8,49 €
Hinter den Fassaden des Schlagergeschäfts erlebt Kommissar Müller so manche Überraschung. Nach der Probe für eine Schlager-Show in der Bamberger Brose-Arena wird der populäre Fernsehmoderator Fabian Goldstein erschlagen. Die Mordwaffe ist das 'Goldene Seidla', ein Pokal, mit dem er für sein Lebenswerk geehrt werden sollte. Kommissar Horst Müller ermittelt mit seiner Kollegin Paulina Kowalska in der glitzerndsten aller Musikszenen – von heiler Welt keine Spur!
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 312
Harry Luck wurde 1972 in Remscheid geboren und lernte dort bei der Lokalzeitung das journalistische Handwerk. In München studierte er Politikwissenschaften und arbeitete als Korrespondent und Redakteur für Radio, Nachrichtenagenturen und Onlinemedien. Seit 2012 lebt er mit seiner Familie in Bamberg, wo er die Öffentlichkeitsarbeit des Erzbistums verantwortet.http://www.harryluck.dehttp://www.facebook.com/luck.harry
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
©2018 Emons Verlag GmbH Alle Rechte vorbehalten Umschlagmotiv: Hendrik Steffens Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer Umsetzung: Tobias Doetsch Lektorat: Carlos Westerkamp eBook-Erstellung: CPI books GmbH, LeckISBN 978-3-7408-0425-1 Franken Krimi Originalausgabe
Unser Newsletter informiert Sie regelmäßig über Neues von emons: Kostenlos bestellen unter www.emons-verlag.de
Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann, München.
Für Nadine
Marmor, Stein und Eisen brechen. Aber unsere Liebe nicht, das kann ich hier versprechen.
Schlager ist geil!
Florian Silbereisen
Schlager ist eine seltsame Sache.
Dieses Phänomen einfach nur als Musik zu bezeichnen, würde ihm auf vielen Ebenen nicht gerecht werden.
Felix Zwinzscher in »Die Welt«
EINS
Ich konnte nicht mehr genau nachvollziehen, wie ich in diese brenzlige– um nicht zu sagen aussichtslose– Situation geraten war. Ich befand mich mit fünf weiteren Opfern in einem abgedunkelten Raum, ich war derjenige, der vom Ausgang am weitesten entfernt saß. Ein möglicher Fluchtweg war versperrt von einer Frau namens Natascha Scharrer, einer Mittvierzigerin, die hier die Rolle der Geiselnehmerin innehatte. Bewaffnet war sie mit einer Art Plastiksprengstoff und einem unwiderstehlichen Lächeln. Ich konnte von Glück reden, dass man mir nicht das Handy weggenommen hatte, und so nutzte ich den Moment, in dem alle gebannt an Frau Scharrers Lippen hingen. Klassisches Stockholm-Syndrom mitten in Bamberg. Aber nun konnte ich unbemerkt unter dem Tisch eine SMS an meine Kollegin, Kriminalmeisterin Paulina Kowalska, schicken.
»Die praktischen Wichtel sind wirklich jeden Cent wert«, sprach Frau Scharrer, und alle Anwesenden nickten ehrfürchtig. Sie erläuterte mit eindrucksvollen Gesten die Vorzüge der kleinen, spülmaschinenfesten Plastikbehälter mit aromadichtem Ploppverschluss, in denen man Kräuter, Kaffeesahne oder Herz-Kreislauf-Pillen aufbewahren konnte. Im konkreten Fall aber wurde demonstriert, dass man mit ihnen genau die richtigen Mengen für die Zubereitung eines köstlichen Mokka-Eierlikörs portionieren konnte. Jetzt fiel es mir wieder ein: Der Likör war es, womit meine Nachbarin, Frau Weimer, mich aus dem ersten Stock in ihre Wohnung gelockt hatte. Und dass irgendetwas jeden Cent wert war, hatte ich in den vergangenen dreißig Minuten mindestens ein Dutzend Mal gehört. Frau Scharrer bereitete damit wohl eine eklatante Lösegeldforderung vor.
Ich schaute möglichst unauffällig auf das Display meines alten Nokia 3310 und wartete auf das erlösende Signal. Wäre Frau Scharrer nicht Mitglied der fränkischen Plastikdosenmafia, sie könnte für ihr Alter durchaus attraktiv wirken. Rein optisch erinnerte sie mich mit ihrer blonden Mähne an eine frühere Nachrichtensprecherin, die als Anhängerin von Verschwörungstheorien zuerst vom Fernsehschirm und schließlich ganz von der Bildfläche verschwunden war. Frau Scharrers Fingernägel waren in der Farbe ihres Lippenstifts lackiert. Sie trug eine sehr gut sitzende Jeans, ein kurzärmeliges weißes Oberteil mit schwarzen Punkten, dessen tiefer Ausschnitt von einer locker hängenden hellblauen Schürze bedeckt wurde.
Die sogenannte Partymanagerin passte damit nicht in das Umfeld der geblümten Siebziger-Jahre-Tapeten, des schweren Mahagonischranks und der Polstermöbel, die als Kulissen für jeden Schwarz-Weiß-Film getaugt hätten. Frau Scharrer hob sich optisch auffallend ab von den übrigen Teilnehmerinnen, die alle jenseits der sechzig waren und gebannt auf die präsentierten Haushaltsprodukte schauten, von denen fraglos jedes jeden Cent wert war.
Eine der Damen war Frau Weimer. Sie war über siebzig und an diesem Sonntagabend die offizielle Gastgeberin, die den Service des Plastikherstellers in Anspruch genommen hatte, die Direktverkaufsparty von einer professionellen Fachkraft organisieren zu lassen. Als sie mich ganz stolz zu ihrer ersten »Dubberbahdi« mit Likörchenprobe eingeladen hatte, hatte ich nicht ablehnen können. Es war wohl auch ihre Art, Dankbarkeit dafür zu zeigen, dass ich regelmäßig für sie Einkäufe erledigte oder den Treppenreinigungsdienst übernahm, wenn sie an der Reihe war. Alle drei Monate bat sie mich zudem, eine aktualisierte Fassung der Einladungsliste für ihre Beerdigung auszudrucken. Die Aktualisierungen bestanden meist darin, dass inzwischen verstorbene Personen zu streichen waren, während Frau Weimer selbst sich trotz ihres Alters bis auf gelegentliche Blutdruckprobleme und einen chronisch überhöhten Cholesterinspiegel noch prächtiger Gesundheit erfreute. Ich erläuterte ihr immer wieder, dass neuen medizinischen Erkenntnissen zufolge Eier– und damit hoffentlich auch Eierlikör– sich nicht negativ auf den Cholesterinspiegel auswirkten.
