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Karen Sander

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Beschreibung

Er malte mit dem Blut seiner Opfer. Nun vollendet jemand sein Werk. An der Universität Liverpool gibt Profilerin Liz Montario einen Workshop für die besten Nachwuchsermittler Europas: Es geht um Cold Cases. Zoe Fischer, die Liz aus ihrer Zeit bei der Mordkommission Düsseldorf kennt, präsentiert zwei ungelöste Fälle, die in das Tatmuster eines berüchtigten Serienmörders passen könnten: Jeremy Dunn machte Furore mit Kunstwerken, gemalt mit seinem eigenen Blut. Angeblich. Tatsächlich ließ Dunn junge Frauen bei lebendigem Leib ausbluten. Liz hat Zweifel an Zoes Theorie, denn «der Schächter» sitzt seit Jahren im Gefängnis. Beide wissen nicht, dass der Mörder längst wieder zugeschlagen hat, und zwar ausgerechnet in Düsseldorf. Und Kriminalhauptkommissar Georg Stadler ahnt nicht, wie gefährlich der Mann ist, den er jagt.

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Karen Sander

Bald stirbst auch du

Thriller

Über dieses Buch

Er malte mit dem Blut seiner Opfer. Nun vollendet jemand sein Werk.

An der Universität Liverpool gibt Profilerin Liz Montario einen Workshop für die besten Nachwuchsermittler Europas: Es geht um Cold Cases. Zoe Fischer, die Liz aus ihrer Zeit bei der Mordkommission Düsseldorf kennt, präsentiert zwei ungelöste Fälle, die in das Tatmuster eines berüchtigten Serienmörders passen könnten: Jeremy Dunn machte Furore mit Kunstwerken, gemalt mit seinem eigenen Blut. Angeblich. Tatsächlich ließ Dunn junge Frauen bei lebendigem Leib ausbluten.

Liz hat Zweifel an Zoes Theorie, denn «der Schächter» sitzt seit Jahren im Gefängnis. Beide wissen nicht, dass der Mörder längst wieder zugeschlagen hat, und zwar ausgerechnet in Düsseldorf. Und Kriminalhauptkommissar Georg Stadler ahnt nicht, wie gefährlich der Mann ist, den er jagt.

Vita

Karen Sander arbeitete viele Jahre als Übersetzerin und unterrichtete an der Universität, bevor sie sich ganz dem Schreiben widmete. Sie lebt mit ihrem Mann im Rheinland und hat über die britische Thrillerautorin Val McDermid promoviert. Unter ihrem wahren Namen Sabine Klewe hat sie bereits zahlreiche Krimis und Thriller geschrieben.

Zuvor

Taunton, Grafschaft Somerset, England

Mai 1986

Es war schon dunkel, als Jeremy Dunn aus dem Pub taumelte. Er sah auf die Uhr. Annabelle wartete seit über einer Stunde auf ihn. Gut so. Dann wäre sie jetzt richtig heiß.

Er lief die kurze Strecke zu Fuß, die Hände in den Hosentaschen vergraben. Matt und Jordan hatten verächtlich das Gesicht verzogen, als er sich verabschiedete, aber die zwei Vollpfosten hatten keine Ahnung. Er gab sich nur mit ihnen ab, weil er wusste, dass sie ihn insgeheim beneideten. Alle waren scharf auf Annabelle, sie war die geilste Braut in ganz Somerset. Aber sie hatte nur Augen für ihn. Nein, besser noch: Sie gehörte ihm. Sie war sein mit Haut und Haar.

Wie erwartet brannte nur in einem Fenster im oberen Stockwerk Licht. Annabelles Eltern waren übers Wochenende verreist, sie bildeten sich ein, ihr süßes Töchterlein würde die Zeit damit verbringen, mit ihrer Freundin für die A-Levels zu büffeln. Schwachköpfe!

Sie hatte versprochen, das hautenge rote Kleid anzuziehen, das er ausgesucht hatte. Und dazu die Schuhe mit den mörderisch hohen Absätzen. Sonst nichts, kein Höschen, kein BH. Allein die Vorstellung, den glänzenden Stoff hochzuschieben und das in Besitz zu nehmen, was sich darunter verbarg, ließ seinen Atem schneller gehen.

Er würde ihr das Kleid vom Leib schneiden, Streifen für Streifen, seine Begierde so lange wie möglich im Zaum halten, die Lust steigern, bis sie explodierte.

Als er zum ersten Mal das Messer angesetzt hatte, bei ihrem zweiten Date in einem Schafstall im Moor, war Annabelle erschrocken zurückgewichen.

«Was hast du vor?»

«Lass dich überraschen.»

Sie hatte gezittert, als die kalte Klinge ihre Haut berührte, ihre Gänsehaut hatte ihn nur noch mehr erregt. Und er hatte der Versuchung nicht widerstehen können, mit dem Messer ihre nackte Brust zu ritzen.

Annabelle hatte aufgeschrien. Er hatte ihr einen Finger auf die Lippen gelegt, ihre süßen, vollen Lippen. Den anderen hatte er in den Schnitt getunkt und mit dem Blut ein Wort auf ihre Brust geschrieben: Mein.

Jeremy ging um das Haus herum zur Hintertür. Im Garten stolperte er über einen Eimer, der scheppernd umfiel, und stieß einen lautlosen Fluch aus. Er blieb stehen und horchte in die Dunkelheit. Nichts.

Kurz darauf stand er in der Küche. Im Haus war es still.

«Annabelle?»

Keine Antwort.

Er schlich die Treppe hoch. In ihrem Zimmer brannte kein Licht. Wartete sie etwa im Dunkeln auf ihn? Er drehte den Schalter. Das Zimmer war leer.

Irritiert wich er zurück in den Korridor. Dann entdeckte er es: Unter der Badezimmertür schimmerte es hell. Mit einem breiten Grinsen marschierte Jeremy auf die Tür zu und stieß sie auf.

Blut war das Erste, was er sah. Blut an der Badewanne, auf dem Boden, an den Wänden. Annabelle lag in der Wanne, ihr linker Arm hing über den Rand, Blut pulsierte aus dem Schnitt, der längs über ihr Handgelenk verlief.

Für einen verrückten Augenblick dachte Jeremy, dass die Wanne mit Blut gefüllt wäre statt mit Wasser, dass Annabelle in ihrem eigenen Blut badete.

Vorsichtig trat Jeremy näher, wäre beinahe ausgerutscht. Dann setzte sein Herzschlag für einen Moment aus.

Annabelle sah ihn an und bewegte die Lippen.

Teil IErste Woche

Burton, Grafschaft Cheshire, England

30 Jahre später. Montag, 10. Oktober

Das Cottage lag verlassen da. Schutzlos. Er hatte auf einem Feldweg am Ortsrand geparkt und war über Umwege zur Haustür gelangt, immer im Schatten der Mauern und Hecken. Vermutlich eine überflüssige Vorsichtsmaßname, denn es war noch dunkel. Aber er war lieber auf der sicheren Seite.

Die Tür stellte kein wirkliches Hindernis dar. Als er im Flur stand, hielt er für einen Moment inne und lauschte. Er war sicher, dass niemand da war, schließlich hatte er den Golf vor zehn Minuten wegfahren sehen. Aber er wollte das Haus spüren, seinen Geruch einatmen. Falsch, nicht den des Hauses, nein, ihren Geruch.

Er streifte die Handschuhe über und bewegte sich langsam durch die Räume. Die Decke war so niedrig, dass er sich unwillkürlich duckte. Im Schlafzimmer zog er die Schubladen auf, schnupperte an den Wäschestücken. Die Bettdecke lag schief, behutsam rückte er sie gerade. Sie würde es nicht bemerken, nicht bewusst. Oder vielleicht doch, weil sie durch das andere, das sie nicht übersehen konnte, alarmiert sein würde.

Er musste lächeln. Wie sehr er solche Spiele liebte!

Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Er stieg die Treppe wieder hinunter, ging in die Küche, nahm den großen, rostigen Schlüssel vom Haken, schnappte sich die Plastiktüte, die er vor der Haustür hatte stehenlassen. Bevor er die wenigen Schritte zum Schuppen lief, vergewisserte er sich, dass niemand in der Nähe war.

Das Schloss hakte, die hölzerne Tür quietschte, als er sie aufstieß. Er nahm sich vor, beim nächsten Mal Öl mitzubringen. Die Morgendämmerung hatte eingesetzt, sodass durch das Schuppenfenster genug Licht fiel. Er blickte sich um. Ein paar Gartengeräte, ein Rasenmäher, einige Kartons und ein alter Schrank an der hinteren Wand, von einer fingerdicken Staubschicht bedeckt. Er öffnete die Türen. Leer. Perfekt. Rasch verstaute er die mitgebrachten Gegenstände. Alle bis auf einen.

Er verschloss die Schuppentür, kehrte zurück ins Haus, hängte den Schlüssel wieder an den Haken, zögerte und legte ihn schließlich auf die Dielenkommode.

Bevor er zu seinem Wagen zurückging, drapierte er sein Präsent gut sichtbar vor der Tür. Zu gern wäre er dabei, wenn sie es fand. Er hatte hin und her überlegt, ob er es wagen sollte. Aber es war zu riskant. Noch war es zu früh, aus der Deckung zu treten. Er hatte schließlich einen Plan. Und das Spiel machte nur Spaß, wenn dieser Plan bis ins Kleinste aufging.

Liverpool, England

«Das hier sind John, Maggie, Neil und Toby Sullivan.» Ryan O’Donnell drückte auf eine Taste seines Laptops, und das Foto einer Familie erschien auf dem Whiteboard: Vater, Mutter, zwei Söhne, der eine noch ein Kleinkind, der andere im Grundschulalter, fröhlich in die Kamera lachend. Die Aufnahme war im Freien gemacht worden, die Sullivans standen auf einer Wiese, im Hintergrund war ein weiß verputztes Haus zu sehen, links davon Felder, in der Ferne weitere Gebäude. «Das Bild ist vor fünfzehn Jahren entstanden, im August 2001. Und das ist die Familie Sullivan drei Wochen später.»

Wieder drückte Ryan die Taste, ein neues Foto wurde an das Whiteboard geworfen: eine Küche im Landhausstil. Blut an den Wänden, auf dem Küchentisch, dem Herd, dem Fußboden, sogar an den Fensterscheiben. Drei Leichen. Die Mutter saß mit ihrem jüngeren Sohn im Arm auf dem Boden, gegen die Spüle gelehnt, die Bluse blutgetränkt, die Augen weit aufgerissen. Das Kind war ebenfalls voller Blut, sein starrer Blick der Kamera zugewandt. Der Vater lag flach ausgestreckt in der Nähe der Tür, das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit zerfetzt, das Gewehr noch im Arm.

Ein Aufstöhnen ging durch die Gruppe. Obwohl alle auf so etwas gefasst gewesen waren, wirkte der direkte Kontrast zwischen der glücklichen Familie und dem grausigen Gemetzel wie ein Faustschlag ins Gesicht.

Gut so, dachte Liz Montario. Abgebrühte Ermittler sind schlechte Ermittler.

Sie betrachtete Ryan O’Donnell, den Iren, der vorn stand und seinen Fall präsentierte, dann die sieben anderen. Polizeischüler aus ganz Europa, die Besten der Besten ihres Jahrgangs, für diesen Workshop an der Universität von Liverpool ausgesucht, weil man sich Großes von ihnen versprach.

Ryan fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, seine Augen fixierten einen Punkt auf dem Boden. Er war der Jüngste der Gruppe, gerade einundzwanzig, sah aber aus wie siebzehn, wozu die gelockten roten Haare und die milchig blasse Haut ihren Teil beitrugen.

Liz bemerkte, dass er trotz des betont lässigen Einstiegs nervös war. Damit war er nicht allein. Das hier war für alle eine Bewährungsprobe, Liz eingeschlossen. Der Workshop war ein Testballon, die Teilnehmer würden an echten ungeklärten Fällen arbeiten. Wenn es dabei einen Durchbruch gab, wäre das ein wunderbares Aushängeschild für die Universität, und Liz’ Chef, Institutsleiter Professor Burntisland, würde das als seinen persönlichen Erfolg verbuchen. Wenn das Experiment scheiterte, würde er auf Distanz gehen. Deshalb hatte Burntisland Liz für diese heikle Aufgabe ausgewählt. Sie war die Fremde, die Deutsche, von der man sich im Zweifelsfall leichter lossagen konnte.

Heute war die erste richtige Unterrichtsstunde. Am vergangenen Freitag hatte Liz nur eine kurze Begrüßungsansprache gehalten und dann die Hausaufgabe fürs Wochenende gestellt: Die Teilnehmer sollten sich ihren Fall aussuchen, ein ungeklärtes Verbrechen, das sie in den nächsten vier Wochen gründlich analysieren würden. Die acht jungen Polizisten waren vorher nicht darüber informiert worden, dass dies der Kern ihrer Fortbildung sein würde, denn Liz hatte verhindern wollen, dass einige schon zu Hause Vorarbeit leisteten. Alle sollten im Kurs Schritt für Schritt mit ihren Kollegen neue Ermittlungsansätze und Theorien entwickeln. Aber Liz hatte den Verdacht, dass einige doch schon Bescheid gewusst hatten. Zumindest zwei von ihnen hatten nicht im Geringsten überrascht ausgesehen.

«Der ältere Bruder», fuhr Ryan fort, «Neil Sullivan, fand seine Familie, als er aus der Schule kam. Die Ermittlungen der Polizei dauerten nur wenige Tage. Der Fall wurde als erweiterter Suizid eingestuft. Alle Projektile stammten aus dem Gewehr des Vaters. An der Waffe waren nur seine Fingerabdrücke. Die Familie hatte Schulden, und John Sullivan hatte eine Art Abschiedsbrief hinterlassen, einen Zettel, der auf dem Küchentisch lag: ‹Es ist besser so›. Allerdings gab es eine Ungereimtheit: Das Gewehr wurde einem Farmer gestohlen, etwa ein halbes Jahr vor der Tat, und zwar hier.»

Ryan projizierte eine Karte von Irland an das Whiteboard, und Liz glaubte, ein erleichtertes Aufatmen zu hören, als das Foto von dem Blutbad in der Küche verschwand. Sie tauschte einen Blick mit Zoe Fischer, der jungen Polizistin aus Deutschland. Sie hatten schon gemeinsam an ähnlich grauenvollen Tatorten gestanden.

«In der Nähe von Galway.» Ryan zeigte auf eine Stelle an der Westküste Irlands. «Die Familie Sullivan lebte bei Cork, zweihundert Kilometer weiter südlich. Fragt sich, warum ein Familienvater drei Stunden Autofahrt auf sich nimmt, um ein Gewehr zu stehlen, wenn er sich und seine Familie auf unzählige andere Arten töten kann. Mal abgesehen davon, dass er auch in Cork an eine Waffe gekommen wäre.»

«Du willst also andeuten, dass es gar kein Suizid war?», fragte Liz.

«Ja.»

«Das ist, genau genommen, kein ungelöster Fall, Ryan.» Liz presste die Fingerspitzen gegeneinander. Das fing ja gut an. Nicht nur ein schwacher, unvollständiger Vortrag, sondern auch ein Fall, an dem sie gar nicht arbeiten durften, weil er offiziell abgeschlossen war. Aber sie musste aufpassen, was sie sagte. Der Brite Kyle Parker, schwarz und mit unglaublich blauen Augen, und Patrick Zenker, der Deutsche, der alles besser zu wissen glaubte, hatten Babyface Ryan bereits auf dem Kieker.

