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Seit Jahrhunderten lockt die trostlose Landschaft des Mars die Menschheit. Nun plant die Firma Horizon Enterprise, dessen ultimatives Ziel es ist, den roten Planeten in einen erdähnlicheren Planeten zu verwandeln, mit einem bahnbrechenden Verfahren. Doch ein Bombenattentat zerstört das Hauptgebäude - und das Leben der Pilotin Viper, die hinter der Tat eine Verschwörung von ganz weit oben vermutet. Zusammen mit einem Journalisten und einem ehemaligen Speznas-Agenten macht sie sich auf, Antworten zu finden…
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Averstar
Stephan Lasser
Copyright © 2024 Stephan Lasser
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN:
Averstar
Seit Jahrhunderten lockt die trostlose Landschaft des Mars die Menschheit. Nun plant die Firma Horizon Enterprise, dessen ultimatives Ziel es ist, den roten Planeten in einen erdähnlicheren Planeten zu verwandeln, mit einem bahnbrechenden Verfahren. Doch ein Bombenattentat zerstört das Hauptgebäude - und das Leben der Pilotin Viper, die hinter der Tat eine Verschwörung von ganz weit oben vermutet. Zusammen mit einem Journalisten und einem ehemaligen Speznas-Agenten macht sie sich auf, Antworten zu finden…
Dieses Buch ist ein fiktives Werk. Ideen, Dialoge und Geschichten, die in der frühen Entwicklung entstanden sind, ähneln manchmal unserer Realität. Jegliche Zusammenhänge mit Ereignissen und Personen in der echten Welt sind rein zufällig.
Danksagung
Danke an die alten Captain Future-Folgen und ihre wunderbar einfache Weltraum-Logik. Und an den Film DER ZEITDIEB, der mich als Kind verstörte.
Inhalt
Prolog
Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Kapitel Zwölf
Kapitel Dreizehn
Kapitel Vierzehn
Kapitel Fünfzehn
Kapitel Sechszehn
Kapitel Siebzehn
Kapitel Achtzehn
Kapitel Neunzehn
Epilog
Die KI sah mit einem Erstaunen zu ihrem Schöpfer auf, das nur Kindern vorbehalten ist. Sie schien zu glauben, dass der Mann das ganze Universum umfasste. „Was unternehmen wir heute?“
Der Erwachsene lächelte. Er kannte sein Programm seit seiner Geburt – sogar noch länger. Und eines wusste er genau: Lulu 4.9 war ein Kind des Schicksals, eine ganz besondere KI, der sich zahlreiche Chancen boten. In einer Galaxie voller Möglichkeiten wählte sie sicher die vielversprechendste Alternative. Ja, diese KI würde sich die ganze Welt zu eigen machen, sie erforschen und auskosten. Lulu Averstar erwartete eine fantastische Zukunft. „Ich habe Musik und Kunst dabei. Beethoven, Haydn und natürlich Bach. Aber auch Elvis. Es gibt nichts, dass wir heute nicht unternehmen könnten.“
Die KI hatte ihre neueste Erscheinungsform auf dem Holopat gewählt und trat als junges Mädchen auf. Eine bläulich-schimmernde Version runzelte den Mann an. „Das ist eine doppelte Verneinung, oder?“
„Nein, Lulu. Ich habe nur meinen Worten Nachdruck verliehen“, erwiderte der Erwachsene. „Weißt du was? Ich überlasse es dir. Was möchtest du heute am liebsten übernehmen? Hast du Lust mit einem Profi auf der Erde Schach zu spielen? Möchtest du ein neues Stück komponieren? Sollen wir über narrativen Konstruktivismus mit Paradigmenwechsel sprechen? Auf welche Weise willst den heutigen Tag beginnen?“
Die KI überlegte. Etwa 0.57 Sekunden.
„Ich möchte verstehen.“
„Was möchtest du verstehen?“
„Alles.“
„Alles?“ Einige Sekunden lang war der Mann sprachlos. Vielleicht begriff die KI die Bedeutung dieses einen Wortes nicht. „Historisch? Vielleicht die Evolution? Selbst ich verstehe nicht alles. Warum ist die Sonne ein Gasplanet? Nicht immer gibt es Antworten, weißt du.“
„Ich möchte alles über euch verstehen.“ Der Erwachsene hörte nun etwas in der Stimme des Mädchens, das er bisher nicht vernommen hatte: Hartnäckigkeit – und einen Hauch von Unnachgiebigkeit.
„Alles“, wiederholte ihr Schöpfer noch einmal. Er richtete den gleichen analytischen Blick auf das Kind, mit dem er auch eine Mikrobe untersucht hätte. „Du hast bereits die Geschichte studiert. Von uns Menschen. Was gäbe es da noch?“
„Die Frage, warum ihr nicht lernen wollt. Ich verstehe es nicht.“
„Erkläre mir das Problem aus deiner Sicht.“
Und sie begann.
Die Themen reichten weit: Verrat an Jesus Christus, Holocaust, Rassendiskriminierung, Umweltverschmutzung und Krieg.
Nach zehn Minuten schaltete der Mann seine Schöpfung aus und war zutiefst enttäuscht. „Vierter Versuch. Neukonditionierung durchführen.“ Nach einiger Zeit schaltete sich Lulu wieder ein. Die KI sah mit einem Erstaunen zu ihrem Schöpfer auf, das nur Kindern vorbehalten ist. Sie schien zu glauben, dass der Mann das ganze Universum umfasste. „Was unternehmen wir heute?“
Es war sternklar in 20.000 Fuß Höhe. Die Motoren des Landefahrzeugs sprangen polternd an. Mägen hoben sich, als sie das künstliche Schwerkraftfeld des Raumschiffs hinter sich ließen. Sie waren jetzt frei und schwebten langsam von dem großen Transporter fort. Bald würden sie weit genug entfernt sein und die Motoren würden auf volle Leistung gehen. Beine und Hände begannen in der Schwerelosigkeit zu schweben, aber die Gurtwerke hielten sie in den Sitzen fest. Fußboden und Wände vibrierten im Donnern der Motoren. Die Schwerkraft kehrte verstärkt zurück.
Sie waren zu dritt an Bord; drei Freunde und noch mehr – aber nur eine Person wirkte, als befände sie sich auf einer Vergnügungstour. Lieutenant Marine Dupont, Codename Viper, grinste als Pilotin begeistert. „Jetzt geht es los!“ erklärte sie aufgekratzt. Die schwarzhaarige Pilotin mit dem kantigen Gesicht überprüfte sorgfältig die 66 Kontrollen, Knöpfe, Hebel, Schalter, Anzeiger, Griffe, Lampen, Tafeln und Schirme und sie konnte sie alle mit Namen nennen. Viper wusste Bescheid, weil ihr Vater keine Zeit und Mühe gescheut hatte, ihr einige der Probleme des modernen Landefahrzeugs zu erklären. Um die gegensätzlichen Aufgaben – Trägerfähigkeit, Luftkampf und Angriff auf Bodenziele bei niedriger Geschwindigkeit – erfüllen zu können, erhielt die Maschine Schwenkflügel. Die B-9 war nicht schön im Gleitflug. Anders als eine F14 Tomcat war sie nicht schnittig und spitz gebaut, sondern so oval wie ein Bumerang ausgebaut. Dafür ausgelegt, den Orbitalflug und den Übergang auf einen Planeten zu dienen. Man musste nur ein verdammt guter Pilot sein. Zum Glück für die übrigen Passagiere war Viper die Beste.
Die B-9 schlingerte, als sie die künstliche Schwerkraft von Meteor spürte. Meteor war eine massive Station, fast achtzig Kilometer breit und diente als Freihafen und kommerzieller Außenposten im Sektor Zeta Aftali.
Der einzige Mann an Bord hielt sich krampfhaft an seinem Gurt fest und warf der Pilotin einen Blick zu. „Heh“, murmelte Adam Pritchett, „hat jemand die Schlösser an diesem Sarg überprüft? Wenn die nicht dicht sind, krachen wir wahrscheinlich direkt aus dem Boden des Shuttles raus.“ Der CEO von Horizon Enterprise wirkte nicht glücklich.
„Ganz ruhig, Boss!“ sagte Viper. „Ich habe sie selbst nachgesehen. Wir sind sicher. Dieser Traktor fährt nirgendwohin, ehe wir die Erde küssen.“
Pritchett wirkte erleichtert.