Ich hatte nicht ahnen können, wie schrecklich langweilig es werden sollte. Denn eigentlich hatte ich mich schon auf einen gemütlichen ZDF-Fernsehabend mit meinen Lieblingen Fabian Goldstein und Tanja Bauer gefreut. Die Plastikdosenshow von Frau Scharrer war keine wirkliche Alternative zur gebührenfinanzierten Schlagerparade. Solange meine Tochter Andrea bei ihrer Mutter in Forchheim wohnte, hatte sie mich oft am Wochenende in Bamberg besucht. Doch seit diesem Semester war sie wegen ihres Studiums der Kommunikationswissenschaften in Bamberg und verbrachte die Wochenenden wohl lieber mit Kommilitonen auf irgendwelchen Partys. Sie lebte in einem Neunzehn-Quadratmeter-Appartement auf der Erba-Insel, das mehr Miete kostete als meine komplette Altbauwohnung am Markusplatz.
»Herr Müller«, sprach mich Frau Scharrer an, als hätte sie meine Gedanken erraten. »Kennen Sie eigentlich schon die Klima-Oase?«
»Die was?« Hatte die Wellnesslandschaft im Bambados einen neuen Namen? Oder sprach sie von der Obermain-Therme?
»Ich meine diese praktische Dose mit Rillen im Boden, ideal für Sie als Beamter für die Mittagspause. Sie können damit Obst, Gemüse oder fertig zubereitete Gerichte frisch halten und transportieren. Sie sind doch alleinstehend und haben niemanden, der für Sie Mittagessen kocht, oder?«
Es klang fast wie ein Vorwurf. Woher wusste sie das? Vermutlich hatte Frau Weimer über mein Privatleben geplaudert. Ich war tatsächlich seit über zehn Jahren geschieden. Und weil es in der Bamberger Polizeiinspektion keine Kantine gab, nahm ich meine Pausenbrote täglich in einer Plastikdose mit zur Arbeit, die ich mindestens so lange in Gebrauch hatte wie mein Nokia-Handy, dessen werksmäßig eingestellter Standardklingelton mich in diesem Moment davor bewahrte, eine Stellungnahme abgeben zu müssen.
»Sie entschuldigen«, sagte ich freundlich lächelnd, stand auf, zog das klingelnde Handy aus meiner Hosentasche und zeigte es mit ernster Miene in die Runde, um meine Worte zu unterstreichen: »Ich habe Bereitschaft.«
»Herr Müller ist Kommissar bei der Kripo«, hörte ich Frau Weimer ehrfürchtig flüstern.
»Mit einem Polizisten im Haus muss man keine Angst vor Einbrechern haben«, sagte eine Dame mit weißer Dauerwelle und Rüschenbluse neben ihr. »Es stand jetzt wieder in der Zeitung: Die dunkle Jahreszeit ist die Hauptsaison für Wohnungseinbrüche. Und gerade hier im Parterre lebt man ja wie auf dem Präsentierteller. Und die Tage werden ja schon wieder kürzer.«
»Kriminalhauptkommissar Müller, Kommissariat1«, meldete ich mich mit gewichtiger Stimme. Zuerst hörte ich nichts, ich rüttelte das Gerät mehrmals. Ein Wackelkontakt machte sich leider immer häufiger bemerkbar. Dann erklang die Stimme meiner Kollegin.
»Hallo, Horst, hier ist Paulina. Warum melden Sie sich so förmlich mit Dienstgrad und Abteilung? Was ist los?«
»Was ist die Todesursache?«, fragte ich. »Gibt es Zeugen?«
»Was? Wer ist tot?«, reagierte Paulina irritiert.
»Berühren Sie nichts!«, sagte ich bestimmt. »Verwischen Sie keine Spuren! Ist der Rechtsmediziner schon vor Ort?«
»Horst? Hallo? Alles klar bei Ihnen? Hier ist weit und breit kein Rechtsmediziner. Und auch keine Leiche.«
»Bleiben Sie ganz ruhig. Ich bin in fünfzehn Minuten bei Ihnen.«
»Ich bin ruhig, Horst, warum soll–« Weiter kam meine Kollegin nicht, denn ich drückte die rote Taste, steckte das Telefon wieder in meine Hosentasche, während ich ernst in die Runde blickte. »Es tut mir sehr leid, ich hätte gern noch mehr Zeit mit Ihnen verbracht. Aber die Pflicht ruft.« Ich seufzte tief, um mein Bedauern so glaubwürdig wie möglich wirken zu lassen.
Ich war schon an der Tür, als Frau Scharrer mich noch sanft am Arm fasste. »Nehmen Sie noch ein Fläschchen von diesem köstlichen Likör mit. Auch wenn Sie ihn im Dienst nicht trinken dürfen.«
»Sehr freundlich von Ihnen«, sagte ich, ergriff die Null-Komma-drei-Liter-Flasche und verabschiedete mich in die Runde. »Einen schönen Abend noch. Bis zum nächsten Mal.« In Gedanken fügte ich hinzu: aber sicher nicht in diesem Leben.
Ich verließ die Erdgeschosswohnung und fuhr mit meinem zwischen Asia-Imbiss und Vintageladen abgestellten Pedelec einmal um den Block für den Fall, dass mich jemand vom Fenster aus beobachtete. Dann stellte ich mein Rad ums Eck in der Kapuzinerstraße ab, schlich mich zurück und betrat das hundert Jahre alte Wohnhaus in der Hoffnung, dass die knarzenden Treppenstufen mich bei den Hörgeräteträgerinnen nicht verraten würden.
Als ich meine Wohnung im ersten Stock erreicht hatte, schloss ich leise die Tür hinter mir, ließ mich in meinen Fernsehsessel fallen, zückte mein Mobiltelefon und schüttelte es, bis es Empfang zeigte. Ich hatte es bislang strikt abgelehnt, mir eins von diesen modernen Smartphones anzuschaffen, obwohl für viele Kollegen Polizeiarbeit nur noch mit Hilfe von WhatsApp-Gruppen und ähnlichem Firlefanz denkbar war. Weil die neue BOS-Tetra-Technik beim Digitalfunk zu schmalspurig war, um Videos und Bilder zu versenden, griffen die meisten Beamten auf ihre privaten Handys zurück, wenn sie ein Tatortfoto oder ein Fahndungsbild versenden wollten. Nun allerdings stand die Umrüstung vieler Beamter auf iPhones von Apple bevor, auf denen ein polizeiinternes und angeblich abhörsicheres, vor allem aber der Europäischen Datenschutz-Grundverordnung entsprechendes Nachrichtensystem installiert werden sollte. Doch jetzt schickte ich eine klassische SMS an Paulina: »ALLESOK. WAREINPRIVATERNOTFALL. DANKEFUERDIERETTUNG. ERKLAEREALLESMORGEN. HM«, tippte ich. Dann schaltete ich das ZDF ein.
