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Dunkle Mächte verschwören sich gegen die verwaiste Victoria, die von Abenteuern als Ritterin träumt aber die wohl schlechtesten Voraussetzungen hat. Ein geheimnisvoller Mann will sie zu einer gefährlichen Reise bewegen, um als erste Frau der Stadtwachte ihrem Wunsch näherzukommen. Doch Verrat und Lüge bringen sie in große Gefahr…
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Veröffentlichungsjahr: 2024
Damsel
Die Stadtwächterin
Stephan Lasser
Copyright © 2024 Stephan Lasser
Alle Rechte vorbehalten.
Das Bild stammt von der Künstlerin Annabell Richmond; 2280-2284 McBurg Rd, Frankewing, Tennessee , USA, 38459.
WIDMUNG
Für Katrin K.
Dramatis théatron
Als Provinzen werden im Kaiserreich von Haven die größten teilsouveränen Verwaltungseinheiten bezeichnet.
INHALT
Inhalt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Vorwort
Die Idee zur Geschichte einer Frau, die im Mittelalter von einer anderen Existenz träumt, kam mir im Laufe des Geschichtsstudiums– und zwar im Rahmen einer Gruppenarbeit, die sich hauptsächlich um das Tagebuch von Irmgard Trestwerd (1521-1566) drehte; einer Frau, die sehr genau von ihrem harten Alltag als Bäuerin in Flandern berichtet. Das ist hier kein historischer Roman, sondern spielt in einer reinen Fantasy-Welt mit eigenen Regeln, einer ganz eigenen Geschichte. Im Laufe des Schreibens verspürte ich Lust noch einen Roman zu schreiben – momentan sind es gleich drei Bücher, die aufeinander aufbauen.
Alle Namen und Personen, alle Geschehnisse und Orte entspringen meiner Fantasy und haben nichts mit realen Personen, Orte etc. zu tun. Zufällige Übereinstimmungen sind nicht gewollt.
Viel Spaß.
Sie waren nicht zurückgekehrt, weder im letzten Monat noch zu Beginn dieses Aprils– den letzten vereinbarten Termin. Der Außenposten war rund um die Uhr besetzt, und hätten die Wachen nur das Echo eines Hilferufs gehört oder den schwachen Widerschein einer Lampe auf der matschigen Ebene der Dunkelküste gesehen, dort, wo es zur Handelsstraße nach Brugge ging, so wäre unverzüglich ein Stoßtrupp losgeschickt worden.
Die Anspannung wuchs mit jeder Stunde. Die Dorfwache von Smörrenwödde schlossen nicht für einen Moment die Augen. Die Flaschen Kartoffelschnaps und die Spielkarten, mit denen man sich sonst die Zeit zwischen den Patrouillengängen vertrieb, staubten vor sich hin, obwohl kein Mann hier gerne auf Alkohol verzichtete. Ihre zwanglosen Unterhaltungen waren erst kurzen, nervösen Absprachen gewichen, und jetzt herrschte nur noch unheilvolles Schweigen. Jeder hoffte, als Erster das Pferdegetrappel der zurückkehrenden Handelskarawane zu hören. Zuviel hing davon ab.
Alle Bewohner von Smörrenwödde, ob Knabe oder Greis, verstanden es mit Waffen umzugehen. Seit Beginn des Krieges der Magier hatte sich der Himmel verdunkelt, so dass kein einziger Sonnenstrahl mehr die hellen Sandstrände an der Küste erreicht hatte. Der Wind war wie zum Herbstbeginn kalt und schneidig geblieben, als wäre die Zeit für alle stehengeblieben. Die fünf strohgedeckten Hütten mit der Mühle und dem hohen Palisadenzaun vor dem Damm glichen zusammen wie eine uneinnehmbare Bastion aus längst ausgedienten Möbeln, Treibgut und umgedrehten Booten. Obwohl Smörrenwödde hauptsächlich vom Fischfang lebte, verspürte kaum jemand Lust rauszufahren, um dort sein Glück mit den Fischen zu versuchen: Der magische Krieg dauerte schon zu lange an und schien Tiere wie Menschen zu vertreiben. Immer öfter blieben die Netze leer.