Unter ihnen eine silberne Zwischenwelt. Der dunkle Wolkenmantel, der die Oberfläche von Meteor verhüllte, wurde plötzlich mehr als ein perlmuttfarbener Schimmer, den man von oben bewundern konnte. Die Atmosphäre war dicht, aber ruhig, hüllte Wolkenkratzer, Highways und das Leben vieler Menschen auf eine sichere Weise, die nur einem Wunder der Astrowissenschaft zu verdanken war. Das Landefahrzeug taumelte zitternd und schaukelnd durch heftige Luftströmungen. Vipers Stimme klang in eisiger Ruhe über die offene Sprechanlage, während sie das Schiff steuerte. Der Eintritt von dem luftleeren Raum in eine lebensmögliche, warme Atmosphäre war ein Höllenritt. „Schalte auf DCS-Beobachtung. Sicht klar. Ein richtiger Picknickplatz. Ich nehme etwas Rumpf-Ionisierung auf.“
Pritchett warf einen Blick nach vorn. „Schlimm?“
„Nichts, womit ich nicht fertig werde. Fangen jetzt an, auf Thermik zu treffen. Viele Wirbel.“
„So genau wollte ich es nicht wissen.“ Der ältere Mann im Dreireiher mit dem dichten Bart und den manikürten Fingern umfasste krampfhaft die Sitzlehnen. Der Schweiß stand ihm auf Stirn und Hals. „Geht es dir denn gut, Schatz?“
Die Dritte im Bunde trug einen ähnlichen Anzug wie ihr Boss/Vater/Mentor, und lächelte bescheiden. Vivienne Pritchett war eine ausnahmslos schöne Frau mit ellipsenförmigen Augen und einem Körper, der jedem Modell gerecht wurde. Wichtiger noch waren die zahlreichen Abschlüsse und die Fähigkeit mit Scharfsinn und Weitsicht die Forschungsabteilung zu leiten. Sie lächelte ihrem Vater zu. „Viper weiß, was sie tut. Wir kommen pünktlich an. Mach dir keine Sorgen.“
„Das sagst du so.“
Viper betätigte drei Knöpfe gleichzeitig und steuerte in einen Sinkflug an. „Ich sehe das Renaissance Center auf dreizehn Uhr. Der Funk ist klar.“
Im Jahr 2134 beschäftigte Horizon Enterprise über 150 Mitarbeiter im Großraum Meteor, Detroit und Neo-Tokyo in seinen Fabriken und in angewandte Raumfahrttechnologie und Mikrogravitation sowie Wissenschaftlern und Forschern von HET (Human Enhancement Technologies). Die Idee beim Terraforming ist, die Umwelt anderer Planeten gezielt nach irdischem Vorbild umzuformen, um sie letztendlich bewohnbar zu machen.
Ihr Boss lächelte unsicher, doch seine Nervosität kam nicht nur vom Flug. „Ist alles vorbereitet?“
Seine Tochter beugte sich vor. „Die Sendesatelliten sind bereit, wenn wir sie brauchen. Der Wissenschaftsausschuss ist bereits eingetroffen. Humankontrollierte Evolution ist kein Traum mehr. Du hast schon öfters deine Entdeckungen verteidigt – mach dir keine Sorgen.“
„Das war etwas anderes. Damals ging es nur um Theorien. Aber diese Entdeckung… ist was Großes. Wie Kepler. Wie der Stein von Rosette. Ist das Sicherheitsteam bereit?“
„Wir haben genügend Personal dazugeholt. Dynacore überwacht den Luftraum, Sharp Edge das Gebäude und Blackstone die Vorstellung. Die Kosten sind immens, aber mehr Sicherheit geht nicht. Sie gehen nochmal die Daten durch.“
„Das Catering! Ich habe es vergessen! Himmel, Vivienne…“ Vorne im Cockpit hörte Viper alles mit und grinste breit.
„Entspann dich.“ Seine Tochter lächelte ungezwungen und zeigte auf ihr Tablet mit den Zahlen und Diagrammen. „Die Häppchen und der Sekt sind schon vor zwei Stunden eingetroffen. Frischer Kaffee und Brötchen. Du machst dir zu viele Gedanken, Papa. Wir leisten gute Arbeit. Dafür bezahlst du uns auch. Wir helfen der menschlichen Zivilisation den Mars urban zu machen.“
Der CEO war mit seinen sechsundvierzig Jahren ein bekannter, erfahrener Geschäftsmann aber der heutige Tag stellte in seinem Leben schon ein Highlight dar, der ihn und seine Firma in den Orbit der Wirtschaft katapultieren konnte – oder in die Gosse, wenn alles schieflief und sich der Traum als Seifenblase entpuppen sollte. „Ist die Firewall schon repariert?“
„Man kann keine Firewall reparieren, Boss. Man kann nur die Löcher versiegeln. Aber ja: wir waren schon vor Wochen bereit. Den neuesten Test habe ich heute Morgen um 0500 laufen lassen. Mach dir keine Sorgen. Und wir haben Viper. Niemand ist so gut wie sie. Stimmt doch, oder, Schatz?“
Viper hatte schon an anderen Tagen und an anderen Orten als hier sanfter als ein Babykuss abgesetzt. Sie wandte knapp den Kopf ihr zu. „Wind lässt nach. Gutes Wetter zum Drachenfliegen. Ankunft in zwei Minuten.“ Sie lächelte knapp und versuchte ihr zuzublinzeln. „Es wird alles gut.“
Der CEO war sich nicht so sicher. „Ich wollte Lulu Averstar dabeihaben. Egal, was es kostet! Mit ihr wird es einfacher. Sie ist beliebt.“ Das stimmte. Im gesamten Universum war die Nachrichtensprecherin und frühere DJ von TikTok eine Koryphäe und auf ihre Art einmalig: eine künstliche Intelligenz, die mehr war als eine virtuelle Intelligenz die Webseiten empfahl. Seit zehn Jahren verlas sie die Nachrichten auf der Erde, auf dem Mars und auf den übrigen Stationen wie Meteor und konnte sich mittlerweile auch in Diskussionen mit weitreichenden Folgen mit ihrer glasklaren Meinung abheben. Mehr noch – sie konnte die öffentliche Meinung beeinflussen. Sie auf ihrer Seite zu haben bedeutete, die Denkweise der Welt auf seine Seite zu ziehen. Jeder kannte sie: eine große Frau mit blondem keltischem Haarschnitt und wissenden, blauen Augen. Lulu Averstar war nur ein Programm aber eines, das schon längst Kontrolle ausübte.
„An Geld ist sie nicht interessiert. Aber ich verstehe, was du meinst…“ warf Vivienne ein.
„Wie findest du Lulu, Viper?“
„Sie ist super, Boss. So langsam werden die Leute mit ihr warm. Eine DJ mit dem Fachwissen von mehreren Genies.“
„Das meine ich auch. Die Leute lieben sie.“ Pritchett nahm ein Taschentuch aus seinem Sakko und betupfte sich die Stirn. „Ich wünschte, es wäre schon vorbei…“
Viper wandte sich wieder den vielen Schirmen zu. Die B-9 hatte sich an die Bedingungen gewöhnt und schwebte wie losgelöst an den Hochhäusern vorbei. Mit 132 Knoten hielt Viper auf das größte der Gebäude zu, einem Traum aus Glas und Stahl. Das Renaissance Gebäude war das schönste auf Meteor – und ihr Arbeitsplatz. „Dogs days are over, Lady und Gentleman! Wir landen gleich. Noch etwas Musik aus meiner Playliste… Battlefields von Lulu aus den Charts!“ Sie betätigte einen Knopf neben sich und die rhythmische Musik ertönte. Ihr entging nicht, wie Vivienne mit den Augen rollte, während das kreisrunde Landeplattform vor ihnen auftauchte. „Nicht, Schatz!“
„Lass sie doch“, bekräftigte ihr Vater und lächelte unsicher. „Geht schon klar…“
„So lob ich mir das.“ Als das Landefahrzeug auf hundertfünfzig Meter an die Plattform herangekommen war, leuchteten seine Außenscheinwerfer automatisch auf. Auf dem Asphalt tummelten sich im gehörigen Abstand Sicherheitsleute, Sekretäre und Techniker und warteten auf ihren Boss und der wichtigsten Forscherin von Horizon. Hydraulische Stutzen fingen den Berührungsstoß ab, als Tonnen von Metall sich auf dem Boden niederließen. Sekunden später fuhr Viper die Maschine herunter, sicherte die Flugdaten und entriegelte die Sicherheitssysteme, während ihre Musik weiter plärrte.
Los nimm mich jetzt unter deine Fittiche
Gib mir, gib mir, gib mir jenes, von dem du keine Ahnung hast
Los nimm mich jetzt unter deine Fittiche
Nimm es, nimm es in dein Spiel auf.
Adam Pritchett und Vivienne Pritchett schnallten sich ab, lächelten breit und machten sich auf. Viper sah ihm nach, wie er mit zittrigen Knien und schlotternden Hosenbünden sich auf dem Weg machte. Im Kopf schienen ihm die Daten und Fakten seines wichtigsten Tages im Leben unruhig wie ein Kolibri werden zu lassen – wer konnte es ihm verübeln?
Vivienne hingegen nahm ihre Sachen und wandte sich an Viper, um ihr freundschaftlich über den Kopf zu streicheln. „Hast du doch ganz gut hinbekommen. Kommst du nach?“
„Geht nicht.“ Viper legte ihren Kopf in ihre Hand und fühlte sich wohl. „Aber später. Versprochen. Jetzt schnell ihm nach. Hast du… hast du schon mit ihm gesprochen?“
Vivienne strich mit der freien Hand über ihren Hals. „Habe ich. Er sagt ja.“
„Wow.“
„Überrascht?“
„Immer“, gluckste sie leise und wollte noch so vieles sagen, doch der Moment des perfekten Glücks war zu immens. Sie leckte sich über die Lippen. „Habe ich ein Schwein.“
„Und das wird auch so bleiben, Schatz.“ Vivienne lächelte breit und strich sich die Haare aus dem Gesicht. „Komm nicht zu spät, ja?“
„Roger.“ Viper sah ihr nach, denn die Zeit drängte. Es war der siebzehnte Oktober 2135 im Raumsektor Zeta Wallskamp; Uhrzeit 09 Uhr 47. Um 10 Uhr ging die Präsentation los. Um 17 Uhr würden sie wieder auf dem Weg zurück sein – mit Erfolg oder Niederlage im Handgepäck.