«Vielleicht hat Ryan ja außer der Herkunft des Gewehrs noch weitere Gründe, die dafür sprechen, den Fall noch einmal aufzurollen», sagte Zoe und schüttelte ihre blonde Agnetha-Fältskog-Mähne.

Liz lächelte sie dankbar an.

«Also, ich kannte den Vater», sagte Ryan. «John Sullivan. Nicht näher. Ich habe ihn nur ein Mal gesehen. Er hat unsere Schule besucht und in unserer Klasse über seine Arbeit berichtet. Er war Feuerwehrmann.»

«Und jetzt glaubst du, dass ein netter Feuerwehrmann, der andere aus den Flammen rettet, nicht seine Familie abknallen kann?» Kyle lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf.

«Ich traue es ihm nicht zu, stimmt», erwiderte Ryan trotzig. «Außerdem gab es keinen Grund. Die Familie galt als glücklich.»

«Was heißt das schon?» Patrick schob seine Brille hoch. «Man guckt nie hinter die Fassade, das wissen wir doch alle.»

«Ich weiß, dass John es nicht getan hat.»

«Ach», sagte Kyle. «Und woher?»

«Ich weiß es einfach. Nenn es meinetwegen Bauchgefühl oder siebten Sinn.»

«Huch, jetzt wird’s übersinnlich. Kannst du auch mit Toten sprechen, Ryan?» Kyles blaue Augen blitzten provozierend.

«Stopp!» Liz trat vor. «Natürlich arbeiten wir bei der Aufklärung von Verbrechen auf wissenschaftlicher Basis, ganz besonders, wenn es um Psychologie und Täterprofile geht. Aber Instinkt gehört auch dazu. In eurem Job kann er den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten.»

Betretene Stille senkte sich über den Raum.

Liz sah Ryan an. «Hast du eine alternative Theorie, was an dem Tag geschehen sein könnte?»

«Ich glaube, dass es ein Einbrecher war. Der Mann, der ein halbes Jahr zuvor in Galway das Gewehr mitgehen ließ, brach bei den Sullivans ein, weil er dachte, das Haus wäre leer. Doch Maggie war im Garten. Sie kam mit Toby auf dem Arm in die Küche, überraschte den Einbrecher und wurde erschossen. Der Täter floh und ließ die Waffe zurück. Als John wenig später nach Hause kam, fand er seine Frau und seinen kleinen Sohn tot vor. Aus Verzweiflung nahm er sich das Leben.»

«Dann müsste es einen zeitlichen Abstand zwischen den Taten geben», sagte Liz.

«Den gibt es.» Ryans Augen leuchteten triumphierend auf. «Mutter und Sohn starben zwischen acht und zehn Uhr an dem Vormittag, der Vater zwischen halb zehn und halb zwölf. So steht es im Bericht des Rechtsmediziners.»

«Und seinen anderen Sohn hat er einfach so zurückgelassen?», fragte Lieke van Beek mit zusammengekniffenen Augen. Sie kam aus den Niederlanden, hatte sich solidarisch neben Zoe platziert, der einzigen anderen Frau in der Gruppe.

«Diese Frage stellt sich aber auch bei einem erweiterten Suizid», konterte Ryan. «Wenn John Sullivan wirklich sich und seine Familie umbringen wollte, warum hat er nicht gewartet, bis Neil aus der Schule kam?»

«Also gut.» Liz warf einen Blick aus dem Fenster. Kleine gelbe Blätter segelten von der Linde vor dem Waterhouse Building auf den Boden. Unwillkürlich fröstelte sie. «Ich kläre ab, ob du diesen Fall untersuchen darfst, obwohl er eigentlich abgeschlossen ist. So lange hältst du die Füße still. Du kannst dir aber gern schon mal Ermittlungsansätze überlegen und die Fakten aufbereiten. Was ist über den Einbruch in Galway bekannt? Was ist mit Schmauchspuren? Gibt es Zeugen? So ist das alles noch viel zu dünn.»

«Ich würde gern mit dem Sohn reden», sagte Ryan. Er hatte plötzlich dunkelrote Flecken im Gesicht, die sich mit dem Orangerot seiner Haare bissen.

«Keinesfalls! Du kannst den Jungen nicht in sein schlimmstes Trauma zurückwerfen, solange wir keinen Anhaltspunkt dafür haben, dass etwas anderes passiert ist als das, was im Abschlussbericht der Polizei steht.»

«Der Junge dürfte inzwischen erwachsen sein», bemerkte Kyle spitz.

«Dreiundzwanzig», ergänzte Ryan.

«Trotzdem.»

«Aber …» Ryan senkte den Blick. Sein Gesicht glühte.

«Du hast doch nicht etwa …» Liz wurde kalt. Dieser ganze verdammte Workshop drohte ihr schon am ersten Tag um die Ohren zu fliegen. Auf was hatte sie sich da eingelassen?

«Neil Sullivan ist aus Irland weggegangen, sobald er volljährig war», sagte Ryan mit kaum hörbarer Stimme. «Er hat erst in Schottland gelebt, inzwischen wohnt er in Bournemouth. Er hat zugesagt, sich mit mir am kommenden Wochenende zu treffen.»

Düsseldorf, Deutschland

Kriminalhauptkommissar Georg Stadler lehnte sich an die Motorhaube seines Ford Mustang und sah zu, wie seine Kollegen Birgit Clarenberg und Miguel Rodríguez aus dem Präsidium kamen. Abgesehen von Liz Montario, an die er jetzt lieber nicht denken wollte, waren die beiden die einzigen Menschen, die Stadler als Freunde bezeichnete. Trotzdem wurde er einfach nicht schlau aus ihnen. Im vergangenen Jahr war ihm der Verdacht gekommen, dass Birgit eine Schwäche für ihren Partner hatte, und Stadler hatte sanft nachgeholfen, versucht, die beiden zu verkuppeln. Mit fragwürdigem Erfolg. Zwar verbrachten sie seither viel Zeit miteinander, gingen ins Kino oder Essen, aber die Beziehung schien nicht über eine platonische Freundschaft hinauszugehen. Dabei war Stadler sicher, dass beide mehr wollten.

Was also stimmte da nicht? Waren sie wie Harry und Sally und brauchten einfach noch ein paar Jahre, bis sie merkten, was sie füreinander empfanden? Oder irrte Stadler sich, und die beiden waren vollkommen zufrieden, so wie es war? Stadler war schließlich alles andere als ein Experte, wenn es um die Liebe ging. Nach einer kurzen unerfreulichen Ehe mit einer Kollegin hatte er sich jahrelang mit One-Night-Stands zufriedengegeben, bis er sich im vergangenen Herbst Hals über Kopf verliebt hatte. Die Liaison hatte in einer Katastrophe geendet.

Birgit entdeckte ihn und hob die Hand zum Gruß. «Und, was haben wir?», fragte sie, als sie vor ihm stand. Seit einigen Wochen hatte sie eine neue Frisur, ein Stück kürzer und flotter als ihr alter Haarschnitt, und sie trug etwas mehr Make-up. Vielleicht taten sie und Miguel ja nur so, als wäre ihre Beziehung rein freundschaftlich, um den Frotzeleien im Dienst zu entgehen.

Stadler straffte die Schultern, konzentrierte seine Gedanken auf die Arbeit. «Die Kollegen aus Neuss haben uns angefordert. Eine Kinderleiche in der Erft.»

«Oh nein!» Birgit machte ein bekümmertes Gesicht. «Kein Unfall?»

«Sonst hätten sie uns wohl nicht dazugebeten. Mehr weiß ich auch noch nicht.»

«Dann sollten wir keine Zeit verschwenden.» Miguel zog die hintere Wagentür auf.

Fünf Minuten später erreichten sie die Autobahn. Miguel hatte die Adresse in sein Smartphone eingegeben und dirigierte Stadler zu einer kleinen Straße im Neusser Stadtteil Selikum, die zu einer Brücke über die Erft führte. Links lag Schloss Reuschenberg, geradeaus ein Klärwerk, sonst war nichts zu sehen außer Wiesen und kleinen Waldstücken, die herbstlich bunt leuchteten. Die Wolken hingen tief. Hoffentlich blieb es trocken! Eine Leiche im Wasser war schlimm genug, da musste nicht auch noch Regen mögliche Spuren am Ufer fortspülen.