Die ganze Welt schien sich gegen die Bewohner verschworen zu haben: schwere Gewitterwolken hatten sich über die Dunkelküste gelegt. Selbst die Möwen blieben eines Tages aus, und als der strenge Landvogt zur halbjährlichen Inspektion einfach nicht kam, ahnte jeder, dass es mit ihrem Dorf zu Ende ging. Der Schnee vom letzten Winter wollte nicht schmelzen, Frühling und Sommer hatten an der Dunkelküste keinen Einzug gehalten, so dass sich die Tage wie eine ständige Wiederholung von tristen Graupeltagen anfühlten. Die jungen Leute blieben jedoch bei den Alten, gingen Tag für Tag ihren Beschäftigungen nach und beteten zu den Göttern, die schwere Zeit endlich enden zu lassen. Auch wagte es niemand die Heide zu durchqueren, da von Raubrittern, gefährlichen Bestien und schlussendlich der Krieg die Rede war. Gemeinschaftlich hatte man sich darauf geeinigt, die Sache einfach auszusitzen. Diesmal aber verzögerte sich die Rückkehr der Karawane. Und zwar so sehr, dass nur ein Schluss möglich war: Etwas Unvorhergesehenes musste geschehen sein, etwas Furchtbares, das weder die schwer bewaffneten Begleitsoldaten noch die jahrelang gepflegte Beziehung zu den anderen Dörfern hinter der Heide hatten verhindern können.
Die Heide war eine üble Fläche aus unbebauten Land, auf dem kilometerweit außer Sand, wenigen feuchten Stellen und Wacholderbüschen nichts Gutes zu finden gab; das spürte jeder. Selbst die Pflückerinnen erlaubten es sich nicht weiter als hundert Meter nach frischen Beeren zu suchen und wurden immer von ihren Männer begleitet.
Der Wachmann schirmte seine Augen vor dem grellen Licht der Öllampe ab, als er in der Ferne auf der Straße eine Bewegung ausmachte. Verräterische Schatten huschten umher, das Zwielicht des Abends und ein unnatürlich zäher Nebel vom Westen sorgte für Beklemmung und Angst, so dass der Mann mit Helm und Forke beinahe die Nerven verlor: „Heda, wer holpert und stolpert zu dieser Stund´? Nenn mir deinen Namen, sonst ist es aus!“
Die anderen Wachen, nur fünf Männer, die sich schon ewig kannten, warfen sich besorgte Blicke zu. Einer von ihnen bekreuzigte sich stumm.
„Es ist bloß Spatz, Leute!“, verkündete die Wache und sofort lockerte sich seine angespannte Haltung. „Niemand wichtiges.“
„Ich würde zehn von ihr eintauschen, wenn dafür bloß die Karawane käme“, warf der Nächste ein, ohne sich umzudrehen.
„Alles ruhig“, meldete einer von der Ostseite. „Wie ist die wieder rausgekommen?“
Grummeln unter den Männern, während die Gestalt bis zu dem Tor kam.
Die Frau ging mit langen Schritten durch eine flache Ebene aus Eis und Matsch. Dabei zog sie die Pelzjacke fest über die Brust zusammen bis unters Kinn, sodass sich die Kapuze eng um ihren Kopf legte. Bei einem typischen kalten Abend wie diesem half auch nur wenig. Auch diese Frau marschierte mit einer grimmigen Entschlossenheit, die den Bewohnern von Smörrenwödde eigen war. Nur den Willen jeden Tag aufs Neue zu meistern.
„Spatz“, oder auch Vic genannt, hatte als junge Frau keine besonderen Merkmale vorzuweisen: Schultern und Arme waren durch harte Arbeit sehnig, die Hände knotig und grob geworden. Die bräunlichen Haare waren kurzgeschnitten, eine Narbe am Kinn und eine oft gebrochene Nase verunzierten das ehemals hübsche Gesicht der drahtigen Frau, die für die Bemerkungen der Männer nur einen herablassenden Blick übrighatte. „Mach das Tor auf, Kalle.“
Der Mann namens Kalle schöpfte mit einer Kelle das Öl aus dem Eimer und befüllte seine Laterne, als hätte er alle Zeit der Welt. „Und, wie war´s?“, fragte er.