***
»Bunte Blätter, warmer Tee, wir gehen raus bei jedem Wetter, im Herbst ist’s einfach schee«, sangen zwei Dutzend Schlagerstars, die sich im Halbkreis stehend an den Händen hielten, zur Melodie eines Beatles-Klassikers auf der Bühne der großen Schlagerparade. Die Interpreten der Sendung »Ein Abend mit Fabian und Tanja« waren leider schon zum Finale angetreten. Die Show stand diesmal unter dem Motto »Herbst ist Trumpf«. Höhepunkt war das Comeback des holländischen Stargeigers Ton van der Leyden, der nach langer, schwerer Krankheit erstmals wieder im Fernsehen auftrat. Die Boulevardpresse hatte schon ausführlich spekuliert, bei der Krankheit habe es sich um chronische Erfolglosigkeit gehandelt und der Auftritt in der Fabian-und-Tanja-Show könnte die einzige wirksame Therapie gegen das Leiden van der Leydens sein. Ich bedauerte, den Auftritt des Geigers verpasst zu haben. Während die Crème de la Crème des deutschen Schlagers weiterhin gegen den Herbstblues anschunkelte, öffnete ich die Flasche Mokka-Eierlikör und goss ein Gläschen ein.
Sollte der angebrochene Abend doch noch für etwas gut gewesen sein? Eierlikör und Schlager passten für mich sehr gut zusammen. Beides waren Leidenschaften, zu denen man sich öffentlich nicht bekennen durfte, wenn man nicht als Oberspießer gelten wollte. Dass mein Röhrenfernseher auch noch in einer rustikalen Schrankwand eingebaut war, rundete das Bild ab. Ich hatte mir schon lange abgewöhnt, etwas nicht mehr zu lassen, bloß weil andere es uncool finden könnten.
Natürlich war die Co-Moderatorin Tanja Bauer wie in jeder Sendung als Sketchpartnerin und Backgroundsängerin von Fabian Goldstein aufgetreten. Ich liebte Schlagershows auch wegen ihrer Vorhersehbarkeit in der Abfolge und bei den Mitwirkenden. Und dass Tanja und Fabian auch privat ein Paar waren, gab dem Zuschauer bei jeder Sendung das Gefühl, es mit wirklichen Menschen mit echten Gefühlen zu tun zu haben und nicht mit einer erfundenen Schweinwelt wie in der Popmusik, wo die Protagonisten mainstreamtauglich am Reißbrett entworfen und in Castingshows nach dem Massengeschmack des Publikums konstruiert wurden.
Während die Instrumentalmusik leise weiterlief, löste sich Fabian Goldstein aus der Schunkelriege und trat zwei Schritte vor. Die Stars klatschten weiter rhythmisch im Takt, von der Hallendecke fielen Glitzersternchen hinunter. Eine Kanone feuerte buntes Konfetti in die Luft. Der sympathische Entertainer, der gleichermaßen singender Moderator und moderierender Sänger war, trug ein schwarzes Sakko mit weißem Einstecktuch, darunter ein tief ausgeschnittenes T-Shirt, das seine Brustbehaarung dezent in Szene setzte, dazu eine enge Röhrenjeans mit den inzwischen obligatorischen Fetzenlöchern. Er bedankte sich überschwänglich bei den Zuschauern für ihr Interesse, wünschte allen Gesundheit und Genesung und kündigte für die Winterausgabe der Fabian-und-Tanja-Show im Dezember ein besonderes Highlight an: »Freuen Sie sich mit mir auf die großen Stars der Schlagerwelt und erleben Sie nach einer langen Pause die Rückkehr ins Showgeschäft von unserem lieben Alpenrocker DJJohnny!«
Das Publikum spendete tosenden Applaus für die Ankündigung des zweiten Comebacks des Jahres. Ich erinnerte mich, über diesen Sänger gelesen zu haben, dass er Privatinsolvenz angemeldet hatte und dringend einen neuen Hit brauchte, um seine Schulden zu bezahlen. Über ihn hieß es in der Presse zudem, dass er mit seinem forcierten Dialekt eine utopische Heimat der Vergangenheit besinge, die es so nie gegeben habe.
Ich sah, wie Fabian hinter sich blickte, die Hand zu Tanja ausstreckte und sie sanft an seine Seite zog. »Und für die Fans von Tanja und mir«, fuhr er fort, »haben wir in der nächsten Sendung eine besondere Überraschung. Ihr könnt euch freuen!« Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange, was noch mal einen Extra-Applaus auslöste. »Und jetzt verabschieden wir uns aus der Wuppertaler Uni-Halle und freuen uns ganz besonders auf ein Wiedersehen am vierten Adventssonntag zu unserer Winterausgabe, diesmal aus meiner wunderschönen Geburtsstadt Bamberg. Servus und gute Nacht sagen Fabian Goldstein…«
»…und Tanja Bauer«, ergänzte die Frau an seiner Seite. Die Musik wurde wieder lauter, das Schlagerpaar trat zurück in die Reihe, und alle gemeinsam schunkelten dem Ende der Show entgegen.
Ach, die nächste Sendung kommt aus Bamberg, dachte ich. Davon hatte ich noch nichts gehört. Dass Fabian Goldstein ein gebürtiger Bamberger war, hatte ich tatsächlich mal gelesen. Genau wie Thomas Gottschalk war er schräg gegenüber meiner Wohnung am Markusplatz geboren worden, als dort noch die Frauenklinik war. In den Medien wurde aber immer betont, dass Fabian das Singen bei den Regensburger Domspatzen gelernt hatte. Genauso war Gottschalk nicht als Bamberger, sondern als Kulmbacher bekannt. Und die ebenfalls in Bamberg geborene Staatsministerin für Instagram und anderen Digitalkram, Dorothee Bär, wurde in der Öffentlichkeit nach Unter- statt nach Oberfranken verortet.