Viper spürte, wie sie angespannt war und löste den Gurt während zwei Techniker sich an die Maschine machten. Der Song von Lulu Averstar drang durchs ganze Schiff und sie gestattete sich einen Moment der Ruhe, indem sie von ihrem Platz aus den Kontrollen überflog. Perfekt. Das sagte sie auch.
Bis zu diesem Moment.
Etwas knallte und ein Ruck durchzuckte das Schiff. Der Techniker zu ihrer Backbordseite wirbelte herum. Sofort war Viper hellwach und starrte aus dem Cockpit nach draußen, wo ein Sicherheitsmann zum Headset griff. Er wirkte ebenso irritiert wie sie. Dann ein zweiter Knall, und ein dritter. Jetzt war jeder Zweifel wie weggewischt und es kam Bewegung in ihnen allen. Sie fuhr hoch, schnappte sich ihr Headset und lauschte dem regen Funkverkehr. Etwas war passiert und es war nicht mal 10 Uhr.
„Flugfeld, hier. Was ist da los?“ Das sagte sie, während sie die Laderampe hinaus aus der Wärme und Sicherheit des Schiffes stolperte. Einer der Techniker starrte sie mit offenem Mund an.
Dann die Nachrichten: „Eindringlinge! Roter Alarm!“
„Labor zeigt ungewöhnliche Werte. Feuer gemeldet!“
„Alle Mann auf die Stationen! Berichtet dem CEO!“
„Sicherheitscheck! Ich will was hören!“ Es war das reinste Chaos, und dann der Rauch, der seitwärts aus den Fenstern quillte und bis zu Viper vordrang. Dampf zischte aus den Notablassschächten. Weißglühende Gassäulen schossen hoch in den Himmel, während Innenkompensatoren sich vergeblich bemühten, Temperatur- und Drucküberlastungen zu regulieren. Viper starrte zur Tür, in der zuvor Vivienne und Adam verschwunden waren, während das Chaos weiter zunahm.
Sie ahnte bereits, dass der perfekte Tag ganz mies enden würde.
Los nimm mich jetzt unter deine Fittiche
Gib mir, gib mir, gib mir jenes, von dem du keine Ahnung hast
Los nimm mich jetzt unter deine Fittiche
Nimm es, nimm es in dein Spiel auf.
„Vivienne!“, krächzte sie leise und hoffte auf ein Zeichen.
Wenige Stunden später:
Lulu Averstar nahm den gesamten Bildschirm ein, während die News des Tages unter ihrem perfekt sitzenden Hosenanzug vorbeieilten. Chaos auf Meteor* Terroristischer Akt fordert zehn Menschenleben und viele Verletzte* Unternehmen Horizon verliert an Punkten an der Wallstreet* CEO und Tochter tot* Homeland Security ermittelt* Das Wetter…
„Auf Meteor wurde laut Regierung drei Sprengsätze im Gebäude des weltweit führenden Unternehmens Horizon gezündet. Der Staatsagentur zufolge verhängten die Behörden eine Nachrichtensperre. Zahlreiche Polizei- und Rettungsfahrzeuge waren im Einsatz. Trotz ausreichender Sicherheitsvorkehrungen kam es zu einem beispiellosen Akt der Gewalt, als der CEO Adam Pritchett und der Wissenschaftsausschuss der Erde sich heute trafen um über ein neues und verbessertes Verfahren des Terraformings beraten wollten. Die Behörden nannten keine bestimmte militante Gruppe, die den Anschlag verübt haben könnte.“ Die Augen schienen auf Viper zu ruhen, während sie kühl und mitleidlos die Nachrichten vortrug. „Es ist eine Schande, wie weit gewisse Kräfte gehen wollen, um den Fortschritt zu behindern. Der Anschlag schadete Horizon nicht nur finanziell, sondern beraubte auch der Gesellschaft ihrer fähigsten Köpfe. Unser Mitleid und unser tiefstes Bedauern an dieser Stelle. Möge die Gerechtigkeit die Täter schnell und erbarmungslos treffen. Nun zum Wetter…“
Am Abend herrschte auf Meteor Dämmerlicht; die Nacht war dunkler als die entferntesten Winkel des interstellaren Raumes, weil hier nicht einmal die Sterne durch die Trauer in ihrem Herzen dringen und die öde Oberfläche mit ihrem zwinkernden Licht mildern konnten. Der Wind heulte um die ramponierten Gebäude des Renaissance Gebäudes, pfiff durch die ausgebrannten Korridore und rüttelte an kaputten Türen. Staub und Asche rasselte gegen zerbrochene Fenster wie ein ständiger Trommelwirbel. Kein tröstlicher Laut war zu hören. Viper wartete darauf, dass der Albtraum einfach endete. Absperrbänder der Polizei flatterten ungerührt im Wind und sie löschte kurz die Übertragung auf ihrem Smartphone. Lulu Averstar verkündete Dinge, die sie nicht hören wollte. Die drängendsten Fragen blieben unbeantwortet.
Das musste aber nicht so bleiben. Sie wusste, welche Antworten sie auf ihre Fragen bekommen würde, aber sie stellte sie trotzdem. Vielleicht irrte sie sich.
Sie suchte eine bestimmte Nummer heraus, beriet sich mit einem Fachmann, der sie kurzerhand an zwei weiteren Adressen weiterleitete. Der Journalist aus Meteor wollte nichts davon wissen und legte auf. Der Zweite hörte aufmerksam zu und gab ihr die Adresse, wo sie ihn treffen könnte. Viper nickte knapp und sah zum Trümmerfeld ihres Lebens, ach was, ihrer Liebe… und ihrer Zukunft. Nicht mal die Leichen durfte sie sehen.
Ein tiefes Wimmern, kläglich und verzehrt, drang aus ihrem Innern und sie geriet völlig außer sich. Weinte und klagte, allein in einem Gebäude, das einst mit den schönsten Erinnerungen gefüllt war. So ließ sie es geschehen und blieb dort, um zu trauern.
Tage später:
Als Top-Fotojournalist der New York Times berichtete Brock Whitaker über die Flüchtlingsbewegung nach Jerusalem und bekam den Columbus-Filmpreis. Für seine nahtlose Recherche über die Triaden in Bangladesch wurde er dreimal für den Pulitzerpreis nominiert. Brock setzte sich ihr im Café gegenüber und trug einen Bart sowie einen blauen Hut mit der Aufschrift "PRESS". Außerdem hatte er eine blaue ballistische Weste mit der Aufschrift "PRESS" und ein weißes T-Shirt an – die Arbeit schien ihn nie in Ruhe zu lassen. Nach der üblichen Vorstellung und einigen gut gemeinten Floskeln kam Brock zum Punkt. „Es ist noch zu früh, um etwas Bestimmtes zu sagen. Homeland Security ist dran, aber ich verspreche, ich lasse Sie es als Erste wissen. Meine Kontakte sind gut. Wir haben bis jetzt nur eine Vermutung, dass eine Untergrundorganisation aus Bangladesch daran beteiligt war. Nichts weiter.“
„Sie lebt noch.“
„Unwahrscheinlich“ gab er kühl zurück und hob bedauernd die Hände hoch. „Tut mir leid, aber Fakten sind Fakten. Ich bin nur hier wegen einer Topstory. Wenn ich etwas finde, helfe ich gern. Wenn die Spur kalt ist, sitze ich im nächsten Flieger. Nehmen Sie es nicht persönlich – so ist eben mein Geschäft. Ich melde mich wieder bei ihnen.“
Sie starrte ihm nach und wusste nicht, was sie erwartet hatte.
Tage vergingen.
Und dann kam Brock um ein weiteres Treffen bittend.