Vor der Brücke war Absperrband quer über die Fahrbahn gespannt. Mehrere Streifenwagen standen dort, außerdem Zivilfahrzeuge und ein Leichenwagen. Einige Schaulustige hatten sich ebenfalls eingefunden. Stadler stieg aus, Birgit und Miguel folgten ihm.

Ein Polizist in Zivil trat auf sie zu. «Seid ihr die Kollegen aus Düsseldorf?»

«KHK Georg Stadler, das sind Birgit Clarenberg und Miguel Rodríguez.»

«Lutz Behring. Freut mich.» Er ging voran, deutete die Böschung hinunter. «Da unten liegt sie. Ein Mädchen, schätzungsweise elf oder zwölf Jahre alt. Genau wissen wir es noch nicht. Die Kriminaltechnik hat bislang keinen rangelassen, auch den Arzt nicht.»

Stadler reckte den Hals, doch das tote Kind musste hinter den Büschen verborgen sein, die am Ufer der Erft wuchsen. Dafür entdeckte er Marcus Schreiner, den Rechtsmediziner, der, bereits völlig in Schutzkleidung verpackt, auf einem Stein saß und wartete.

Schreiner bemerkte ihn und schnitt eine Grimasse. «Hab mir gedacht, dass ich Sie hier treffen würde.»

Stadler antwortete nicht.

«Gibt es schon Hinweise auf die Identität?», fragte Birgit den Neusser Kollegen.

«Nein», antwortete Behring. «Wir haben keinen Treffer bei den Vermisstenmeldungen. Aber bisher wissen wir ja auch noch nicht viel.»

«Könnte es Suizid sein?» Miguel starrte auf seine Schuhspitzen.

«In dem Alter?» Behring riss die Augen auf. «Hoffentlich nicht.»

Er wollte wohl noch etwas hinzufügen, doch in dem Moment zwängte sich eine weiß gewandete Gestalt durch das Gestrüpp und winkte. «Sie könnten jetzt ran.»

Schreiner packte sein Köfferchen und erhob sich, Stadler, Birgit und Miguel zogen Schutzanzüge über und bewegten sich ebenfalls auf die Böschung zu.

Stadler blieb abrupt stehen, als er das tote Mädchen sah. Sie war vollständig entkleidet und lag unnatürlich gerade ausgestreckt auf der rechten Körperseite, so nah am Fluss, dass ihr Oberkörper vom Wasser umspült wurde und ihre langen blonden Haare sich mit der Strömung bewegten, als wären sie lebendig. Ihre Arme waren so vor dem Körper positioniert, dass sie Bauch und Brust verdeckten. Ein tiefer Schnitt klaffte in ihrem Hals. Die Wunde war hell und blutleer, ausgewaschen vom Wasser.

«Wie lange ist sie schon tot?», fragte Stadler den Rechtsmediziner.

Schreiner blickte zu ihm hoch. «Jedenfalls nicht erst seit ein paar Stunden. Vier oder fünf Tage, würde ich sagen. Genauer geht es im Moment noch nicht.»

Stadler bewegte sich ein Stück näher ans Ufer heran und sah, dass der Körper nicht so unversehrt war, wie er auf einige Meter Entfernung gewirkt hatte. Die Fäulnis war bereits recht weit fortgeschritten, und es gab Spuren von Tierfraß. Nur das vom Wasser umspülte Gesicht wirkte intakt, zumindest die Hälfte, die zu sehen war. Große Augen, Stupsnase, leicht geöffneter Mund.

Stadler warf Birgit einen Blick zu. Sie hielt die Lippen fest zusammengepresst.

Miguel, der dicht neben ihr stand, blickte grimmig drein. «Was ist mit der Tatwaffe?»

«Bisher nichts», antwortete Behring, der ihnen gefolgt war.

«Können wir sie umdrehen?» Stadler stakste ins flache Wasser, positionierte seine Füße auf einem großen flachen Stein, damit die Schuhe nicht nass wurden.

Schreiner packte mit an. Sie rollten den Körper behutsam auf den Rücken.

«Shit», murmelte Miguel.

«Sie ist älter als zwölf.» Birgit sprach aus, was alle dachten. «Mindestens vierzehn, würde ich sagen.»

«Wir haben uns von dem kindlichen Gesicht und der Körpergröße täuschen lassen.» Der Neusser Kollege klang, als müsse er sich rechtfertigen. «Ich gebe das sofort durch. Vielleicht haben wir ja doch eine passende Vermisstenmeldung.» Er zwängte sich durch das Gestrüpp zurück auf die Straße, das Handy bereits am Ohr.

«Dann könnte es doch Suizid sein», sagte Miguel leise.

«Ich weiß nicht.» Birgit legte den Kopf schief. «Ein Teenager, der sich mit einem Schnitt in den Hals umbringt? Das ist ziemlich rabiat, oder?»

«Gibt es aber.» Stadler kratzte sich am Kopf.

«Es mag Teenager geben, die sich auf diese Weise umbringen», schaltete Schreiner sich ein. «Aber dieses Mädchen nicht.»

«Das sehe ich auch so.» Birgit trat näher an die Tote heran und hockte sich neben Schreiner ans Ufer. «Bei einem Selbstmord würde es Probeschnitte geben, nicht nur den einen, der tödlich war. Hier ist nichts dergleichen zu sehen. Lediglich ein einzelner langer, tiefer Schnitt.»

«Gut beobachtet», sagte Schreiner. «Aber das ist nicht der einzige Grund.»

«Machen Sie’s nicht so spannend.» Stadler wurde es allmählich heiß in dem Schutzanzug. Außerdem nervte ihn Schreiners umständliche Art.

«Sie hat keine Leichenflecke auf der Körperseite, auf der sie gelegen hat.» Der Rechtsmediziner deutete mit dem behandschuhten Finger auf mehrere Stellen. «Auch wenn wir in diesem Fall davon ausgehen müssen, dass das Wasser eine große Menge Blut herausgespült hat, müsste dennoch ein Teil auf die Unterseite des Körpers abgesackt sein. Da ist aber nichts.»

«Das bedeutet, dass sie nach ihrem Tod bewegt wurde», stellte Miguel fest.

«Es ist noch komplizierter: Der Körper ist unnatürlich weiß, als wäre er vollkommen blutleer.»

«Wie erklären Sie sich das?», fragte Stadler.

«Ich habe keine Ahnung. Spontan würde ich sagen, jemand hat sie ausbluten lassen.»

Liverpool, England

Zoe Fischer marschierte mit langen Schritten nach vorne, ihr Notebook lässig unter den Arm geklemmt. Selbst in UGG-Boots, Jeans und Schlabber-T-Shirt sah sie umwerfend aus. Liz beneidete sie um ihre Sorglosigkeit, um die Selbstverständlichkeit, mit der sie davon ausging, dass das Leben es gut mit ihr meinte. Und darum, dass sie recht damit hatte. Für Zoe war das Grauen, das Liz am eigenen Leib erlebt hatte, lediglich der Nervenkitzel, den sie an ihrem Job liebte.

Liz nahm einen Schluck Kaffee und lehnte sich zurück. Nachdem Ryan seine Präsentation beendet hatte, hatte Liz zehn Minuten Pause angeordnet, in der Lieke und Tom für alle Kaffee geholt hatten. Tom Krauss war der zweite Brite in der Gruppe. Ein gutaussehender Bursche mit braunem Strubbelhaar und großen ausdrucksvollen Augen, der sich mit allen gut zu verstehen schien. Wie Kyle absolvierte er das Fast Track Training bei der britischen Polizei, die Schnellausbildung für besonders begabte Berufsanfänger. Beide hatten bereits den Rang eines DI, eines Detective Inspectors.