„Nichts.“ Sie schniefte, zog die Schultern ein und lehnte sich gegen das Tor. „Der nächste Hof ist auch ruhig. Niemand mehr da. Von hier bis Bückstett ist alles totenstill. Drei Tage bin ich keiner Menschenseele begegnet.“
Während die anderen von ihren Plätzen neugierig näherkamen, beendete Kalle seine Arbeit und zündete die Laterne an. An einem Stock gebunden ließ er sie von der Palisade herunter und leuchtete der Frau ins Gesicht. „Warst du auch schon in Hüvelrogh? Wie steht es mit Hüvelrogh?“
„Da gibt es nichts zu sehen. Zehn Hütten am Fenrir, und der Fluss ist so ruhig wie ein Friedhof.“ Sie deutete mit den Schultern Richtung Osten. „Ich war zweimal dort. Aber wenn du unbedingt willst, geh ruhig, es sind nur fünf Meilen von hier.“
„Verdammter Mist“, knurrte der Mann. Jedermann wusste, dass Kalles Schwester dort mit ihrer Familie ein Gasthaus betrieb. „Deinesgleichen bringt nichts anderes als Miesmacherei.“ Dabei spuckte er aus.
Jedes Dorf hatte jedem Kind, jeder Frau und jedem Mann eine besondere Rolle zugedacht. Von früh bis spät gab es genug zu tun, die meisten lernten von ihren Eltern das Handwerk der Familie und so war es Brauch schon immerdar. Doch manchmal gab es Jemanden unter ihnen, der nicht dazugehörte, der seinen Platz nicht fand und nicht recht zu wissen schien, was von ihm erwartet wurde. Vic, seit jeher Waise und allein, half überall aus und gehörte doch nirgends dazu. Die Bitterkeit dieser Rolle hatten dieser Rose gefährliche Dornen verpasst, wie die Alten so schön sagten.
Das Tor wurde geöffnet. Vic wanderte erschöpft zu ihrem Platz, band sich die Schürze um und tat das, was sie meistens tat: Weißlinge an der Fischbude entschuppen. Der eklige Gestank aus fauligen Melonen und verbrannten Horn machte ihr schon gar nichts mehr aus, denn ihre Nase war gegen Gerüche im höchsten Maße abgestumpft. Der Eimer mit den Fischen wurde nie leer, und abends musste das Fischgekröse mit den Händen vom kalten Boden aufgelesen und zu einem Misthaufen weit nahe am Tor gebracht werden. Es war eine stumpfe und stupide Arbeit, und so sollte es auch heute sein. Victoria von Smörrenwödde war noch eine junge Frau, hatte alle Zähne und noch keine Gicht und keine Schwindsucht, wie sie gerade in ihrem Dorf oft vorkam. Aber dafür Träume.
Dieter lehnte seine Armbrust an ein Fass und schielte schräg nach unten. „Von hier oben habe ich einen guten Ausblick“, grunzte er schmierig. Die Männer von Smörrenwödde waren einfache, gemütliche Charaktere, die sich auf einfache Wünsche im Leben beschränkten: nicht zu viel Arbeit, immer einen Schnaps in der Hand und eine willige Frau an ihrer Seite die das Oberhaupt der Familie als Geschenk der Natur anpries. Gerötete Augen, frühe Falten und vernarbte Arme von einer harten und grimmigen Arbeit auf See. Und der Charme eines Sägefisches…
„Nur weiter so“, zischte sie leise. „Ich hasse diesen Ort und alle, die hier leben.“ Vic redete häufig mit sich selbst. Sie hatte sich in ihrer eigenen Gesellschaft immer wohl gefühlt, doch sie antwortete sich selbst nur selten. Sie arbeitete weiter und weiter, alles mechanisch, während die linke Hand den Weißling packte und die Rechte mit drei Stichen des rostigen Messers das Gekröse entfernte. Der rechte Zeigefinger taub von dem kalten Blut, wenn sie etwas nachhalf. Wenn sie nicht Weißlinge entschuppte, dann schleppte sie Wasser. Monatelang schleppte sie Wasser vom Fluss herauf, immer zwei Eimer, Hunderte von Eimern am Tag, denn das Dorf verlangte Unmengen an Wasser zum Waschen, zum Weichen, zum Brühen, zum Färben, zum Kochen. Selbst im Sommer troffen ihre Kleider am Leib vor lauter Wassertragen, ihre Hände blutig und stinkend vom Fisch und dazu im Winter kalt und fast gefühllos. Es war eine mehr tierische als menschliche Existenz: keine Familie, keine Freunde, keine netten Worte, keine Feiern. Zum Schlafen sperrte man sie ein. Das Essen war miserabel, denn es waren nur die Reste. Sie war ein nützliches Haustier. Es war hart der Spatz von Smörrenwödde zu sein.