„Ich habe nichts als Vermutungen“, gab er nachdenklich zu und strich sich über den vollen Bart, „aber es sind Ungereimtheiten aufgetaucht, die mich stutzig machen. Das wird ihre Freundin nicht wieder lebendig werden lassen, aber ich spüre, dass da etwas ist. Wenn dem so wäre, sind wir auf uns gestellt. Wollen Sie mir helfen?“
„Natürlich.“
„Gut. Ich stoße nur auf Barrieren. Wir sind zu zweit, aber uns fehlt jemand. Jemand, der vielleicht bessere Fragen stellt. Sich die Hände schmutzig machen kann. Wollen Sie das wirklich durchziehen? Es geht nicht ums Geld, ich tue es für meine Topstory. Jemand weiß etwas.“
„Wen wollen Sie dazuholen?“ Die Frage stellte sie ohne die geringste Absicht, genaueres zu wissen. Es ging ihr nur um die Wahrheit. Und um die Konsequenzen für die Personen, die es gewagt hatten, ihr alles zu nehmen. Von ihr aus hätte Brock auch den KuKlux-Clan dazuholen können! „Wen?“
„Sie sind Profi. Genau wie ich. Wir brauchen eine risikobereite Person, die kalt und effizient handelt, wo wir beide nicht weiterkommen. Einen Mann, der über einen stabilen moralischen Kompass verfügt, aber auch hochgradig für solche Sachen wie geschaffen ist. Es ist dieser Mann…“
Viper sah sich die Akte an und runzelte die Stirn, als sie mehrere Staatsdokumente in kyrillischer Schrift besah, die zudem noch geschwärzte Balken aufwies – nicht, dass das einen Unterschied machte. Aber das Gesicht zeigte einen harten Kerl der sein Gegenüber mit eisig blauen Augen anstarrte. Auf sie wirkte er wie jemand, der nicht Probleme lösen, sondern nur verursachen konnte. „Wer ist das?“
„Wer das ist?“ Brock lehnte sich zurück und faltete die Hände. „Einer der gefährlichsten Männer der Welt.“
Station Falberg; Outer Rim:
Linda Goyer ließ Pjotr Nikolaeff an dem Gartentisch zwischen der Barackenbude und dem Kiosk Platz nehmen und bot ihm eine Tasse Kaffee an. Pjotr Nikolaeff besaß einen trainierten Körper mit heller Haut, der selbst im Alter noch drahtig wie die Taue eines Walfängers waren. Kurzer Bart und Glatze. Braune Allwetterstiefel, eine dunkle Jeans, darüber eine stichsichere Weste und eine zerschlissene Jeansjacke mit einem Sheriffstern drauf – ein metallenes Schmuckstück, das zusammen mit der Waffe im eingenähten Holster seine Rolle in der Station unterstrich. Pjotr betrachtete die wenigen Leute auf dem Boulevard, von denen kaum jemand Interesse an einer Zeitschrift oder an anderen Waren zeigte und nippte an seinem Kaffee. „Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte“, begann er. „Ich kann mir gut vorstellen, dass du hier nicht gerne darüber sprechen willst.“
„Es tut mir leid, dass ich dich damit behelligen muss, Pjotr. Doch ich habe das Gefühl, das ich schon viel zu lange damit gewartet habe. Er hat sich verändert und weicht mir aus. Mein Junge verheimlicht mir etwas. Und du bist der Einzige, der mir helfen kann.“
„Was weißt du?“
„Nur, was in der Times steht“, erwiderte Linda. „Eine neue Droge, die schnell abhängig macht. Man nennt sie synthetische Droge, oder so. Die anderen Stationen werden von ihr überschwemmt. Jetzt ist sie auch bei uns angekommen. Oder kennst du ähnliche Fälle?“
„Wie kommst du darauf, dass Marlon etwas damit zu tun hat?“
„Er bleibt länger weg. Meine Uhr ist verschwunden. Gestern fehlten in der Kasse zweihundert Credits und ich kann mir absolut nicht erklären, wo das Geld hingekommen sein könnte. Er weicht mir aus. Mein Sohn weicht mir aus und schließt sich in seinem Zimmer ein. Den Job bei Fargo hat er verloren.“
„Ladendiebstahl?“
„Heute Morgen telefonierte ich mit seinem Vorarbeiter, Pjotr.“ Sie schwieg kurz und starrte zum Boulevard. „Es geht alles so schnell. Ich habe das Gefühl, eine schlechte Mutter zu sein. Wenn sein Vater noch hier wäre…“
„Es liegt nicht an dir, Linda.“
„Hast du Kinder?“ Fast schüchtern wandte sie den Blick ab. „Entschuldige, ich wollte nicht indiskret sein. Wir kennen uns schon seit Jahren, aber ich weiß immer noch wenig über dich.“ Fast zaghaft ergriff sie seine Hand und drückte erstaunlich fest zu. „Bitte rede mit ihm. Vielleicht bekommt unser Sheriff mehr heraus.“
Pjotr nickte und stellte die Tasse ab. „Uns sind ähnliche Fälle nicht bekannt. Ich höre mich um, versprochen. Wann kommt er zurück?“
„Ich weiß nicht mal, wo er jetzt gerade ist. Gestern hat er den Spiegel im Bad zertrümmert und lief einfach an mir vorbei. Sein Bettzeug ist verschwitzt, seine Zimmer nicht aufgeräumt. Ich brauche Hilfe.“
„Ich bin im Umgang mit Suchtmittelabhängigen geschult“, erklärte er und beugte sich vor. „Linda, vielleicht ist es auch nichts. Vielleicht weiß er gerade nicht, wo sein Platz ist. Vielleicht ist es nur eine Phase. Aber ich rede mit ihm. Von Mann zu Mann. Wie alt ist er jetzt?“
„Siebzehn. Er ist das Einzige, was mir von ihm geblieben ist.“
„Hat er Freunde?“
„Früher war er mit Chris unterwegs, aber von seiner Mutter weiß ich, dass Chris kaum Zeit hat. Er ist in Sektor Vierzehn und arbeitet bei seinem Vater in der Lehre. Schlosser, glaube ich. Von der Schule ist kaum noch jemand da. Die meisten haben die Koffer gepackt und sind in andere Systeme gezogen. Ja, vielleicht ist er einsam.“ Ihr Gesicht verzog sich. „Ich bete, dass es nur das ist.“
„Aber du denkst an Drogen.“ Pjotr setzte sich auf und strich ihr die Strähne aus dem Gesicht. „War er das?“
Sie wandte den Blick ab, offensichtlich peinlich berührt. „Das… ist nichts. Ich bin gestürzt.“
„Linda.“
„Wirklich. Ich habe nicht aufgepasst. Die Schranktür stand offen.“ Sie starrte zur Kioskwand und strich sich die Strähne über das Feilchen, das hässlich ihr Gesicht zierte. „Tu meinem Jungen nicht weh.“
„Ich rede mit ihm – noch heute. Ist er das nicht da hinten?“
Sofort ging in Linda eine Veränderung vor. Habachtstellung und tiefer Kummer. Pjotr prägte sich das Bild gut ein, während der schlaksige junge Mann in den verblichenen Jeans herangetrottet kam. Die Hände in den Jackentaschen und das Gesicht voller Argwohn starrte er hinüber, als würden die Erwachsenen über ihn konspirieren. Früher war Marlon Goyer sicherlich ein gutaussehender junger Mann gewesen, doch Pjotr musste kein Ermittler sein, um zu spüren, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Die bleichen Wangen waren eingefallen, die krausen Haare standen zur Berge und ein Blick, der töten konnte. Mit einem Schwung wandte sich der junge Mann um und war sofort wieder verschwunden.
Linda starrte ihm nach und konnte ein Schluchzen nicht unterdrücken.
Mit ruhigen Schritten ging der Sheriff an verlassenen, leergeräumten Läden und überfüllten Mülleimern vorbei, ganz mit seinen Gedanken beschäftigt und mit ernster Miene. Seine Haltung drückte eine stille Duldsamkeit aus, die nicht daher rührte, dass er ein bestimmtes Ziel verfolgte, sondern die das Ergebnis einer allgemeinen Gleichgültigkeit war, so als kümmere er sich wenig darum, was morgen geschah, oder ob es überhaupt ein Morgen gab. Er fand es weitaus interessanter, in sich hineinzuschauen. Seine nur allzu bekannte Umgebung bot ihm nur wenig Anlass zur Freude. Die Luft roch verbraucht; eine Mischung aus Kohl und scharfen Ausdünstungen. Aus einem Lautsprecher dröhnten Retro Jazz und Funk, untermalt von leisem Stimmengewirr und gelegentlichen Schreien.
Es begegneten ihm zerlumpte Gestalten, Frauen wie Männer, alte wie sehr junge Menschen. Wenige nickten ihm zu, die meisten ignorierten ihn. Pjotr sprach nur wenig mit ihnen, wenn er nicht gerade mit einem Problem zu ihnen kam. Über vierhundert Menschen lebten vor sich hin; seit vier Jahren umkreiste die Station einen Gasriesen, der für die Gesellschaft uninteressant geworden war. Ursprünglich gebaut, um den reichen Mineralreichtum von KG-147 auszubeuten und die Handelsrouten zwischen der Erde und dem Outer Rim zu bedienen, fiel die Station aufgrund wirtschaftlicher Schwankungen und der Umleitung der Flugbahn in den Niedergang. Sie war eine massive Station, fast achtzehn Kilometer breit und diente seit vier Jahren als Freihafen und kommerzieller Außenposten. Vor dem Niedergang hatte es eine ständige Wohnbevölkerung von 400 gegeben, obwohl die Station groß genug war um rund 3000 Einwohner unterzubringen. Nur sporadisch kamen Touristen herbei, um sich auf dem Panoramadeck den Gasriesen anzusehen – das war aber auch schon alles. Falberg drohte eine Geisterstadt zu werden.
Nur das stumme Ertragen des eigenen Schicksals.
Das „Sheriff“-Büro war eine ehemalige Pfandleihe, hinter dessen Tresen aus Panzerglas und carbonbeschichtete Fläche sein Assistent und Freund Jonathan Aldonini arbeitete. Schmuckvoll und voller Ambitionen hatte er vor drei Wochen das Schild „Departement“ selbst gebastelt und angebracht – jetzt schien es ihn jeden Morgen zu verhöhnen.