«Jetzt kriegen wir einen Serienmörder, der es auf blonde Frauen abgesehen hat», verkündete Kyle grinsend, gerade als Zoe zu sprechen ansetzte. «Wetten?»

Zoe blinzelte irritiert, fing sich aber sofort wieder. «Du scheinst dich ja bestens auszukennen. Möchtest du meinen Vortrag halten?»

Liz ging dazwischen. «Kyle hält gar nichts, außer seiner Klappe. Fang bitte an, Zoe.»

«Okay.» Zoe schnappte sich ihre Notizen. «Am siebten Februar 2014 fand ein belgisches Ehepaar die Leiche einer jungen Frau am Fluss Coe in Schottland. Sie wurde sehr schnell als Claire Quinn identifiziert, siebzehn Jahre alt, aus Edinburgh. Und sie war blond.» Zoe fixierte Kyle und ließ ein Foto an das Whiteboard werfen. «Claire war völlig entkleidet, sie wurde mit einem einzigen Schnitt durch die Halsschlagader getötet. An Armen und Beinen gab es Fesselspuren. Auffällig war die Positionierung der Leiche.» Ein neues Bild erschien auf dem Whiteboard.

Liz schlug unwillkürlich die Hand vor den Mund. Die junge Frau lag auf der Seite, ihr Körper war so weit nach hinten gekrümmt, dass er beinahe einen Kreis bildete, ein Bein war angewinkelt, das andere abgespreizt.

«Claire wurde nicht da getötet, wo sie gefunden wurde», fuhr Zoe fort. «Und es gibt nur ein ganz kleines Zeitfenster, in dem der Täter sie dort abgelegt haben kann. Das Tal, durch das der Fluss fließt, ist eine Touristenattraktion. Bekannt durch das Massaker von Glen Coe. Ganz in der Nähe der Fundstelle ist ein großer Parkplatz. Dort hat, etwa eine halbe Stunde bevor das belgische Paar die Leiche fand, ein Reisebus gehalten, knapp vierzig Personen sind ausgestiegen, haben Fotos gemacht. Auch vom Fundort. Ohne Leiche.»

«Ziemlich tollkühn, der Killer.» Lieke drehte eine Strähne ihrer kastanienbraunen Haare um den Finger.

«Oder dumm.» Kyle schob seinen Kaffeebecher von sich weg. «Oder er wollte gefasst werden, was aber nicht geklappt hat.» Er sah Zoe an. In seinem Blick lag etwas, das Liz nicht deuten konnte. Widerstand. Trotz. Als hätte Zoe ihm den Kampf angesagt, und er hätte die Herausforderung angenommen. «Hat doch nicht geklappt, oder? Sonst würdest du uns den Fall nicht präsentieren.»

«Der übliche Personenkreis wurde überprüft», antwortete Zoe. «Freunde, Exliebhaber, Nachbarn, bekannte Gewaltverbrecher aus der Gegend. Ohne Ergebnis. Bis heute wurde niemand für die Tat zur Rechenschaft gezogen.»

«Gab es Spuren vom Täter?», wollte Tom wissen. «Fußabdrücke? DNA vielleicht?»

«Falls ja, hat das Wasser des Coes alles weggespült.»

«Ein interessanter Fall», sagte Liz, den Blick auf die seltsam positionierte Leiche gerichtet. Täterbotschaften, verbale, aber auch nonverbale, waren ihr Spezialgebiet. Und das hier war eine Botschaft, so viel stand fest.

«Ich bin noch nicht fertig», riss Zoe sie aus ihren Gedanken.

«Was noch?»

«Das ist der New Forest in Hampshire.» Zoe zeigte ein weiteres Foto, eine Karte von Südengland, in der eine Region eingekreist war. «Wieder ein Fluss, diesmal der Beaulieu, und wieder eine junge Frau, die am Ufer gefunden wurde, und zwar am neunzehnten Oktober vergangenen Jahres, etwa anderthalb Jahre nach der Ermordung von Claire Quinn. Leider war sie schon mehrere Wochen tot, als sie gefunden wurde, die genaue Todesursache konnte nicht mehr festgestellt werden. Es gab eine Verletzung am Hals, die jedoch auch von Tierfraß hätte herrühren können. Dabei war es wohl nur ein Zufall, dass die Leiche so lange unentdeckt blieb. Sie lag in unmittelbarer Nähe einer vielbefahrenen Brücke hinter ein paar Sträuchern. Von der Wiese am gegenüberliegenden Ufer war sie gut zu sehen, aber die war als Weide eingezäunt. Die Tote wurde als Naomi Andrews identifiziert, sechzehn Jahre alt. Da ihr Freund kurz zuvor mit ihr Schluss gemacht hatte, ging man zunächst von Selbstmord aus. Aber es gab keinen Abschiedsbrief und auch sonst keine Hinweise auf Suizid. Außerdem wohnte Naomi in Salisbury. Von dort sind es fast fünfzig Kilometer bis zur Fundstelle. Sie hatte keinen Führerschein. Mit dem Bus hätte sie über eine Stunde bis dorthin gebraucht. Wie ihr seht, war Naomi ebenfalls blond.»

Ein Foto erschien auf dem Whiteboard. Dunkle Augen, schüchternes Lächeln.

«Auch Naomi wurde ungewöhnlich positioniert. Auf den Fotos der Kriminaltechnik ist das nicht so gut zu sehen, weil die Leiche schon stark verwest war, aber ich habe hier die Skizze eines Polizisten.» Zoe ließ die Bleistiftzeichnung einer Frau in Fötushaltung an die Wand werfen.

«Willst du andeuten, die Fälle könnten zusammenhängen?» Patrick runzelte die Stirn. «Wir wissen ja alle, dass du in deinem Praktikum schon mit Serienmördern zu tun hattest.» Er nahm seine Brille ab und warf Liz einen vielsagenden Blick zu. «Aber das hier kommt mir ziemlich dünn vor.» Er zählte an den Fingern ab. «Die Morde wurden an Orten begangen, die Hunderte Kilometer voneinander entfernt liegen. Wir wissen nicht, ob die Frauen auf die gleiche Art getötet wurden. Wir wissen nicht einmal, ob diese Naomi überhaupt getötet wurde. Die Leichen lagen zwar beide merkwürdig verkrümmt am Fundort, aber nicht einmal auf die gleiche Art und Weise. Und außerdem …»

«Ich bin noch nicht fertig», unterbrach Zoe ihn.

Liz runzelte die Stirn. «Noch ein Mord?»

«Nicht ganz, eher die Vorgeschichte.» In Zoes Mundwinkeln zuckte es, als hätte sie eine besondere Überraschung vorbereitet und könne nicht abwarten, sie zu präsentieren.

«Ich bin gespannt.»

«Vor etwas mehr als zehn Jahren machte der sogenannte Exmoor-Killer in Großbritannien Schlagzeilen. Später, als bekannt wurde, wie er seine Opfer tötete, wurde er auch ‹der Schächter› genannt.»

«Fuck», murmelte Kyle. «Du glaubst doch nicht …»

«Lass sie zu Ende reden!» Liz funkelte den jungen Mann ärgerlich an.

«Der Schächter tötete innerhalb von einem Jahr drei Frauen, indem er sie kopfüber aufhängte, die Halsschlagader durchtrennte und sie bei lebendigem Leib ausbluten ließ. Ihr Blut fing er in Eimern auf. Die Leichen legte er am Ufer verschiedener Flüsse des Exmoor ab, immer in seltsam verrenkten Posen.» Zoe zeigte ein neues Bild. «Ich habe selbst eine Skizze gemacht, damit ihr seht, was ich meine.»

Das Bild zeigte drei Frauenkörper. Der erste lag auf dem Bauch, die Beine weit gespreizt, die Arme auf dem Rücken verschränkt. Die beiden anderen sahen aus, als wären sie beim Krabbeln zur Seite gekippt.

«Scheiße», stieß Lieke hervor. «Ist der Täter nicht gefasst worden?»