Der Mokka-Eierlikör schmeckte tatsächlich außerordentlich gut. Ob das wirklich an den Wichtelbechern lag, mit denen Frau Scharrer die Zutaten gemixt hatte? Konnte man dafür nicht auch einfache Schnapsgläser nehmen? Oder ganz normale Messbecher? Im gemeinsamen Haushalt mit meiner Ex-Frau Judith waren noch Tupperdosen ihrer Mutter in Gebrauch gewesen, in die Judith schon ihre Pausenbrote mit zur Schule genommen hatte. Nach der Trennung hatte sie die Tupperdosen behalten, ich durfte dafür den Röhrenfernseher mitnehmen, was aus ihrer Sicht wohl als Entsorgung von Elektroschrott galt. Darüber wurde ebenso wenig gestritten wie über meine Komplettsammlung aller »Derrick«-Folgen auf VHS-Videokassetten. Die waren inzwischen aber durch DVDs ersetzt worden. Manchmal zwang einen die Technik, mit der Zeit zu gehen.
Just in diesem Moment leuchtete das gelbe Display meines Mobiltelefons auf, dann ertönte der Klingelton. Ich nahm das Handy, das in der Schrankwand über dem Likörfach lag. In dem Moment war das Display wieder dunkel. Wackelkontakt. Es dauerte nicht lange, bis das Festnetztelefon im Korridor läutete. Dies bedeutete am Sonntagabend mit hoher Wahrscheinlichkeit: Arbeit.
ZWEI
Paulina holte mich zehn Minuten später mit dem Dienstwagen ab. Zwar wäre ich nach dem halben Glas Likör durchaus noch fahrtüchtig gewesen, jedoch besaß ich kein eigenes Auto, und mein Pedelec verwendete ich nur in Ausnahmefällen für dienstliche Fahrten, zumal das Personaldezernat immer wieder Schwierigkeiten machte bei der Kilometergeldabrechnung für Dienstfahrten mit dem privaten Zweirad.
Als Beamte des Kommissariats1 in der Bamberger Kriminalpolizeiinspektion waren wir zuständig für Verletzungen höchstpersönlicher Rechtsgüter, wie es in der Amtssprache hieß. Und ein Einsatz am späten Sonntagabend deutete im Normalfall auf Unerfreuliches hin.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht aus einem gemütlichen Junggesellenabend herausgerissen«, spottete Paulina, während wir über die Siechenstraße fuhren. Auf dem Dach des Wagens leuchtete das magnetisch montierte Blaulicht. Die Sirene hatte sie aus Rücksicht auf die Anwohner in der Innenstadt nicht eingeschaltet, so eilig war es wohl doch nicht. Der Tote konnte uns schließlich nicht mehr davonlaufen.
»Keine Sorge, ich habe die Party vorzeitig verlassen«, antwortete ich.
»Party?« Paulina lachte. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen, Horst!«
Wir sprachen uns ganz hanseatisch mit dem Vornamen an und siezten uns. Diese Angewohnheit drückte gleichermaßen unsere dienstliche Vertrautheit und den Respekt vor der Privatsphäre aus. Ich war kein Freund von kumpelhaften Vertraulichkeiten. Meine ehemalige Gattin hatte es für einen Scherz gehalten, als ich ihr nach der Scheidung vorgeschlagen hatte, wieder zum »Sie« zurückzukehren. Es war nicht der einzige Punkt gewesen, in dem sie mich nicht verstanden hatte. Dass sie in einer anderen Welt lebte als ich, hatten wir erst nach vielen Ehejahren festgestellt.
Auf Radio Bamberg sang Fabian Goldstein seinen aktuellen Hit »Ich sterbe, um zu lieben«.
»Wussten Sie, dass Fabian Goldstein gebürtiger Bamberger ist?«, fragte ich.
»Nein, aber dafür kann die Stadt ja nichts. Was war das denn für eine Party? Eine Ü50-Party mit Achtziger-Jahre-Musik?« Sie lachte.
»Mein Herz ist mit Sehnsucht übervoll. Ich weiß nicht, wie ich’s dir sagen soll«, ertönte es aus dem Radio.
»Eher eine Siebziger-Party. Also mit Gästen über siebzig und ohne Musik. Dafür mit viel Plastik. Und Achtziger-Hits sind doch voll Mainstream heute.«
»Gab’s Eierlikör?«
»Richtig geraten. Mokka-Eierlikör, um genau zu sein. Aber dankenswerterweise hat Ihr Anruf mich gerettet. Eine Tupperparty ist wohl eher doch nichts für mich, auch wenn ich die Brotzeitdosen ganz praktisch finde.«
»Eine Tupperparty?« Paulina lachte wieder. »Sie müssen aber auch echt jeden Hype mitmachen.«
»Wieso Hype?«, wunderte ich mich. »Ich dachte, Tupperpartys wären ein Trend aus den siebziger Jahren?«
»Tupperpartys sind in meinem Freundeskreis gerade total hip. Ich kann mich vor Einladungen kaum retten. Ich hab erst ein Mal an einer teilgenommen. Jeder Trend kommt irgendwann zurück. So wie Jeanshemden. Vielleicht können wir doch einmal etwas gemeinsam in unserer Freizeit unternehmen.«
»Wenn ich Sie schon nicht zum Kegeln überreden kann. Schlager ist ja auch wieder da«, stimmte ich zu und drehte den Dudelfunk leiser. »Was wissen wir schon über den Toten?«, fragte ich. »Handelt es sich um einen Sportler? Ein Basketballspieler? Sport ist Mord, weiß doch jeder. Hat sich einer zu Tode gedopt?«
Bislang hatte Paulina mir nur mitgeteilt, dass in der Brose-Arena eine männliche Leiche gefunden wurde, deren Auffindesituation auf eine unnatürliche Todesursache hindeutete.
»Nein, kein Sportler«, antwortete sie. »In der Arena war heute kein Basketballspiel, sondern eine Fernsehaufzeichnung. Genaues weiß ich auch nicht. Dass die auch im Lokalradio dieses unerträgliche Schlagerzeug spielen müssen«, schimpfte Paulina und schaltete auf Bayern3.
»Ich dachte, dass auch bei den jungen Leuten jetzt Schlager in sind.«
»Sie denken ja auch, dass man in der Öffentlichkeit Kurzarmhemden tragen darf«, erwiderte sie.