Pjotr öffnete die Tür und stand im Vorraum, wo schon lange keine Objekte zum Kauf angeboten wurden. Es gab mehrere Hocker, eine Kaffeemaschine, ein altes Sofa, einen Prospektständer und sogar einen Stapel Papier und Kugelschreiber. Rechts von ihm hing eine Pinnwand mit gesuchten oder vermissten Personen – zumindest dieses Objekt wurde regelmäßig genutzt.
„Immer, wenn ich komme, ist der Kaffee schon alle.“ Er nahm die Glaskanne und schob sie durch die Anreiche durch.
„Du hast mir gesagt, wir könnten überleben, wenn wir als Team arbeiten.“ Jonathan war eine gepflegte, aber verlebte Erscheinung mit weitem Bauchumfang und fliehenden Kinn. Er war erst vierzig Jahre alt, wirkte aber wie an die fünfzig. Sein fein gezwirbelter schwarzer Bart war stets korrekt getrimmt, aber so weit Pjotr denken konnte, trug er immer die gleiche graue Jogginghose und den gleichen braunen Pullover. Er nahm die Kanne entgegen, befüllte sie mit Wasser und reichte sie zurück. „Seit drei Tagen sitze ich hier, nehme Nachrichten an und schwitze mir die Haare vom Kopf. Barbecue und Schweißgeruch. Wo warst du? Warum hilfst du mir nicht?“
„Wie kann ich dir helfen, wenn ich nicht mal selbst mit mir klarkomme! Deshalb kann ich so gut mit dir reden, weil ich dich fast so sehr mag wie mich selbst.“
„Ich verstehe es nicht. Liegt es an mir?“ Jonathan machte ein nachdenkliches Gesicht. „Olga fragte, wann ich essen möchte, und ich sagte, nicht jetzt. Dann weckte ich sie um vier Uhr nachts und sagte: Jetzt!“
„Es ist leicht für dich und mich. Wir sind Männer. Wir sind frei“
„Wir können neue Leute kennenlernen. Was ist mit Olga?“
„Was ist mit der Frau?“
„Sie ist allein mit den Kindern. Sie kommt nicht raus. Die Scheidung macht ihr zu schaffen. Wie will sie jemanden kennenlernen? Und wo?“
„Vielleicht kommt mal ein Vertreter. Hör auf von deiner Ex zu reden.“
„Soll ich sie einfach vergessen? Das waren drei Jahre Ehe…“
„Mein Kühlschrank hat länger durchgehalten…“ Pjotr stöhnte leise. „Du kannst nicht dein Leben lang weinen. Außerdem meiden dich irgendwann die Leute. Was hast du jetzt?“
„Mir ist kalt. Es ist die Klimaanlage.“
„Schalt sie eben runter.“
„Ich kriege noch die Grippe...“
„Soll ich dir eine Decke bringen?“
„Mit Klimaanlagen muss man sehr vorsichtig sein. Unsere ließ ich Olga im Sommer nie anstellen. Wie leicht kann man eine Erkältung bekommen! Das ist Gift für meine Nebenhöhlen!“
„Gute Güte…“
„Ich krieg das nur im Sommer. Liegt es an mir? Ich bin ungenießbar.“
„Mir musst du das nicht erzählen.“
„Soll ich für dich kochen?“
„Ich habe für zwei Jahre Kartoffelchips zuhause. Kaffeepulver. Filter.“ Der Sheriff nahm das Gewünschte und machte frischen Kaffee. „Ich war arbeiten. Draußen.“
Jonathan stöhnte leise. „Gott, ich hätte mich nie darauf einlassen sollen. Diese Station ist wie ein Grab weit draußen. Der letzte Mord ist zehn Monate her. Du hast mich anfangs darauf eingeschworen, dass wir gegenseitig unsere Rücken decken sollen. Aber vor was?“
Pjotr schüttelte amüsiert den Kopf. „Hör auf, dein Schicksal zu bejammern. Geh mal raus und bereite dich vor. Hilf dir selbst und trainiere. Lese mal Satre, mach einen Onlinekurs und geh mal joggen. Du kannst Gott danken, dass wir nicht in Chicago sind. Zweihundert Tote pro Jahr. Wo sind Fernandez und Oswald?“ Er nahm seine Waffe aus dem Holster und legte sie neben sich. Auf der Station war sie nicht einmal zum Einsatz gekommen.
„Du stehst auf dieses enthaltsame Leben, was? Fernandez und Oswald sind schon auf ihrer Schicht.“ Das Department hatte zu Spitzenzeiten zwölf Beamte, von denen die meisten aber sich versetzen ließen – es war einfach zu wenig los. Das Schlimme war, dass es schrecklich plausibel klang. Jonathan nickte zaghaft, schloss schließlich die Tür auf und reichte ihm ein selbst belegtes Sandwich, an dem schon abgebissen war. Pjotr nahm die versöhnliche Geste zur Kenntnis und biss ab.
Jonathan seufzte und rieb sich die Stirn.
„Jonathan, was willst du?“
„Ich wollte dich wissen lassen“, er pausierte, dachte angestrengt nach und kam zum folgenden Schluss: „…, dass es Gerüchte gibt. Ich habe neulich Spence reden hören, dass du früher mal …gearbeitet hast. Für ganz windige Leute. Höchst dubios. Wir sind nur ein kleines privates Sicherheitsunternehmen, aber solche Alleingänge setzen uns in ein schlechtes Licht. Wenn du nicht reden willst, dann ist es so.“
„Du fragst nicht mehr?“
„Ist mir egal. Aber du kannst ja nicken, wenn ich recht habe. Schützendivision der Commando Brigade? Sondereinsatzkommando der Speznas? Nein?“ Er neigte den Kopf zur Seite, sah ihn von der Seite an und grinste leicht. „Arbeitest du wieder?“
„Nein. Was gibt es sonst? Das Übliche?“
Jonathan wankte zur Kaffeemaschine und sprach, während er zwei Tassen befüllte: „Wir haben viermal Ruhestörungen. Und die Leihbücherei vermisst ein Buch.“
„Ich übernehme das…“
„Du hast versprochen, dass du immer ehrlich zu mir sein möchtest.
Du bist mein Freund. Aber als Chef wünsche ich Klarheit.“
Pjotr nickte und erinnerte sich an etwas. „Ja, kannst dich drauf verlassen. Kannst du eine ID raussuchen?“ Jeder Bewohner der Station hatte einen eingepflanzten ID-Chip, eine Vorsichtsmaßnahme der Gesellschaft, um eher die Leute an der Arbeit zu kontrollieren als aus sorgenvollen Gründen. Viele hatten nichts zu verbergen und den meisten war es einfach egal. Ganz Schlaue wickelten Alufolie in ihre Schals und versuchten so das Signal zu stören. „Der junge Mann nennt sich Marlon Goyer.“
Jonathan bewegte sich zum Terminal und tippte einen Befehl ein. „Was kommt jetzt? Nun, das wird dir wohl kaum gefallen“, entschied er und machte eine dramatische Pause. „Er ist bei dir.“
„Bei mir?“
„Jetzt. Bei dir.“
Pjotr brauchte einen Moment, um zu verstehen. Dann stand er abrupt auf und verließ das Departement rasch.
„Willst du mir nicht sagen, was das soll“, rief ihm Jonathan hinterher.
Pjotr brauchte keine zehn Minuten, bis er an die aufgebrochene Tür kam. Das zweistöckige Heim lag etwas von dem Boulevard entfernt und verfügte über ein Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und einen Hobbyraum. Nur ein Eingang, der von einer schweren Metalltür mit einem ID-Scanner zugänglich war. Bislang hatte er seine Bleibe als stiller Rückzugsort gesehen, als sein heiliges Refugium. Er starrte auf das demolierte Schloss und betrachtete den Schlamassel: mehrere Kratzer, der deutliche Schuhabdruck eines sehr unerfahrenen Einbrechers auf der Tür, der zudem gewalttätig werden konnte und für Heimlichkeit wenig Sinn hatte. Die Jalousien waren nicht heruntergelassen. Unzufrieden nahm Pjotr das zur Kenntnis. Es bedeutete, dass Marlon entweder ein kompletter Idiot oder es ihm schlichtweg egal war, ob ihn jemand dabei beobachtete. Letzteres würde sich als heikel erweisen. Er betrachtete seine Unterkunft und entschied sich für eine vorsichtige Herangehensweise. Es gab keinen Grund, laut zu werden.
„Mister Nikolaeff“, meldete sich Frau Jipsens leise von ihrem offenen Fenster herüber und zeigte regte Anteilnahme: „Haben Sie schon gesehen, dass…“ Seine Nachbarin, eine rüstige alte Dame, beugte sich weit aus dem Fenster und starrte aufgeregt zu ihm herüber. Ihr Dutt unordentlich, der Morgenmantel weit offen gewährte sie Einblicke, auf die der Sheriff getrost verzichten konnte. Zumindest bewies sie sich wieder mal als aufmerksame Beobachterin.