«Doch, ist er.» Zoe blätterte in ihren Unterlagen. «Der Mörder hat sich quasi selbst verraten, aber nicht durch einen Fehler bei seinen Verbrechen. Etwa zeitgleich mit den Morden sorgte ein Künstler für Furore. Seine Gemälde erzielten unfassbare Preise bei Auktionen. Jeremy Dunn malte mit seinem eigenen Blut, das behauptete er zumindest. Er war weder der Erste noch der Einzige, der das tat, aber er schaffte es, sich besonders gut zu vermarkten. Bis irgendjemandem auffiel, in welch kurzer Zeit Dunn eine große Menge Bilder produziert hatte. Zu viele, als dass er für alle sein eigenes Blut hätte verwenden können. Erst hieß es, er hätte Schweineblut genommen, und es ging nur um Betrug. Doch als man das Blut analysieren ließ, stellte sich heraus, dass es menschlich war, und zwar das der drei Opfer des Schächters. Dunn legte nie ein Geständnis ab, aber er wurde aufgrund der erdrückenden Beweise verurteilt. Er sitzt im Belmarsh Prison in London.» Zoe holte Luft. «Ich glaube, dass Dunn einen Nachahmer hat. Einen Fan, einen Bewunderer. Irgendwer führt Dunns Werk fort.»

«Das ist eine fette These.» Patrick kratzte sich am Kopf. Zoes deutscher Kollege wirkte mit einem Mal nicht mehr überheblich, sondern beeindruckt. «Da hast du dir was vorgenommen.»

«Weißt du, was aus den Bildern geworden ist?», fragte Kyle.

«Das ist doch völlig irrelevant!», fauchte Lieke ihn an.

Liz hob überrascht die Brauen. Bisher hatte die Niederländerin den Eindruck gemacht, als könne sie nichts aus der Ruhe bringen.

«Da wäre ich nicht so sicher», antwortete Kyle völlig ruhig. «Ich schätze mal, dass die Geschichte den Wert der Werke noch weiter in die Höhe getrieben hat. Habe ich recht?» Er sah Zoe an.

Zoe biss sich auf die Unterlippe. «Ehrlich gesagt, weiß ich das nicht. Die Bilder haben mich nur am Rande interessiert.»

«Du glaubst also nicht, dass der Nachahmungstäter – wenn es ihn gibt – ebenfalls mit dem Blut der Opfer Bilder malt?», fragte Patrick.

Zoe wirkte verunsichert, aber nur für eine Sekunde. «Ich glaube nicht, dass das Malen der Bilder zur Handschrift des Mörders gehört, zumindest nicht bei dem Nachahmungstäter. Aber natürlich kann ich mich irren.»

Liz räusperte sich. «Zoe, ich finde sehr spannend, was du uns da präsentiert hast, aber ich glaube, du hast dir zu viel vorgenommen.» Sie sah, wie Zoe enttäuscht das Gesicht verzog, und sprach rasch weiter. «Ich halte den Mord in Schottland für sehr interessant. Er bietet viele Möglichkeiten. Und es könnte hilfreich sein, eine Tathergangsanalyse vorzunehmen und dann ein Täterprofil zu erstellen. Dabei könnten tatsächlich neue Ermittlungsansätze herauskommen. Meiner Ansicht nach solltest du dich darauf konzentrieren.»

«Und der Mord im New Forest? Die Verbindung zu Jeremy Dunn?»

«Ich sehe keine Verbindung zu diesem Dunn. Es sind keine Nachahmungstaten, nur weil den Frauen die Kehle aufgeschnitten wurde und sie am Ufer eines Flusses lagen. Bei dem Opfer im New Forest haben wir ja nicht einmal eine genaue Todesursache. Das ist alles viel zu vage.»

«Ryan darf auch seinem Instinkt folgen.»

Liz starrte Zoe an. Die junge Polizistin hielt ihrem Blick stand.

Im Seminarraum wurde es still. Liz war sich bewusst, wie viel von ihrer Antwort abhing. Ihre Autorität, die Atmosphäre in der Gruppe und nicht zuletzt ihr Verhältnis zu Zoe. Sie beschloss, den Ball zurückzuspielen.

«Okay, dann wollen wir mal sehen, wie gut ihr seid», sagte sie und blickte in die Runde. «Angenommen, der Mord in Schottland gehört nicht zu einer Serie, sondern ist eine Einzeltat, was sagt uns das über den Täter?»

«Er geht ungeplant vor.» Tom legte seinen Kuli auf dem Tisch ab und fuhr sich durch das zerzauste Haar. «Er agiert spontan, ohne über die Konsequenzen nachzudenken. Ein planender Täter hätte sich einen Ablageort ausgesucht, an dem er mit hoher Wahrscheinlichkeit unbeobachtet ist.»

«Sehr gut. Sonst noch was?»

«Er ist leichtsinnig», ergänzte Lieke. «Das könnte bedeuten, dass er nicht sehr intelligent ist. Oder dass er über seine Tat schockiert war und unbewusst gefasst werden wollte.» Sie blickte zu Kyle, der diese These eben schon geäußert hatte.

Liz nickte. «Und jetzt die andere Variante. Wenn der Mord Teil einer Serie wäre, wenn er von den Taten des Schächters inspiriert wäre, was würde das bedeuten?»

«Der Täter hält sich für unantastbar, ähnlich wie Jeremy Dunn», sagte Kyle.

«Könnte stimmen.» Liz lächelte. Diese jungen Ermittler waren wirklich gut. Sie würde ihnen nicht nur eine Menge beibringen können, sondern auch selbst von ihnen lernen. «Fällt euch noch mehr ein?»

«Wenn er Dunn nacheifern würde, müsste er geplant vorgehen», sagte Ryan nachdenklich. «Denn dann müsste jedes Detail stimmen. Das passt aber nicht wirklich zu dem Risiko, das er auf sich genommen hat. Es sei denn, es musste aus irgendeinem Grund genau diese Stelle sein. Vielleicht hat der Ort eine besondere Bedeutung für ihn.»

«Interessanter Gedanke.» Liz blickte in die Runde. «Gäbe es noch eine andere Erklärung?»

«Er fühlt sich sicher. Er hat Übung. Er hat es schon einmal getan.»

Alle Blicke schossen zu Vincent Mulder. Der Landsmann von Lieke hatte bisher noch kein einziges Mal den Mund aufgemacht. Genau wie der Tscheche, der in der hintersten Ecke saß und eifrig in sein Notebook tippte.

Liz zeigte mit dem Finger auf Vincent. «Genau! Darauf wollte ich hinaus.»

«Das heißt …», murmelte Zoe.

«Das heißt, dass du zwei Tage bekommst», sagte Liz. «Zwei Tage, um einen weiteren Mord aufzuspüren, der ins Muster passt. Finde die erste Tat, und du hast deine Serie.»

Düsseldorf, Deutschland

Birgit Clarenberg blinzelte überrascht, als ihr ein großes, schlankes Mädchen mit unzähligen schwarzen Zöpfen und dunkler Haut die Tür öffnete. «Paula? Paula Isenhagen?»

«Ja.»

Birgit hielt ihr den Dienstausweis hin. «Wir sind von der Polizei. Mein Name ist Birgit Clarenberg, das ist Miguel Rodríguez.»

Das Mädchen riss die Augen auf. «Ist es wegen Svenja? Ist ihr was passiert?»

Eine Frau tauchte hinter Paula auf. Sie war blond und hatte nicht die geringste Ähnlichkeit mit dem Mädchen. «Was ist denn los? Wer sind Sie?»

«Kriminalpolizei. Wir möchten mit Ihrer Tochter sprechen. Sie sind doch Frau Isenhagen?»

«Warum wollen Sie das wissen?» Die Frau klang defensiv, warf einen raschen Blick auf das Mädchen. Vermutlich wurde sie oft mit blöden Fragen bezüglich der Herkunft ihrer Tochter genervt.