Doch es kommt der Zeitpunkt, wo selbst der dümmste Besitzer sich fragt, ob man das Haustier nicht auch anders nutzen kann: Vic war eine junge Frau mit dünner Taille, drahtigen Armen und einer herben Schönheit gesegnet. Sie brauchte langsam lange Binden, um ihre Brüste zu umwickeln, denn Begehrlichkeit entsteht bei Dingen, die man jeden Tag sieht. Die Männer verstanden langsam, aber sicher, dass sie kein Kind mehr war. Nur eine Frage der Zeit.
Kalle war verheiratet, aber kein Kostverächter. Es kam der Punkt, wo ihn die Langeweile strafte, denn Inge war eben nur Inge – nach Jahren des Aushaltens vorhersehbar geworden, der Beischlaf mechanisch und so fad geworden, als würde man jeden Tag eine Praline essen. Irgendwann wollte Kalle etwas anderes…
Kalle kam an den Fischstand heran. Stellte eine dampfenden Becher Tee hin, und Vic argwöhnte schon, dass es eine Art Belohnung war. Für was? Natürlich für den Marsch durch die gefährliche Heide, oder aber…
Kalle berührte sie nicht gerade sanft am Gesäß und grinste fett, als sie zusammenzuckte. Wie alle Männer in Smörrenwödde war auch er grob, stank nach Fusel und wischte sich mit dem Ärmel die Nase ab. Er grunzte schwer, drückte sich heran und fühlte tief.
Endlich hatte sie den Mut sich umzudrehen, zwängte sich vorbei und schubste ihn weg. Atmete tief durch. Rührte sich nicht, starr vor Schreck, tat keine abwehrende Bewegung. Die Stimmung hatte sich verändert. Die Frauen würden nicht zur Hilfe kommen. Das taten sie nie.
Kalle lachte und griff sie am Arm.
An diesem Abend ballte sie die Faust, schwang sie nach vorn und wusste sofort wie durch eine Eingebung, wie sie sich bewegen musste. Ein Schlag, indem alles enthalten war, was einen guten Schlag ausmachte: Kraft, Schnelligkeit, Technik und eine erschreckende, unwiderstehliche Schönheit an roher Gewalt. Hart erwischten die Knöchel sein Kinn, ließen ihn taumeln und schließlich zusammenbrechen. Kalle riss die Augen auf, Speichel benetzten sein Kinn und wirr hing sein Haar im Gesicht. Die anderen Männer schwiegen verdutzt.
Sie spürten nicht, dass die Frau den Kompass für ihr künftiges Leben gefunden hatte.
Natürlich griffen sie an.
Das Entengrün war mehr als nur ein Ort, wo man etwas essen konnte. Es war die wichtigste Schenke (und die einzige!) und wie überall in solch kleinen Dörfern eine Art Mittelpunkt der Gemeinschaft. Zum Abendbrot speiste allein der Dorfschulze, da die Männer es vorzogen daheim bei ihren Frauen zu sein und den Kindern den Weg ins Bett zu zeigen. Dann trudelten die Arbeiter langsam hierher, um zu essen, zu trinken und den neusten Klatsch zu hören. In vielerlei Hinsicht war es das Herz von Smörrenwödde.
Momentan machte das Herz Geräusche.