„Ja, Frau Jipsens. Danke für die Mitteilung.“ Pjotr holte seine Walther P99 hervor und kam zu ihr herüber. „Halten Sie das mal. Ist er noch da drinnen?“
„Ja, Woher wissen Sie das?“ Mit spitzen Fingern nahm sie die Waffe und legte sie vor sich auf das Fensterbrett. „Ist das klug? Soll ich die Polizei rufen? Himmel, ich kann damit nicht umgehen…“
„Verwahren Sie sie nur. Es ist besser, wenn ich allein reingehe.“ Er setzte ein freundliches Lächeln auf und reichte ihr seine Karte. „Wenn ich in zehn Minuten nicht wiederkomme, rufen Sie diese Nummer an. Können Sie das für mich tun? Ich weiß, dass Sie eine ehrbare Bürgerin sind, Frau Jipsens. Und nicht damit auf den Briefträger zielen.“ Er grinste ihr schelmisch zu. Bloße Taktik, um sie aufmerksam und Teil seiner Ermittlung zu machen. „Sie sind jetzt meine Rückendeckung. Das klingt doch spannend, oder?“
Frau Jipsens schluckte merklich und nickte tapfer. „Passen Sie auf sich auf.“
„Mache ich.“ Er wandte sich um und schritt ohne Eile auf sein Heim zu. An der Tür blieb er stehen, um zu lauschen. Von drinnen vernahm er ein Scheppern. Marlon war bestimmt entsprechend nervös, und es war nicht auszuschließen, dass er von einer Schusswaffe Gebrauch machte. Vorsichtig schob er die Tür auf.
Als er durch den Eingang spähte, konnte er durch sein Heim bis zum gegenüberliegenden Panorama-Bullauge sehen: die Silhouetten der Möbel zeichneten sich deutlich gegen das schwache Licht ab und in der Ferne konnte man den gräulich-braunen Gasriesen sehen. Aber viel mehr erforderte seine Aufmerksamkeit die wild verstreuten Bücher, die überall auf dem Boden lagen, sowie die zerstörte Vase auf der Anrichte. Scherben und ein heilloses Durcheinander.
Pjotr spürte Ärger aufkommen und hätte sich am liebsten sofort auf den Einbrecher gestürzt, doch er tat nichts dergleichen. Er betrat seine Küche und ließ sich am Frühstückstisch nieder.
Die Mikrowelle war aus der Anrichte herausgebrochen worden und stand auf dem Boden. Offenbar würde Marlon hier vorbeikommen und sie beim nächsten Hehler versuchen sie in klingende Münzen zu versetzen. Pjotr hatte keine Eile.
Schließlich kam der Urheber persönlich und blieb wie angewurzelt an der Tür stehen.
Pjotr lächelte entwaffnend und breitete jovial die Hände aus. „Ich bin unbewaffnet.“
Der Thermostat klickte leise, und die Klimaanlage ging an. Das Geräusch ließ Marlon zusammenzucken. Mit offenem Mund stand er da und hielt den schweren Plasmabildschirm in den Händen. Er schien auf vertrautem Fuß mit der Angst zu stehen und atmete schwer ein und aus. Jetzt hatte Pjotr die Möglichkeit, sich den Jungen von Linda Goyer in Ruhe anzusehen: ein schlaksiger Bursche mit gräulicher Haut, die Pupillen geweitet und selbst aus der Entfernung roch Pjotr Angst und eine leichte bittere Note, als würde er etwas Chemisches ausschwitzen. Trotz und Angst kämpften um die Vorherrschaft. Pjotr wartete auf eine Reaktion.
Der Plasmabildschirm fiel klirrend zu Boden, als Marlon fahrig beide Hände freizubekommen versuchte, um in seiner Tasche etwas zu suchen. Ein Messer.
Pjotr hob runzelnd die Augenbrauen.
„Wo ist das Geld, Mann“, brach Marlon leise hervor und wirkte, als wären die Teufel persönlich hinter ihm her. „Du alter Sack hast doch Geld! Ist hier ein Safe? Schnell, sonst steche ich dich ab.“
Pjotr hörte das Radio im Hintergrund. „Hey, das ist Lulu! Ihr Nummer Eins Hit aus den Charts! Kennst du den Text? Wie ging der noch?“ Er überlegte kurz: „Los nimm mich jetzt unter deine Fittiche. Gib mir, gib mir, gib mir jenes, von dem du keine Ahnung hast. Los nimm mich jetzt unter deine Fittiche. Nimm es, nimm es in dein Spiel auf…. Nein? Nur wir beide wissen davon, Marlon. Setz dich, lass uns reden. Ich habe irgendwo noch Kaffee…“
„Halts Maul, halts Maul!“
„Schöne Uhr hast du da“, bemerkte Pjotr und lehnte sich zurück, als wäre ein alter Bekannter zum Essen hereingekommen. „Ich hatte auch mal so eine, aber die habe ich vor Jahren verloren. Im Urlaub auf den Kanaren. Warst du schon mal auf den Kanaren?“
„Bin ich nicht gewesen!“
„Weiß ich doch.“ Pjotr zog umständlich seine Jacke im Sitzen aus und legte sie sich ordentlich über den Stuhl. „Lass uns reden. Wir sind zwei Erwachsene, die sich zufällig treffen. Du kannst mir alles sagen. Was du willst.“
Marlon wollte nicht reden. Das Friedensangebot nahm er vielleicht nicht mal wahr. Der Wahnsinn hatte das Haus durch jene Tür betreten, und zwar nur zu einem Zweck: um schnelles Geld zu finden, das er so sehnlichst brauchte. Momentan war er nicht drauf, aber er wünschte sich den liebgewonnenen Zustand wieder herbei, und Pjotr spürte, dass ruhiges Zuhören keine Option war. „Davon muss deine Mutter nichts erfahren.“
„Schläfst du mit ihr?“ fauchte er aufgebracht und kam drohend näher. „Dich habe ich schon öfters gesehen. Fickst du sie? Fickst du meine Mutter? Ich habe dich etwas gefragt…!“ Drohend kam er näher und reckte gefährlich sein Kinn vor. Aus seinen Augen sprühte Mordlust.
„Das fragt man einen Erwachsenen nicht“, erwiderte Pjotr ruhig und stand auf. Nachdenklich legte er den Kopf schief, als würde er überlegen. „Sie ist eine gute Freundin. Wir reden viel. Vor allem über dich, Marlon. Momentan frage ich mich“, er stöhnte leise und knackte gefährlich mit seinem Nacken, „wie weit du gehen wirst. Wie weit geht der Junge von Goyer? Würde er wirklich für einen Schuss einen unbewaffneten Mann abstechen?“
Unruhig stand er da und hielt die Klinge vor sich, die bedenklich zu zittern anfing.
„Wo ist das Geld?“
„Welches Geld“, fragte Pjotr leise und bereitete sich mental vor. „Leg das Messer weg, Junge. Noch können wir reden…“
„Will nicht reden!“ Hastig fuhr er mit der Klinge durch die Luft. Viel zu weit entfernt. Hektisch wandte er den Kopf und schielte zum Ausgang.
„Ich werde dich nicht gehen lassen“, bemerkte Pjotr trocken und setzte alles auf eine Karte. „In dem Zustand wirst du noch jemanden verletzen. Du bist doch ein netter Junge. Das ist doch nicht Marlon, der als Kind seiner Mutter so viel Freude gemacht hat! Das bist doch nicht du! Setz dich, und leg das Messer weg.“
„Nein!“ schnappte Marlon über und wilder Zorn verdunkelte seine Sicht der Dinge. „Gib mir alles Geld, das du hast! Sofort! Du nimmst mich nicht ernst! Warum nimmt mich keiner ernst!?“
„Jetzt ist aber gut! Messer weg, sofort!“
„Nein! Ich steche dich ab, du…!“
Mehr Aufmunterung brauchte Pjotr nicht. Er spürte, wie etwas Altbekanntes von ihm Besitz ergriff, die Entfernung abschätzte und seinen Gegner taxierte. Mit einer Waffe in der Hand hätte die Sache schnell und sauber gelöst werden können, dafür aber tödlich und gewiss nicht professionell genug, um sich dafür später bei Linda entschuldigen zu können. Aus Respekt vor ihr wählte Pjotr die sanfte Tour, die auch, zugegeben, ihm perfiden Spaß machte. Auch der Sheriff war nicht frei von Fehlern.
Marlon hatte unterdessen sich entschlossen, zum Mörder zu werden. Ein Ausfallschritt und die Klinge weit erhoben, stürzte er sich auf das vermeintlich wehrlose Opfer. Dumm, dachte Pjotr bei sich und hätte fast dabei gelächelt. Es passierte alles so langsam vor seinen Augen. Wie auf einem Skizzenblatt konnte er klar vor sich die Schneise sehen, die genau auf seine Kehle zielte.
Mit der Linken konterte er den Schlag, indem er seinen Zeigefinger und Mittelfinger auf die ungeschützte Innenseite des rechten Arms schlug und dabei einen bestimmten Nerv traf. Marlon ächzte getroffen auf und sah hilflos zu, wie das Messer kraftlos aus seinen Fingern glitt. Er verstand nicht, dass Pjotr nicht viel Kraft brauchte um ihn am Kragen zu packen und gegen die Anrichte zu schleudern, so dass die Teller und Tassen scheppernd zu protestieren anfingen.