«Können wir bitte reinkommen?», schaltete sich Miguel ein. «Es geht um Paulas Freundin Svenja.»

«Ach du liebe Güte, dann stimmt es also, dass sie vermisst wird?» Frau Isenhagen sah mit einem Mal betroffen aus. Sie trat zurück, ließ sie ins Haus.

Nachdem klar gewesen war, dass das tote Mädchen deutlich älter war als zunächst angenommen, hatten die Kollegen sie schnell identifiziert: Svenja Valerius, fünfzehn Jahre alt, seit einer Woche vermisst. Stadler war daraufhin mit dem Neusser Kollegen zu den Eltern gefahren. Von dort hatte er vor zehn Minuten angerufen. Die Eltern waren kaum ansprechbar, aber immerhin hatte er ihnen den Namen von Svenjas bester Freundin entlockt.

Sie setzten sich ins Wohnzimmer, das eingerichtet war wie aus dem Katalog eines schwedischen Möbelhauses. Nicht ungemütlich, aber unpersönlich.

«Was ist mit Svenja?», fragte Paula.

«Sie ist tot», sagte Birgit. «Es tut mir sehr leid.»

Das Mädchen biss sich auf die Unterlippe, Tränen liefen ihr über die Wangen. Ihre Mutter legte ihr unbeholfen den Arm um die Schultern. Es sah nicht so aus, als würde sie das häufig tun.

«War es ein Unfall?», fragte Paula schluchzend.

«Nein.» Birgit warf Miguel einen Blick zu. Sie wollte möglichst wenig preisgeben. «Wir gehen davon aus, dass sie ermordet wurde.»

«O mein Gott!» Paulas Mutter schlug die Hände vor den Mund. «Das ist ja grauenvoll! Wurde sie – ich meine, hat der Mörder sich an ihr vergangen?»

«Das wissen wir noch nicht.» Birgit wandte sich wieder an Paula. «Hast du eine Ahnung, ob Svenja mit jemandem verabredet war an dem Tag, als sie verschwand?»

Paula kaute noch immer auf ihrer Unterlippe. Kaum merklich schüttelte sie den Kopf.

«Hatte sie einen Freund?»

Wieder ein Kopfschütteln, und ein hastiger Seitenblick.

Miguel räusperte sich. «Könnte ich vielleicht ein Glas Wasser bekommen?»

«Oh, ja, natürlich. Wie unhöflich von mir.» Frau Isenhagen erhob sich.

«Ich helfe Ihnen.» Miguel folgte ihr in die Küche.

Rasch wandte sich Birgit an das Mädchen. «Svenja und du, ihr hattet bestimmt Geheimnisse. Vielleicht hat sie dir etwas anvertraut, was sonst niemand wissen durfte.»

Keine Antwort.

«Wenn du willst, dass wir den Mann finden, der deiner Freundin das angetan hat, musst du uns erzählen, was du weißt. Auch wenn du glaubst, dass es Svenja nicht recht wäre. Es ist wichtig. Bitte!»

«Sie hat mir nichts erzählt.» Paula rieb sich mit dem Handrücken über das Gesicht.

Birgit reichte ihr ein Taschentuch. «Aber sie hat Andeutungen gemacht.»

«Sie hatte jemanden kennengelernt.» Paula putzte sich die Nase. «Im Internet.»

«Hat sie dir den Namen verraten?»

Paula schüttelte den Kopf und senkte ihn so tief, dass ihr die schwarzen Zöpfe vors Gesicht fielen. «Es war alles furchtbar geheim. Als wäre der Kerl irgendwie berühmt.»

«Hat sie das gesagt?»

«Nicht direkt. Sie meinte nur, sie darf nicht darüber reden, weil es sonst Ärger gibt.»

«Weil er älter war?»

«Kann sein.»

«Vielleicht war er verheiratet?»

Paula blickte auf. «Nein, das glaube ich nicht.»

«Und warum denkst du, dass er etwas damit zu tun hat?» Birgit hörte Geräusche im Flur. Frau Isenhagen und Miguel kehrten aus der Küche zurück. Sie musste sich beeilen.

«Sie wollten sich treffen. An dem Tag, als sie verschwand.»

Birgits Herz schlug schneller. «Wo?»

«Ich weiß nicht. Svenja war total nervös, aber sie wollte nichts verraten.» Plötzlich blitzten Paulas Augen auf. «Aber sie hat mir das hier geschickt.» Sie zog ihr Smartphone aus der Hosentasche, wischte darauf herum und hielt es Birgit hin. Auf dem Bildschirm war das Foto eines attraktiven Mannes Ende zwanzig zu sehen, der lässig an einer Backsteinmauer lehnte, die Arme verschränkt. «Das ist er.»

Burton, Grafschaft Cheshire, England

Liz stieg aus dem Wagen und streckte den Rücken durch. Sie hatte erwartet, dass der Workshop sie fordern würde, doch sie hatte nicht damit gerechnet, dass die Auswahl der Fälle sie vor solche Probleme stellen würde. Dabei stand die Hälfte der Präsentationen noch aus. Sie war gespannt, was noch kommen würde.

Es machte ihr Spaß, mit diesen engagierten jungen Leuten zusammenzuarbeiten, auch wenn es anstrengend war. Sie schloss die Wagentür und lief auf das Haus zu. Es dämmerte bereits, hinter den Fenstern war es dunkel. Wie so oft stellte sie sich vor, wie es wäre, mit David zusammenzuleben. Er war Arzt in Chester. Obwohl sie nicht sehr weit voneinander entfernt wohnten, trafen sie sich unter der Woche selten, denn sie hatten beide einen langen Arbeitstag. David hatte in letzter Zeit mehrfach vorgeschlagen, zusammenzuziehen, doch Liz fühlte sich noch nicht dazu bereit. Sie brauchte einen Rückzugsort, der ihr ganz allein gehörte. Außerdem würde es bedeuten, dass sie ihr Cottage aufgeben und nach Chester ziehen müsste, denn David hatte das größere Haus, in dem es auch ein Zimmer für seinen Sohn Sam gab, wenn er aus London zu Besuch kam.

An manchen Abenden geriet ihre Entschlossenheit jedoch ins Wanken. Dann sehnte sie sich danach, von hell erleuchteten Fenstern begrüßt zu werden und von Davids unbeschwertem Lachen.

Liz hatte die Haustür fast erreicht, als sie bemerkte, dass auf der Fußmatte etwas lag. Verwundert trat sie näher, zuckte im nächsten Augenblick erschrocken zurück. Eine Schlange! Nur mit Mühe unterdrückte sie einen Schrei. Sie blieb abwartend stehen, doch das Tier rührte sich nicht. Vorsichtig berührte sie es mit dem Fuß.

Nichts. Die Schlange war tot.

Erleichtert atmete Liz auf. Blödes Vieh! Warum musste es ausgerechnet vor ihrer Haustür verenden? Es hatte ihr einen Riesenschreck eingejagt. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass es in England Schlangen gab. Sie machte ein Foto mit dem Handy, dann stieg sie über das tote Tier hinweg und schloss die Haustür auf. Sie würde es später in die Mülltonne werfen. Jetzt brauchte sie erst einmal einen starken Tee. Mit Schuss.

Eine halbe Stunde später machte sie es sich auf dem Sofa bequem. Sie hatte im Internet nachgeschaut. Das Tier auf ihrer Fußmatte war eine Kreuzotter. Davon gab es jede Menge in England, auch wenn sie sich normalerweise nicht in die Nähe von Häusern begaben.

Als Liz ins Bad ging, um sich die Zähne zu putzen, hatte sie den Vorfall fast schon wieder vergessen. Bis ihr Blick auf das Bett fiel. Die Decke lag so gerade auf der Matratze, als hätte jemand die Abstände mit dem Lineal abgemessen, und sie war so glatt gestrichen, dass sie keine einzige Falte warf.

