des Schneider-Zentrums, errichtet. Ihnen gelten meine Anerkennung und mein Dank.
Zu diesem Buch
Dies ist nun das vierte Buch von Haim Omer, bei dem ich die Ehre habe, als Koautor der deutschen Fassung mitzuwirken (neben Omer und von Schlippe, 2002; 2004; Omer et al., 2007a). Mit einem gewissen Zögern bin ich dem Vorschlag meines Freundes und Kollegen Haim Omer gefolgt, auch dieses Mal in der bewährten Form zu kooperieren. Neben Zeitmangel und der Tatsache, dass wir beide mittlerweile in sehr unterschiedlichen Bereichen tätig sind, waren es auch inhaltliche Bedenken. Denn das Konzept eines ganz neuen Verständnisses von Autorität zu entwickeln, ist alles andere als ein bescheidenes Unterfangen. Es bedeutet, einen Wandel unseres kulturellen Selbstverständnisses anhand eines zentralen Begriffs zu kommentieren – und diesen Wandel damit zugleich weiter voranzutreiben. Es ist ein Begriff, der einen unglaublich großen Bereich der Beziehungen von Menschen im westlichen Kulturkreis beschreibt – beginnend mit den Beziehungen von Eltern und Kindern über die zwischen Schülern und Lehrern, Vorgesetzten und Mitarbeitern, Regierung und Volk. Wie verstehen wir Autorität? Welche Prämissen steuern unsere Ideen vom Verhältnis von »oben« und »unten«? Wie steht unsere Kultur zu Macht? Welche moralisch vertretbaren Bilder von Autorität entsprechen einer modernen, pluralistischen und freiheitsliebenden Gesellschaft, und wie können sie umgesetzt werden?
Die Bilder von Autorität und die ihnen unterliegenden Prämissen haben sich im Verlauf des vergangenen Jahrhunderts massiv verändert. Diese Veränderungen wurden in Deutschland nicht zuletzt vor dem Hintergrund des völlig entgleisten Autoritätsbegriffs des »Dritten Reiches« besonders intensiv diskutiert. Gerade in der Pädagogik, aber auch in Philosophie, Psychologie, Politik und anderen gesellschaftlichen Bereichen wurde in der Aufbruchs stimmung der 1970er und 1980er Jahre sehr engagiert diskutiert und nach neuen Konzepten von Autorität gesucht. Diese Debatte in unserem Kulturkreis auch nur angemessen aufzuarbeiten, würde ein ganz eigenes Buch erfordern. So habe ich, vor allem im I. Kapitel, versucht, zumindest einige der Argumentationslinien andeutungsweise einzuarbeiten. Denn ohne sie gäbe es auch die in diesem Buch vorgestellte »neue Autorität« nicht in dieser Form.
In den späteren Kapiteln habe ich deutlich weniger geändert und ergänzt als in den vorhergehenden mit Haim Omer gemeinsam verfassten Büchern. Ich habe eher beeindruckt die Konzepte verfolgt, die in Israel entwickelt wurden, einem Land, das uns in vieler Hinsicht kulturell sehr ähnlich ist (Hofstede, 2003). Wie gut sie auf die gesellschaftliche Realität in Deutschland zu übertragen sind, wird sich zeigen. Ich bin bei manchen der sehr innovativen und mutigen Konzepten durchaus zögerlich (wie etwa der Elternpatrouille, die in Kapitel VIII vorgestellt wird), sehe aber den Wert ihrer Veröffentlichung im Anstoß von Diskussionen zu der Frage, wie sie hierzulande anzupassen seien. Ich habe Vertrauen und große Achtung gegenüber dem Konzept des gewaltlosen Widerstands, das sich engagiert die Aufgabe vornimmt, in die schwierigsten Bereiche der Beziehungen zwischen jung und alt vorzudringen, in Bereiche nämlich, in denen Jugendliche sich manchmal in lebensgefährliche Situationen hineinbegeben oder hineingezogen werden. Es sind Bereiche, in denen nicht nur Eltern und Lehrer an die Grenzen der eigenen Möglichkeiten geraten und in denen Hilflosigkeit entsteht. Die oft ungewöhnlichen und provozierenden Interventionen, die hier vorgestellt sind, gehören zu den wenigen fachlich gestützten Möglichkeiten, diese Hilflosigkeit zu überwinden. Dieses Buch hat mir – so wie die vorhergehenden – geholfen, die Prämissen meines eigenen Verständnisses von Autorität erfolgreich zu hinterfragen und mir zugleich gewaltloses Handwerkszeug an die Hand gegeben für eine neue Praxis – eine Praxis der neuen Autorität.