In Smörrenwödde war man Ärger gewohnt, und nach einem handfesten Streit mit Kalle, Dieter, Jop, Steve und Otmar war es zwar laut geworden, aber doch nicht zu laut. Das änderte sich daraufhin, als Kalles Frau Inge nebst Freundinnen schimpfend sich Vic vornahmen und ihr unschöne Dinge an den Kopf warfen. „Kriech wieder unter deinem Stein!“, „Deinesgleichen bringt nichts anderes als Miesmacherei.“, „Eine Frau – die sich prügelt!? Unnatürlich, widerlich unnatürlich!“. Schließlich verzogen sich die Frauen keifend und lärmend, und Vic setzte sich mit einem hochroten Kopf an ihren Stammplatz. Weit von den anderen entfernt. Es war kein schönes Leben.
Grimmig kippte sie ihren Grog herunter, scharrte mit den Füßen unter ihrem Tisch und versank in Melancholie: wohin sollte ihr Weg sie führen? Egal, nur weit weg. Siebzehn Lenze und ein jedes war überschüttet mit stumpfsinniger Arbeit, einem Dorf, das sie nicht schätzte und einem Land, das von den Göttern verlassen schien. Mit ähnlichen Gedanken verbrachte sie fast jeden Abend hier, trank und sinnierte über Sinn und Unsinn, machte Pläne und verwarf sie wieder und ging schließlich übermüdet in ihre Schlafecke hinten zu den Pferden.
Doch an diesem Abend…
…passierte etwas Neues.
In Smörrenwödde war man Fremde nicht gewohnt, denn selten kamen Händler hierher - je nach Lage des Konflikts. Ein Hausierer mit einem Rucksack voller Bürsten hatte sich an den Tresen gesetzt, sein Gepäck abgestellt und sich langsam umgeschaut.
Der Mann hatte ein freundliches Dutzendgesicht, weiche und warme Augen und schien immerzu zu lächeln. Schon fünf Minuten nach seiner Ankunft – in denen er jedem in der Schenke einer schweigenden Musterung unterzogen hatte, lächelte und jeden mit seinem Blick förmlich zu durchbohren schien – hatte er Vic beobachtet. Schließlich kam er herüber, setzte sich ihr Gegenüber und schaute sie an.
„Du wirkst wie jemand, der schnell aus dieser Gegend verschwinden will.“ Seine Stimme war ein zischendes Flüstern, das trotzdem auf unangenehme Art amüsiert und freundlich klang. „Mögen dich die Leute etwa nicht?“
Vic wagte einen Blick in seine Augen und sah weder Tücke noch Hinterlist. Trotzdem nahm sie sich vor, vorsichtig zu sein. „Was weißt du schon?“
„Es war nicht zu überhören, wie Smörrenwödde zu seinem Spatz steht. So nennen sie dich doch, nicht wahr? Du solltest die Welt bereisen, dich in einer aufgeklärten Gegend versuchen. Wie wäre es mit einem Schnaps? Ich könnte versuchen dich aus deiner Lage zu befreien.“ Er wandte den Blick zum Wirt und bestellte zwei Schnäpse.
„Ja, aber was in aller Welt könntest du…“
„Oh, wir Krämer kommen viel herum.“
Sie musterte ihn. „Glaubst du, dass ich dich begleite und Bürsten von Tür zu Tür verkaufe?“
„Wohl nicht.“ Er lachte leise auf. „Wir können einander helfen. Du gibst mir etwas, ich gebe dir etwas. Alle gewinnen.“
Sie bedachte ihn mit einem schiefen Blick. „Ich mache so was nicht.“
„Ich bin nicht am Beischlaf interessiert“, stellte er klar. „Du hast das Gefühl allein zu sein, am falschen Ort zur falschen Zeit, während die Welt da draußen Abenteurer sucht. Selbst ein tumber Tor kann dort zum Helden werden. Vertane Chancen können einem das Leben madig werden lassen. Ich brauche eine zielstrebige und intelligente Person die gewisse ...Abläufe in Gang setzt.“
„Die reinste Schmeichelei.“
„Du willst doch von der Dunkelküste fort, oder nicht?“
Das Mädchen wartete ihre Antwort erst ab, als der Wirt das Gewünschte brachte. Schnell kippte sie ihren Schnaps herunter, klopfte auf dem Tisch und rülpste leise.