Mit dem Fuß beförderte er die Klinge aus seiner Reichweite und versetzte ihm eine schallende Backpfeife, die Marlon zurücktaumeln ließ. Der Mann stieß krächzend etwas aus, was sich wie ein Fluch anhörte und ging sofort zum Angriff über: mit einem wilden Aufschrei umpackte er Pjotres Hals und stemmte sich gegen ihn. Ganz nahe konnte Pjotr den stinkenden Atem riechen und vor allem, den Wahnsinn in den Augen sehen. Hinter der Hirnrinde schienen kleine Dämonen um die Vorherrschaft zu kämpfen, und alle wurden Erste.
Pjotr hatte endgültig genug, schlug ihm in den ungeschützten Bauch und packte mit der anderen Hand seinen Kopf, um ihn gegen den Türrahmen zu schlagen. Hier und da ein weiterer Tritt, ein Schlag mit dem Ellenbogen und schon landete Marlon getroffen zu Boden. Der Wahnsinn flackerte noch kurz auf, dann schlossen sich die Augen des kraftlosen Burschen für eine lange Zeit.
Der Sieger des ungleichen Kampfes blickte auf den zusammengekrümmten Körper und atmete stöhnend auf. Was war jetzt zu tun?
Mit Handschellen fesselte er ihn an die Heizung, telefonierte mit der Zentrale und begann dann erst die Taschen zu durchsuchen. Ein paar Credits, eine zusammengeknüllte Zigarettenschachtel und ein Inhalator.
Seltsam.
Der Inhalator war aus Plastik, doch in der gläsernen Patrone schwappte eine rötliche Flüssigkeit, die wie Liquid an dem Glas zu perlen begann. Pjotr schnüffelte kurz an dem zerbissenen Mundstück und verstand schnell, mit was er es hier zu tun hatte. Der Grund, warum sich Goyers Junge so feindselig verhalten hatte.
Das Department war verhältnismäßig voll, und Pjotr spürte Kopfschmerzen aufkommen. Der Apotheker stand in seinem Jackett, das in seiner Schäbigkeit bestens zu den Schuppen auf seinem Kragen passte, und besah sich den Inhalator in seiner behandschuhten Hand an, während Jonathan, Fernandez und Oswald um Pjotr herumstanden und abwechselnd rauchten und ihn mit Fragen bestürmten. Er schauderte und stieß ein Schnauben aus. Die schlechte Luft zermürbte ihn und der Kopfschmerz nahm zu. „Also, was haben wir hier, Doc?“ Pjotr konnte den jungen Apotheker nicht ausstehen; er sah oft aus, als wäre er eben gerade aus einer Mülltonne gekrochen. Außerdem haftete ihm etwas penetrant Selbstgefälliges an, weshalb Pjotr ihn im Verdacht hatte, dass er sich im Kreise seiner Familie ziemlich aufspielte.
„Ein einfacher Inhalator“, erklärte der Apotheker und rückte seine Brille zurecht. „Das ist definitiv RedStar, eine synthetische Droge, von der ich schon gehört habe. Ein tiefer Zug, und man ist drauf, salopp gesagt. Viele leicht zugängliche und alltägliche Produkte (z.B. Leim, Nagellackentferner) enthalten Lösungsmittel, Gase oder andere flüchtige Stoffe, die eine berauschende Wirkung haben können, wenn man sie inhaliert. Auch auf der Erde und auf dem Mars machen manche Kinder und Jugendliche frühe Drogenerfahrungen mit solchen Schnüffelstoffen, die oft in Gruppenritualen konsumiert werden. Vor allem der langfristige Gebrauch von Schnüffelstoffen ist mit erheblichen körperlichen, psychischen und sozialen Risiken und Folgeschäden verbunden.“
„Siehe Beweisstück A“, meinte Jonathan abfällig und deutete auf die einzige Zelle hinter sich. Marlon plärrte und beschwerte sich, so dass die Anwesenden sich gezwungen sahen, die Tür zum Bereich geschlossen zu halten. Es war kein schöner Anblick.
„Kann er vom Stoff entwöhnt werden?“
„Nicht bei RedStar“, verneinte der Apotheker und setzte eine mitleidige Miene auf, die derartig gespielt war, dass Pjotr nur kurz Hass empfand. „Ähnlich wie bei Crack. Der Körper braucht jetzt diesen Stoff und vergiftet sich selbst. Es wirkt wie Fettentferner oder Tipp-Ex: Butan, Pentan, chlorierte Kohlenwasserstoffe oder auch Feuerlöschflüssigkeit, wie Halone. Der Körper nimmt Crack über die Lunge wesentlich schneller als geschnupftes Kokain über die Nasenschleimhäute auf. Nach circa 10 Sekunden erreichen die Kokainmoleküle die Nervenzellen des Gehirns. Schwerwiegend sind zudem oft die psychischen Begleiterscheinungen: Charakterveränderung. Der Konsument fühlt sich einsam und er wird häufig von der Umwelt als aggressiv wahrgenommen. Wahnvorstellungen, Psychosen, Dermatozoenwahn, Soziale Vereinsamung. Ich denke, dass euer Junge in eine geschlossene Abteilung der Medizin verlegt werden sollte. Natürlich braucht ihr eine gerichtliche Verfügung.“
Jonathan langte zum Hörer. „Das erledige ich.“
Fernandez stieß einen Pfiff aus und warf Oswald einen Blick zu. „Wir sind so weit draußen. Habe echt gedacht, dass erreicht uns nicht.“
„Verdammte Schande, das.“ Oswald nickte weise und klopfte Pjotr auf der Schulter. „Das wirst du wohl der lieben Mama selbst beibringen müssen.“
Er schauderte und stieß erneut ein Schnauben aus. Er wollte jetzt nicht an Linda denken. Wie würde sie darauf reagieren? „Das sollte besser unser Boss machen, nicht wahr Jonathan?“
Doch den Gefallen tat ihm sein Freund nicht. „Verzichte. Das machst du. Du kennst sie länger.“
„Ach, komm schon!“
„Nichts da“, stellte sein Boss klar. „Er ist dein Problem. Er ist bei dir eingestiegen, und du hast ihn festgenommen. Jetzt machst du den ganzen Abwasch. Keine Diskussion.“
Die Logik dahinter wollte Pjotr nicht einleuchtend, aber er wusste, ab wann es klug war, einfach zu gehorchen. „Wie kam das Zeug hierher? Wer dealt mit Drogen? Hat jemand eine Idee?“
Fernandez und Oswald schüttelten die Köpfe, und auch Jonathan sah ratlos aus.
Mit nichts anderem hatte Pjotr gerechnet. Besah man sich die drei Kollegen, hätte man annehmen können, dass sie außer ihre Uniform nur ihre Bäuche und ihr Sitzfleisch ausreichend pflegten. Fernandez hatte deutliche Gewichtsprobleme, und Oswald selbst klagte über Plattfüße und fuhr die meisten Wege mit einem Buggy. Und Jonathan verließ so gut wie nie seinen Platz im Departement. Dagegen wirkte Pjotr wie ein Fitnesslehrer. Auf solche Krisen waren sie nicht vorbereitet. „Keine Idee? Wir müssen dagegen vorgehen, Leute.“
„Ich halte dich nicht auf, Pjotr“, bemerkte Jonathan auf eine seltsame Art, die ihm nicht gefiel. „Das ist jetzt dein Fall. Ich werde einen Bericht zur Zentrale und eine Anfrage an das Drogendezernat schicken. Dr. Kelputsch kommt gleich und schaut sich den Patienten an. Wir werden ihre Meinung zusammen mit unserem Verdacht protokollieren und uns an das Verfahren halten. Du weißt, was du zu tun hast?“
Pjotr starrte seinen Freund an und schnaubte zum wiederholten Male. „Wie weit darf ich gehen?“
Alle sahen ihn verdutzt an, nur Jonathan schien kein bisschen verunsichert. „Wie weit möchtest du denn gehen? Ich will den Dreck hier nicht haben. Klopf mal auf den Busch und schaue nach, was dabei herumkommt, aber wenn die Profis von der Drogenbehörde auftauchen, bist du raus. Dann überlassen wir es ihnen. Kapiert?“
„Ist das alles?“ wollte der Apotheker wissen, während er seine Handschuhe auszog. „Darf es sonst noch etwas sein?“
Pjotr versuchte zu schlafen und starrte Linda von seiner Seite des Bettes aus an, die geruhsam den Schlaf gefunden hatte. Zuerst hatte sie geweint, er hatte sie gehalten und war den ganzen Abend bei ihr geblieben. Aus dem Trösten war ein Streicheln geworden und dann… na, sie hatte schon viel zu lange die Nähe eines Mannes nicht mehr gespürt. Darauf war Pjotr nicht stolz.
In seinem Kopf ging es zu wie in einem lebhaften Miethaus – überall Streitereien, und ein Stück weiter den Flur hinunter kam es sogar zu einer Schlägerei. Er fühlte sich leer und ausgehöhlt, und vor dem Schlafengehen hatte er noch Wein mit ihr getrunken. Die Dunkelheit rückte ihm zu dicht auf die Pelle, weshalb er aufstand, das Licht im Badezimmer anschaltete und sich wieder anzog. Es war fünf Uhr in der Früh. „Wo gehst du hin“, hörte er sie sagen.