»Jetzt fangen Sie nicht wieder damit an, Paulina. Wir hatten vereinbart, dieses Thema nicht mehr zu diskutieren.«
»Jaja, ich weiß. So wie vieles andere auch, worüber wir uns nicht einig werden.«
Mehrere Minuten schwiegen wir uns an, was mich vermuten ließ, dass Paulina nun sauer war. Völlig grundlos, wie ich fand. Für mich war Schweigen ein Normalzustand, der nichts über meine Gefühlslage aussagte. Gedanklicher Leerlauf sozusagen. Wenn Paulina aber mehr als zwanzig Sekunden nichts sagte, war von einer emotionalen Ausnahmesituation auszugehen. Leider blieb mir nun keine Möglichkeit mehr, die Stimmung wieder aufzulockern. Wir hatten das Ziel erreicht. Paulina lenkte unseren silbermetallicfarbenen Golf direkt vor den Haupteingang der Arena, wo bereits mehrere Streifenwagen mit flackerndem Blaulicht sowie der VW Variant der Kollegen vom Kriminaldauerdienst standen. Ich sah, wie ein uniformierter Beamter mit zwei jungen Frauen Mitte zwanzig heftig diskutierte.
»Was ist denn hier los?«, fragte ich den Kollegen, den ich als Polizeimeister Paul Stangl erkannte, einen Wachtmeister alter Schule, der sich noch nicht damit abfinden konnte, sich wenige Jahre vor der Pensionierung an blaue Uniformen gewöhnen zu müssen, in denen man seiner Meinung nach wie ein Parkhauswächter aussah.
»Die Damen wollen nicht verstehen, dass sie nicht in die Halle dürfen.«
»Wir wollen zu Fabian. Wir wissen, dass er hier ist, und wir dürfen nach den Proben immer in die Garderobe, um ein Selfie zu machen«, sagte die Kleinere von beiden, die einen braunen Pferdeschwanz und ein kurzes schwarzes Kleid mit goldenem Glitzer trug. Ihre Begleiterin, sie hatte schwarze lockige Haare und auffallend dunkle Augen, deutete auf ein Plakat, das an den Glastüren neben den verschlossenen Kassenhäuschen klebte. Ein bekanntes Gesicht lächelte uns an. Genauer gesagt waren es zwei Gesichter.
»Ach«, sagte ich zu Paulina und zeigte auf das bunte Plakat mit den Köpfen von Fabian Goldstein und Tanja Bauer und dem Schriftzug »Ein Winterabend mit Fabian und Tanja– das weihnachtliche Schlagerfestival in der Bamberger Brose-Arena«.
»Das sind doch diese Schnulzenfuzzis aus dem Rentnerprogramm«, spottete Paulina. »Aber darunter steht ein Datum in der kommenden Woche. Wir haben Oktober.«
»Mich wundert ja nichts mehr«, sagte ich. Dann wandte ich mich den beiden Fans zu. »Der Kollege hat Ihnen doch deutlich gemacht, dass hier wegen einer polizeilichen Ermittlung kein Durchlass möglich ist.« Und zu Polizeimeister Stangl sagte ich: »Bitte nehmen Sie die Personalien der beiden Damen auf!«
»Wenn Sie Fabian treffen, sagen Sie ihm, Gitti und Sonja warten hier auf ihn!«
»Gehen Sie besser nach Hause«, antwortete ich und murmelte leise: »Ich kenne nur Gitti und Erika.« Wir betraten das Foyer, wo neben den Klotüren große gerahmte Fotos der hiesigen Basketballstars aufgehängt waren, deren Namen allesamt nach Migrationshintergrund klangen. Ein weiterer Beamter in Uniform begrüßte uns und wies die Treppe hinauf.
»Kein Wunder, dass jetzt schon Weihnachtssendungen im Oktober aufgezeichnet werden«, sagte ich, während wir die Stufen hinaufstiegen. »Es gibt ja schließlich schon seit August wieder Lebkuchen im Supermarkt.«
»Ja, lecker«, sagte Paulina. »Was haben Sie gegen Lebkuchen?«
»Nichts. Wenn man ihn in der Vorweihnachtszeit kauft. Und nicht im Hochsommer. Alles hat seine Zeit. Lebkuchen gehört in den Advent. Und Winter-Shows in den Dezember. Oder bin ich jetzt wieder ein altmodischer Spießer?«
Paulina grinste mich vielsagend an und verkniff sich eine Antwort. Manchmal erschrak ich selbst darüber, wie abgebrüht man nach vielen Jahren im Polizeidienst wurde, dass man auf dem Weg zu einem Leichenfundort noch scherzen konnte.
Wir gingen einen langen, von Neonröhren erleuchteten Gang entlang bis zu einer Tür, neben der ein blaues Schild mit weißer Schrift mit den Worten »Künstlergarderobe Fabian Goldstein« klebte. Die Tür stand offen, sodass wir die Kollegen bereits bei der Arbeit sehen konnten.
»Das FBI ist schon im Einsatz«, sagte Paulina und meinte damit die Kollegen Frenz, Böhnlein und Isernhagen, die nimmermüden Beamten vom Kriminaldauerdienst. Sie hatten bereits die obligatorischen Nummerntäfelchen aufgestellt und den Tatort aus allen Perspektiven fotografiert. Mit ihren 3D-Aufnahmen konnte man sich später am Computer jeden Punkt im Raum aus jeder Perspektive anschauen.
Wir erkannten auf den ersten Blick, dass die Künstlergarderobe ein fensterloser Mehrzweckraum war, den man mit Hilfe einer großen Spiegelkommode und einer Art Frisierstuhl umfunktioniert hatte. Der Geruch von Spanplatten erinnerte an einen Baumarkt. Vor dem Spiegel waren viele Töpfchen, Cremes und Pinsel akkurat aufgereiht. Ein Föhn lag daneben, das Kabel baumelte von der Oberfläche herab. An der Wand stand ein rotes Polstersofa im IKEA-Stil, davor ein Glastisch mit einer Schale Obst, einer Wasserkaraffe und einer Flasche Champagner.
Ich erschrak, als ich auf dem Boden die reglose, gekrümmte Gestalt neben einer Blutlache erkannte, die wohl der Grund dafür war, dass dasK1 aus dem verdienten Wochenende gerufen worden war, um Überstunden aufzubauen. Es war Fabian Goldstein, den ich eben noch sehr lebendig auf dem Fernsehschirm gesehen hatte. Es kam zum Glück selten vor, dass ich die Toten kannte, zu denen wir gerufen wurden. Auch wenn es in diesem Fall eine eher einseitige Bekanntschaft war, so fühlte es sich dennoch nicht so an, als hätte ich die Leiche eines Unbekannten vor mir.