„Ich bin Davo Tamoni, ein bescheidener Händler.“ Er ahmte lässig eine Verbeugung an. „Ich biete dir Überfluss für Körper und Seele. Ein großes, wahres Abenteuer quer durchs ganze Land. Das Schicksal weniger Auserwählter! Du musst mir nur zuhören. Schenke mir deine Zeit, um alles zu erklären. Und es wird sich für dich lohnen. Deine Wahl.“
„Warum ich, …Davo?“
„Warum nicht, Spatz? Das Land ist im Chaos. Die Jahre vergehen, doch alles Gute braucht noch immer Verteidiger. Und du könntest diejenige sein, die dieses Land braucht!“
Die Atmosphäre hatte sich geändert. Jetzt starrte sie ihn an, unsicher, ob er sie auf den Arm nehmen wollte oder zu denjenigen gehörte, die absonderliche Sachen dachten und den Bezug zu dieser Welt verloren hatten. Das mit der Welt etwas nicht stimmte, wusste jedes Kind, aber Vic lebte so weit entfernt vom Geschehen, das sie nicht mal sagen konnte, wer am Konflikt beteiligt war. Es gab Gerüchte, nicht mehr als Hörensagen, aber sie war keine Närrin: sie war nichts anderes als eine ungeliebte Person in einem weit abgelegenen Dorf und ohne jede Bildung. Und doch schien der Hausierer einen Plan zu haben…
„Na gut! Wie sieht dein Plan aus?“
„Willst du eine Ritterin werden? Eine Frau in silberner Rüstung, groß und wunderschön, frei und stark? Eine Kämpferin für das Recht. Einen grauen Wallach, und ein Breitschwert auf dem Rücken, und du bist jemand auf den man hört“, fügte sie leise hinzu und lächelte sanft. „Fahrende Ritter“, erwiderte der Hausierer verstehend. „Herolde des Rechts. Ich verstehe deine Begeisterung.“
„Woher weißt du davon? Vielleicht sollte ich gehen…“
„Überstürze nichts.“ Sanft hielt er sie zurück. „Du willst ein fahrender Ritter werden? Das kannst du, aber von hier aus… ich fürchte, ohne meine Hilfe wirst du hier versauern.“ Er lächelte entschuldigend, als täte ihm die Sache leid, griff in seinen Mantel und holte eine Karte hervor. Bevor er sie ausbreitete, blickte er sie prüfend aus seinen schwarzen Augen an. „Wenn du aber nicht willst, …“
„Doch, doch.“
„Das ist die Dunkle Steppe“, erklärte er und stellte beide leere Gläser auf die Karte, damit sie nicht wieder von allein zusammenrollte. Vic hatte noch nie eine Karte gesehen; geschweige ein Pergament, das voller Symbole und Namen war. Mit seinen spitz geschnittenen, sehr sauberen Fingernägeln zeigte er auf den äußersten Rand, wo mit blauer Tinte Wellen gemalt worden waren. „Smörrenwödde ist das nördlichste Dorf an der Küste. So gut wie alle besiedelten Gebiete leiden unter den Auswirkungen des Krieges und haben mit den Nachwirkungen zu kämpfen. Neben den üblichen Banditen bekommst du es daher auch oftmals mit plündernden Bauern, desertierten oder missgelaunten und reizbaren Soldaten zu tun, denen das Gesetz nicht mehr viel bedeutet. Abseits der Ansiedlungen sieht es nicht viel besser aus. Je weiter du gen Süden wanderst, umso wilder wird das Niemandsland, das ihr die Heide nennt. Und was dir im Dunklen auflauert, willst du erst gar nicht wissen. Du musst zum Schwarzdornwald und triffst dort jemanden, der dir hilft. Das ist unser erster Halt. Die Hexe des Waldes ist eine alte Freundin von mir.“
„Ich paktiere doch nicht mit einer Hexe!“
„Ohne sie wirst du es nicht durch den Schwarzdornwald schaffen, fürchte ich“, warf er schnell ein und sah sie kritisch an. „Höre, Spatz, du hast nicht den Luxus dir deine Freunde auszusuchen. Der Weg zu Ruhm und Anerkennung ist hart und steinig. Die Hexe ist die Erste, der du dich unterordnen musst. Missachte ihre Weisungen und du bist tot. Deine Sippe wird mit dir untergehen.“
Schweigend sah sie ihn an.