Zu danken ist an dieser Stelle auch und besonders Frau Miriam Fritz, Tel Aviv, die den hebräischen Originaltext ausgezeichnet ins Deutsche übertragen hat.
Nach einer Phase der intensiven Beschäftigung mit diesem Text wünsche ich nun diesem Buch eine große und engagierte Leserschaft. Es ist zu hoffen, dass es die angesprochenen Personen, Eltern, Lehrerinnen und Lehrer, Personen in der öffentlichen Verwaltung, Polizisten und natürlich Vertreter aller beratenden Berufe erreicht, in gutem Sinn verstört, anregt und belebt.
Arist von Schlippe
Kapitel IEin neues Verständnis von Autorität
Autorität ist in unserer Kultur im Umbruch. Nostalgische Aussagen illustrieren dies, etwa: »Früher, da hatte der Lehrer noch Autorität, da war ein Vater noch ein Vater!«; »Wir haben unsere Eltern noch respektiert!«; »Lehrer waren in meiner Kindheit unantastbar!« Aussagen dieser Art gehen davon aus, dass die Lösung für die heutigen Erziehungsprobleme darin liege, gewisse gesellschaftliche Entwicklungen rückgängig zu machen. Es stimmt, dass die traditionelle Autorität schwer erschüttert wurde – und auch wenn eine Reihe professioneller Stimmen explizit fordern, dass man zu ihr zurückkehren müsse, wird dieser Prozess nicht umkehrbar sein. Es war eine Form von Autorität, die sich in der Vergangenheit auf das vorbehaltslose Einverständnis der meisten gesellschaftlichen Instanzen stützen konnte. Über Jahrhunderte galt beispielsweise Elternschaft in der Ordnung der Generationenfolge aus sich selbst heraus begründet, eine unhinterfragbare Institution.
So heißt es in dem Lebensbericht einer 1862 geborenen Frau namens Rose: »Bei Tisch durfte ohne Erlaubnis nicht gesprochen werden, aber man konnte sich melden. Dann rührte Vater eine riesige Tischglocke und rief: ›Rose hat das Wort‹. Aber quasseln war verboten. Kurz fassen, die Parole. Nach Tisch setzte sich Vater in seinen Urväterstuhl und wir Geschwister traten an. Kopf hoch, Blick geradeaus, Hände an die Hosennaht. ›Also, du kamst rein!‹, das war Vaters stehende Redensart. Und man musste kurz und knapp über die Erlebnisse in der Schule berichten« (Eisenberg, 1986, zit. nach Omer und von Schlippe, 2004, S 19).
Eltern und Lehrern war Gehorsam zu zollen, einzig und allein, weil sie Eltern und Lehrer waren. Man war der Auffassung, dass Ungehorsam verurteilt und schon im Keim erstickt werden müsse. Diese Einstellung wurde von der öffentlichen Meinung, Medien und Institutionen vertreten und entsprechend in den verschiedenen Praxisfeldern umgesetzt. Bilder einer festgefügten Ordnung von »oben« und »unten« legten die Rollen der Autoritätspersonen und derer, die ihnen unterstanden, recht weitgehend fest. Dass dies nicht, zumindest nicht nur, negativ empfunden wurde, sondern auch Orientierung und Sicherheit vermittelte, zeigen etwa die Bücher von Pörtner, die sich mit Lebensgeschichten von Menschen der letzten Jahrhunderte beschäftigen (1988, 1998).
Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!
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