»Grüß Gott, die Herren«, sagte ich, ohne mir meine Irritation anmerken zu lassen.
»Hallo«, fügte Paulina hinzu, um sich mit einem Wort bereits als die Gottlose von uns zu erkennen zu geben.
»Können Sie schon was zur Todesursache sagen?«, fragte ich Kriminalhauptmeister Frenz.
»Ja, der Notarzt ist schon wieder weg, weil er zu einem Schlaganfall im Hain gerufen wurde. Er hat nur wenige Minuten gebraucht, um festzustellen, dass das Opfer mit einem stumpfen Gegenstand erschlagen wurde. Um wen es sich bei dem Toten handelt, muss ich wohl nicht sagen.« Frenz deutete auf ein Plakat, das über dem Sofa mit Klebestreifen an der Holzwand befestigt war. Es zeigte Fabian Goldsteins Gesicht mit den Worten »Ich sterbe, um zu lieben«. Darunter lag nun auf dem Boden die Leiche des Sängers.
»Der Titel seines letzten Hits«, sagte ich und las vor, was darunter stand: »›Ab sofort überall, wo es starke Schlager gibt‹.«
»Jetzt keine Wortspiele bitte«, mahnte Paulina.
»Wie bitte?«, fragte ich.
»Ich meine, wegen ›Schlager‹ und ›erschlagen‹. Sie sind doch zu jedem geschmacklosen Kalauer fähig, Horst.«
Ich übersah geflissentlich, wie sich Frenz und Isernhagen verstohlen angrinsten.
»Todeszeitpunkt?«, fragte ich.
»Der Körperkerntemperatur zufolge ist er noch nicht lange tot, nicht länger als ein paar Stunden«, antwortete Frenz. »Genaueres nach der Obduktion. Gefunden hat ihn übrigens eine Frau Nicola Pöhlmann.«
»Eine Putzfrau?«, riet ich. Es war erstaunlich, wie viele Leichen in Deutschland von Putzfrauen gefunden wurden.
Frenz schüttelte den Kopf. »Nein, sie gehört zur Show. Ihr Künstlername ist Nicky Palermo, falls Ihnen das was sagt.«
»Zero-Points-Nicky?« Paulina war der Name offenbar ein Begriff. »Sie hat Deutschland im Frühjahr beim ESC blamiert.«
»ESC? Das ist doch diese Taste am Computer, mit der man Dinge wegklicken kann.«
»Horst!« Paulina verdrehte die Augen. »Sie kennen das wohl noch als Grand Prix Eurovision de la Chanson.«
»Eurovision, na klar. ›Waterloo‹ und ›Ein bisschen Frieden‹! Und diese Jenny Palermo hat da mitgemacht und null Punkte für Deutschland geholt?«
»So ist es. Letzter Platz.«
Dieses nationale Drama hatte ich tatsächlich mitbekommen, ohne mir jedoch den Namen der unglücklichen Verliererin zu merken, der das deutsche Fernsehvolk wohl am liebsten die Bürgerrechte entzogen und sie in das Gewinnerland Israel abgeschoben hätte. Oder besser gleich nach Aserbaidschan, das nach den Eurovisionsregeln ja anscheinend auch zu Europa gehörte.
»Sie wartet in der Garderobe nebenan«, sagte Isernhagen.
Ich nickte Paulina zu, und wir verließen gemeinsam den Raum. Nicky Palermo saß in einem ähnlich eingerichteten Zimmer auf dem Sofa. Vor dem Spiegel standen einige Puderdosen mehr, dafür beschränkte sich die Obstschale auf drei sehr reife braungelbe Bananen und einen nicht mehr ganz frischen Apfel. Statt der Wasserkaraffe stand dort eine blaue PET-Flasche Saskia-Sprudel von Lidl, die Champagnerflasche fehlte.
Wer sich beim Künstlernamen Palermo eine rassige Italienerin vorstellte, irrte sich. Die Sängerin hatte wasserstoffblonde schulterlange Haare, war Mitte zwanzig und etwas zu dünn für ihre Körpergröße. Das grelle Neonlicht ließ sie noch blasser wirken, als sie vermutlich eh schon war. Sie trug ein weites T-Shirt, durch das ihre Schulterknochen deutlich zu sehen waren und das mit den Worten »No tits, no problems« beschriftet war. Sie trug eine weit geschnittene blaue Adidas-Trainingshose und neongelbe Joggingschuhe.
»Hauptkommissar Müller, das ist meine Kollegin Kriminalmeisterin Kowalska. Wir sind von der Kripo Bamberg«, stellte ich uns vor und sagte: »Bleiben Sie sitzen. Dürfen wir Ihnen einige Fragen stellen?«
Sie nickte. Paulina setzte sich in einen unbequem aussehenden roten Polstersessel, ich schob den Stuhl hinüber, der vor dem Garderobenspiegel stand.
»Frau… äh… wie möchten Sie angesprochen werden?«
Sie zuckte mit den Schultern und flüsterte: »Wie Sie wollen.«
Paulina zog ihr Smartphone aus der Handtasche und aktivierte die Aufnahmefunktion. Dann sprach sie leise in das Gerät: »Zeugeneinvernehmung Nicola Pöhlmann, Künstlername Nicky Palermo. Sonntag, zweiundzwanzig Uhr neununddreißig. Anwesende Ermittler: KHK Müller, KMKowalska.« Dann legte sie das Handy vorsichtig auf den Glastisch neben die Bananen.
Ich entschied mich für den bürgerlichen Namen. »Also, Frau Pöhlmann. Erzählen Sie bitte, wie Sie die Leiche von Herrn Goldstein gefunden haben!«
»Wir wollten unseren Auftritt besprechen. Wir sollten zusammen die ›Weihnachtsbäckerei‹ singen.«
Ich summte das bekannte Lied von Rolf Zuckowski, das wohl viele Kinder inzwischen textsicherer mitsingen konnten als »Stille Nacht« und »Odu fröhliche«.
»Wieso machen Sie im goldenen Oktober bei fast zwanzig Grad eine Weihnachtsshow?«, wollte Paulina wissen.
»Das müssen Sie Ben Bakow fragen, den Produzenten. Ich weiß nur, dass die Show am vierten Advent ausgestrahlt werden soll. Es war von produktionstechnischen Gründen die Rede.«
»Und Sie waren mit Goldstein hier in der Garderobe verabredet?«, fragte ich.