Unwillkürlich hielt Liz die Luft an. In ihrem Nacken kribbelte es. Und im gleichen Moment schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, dass die Kreuzotter womöglich nicht aus freien Stücken den Weg vor ihre Haustür gefunden hatte.

Burton, Grafschaft Cheshire, England

Am nächsten Morgen

Er schreckte hoch, als es knallte. Fuck! Was war das?

Hektisch schaute er sich um. Er war eingeschlafen, das hätte nicht passieren dürfen. Die Scheiben waren beschlagen. Was draußen vor sich ging, war nicht zu erkennen. Er horchte. Keine Schritte. Keine Stimmen. Keine Menschenseele in der Nähe. Erleichtert stieß er den Atem aus. Hätte ihm gerade noch gefehlt, auf seinem Beobachtungsposten bemerkt zu werden.

Wieder hörte er etwas über sich. Leise Tritte. Das musste ein Tier sein. Vermutlich eine Katze. Das Vieh hatte ihn geweckt, als es aufs Wagendach gesprungen war. Sein Glück. Sonst hätte er noch Stunden weitergepennt.

Er blickte auf die Uhr. Viertel nach sieben. Er wischte mit dem Ärmel ein Sichtloch in die beschlagene Frontscheibe und spähte nach draußen. Nebelschleier hingen über den Feldern. Am Horizont ging eine blutrote Sonne auf.

Er stieg aus. Eine schwarze Katze sprang erschrocken vom Autodach und rannte davon. Er reckte seine steifen Glieder. Dann spähte er in Richtung des Dorfes. Die Häuser waren winzig, doch mit seinem Fernglas waren auch Details zu erkennen. Er hatte der Versuchung doch nicht widerstehen können, sie zu beobachten, wenn sie sein Präsent fand. Er hatte mit sich selbst gewettet, dass sie nicht ihren blonden Arzt anrufen würde, und er hatte die Wette gewonnen. Er hatte sie richtig eingeschätzt. Sie ließ sich ihre Angst ungern anmerken. Und dass er ihr Angst eingejagt hatte, stand fest.

Die halbe Nacht hatte in ihrem Schlafzimmer das Licht gebrannt. Wahrscheinlich hatte sie kein Auge zugetan. Dabei ahnte sie nicht, dass das erst der Anfang war. Dass sie nie wieder Schlaf finden würde, wenn er mit ihr fertig war.

Liverpool, England

Zoe stieg aus ihren Stiefeln und reckte sich. Sie war erschöpft, aber sie hatte noch lange nicht Feierabend. Die Frist, die Liz ihr gesetzt hatte, lief in gut vierundzwanzig Stunden ab. Deadline war morgen um Mitternacht. Gestern hatte Zoe sich an den Computer gesetzt, sobald Liz den Unterricht beendet hatte, und bis spät in die Nacht vergeblich alle möglichen Datenbanken durchforstet. Heute musste sie etwas finden. Vorher würde sie nicht ins Bett gehen. Den ganzen Tag hatte sie auf heißen Kohlen gesessen, sich kaum auf die Präsentationen der anderen konzentrieren können. Sie wusste, dass sie einem Serienmörder auf der Spur war, mehr noch, sie war sicher, dass auch Liz es wusste, es ihr aber nicht zu leichtmachen wollte. Das konnte sie haben. Zoe liebte Herausforderungen.

Sie stellte ihr Notebook auf den Tisch und klappte es auf. Ihre Notizen legte sie daneben. Nachdenklich betrachtete sie die Fotos der beiden Opfer. Claire Quinn und Naomi Andrews. Zwei ermordete junge Frauen, fast noch Kinder. Und niemand, der dafür zur Verantwortung gezogen worden war. Zoe presste die Lippen zusammen. Sie würde dafür sorgen, dass ihr Tod nicht ungesühnt blieb. Sie hatte zwei Mordserien mit Georg Stadler und seinem Team gelöst, sie hatte mit den besten Ermittlern zusammengearbeitet und viel von ihnen gelernt. Das würde sich jetzt auszahlen.

Zoe nahm zwei Nadeln und pinnte die Fotos an die Wand. Dann trat sie ans Fenster. Es war bereits dunkel draußen. Und es regnete. Liz hatte sie vorhin beim gemeinsamen Abendessen gefragt, wie sie auf den Fall gestoßen war, und sie hatte gelogen, sie wusste selbst nicht, warum. Es war ihr irgendwie peinlich gewesen zuzugeben, dass es gar nicht ihre Entdeckung gewesen war. Sie hatte den ganzen Samstagvormittag damit verbracht, nach ungelösten Fällen zu suchen, aber nichts gefunden, was sie interessierte. Nach dem Mittagessen hatte an ihrem Arbeitsplatz im Gemeinschaftsraum ein Stapel Ausdrucke gelegen.

«Was ist das?», hatte sie gefragt.

Tom hatte von seinem Laptop aufgeblickt. «Von Kyle. Hat er liegen lassen. Fälle, die er sich ausgedruckt hat, aber dann doch nicht nehmen wollte. Lauter langweiliges Zeug, hat er gesagt. Bis auf einen Mord, aber der war ihm zu kompliziert.» Tom hatte gegrinst. «Den hat er sich wohl nicht zugetraut.»

Neugierig hatte Zoe den Stapel durchgeblättert. So war sie erst auf den Mord in Schottland, dann, nach zwei Raubüberfällen und einer Familientragödie, auf den ungeklärten Todesfall in Südengland gestoßen. Kyle hatte die beiden Verbrechen wohl nicht miteinander in Verbindung gebracht. Jetzt war er vermutlich sauer, dass er nicht selbst darauf gekommen war. Oder erleichtert.

Es klopfte.

Zoe fuhr zusammen. Auf Socken stapfte sie zur Tür, ertappte sich dabei, dass sie sich wünschte, es wäre Tom. Sie mochte ihn. Sehr sogar. Er könnte ihr bei der Recherche helfen, und dann …

Doch es war nicht Tom. Ondřej Vanišov, der Polizeischüler aus Prag, schielte sie verlegen an. Zoe zog erstaunt die Brauen hoch. Bisher hatte sie kaum ein Wort mit Ondřej gewechselt. Er war sehr still, versteckte sich ständig hinter seinem Bildschirm.

«Ich dachte, du könntest Hilfe gebrauchen», sagte er.

«Hilfe?»

Ondřej blickte den Flur auf und ab.

Zoe verstand den Wink. «Komm doch rein. Magst du ein Bier?»

«Oh, gern.»

Zoe ging zum Kühlschrank. Die Zimmer des Gästehauses der Universität waren nicht nur alle mit eigenem Bad, Arbeitsplatz und Internet ausgestattet, sondern auch mit einer winzigen Küchenzeile.

«Ich habe hier Stoodley Stout. Aus Yorkshire.» Sie öffnete die Flaschen. «Keine Ahnung, wie es schmeckt.»

«Dann sollten wir es herausfinden.» Ondřej lächelte, und sein ganzes Gesicht veränderte sich. Plötzlich sah er richtig nett aus, nicht direkt attraktiv, aber sympathisch.

«Du solltest das öfter tun», sagte Zoe und reichte ihm eine Flasche.

«Was?»

«Lächeln.»

Er wurde rot.

«Du wolltest mir helfen», sagte Zoe schnell. Nicht dass er ihre Bemerkung als Anmache missverstand.

«Äh, ja.» Ondřej kratzte sich am Kopf.

Zoe nahm einen Schluck aus ihrer Flasche, lehnte sich gegen den Tisch.

Ondřej trank ebenfalls. «Hm, lecker.» Er bemerkte Zoes erwartungsvollen Blick. «Du hast noch keinen dritten Mord gefunden, nehme ich an?»

Zoe schüttelte den Kopf. «Aber das werde ich, verlass dich drauf.»

«Ich kenne mich ganz gut mit Computern aus. Will sagen, mein Spezialgebiet ist IT-Forensik.»

«Ach ja?» Zoe hatte keinen Schimmer, worauf er hinauswollte.