„Ich führe dich an den Orten, wo das Schicksal Dutzender von deinen Entscheidungen abhängt, wo Geschichte geschrieben wird und das Wohl der Masse höher wiegt als das Wohl Einzelner. Ich mache dich mit Personen bekannt, die dir helfen werden und noch eine wichtige Rolle spielen. Du wirst Freunde und Feinde finden, fremde Ort sehen und überall in Brugge deine Spuren hinterlassen. Du bekommst dein angestammtes Recht, deinen Wappen und dein Land. Du wirst mit Barbaren hausen und mit Adeligen dinieren, du schmeckst das Blut deiner Feinde und den süßen Nektar der Auserwählten. Du wirst als alte Frau in den Armen deiner Sippe in Wohlstand und Zufriedenheit sterben. Ein Leben voller Streit, Kampf und Abenteuer. Jetzt noch gierst du nach Kampf und Ehre…, wenn du meinem Rat beherzigst, wirst du satt und zufrieden im Haus deiner Eltern leben.“
„Meiner… meiner Eltern!?“ Wieder mal fühlte sie sich überrumpelt. Zu viele Informationen. Zuviel von allem. Langsam begann ihr den Kopf zu schwirren. „Was … kannst du mir über meine Eltern sagen?“
„Verzeih mir, Spatz, aber das musst du selbst herausfinden. Deine Ausbildung beginnt in Brugge Dort, wo noch andere Ritter leben.“
„Kannst du mir nicht mehr sagen?“
„Wenn auf dem Bucheinband das Ende stehen würde – würde dann noch jemand Bücher lesen?“
Mit seinem Rucksack auf dem Rücken stand sie da, während Davo den Wirt mit klingenden Münzen bezahlte. Alles ging so schnell. Zeit ihres Lebens hatte sie sich diesen Tag sehnlichst herbeigewünscht, doch jetzt schien er da und sie fühlte sich kein bisschen bereit. „Das kommt mir zwielichtig vor.“
„Verabschiede dich vom Wirt. Schließlich gehst du für immer fort.“
Brungolf, der gute alte Brungolf, der immer die gleiche fleckige Schürze trug, die Haare niemals zu waschen schien und immer wortkarg seine Gäste bediente. Jener große Mann starrte sie an, als würde er ihr zum ersten Mal gewahr. „Du gehst?“
„Ja.“
„Dann geh.“ Sprachs, und wandte sich um.
Für immer?
„Ich… sage Auf Wiedersehen“, half sie knapp aus, doch es schien nicht die gewünschte Reaktion hervorzurufen. Mit offenem Mund blickte sie dem Wirt nach, der nur mit den Schultern zuckte.
Mit dem Bürstenhändler ging sie hinaus in die kalte Nacht und zum ersten Mal nahm sie alles in sich auf, als wolle sie sich jeden Stein, jede Pfütze und jedes schimmelige Dach sorgfältig einprägen. Es beginnt! dachte sie verzückt und auch ängstlich. Wieso fiel es ihr nur so schwer loszulassen? Dort die Stelle, wo Kalle sie zum ersten Mal unsittlich berührt hatte, dort der Stand wo sie monatelang Fische ausgeweidet hatte. Das klebrige Blut tagelang an den Händen, das Gekröse in einen Eimer werfend und der Rücken voller Schmerzen vom ewigen Stehen. Hier war sie als Kind von einem Hund gebissen worden, war weinend durch die Gassen gelaufen; nach einer Mutter rufend, die doch nie kam, um sie zu trösten.
Dieser Ort hat mich krank gemacht, und doch kenne ich nichts anderes. Aber was ist, wenn es überall auch so ist?
Als hätte er ihre Gedanken erraten, murmelte er: „Ist es nicht.“