»Ja. Bakow hat noch ein paar Änderungen am Text gemacht. Es sollte noch witziger werden als die bekannte Kinderversion.«
»Noch witziger?«, fragte Paulina mit unverhohlener Ironie.
»Ja, der Auftritt war gemeinsam mit der Mädchenkantorei vom Bamberger Dom geplant. Die armen Kinder müssen jetzt von heute auf morgen den Text neu lernen. Und in der letzten Strophe sollen sie statt ›in der Weihnachtsbäckerei‹ singen: ›In der Mädchenkantorei sind wir gerne mit dabei‹.«
»Zu dem Auftritt wird es ja nun wohl nicht mehr kommen«, konstatierte ich. »Sie haben ihn so aufgefunden, wie er jetzt dort liegt?«
Sie nickte.
»Wann war das genau?«, fragte ich. Vor der Tür hörte ich Stimmen, ein Mann diskutierte lautstark mit den Polizeibeamten.
»Wir waren für einundzwanzig Uhr verabredet. Ich wartete etwa zehn Minuten vor der Tür. Als er nicht kam, klopfte ich an und bemerkte, dass sie nicht verschlossen war. Ich schaute hinein und sah ihn dort liegen.«
»Und dann? Haben Sie gleich gewusst, dass er tot ist?«
»Ich habe ihn angesprochen, aber er reagierte nicht. Dann sah ich das Blut. Ich rief sofort Bakow an.«
»Nicht die Polizei oder den Notarzt?«
»Doch, gleich danach. Bei Bakow meldete sich nur die Mailbox.«
In diesem Moment wurde die Tür aufgerissen. Ein kräftiger älterer Mann mit einer gelborangefarbenen Föhnfrisur betrat den Raum. Auf den ersten Blick sah er aus wie ein schlechtes Double des amerikanischen Präsidenten im Freizeitlook. Statt eines Atomkoffers hatte er eine Aktentasche aus schwarzem Leder unter dem Arm.
»Was geht hier vor?«, rief er, während hinter ihm eine junge Polizistin vergeblich versuchte, ihn am Betreten des Raumes zu hindern.
»Wer sind Sie?«, stellte ich die einzig angemessene Gegenfrage.
»Mein Name ist Bakow. Ich bin der Chef hier.« Er sprach seinen Namen mit einem lang gezogenenO am Ende aus, wie bei »Pankow«, während Nicky Palermo ihn »Bakoff« genannt hatte. Der Mann kam mir bekannt vor, es dauerte wenige Sekunden, dann erinnerte ich mich an die Ben-Bakow-Show, die in meiner Kindheit der Höhepunkt manches Samstagabends gewesen war. Ich muss etwa zehn Jahre alt gewesen sein, als er Mitte der siebziger Jahre im Wechsel mit Harald Juhnke und Hans-Joachim Kulenkampff seine Show im Schwarz-Weiß-Fernsehen präsentierte. Ob seine Haare damals schon diese merkwürdige Farbe hatten, konnte ich daher nicht wissen. Ich vermutete, dass die Generation Netflix mit dem Begriff »Samstagabendshow« gar nichts mehr anfangen konnte.
»Was ist mit Fabian?«, rief Bakow erregt. Dann sagte er zu Nicola Pöhlmann: »Stimmt es, was du mir auf die Mailbox gesprochen hast? Fabian ist tot?«
Sie nickte.
»Wie es aussieht, wurde Herr Goldstein Opfer eines Gewaltverbrechens«, sagte ich nüchtern. »Bitte warten Sie draußen. Wir werden uns gleich mit Ihnen unterhalten.«
»Kommen Sie«, sagte die Beamtin in der Tür, die ich nun als Polizeimeisterin Düweke erkannte. Ich sah, dass draußen zwei schwarz gekleidete Männer vom Bestattungsunternehmen »Pietät« einen schlichten Sarg aus hellem Holz über den Gang trugen. Den Sargträgern war anzusehen, dass sie sich ihren Sonntagabend auch anders vorgestellt hatten. Augen auf bei der Berufswahl, konnte man da nur sagen.
»Wann haben Sie Herrn Goldstein zuletzt gesehen?«, fragte ich, als sich die Tür hinter Bakow wieder geschlossen hatte.
»Heute Abend bei der Probe. Zum großen Finale standen wir alle noch mal auf der Bühne. Es gab Probleme mit der Konfettikanone, deshalb verzögerte sich der Beginn.«
»Ist das normal, dass für die nächste Show geprobt wird, während die aktuelle im Fernsehen ausgestrahlt wird?«, fragte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Eigentlich war mal geplant, die nächste Show in der Freiheitshalle in Hof aufzuzeichnen. Ich weiß nicht, was die Gründe für die Änderung sind. Müssen Sie Bakow fragen. Ich glaube, es hat was mit DJJohnny zu tun. Er soll der Stargast in der Show sein.«
»Der Alpenpop-Sänger mit Lederhose und Elvis-Locke? Der mit dem ›Almdudler-Rock‹?«
»Richtig.«
»Kannten Sie Goldstein näher?«, fragte Paulina.
»So wie ihn jeder aus dem Fernsehen und den Zeitschriften kennt. Ich habe ihn vor wenigen Tagen zum ersten Mal persönlich getroffen. Er war stets sehr freundlich, hat immer gelächelt. Wissen Sie, dieses Lächeln, das er auf der Bühne hat, das schien in seinen Gesichtszügen eingefroren zu sein. Ich kann trotzdem nicht sagen, dass es künstlich wirkte. Die Tanja nannte ihn immer ›Grinsekatze‹.«
»Tanja Bauer, seine Showpartnerin?«
»Ja, die Tanja kenne ich schon länger. Wir waren zusammen auf der Musical-Akademie in München. Sie hat aber abgebrochen und ist dann auf die Schauspielschule gewechselt.«
»Bitte halten Sie sich zu unserer Verfügung«, sagte ich. »Wo sind Sie und das ganze Team denn untergebracht?«
»Wir wohnen im Welcome Hotel, die technische Crew im Ibis Budget am Bahnhof.«
»Vielen Dank erst mal«, sagte Paulina und schaltete die Aufnahmefunktion ihres Handys aus.
»Frau Düweke, bitte lassen Sie Herrn Bakow herein«, rief ich, als die junge Sängerin den Raum verließ.
***
Bakow wirkte immer noch durcheinander, als könnte er noch nicht fassen, was passiert war. Ich forderte ihn auf, Platz zu nehmen. Paulina startete eine zweite Aufnahme und sprach Uhrzeit und die Namen der Anwesenden ein, dann fragte sie Bakow nach seinen Personalien. Er war neunundsechzig Jahre alt und in Niederösterreich geboren, ledig, wohnhaft in Berg am Starnberger See.