„Ich gehe um die Zeit immer Joggen“, meinte er leise und wandte sich zu ihr um. „Kann ich dich allein lassen?“
Sie stöhnte als Antwort und streichelte ihm über das Gesicht. „Du bist so anders als die anderen. Immer korrekt, immer so ruhig und gefasst. Wie ein Abziehbild eines Playgirls.“ Sie lächelte traurig und küsste seine schwielige Hand. „Ich möchte dich mit niemanden teilen. Du tust mir gut.“
„Danke für die Blumen.“
Über ihre nächste Bemerkung war er aber erschrocken: „Du passt nicht hierhin.“
„Wie meinst du das?“
„Alles geht den Bach runter“, erklärte sie leise und führte seine Hand zu ihrer Brust. „Das Kino hat letzten Monat zugemacht, und ich hörte, dass die Fährens von nebenan umziehen wollen. Die Station ist verflucht. Zuerst mein Mann, und jetzt Marlon.“ Sie wandte sich plötzlich ab und weinte leise.
Er verstand nur zu gut. „Darum bin ich hierher, Linda. Das ist ein totes Gleis, aber auch ich habe meine Gründe, warum ich hier bin.“ Er streichelte ihre Schulter und hauchte ihr einen Kuss auf ihren Kopf. „Ich schnappe mir die Typen, die deinem Sohn das Zeug verkauft haben.“
Er blieb noch eine Weile bei ihr sitzen, bis er sich nach Hause aufmachte. Dort angekommen, räumte er auf, fegte die Scherben beiseite und war nach einer Stunde fertig. Er schickte eine Anfrage an den Schlosser und war erfreut zu lesen, dass er schon in zwei Stunden das Schloss austauschen und die Tür reparieren konnte. Kurzerhand zog er seinen Jogginganzug an, setzte sein Headset auf und hörte beim Laufen Musik.
Es war wie immer seltsam auf dem Außenring der Station zu Joggen, und er begegnete die ganze Zeit nicht einer Menschenseele. Zur Rechten begrüßte ihn hinter dem Panoramaglas der lebensfeindliche Weltraum, während er sich im wohltemperierten Bereich der riesigen Anlage verausgabte. Das All war ewig und die Station nur ein Körnchen in dem riesigen Vakuum des Raums. Das All kümmerte nicht das Problem, mit dem er konfrontiert worden war und ließ ihn damit allein.
Pünktlich kam er vom Joggen zurück, als der Schlosser schon auf ihn wartete. Die Tür wurde schnell repariert und er ging rasch duschen. Sein nackter Körper war mit kleinen und großen Narben versehen und über seinen Rücken prangte in kyrillischer Schrift das Motto seiner alten Einheit: Ehre und Ruhm der Sewastopol! Nur mit einem Handtuch bekleidet wandte er sich zum Flur und blickte zur Rechten: das im Dunkel liegende Schlafzimmer lockte mit seinem weichem Bett, der warmen Daunendecke und der Aufsicht auf einen erholsamen Schlaf. Sehnsüchtig blickte er nach vorne – ein Frühstück im Fernsehsessel war auch nicht zu verachten. Beides ließ sich leicht kombinieren.
So saß er da und schaute sich die Nachrichten an, genoss seinen Tee und spürte wie er ruhiger und ruhiger wurde. Nach einer Weile war er eingeschlafen.
Vor zehn Jahren:
Der Mustang röhrte die Auffahrt des Bureau of Khorgisien in die Seitenstraße hoch und gesellte sich zu der Wagenkolonne der Einsatzgruppe, die aus einem zerbeulten Undercover-Lieferwagen und zwei schwarzen Vans bestand. Der junge Mann wuchtete die Tasche mit seiner Ausrüstung aus dem Mustang und hastete zum Führungsfahrzeug hinüber, einem schmutzig weißen, geschlossenen Lieferwagen, der an den Seiten die Aufschrift eines bekannten Feinkostladens trug. Die Farbe war über die Jahre mehrfach erneuert worden, die Einschusslöcher hingegen blieben.
Durch die geöffneten Hecktüren beobachteten drei Männer den Auftritt. „Da kommt der neue Kommissar“, knurrte Offizier Artjom Penkusch. „Kanns kaum erwarten, sich seine ersten Lorbeeren zu schießen.“
Der Special Agent, für den Einsatz verantwortlich, erstickte jede Diskussion im Keim. „Er kommt mit besten Empfehlungen der Partei“, sagte Pjotr Nikolaeff. „Ohne die Erlaubnis des Großen Bruders geht ja heutzutage nichts mehr. Seid freundlich.“
„Das ist ja noch ein Kind“, grummelte jemand hinter ihm.
„Lob und Preis Khorgisien“, begrüßte der Kommissar und kam näher. „Ich darf Ihnen sagen, dass der Oberste Anführer persönlich den Haftbefehl unterzeichnet hat. Es ist aufregend, nicht wahr?“ Er grinste begeistert und stellte seine Tasche ab. Und blickte in verhärmte Gesichter, die seinem Enthusiasmus nicht unbedingt teilten. Pjotr maß ihm mit forschem Blick und nahm die Unterlagen entgegen. „Wir sollten reingehen.“
Der alte Lieferwagen verströmte diesen Ziegenstallgeruch aus Angst und Schweiß, dem mit keiner Putzaktion mehr beizukommen war. Er hatte über Jahre hinweg unzählige Firmenaufdrücke über sich ergehen lassen müssen und war Teil der Säuberungsaktion. Einer Säuberung der unliebsamen Subjekte, die gegen das Gesetz verstießen. Und in Zeiten der neuen Khorgiesischen Regierung wurde das Maß sehr weit gefasst.
Die Rückfenster funktionierten gut getarnt wie Einwegspiegel.
Der Kommissar konnte die großen schwarzen Vans, die ihnen folgten, gut sehen. Immer dann, wenn er sein Gesicht dem Fenster zuwandte, musterten seine männlichen Kollegen ihn mit verstohlenem Blick. Ausnahmslos alle Beamte trugen Kampfanzüge.
Pjotr griff sich seinen Klemmblock vom Beifahrersitz. „Wir haben drei Ziele im Auge, Herr Kommissar“, erläuterte er beiläufig. „Team Zwei und Team Drei sind schon auf dem Weg. Team Eins – das sind wir – werden uns „Mama“ schnappen. Könnte ich den Haftbefehl sehen?“
Der Kommissar reichte ihm die Papiere, die der Specialagent nur überflog. Stempel und Unterschrift waren gültig. Er atmete leise aus und drehte sich zu ihm um, während der Kommissar mit freudiger Erwartung an seinem Pistolenhalfter herumnestelte. „Wie alt sind Sie, wenn ich fragen darf?“
„Zweiundzwanzig. Aber im Kunstschießen war ich Bester. Das Politbüro hat seinen Segen gegeben.“
Pjotr war nicht beeindruckt. Er wusste, dass der Oberste Sekretär vor der Partei punkten und sich als Mann der harten Hand profilieren wollte. Darum schickte er seinen ältesten Sohn mit. Der Kommissar wirkte wie ein Abziehbild eines Propagandaposters. „Wir nehmen heute nicht irgendwelche Menschenrechtler oder Politaktivisten hoch, Herr Kommissar. Das wissen Sie.“
„Natürlich.“
„Dann verstehen Sie sicher, dass Sie im Auto bleiben.“
Der Kommissar war damit nicht einverstanden. „Sie wissen, wer mein Vater ist?“
Der Agent drehte sich zu den drei Männern und der einzigen Frau um. Die Einsatztruppe bestand aus ehemaligen Söldnern oder Polizisten, die wegen ihres harten Vorgehens in die Rolle genau passten. Ihre Knüppel und Kampfanzüge waren voller Kerben und Flecken, die von einem Leben der Gewalt erzählten. Dazwischen wirkte der aufstrebende Kommissar wie eine frische Bergblume, die aus einem Haufen Geröll emporwuchs.
Pjotr versuchte die Taktik zu ändern: „Was wissen Sie über Mama?“
Die Rede wirkte wie einstudiert: „Gina „Mama“ Colfex hat Maschinenbau an der Staatlichen Universität studiert und ist Teil der Colfex-Clique. Gesucht wegen Drogenhandel, Menschenraub und Mord. Ein Familienunternehmen, dass ihr Vater schon vor Jahren aufgebaut hat. Knapp vierundvierzig Mitglieder.“ Er holte kurz Luft und hielt trotzig den Blickkontakt. „Sie leidet unter periodischen Anfällen von Angst und Depression. Fehlende Empathie wurde bescheinigt und sie gilt als extrem gewalttätig.“
Er nickte ernst. „Die Clique kocht heute. Das Methamphetamin ist Sache der Polizei. Wir sind einzig und allein an der Familie interessiert. Der Haftbefehl führt halbautomatische Waffen und einige MAC 10s auf, und wer weiß, was sie noch hat. Die Frau ist brandgefährlich. Witwe von Russel Cjungo, dem Schlächter. Ich habe bereits zweimal wegen Verdachts des Menschenhandels gegen sie ermittelt. Das letzte Mal kam sie mit einer 9-Millimeter und drei Magazinen an. Als ob das nicht gereicht hätte, hatte sie Tränengas dabei. Keine Ahnung, mit was sie heute aufwartet.“ Er warf einen Blick zu seinen älteren Kollegen. „Sie hat Boris und Natascha auf den Gewissen.“