»Herr Bakow, wo waren Sie, als Frau… äh… Palermo Sie angerufen hat?«, fragte Paulina.
»Ich saß in meiner Suite im Hotel und habe ein Interview gegeben. Die Mailbox habe ich erst abgehört, als das Interview zu Ende war. Dann habe ich mich sofort auf den Weg hierher gemacht. Für den Fall, dass ich ein Alibi brauche: Der Journalist heißt Frank Litzka und schreibt eine Seite-drei-Reportage für die Süddeutsche Zeitung.«
»Ein Alibi hat noch niemandem geschadet«, stellte Paulina fest.
Und ich fügte hinzu: »Und kann es einen glaubwürdigeren Zeugen geben als einen SZ-Journalisten?«
»Ich mag Ihren ironischen Unterton nicht.« Bakow fingerte in der Tasche eines hellblauen Leinensakkos und holte eine Visitenkarte mit dem Logo der Süddeutschen Zeitung hervor. »Da steht seine Handynummer drauf. Rufen Sie ihn an!«
»Ich wusste gar nicht, dass Sie noch im Fernsehgeschäft tätig sind, Herr Bakow«, sagte ich. »Ich habe als Kind immer Ihre Shows gesehen. Das waren noch Zeiten, als die ganze Nation geschlossen vor dem Fernseher saß. Seitdem es solche Sendungen nicht mehr gibt, ist das ja leider vorbei.«
»Das sprichwörtliche nationale TV-Lagerfeuer?« Er lachte guttural. »Das gibt’s heute nur noch, wenn Deutschland im WM-Finale steht. Schland, oh Schland, wir stehn an deiner Seite…« Dann wurde er ernst. »Aber ich bin überzeugt, dass wir dieses Lagerfeuer-Feeling wieder zurückholen können, trotz dreihundert Kabelkanälen und Streamingdiensten. Wir sind mit der Show von Fabian und Tanja auf dem besten Weg dahin.« Er stockte. »Das heißt, wir waren auf dem besten Weg. Fabian war ein Ausnahmekünstler. Er war der erste deutsche Entertainer seit Gottschalk, der generationenübergreifend das Publikum begeistern konnte. Außer ihm gibt es derzeit niemanden mit einem vergleichbaren Talent.«
»Was ist mit Böhmermann?«, meinte Paulina.
»Dieser Kasperl aus dem Spartenprogramm? Wir brauchen ein nationales Idol. Dafür reicht es nicht, Gags vom Teleprompter abzulesen und ausländische Staatsoberhäupter zu diffamieren. Das hat Rudi Carrell vor Jahrzehnten schon mit dem Ajatollah gemacht. Und um ehrlich zu sein: Eine gewisse körperliche Statur braucht man auch. Die Leute wollen am Samstagabend nicht so ein schmales Hemd sehen, wissen Sie? Wir brauchen wieder die große Show. Mit Musik, Tanz, Gesprächen, Sketchen, Duetten…«
»Wie Harald Juhnke mit ›Musik ist Trumpf‹«, erinnerte ich mich. »Oder in den Shows von Peter Alexander.«
»Ja, Sie sagen es! Fabian war ein moderner Peter Alexander. Er hatte das Zeug dazu, die große Fernsehunterhaltung ins 21.Jahrhundert zu retten. Was soll jetzt nur werden?«
»Sie meinen, aus der Show?«, fragte ich. »Aus dem deutschen Fernsehen? Aus Ihnen?«
»An dieser Produktion hängen Hunderte Arbeitsplätze. Wir machen vier Shows im Jahr. Es gibt Verträge, die beim Tod von Fabian alle fristlos ihre Wirkung verlieren.«
»Ach, das ist vertraglich schon geregelt?«, wunderte sich Paulina.
»Natürlich. In jedem Künstlervertrag gibt es Regelungen für den Todesfall. Da geht es um Tantiemen, Honorare, Urheberrechte… Und vor allem um sehr viel Geld.«
»Jetzt erklären Sie uns aber doch bitte mal, warum diese Show in Bamberg aufgezeichnet werden sollte und nicht in Hof, wie ursprünglich geplant. Und vor allem: warum die Dezember-Sendung bereits im Oktober produziert werden muss.«
Bakow antwortete: »In der Winter-Show hatten wir das große Comeback von DJJohnny geplant. Doch weil der den ganzen Dezember durch Amerika tourt, hätte er nicht für die Show herkommen können.«
»Was meinen Sie mit ›Comeback‹, wenn er doch vorher schon eine Tour in den USA hat?«, hakte Paulina ein.
»Nun«, Bakow räusperte sich, »Johannes Bonsen, so ist sein richtiger Name, hat eine schwierige Zeit hinter sich, privat und gesundheitlich. Ich will es mal so sagen: Er war mehrere Male bei TV-Produktionen nicht ganz zuverlässig. Das hatte zur Folge, dass die Sender ihn nicht mehr gebucht haben. Und wenn man eine Weile von der Bildfläche verschwunden ist, wird man vom Publikum schnell vergessen.«
»Aber in Amerika ist er noch erfolgreich?«, fragte ich.
»Ja. Da gibt es eine große Zielgruppe von Leuten, die auf alles stehen, was mit Lederhosen und Jodeln zu tun hat. Und wenn das ein junger Künstler mit strammen Wadeln mit modernen Rock- und Popklängen verbindet, dann ist das ein Erfolgsgarant in den Staaten. Und seine Elvis-Tolle finden sie auch klasse. Wissen Sie, dass selbst Heino in Amerika ausverkaufte Hallen hat?«
»Also gut, das habe ich verstanden«, sagte ich. »Die Aufzeichnung musste wegen der USA-Tournee von DJJohnny vorverlegt werden. Und warum von Hof nach Bamberg?«
»Weil die Freiheitshalle natürlich schon auf Jahre im Voraus ausgebucht ist. An diesem Wochenende singen dort passenderweise übrigens die Regensburger Domspatzen.«
»Wieso passenderweise?«, fragte Paulina.
»Weil Fabian Goldstein doch als Kind ein Domspatz gewesen ist«, antwortete ich. »Er war übrigens nicht der einzige prominente Bamberger bei den Regensburger Domspatzen. Raten Sie mal!«
»Sie immer mit Ihren Quizfragen, Horst. War es der Oberbürgermeister? Gottschalk? E.T.A