Tod in München - Harry Luck - E-Book
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Tod in München E-Book

Harry Luck

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Beschreibung

Tatort Bayern: Die ersten drei Krimis der »Tod in München«-Reihe von Harry Luck jetzt als eBook-Sammelband bei dotbooks. Weltstadt mit Herz – oder Heimat der dunkelsten Abgründe? Als in den Bavaria-Filmstudios ein gefeierter Schauspieler ermordet wird, ahnt Kommissar Jürgen Sonne, dass die Aufklärung des Falls nun im erbarmungslosen Scheinwerferlicht erfolgen muss. Jetzt heißt es Ruhe zu bewahren – kann ihm dabei vielleicht ausgerechnet der Sensationsreporter Frank Litzka helfen? Schließlich versteht es Litzka perfekt, wie ein Wolf auf der Lauer zu liegen, abzuwarten – bis diejenigen mit schmutzigen Geheimnissen sich wieder aus ihren Löchern wagen … Doch zwei aufsehenerregende Mordfälle am Starnberger See und eine Anschlagsdrohung auf das Oktoberfest bringen selbst den abgebrühten Reporter und den hartgesottenen Kommissar bald an ihre Grenzen … Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der Bayernkrimi-Sammelband »Tod in München« von Harry Luck vereint die ersten drei Bände der »Sonne und Litzka«-Reihe und bietet fesselnde Spannungsunterhaltung für Fans von Harry Kämmerer. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.

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Seitenzahl: 727

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Über dieses Buch:

Weltstadt mit Herz – oder Heimat der dunkelsten Abgründe? Als in den Bavaria-Filmstudios ein gefeierter Schauspieler ermordet wird, ahnt Kommissar Jürgen Sonne, dass die Aufklärung des Falls nun im erbarmungslosen Scheinwerferlicht erfolgen muss. Jetzt heißt es Ruhe zu bewahren – kann ihm dabei vielleicht ausgerechnet der Sensationsreporter Frank Litzka helfen? Schließlich versteht es Litzka perfekt, wie ein Wolf auf der Lauer zu liegen, abzuwarten – bis diejenigen mit schmutzigen Geheimnissen sich wieder aus ihren Löchern wagen … Doch zwei aufsehenerregende Mordfälle am Starnberger See und eine Anschlagsdrohung auf das Oktoberfest bringen selbst den abgebrühten Reporter und den hartgesottenen Kommissar bald an ihre Grenzen …

»Harry Luck ist ein absoluter Spannungskünstler.« Bayerischer Rundfunk

Über den Autor:

Harry Luck wurde 1972 in Remscheid geboren, ist ausgebildeter Redakteur und studierte in München Politikwissenschaften. Er berichtete viele Jahre für verschiedene Medien über Politik, Kultur und Wirtschaft in München und Bayern. Heute lebt er mit seiner Familie in Bamberg, wo er an weiteren Kriminalromanen arbeitet und als Pressesprecher für das Erzbistum tätig ist.

Die Website des Autors: www.harryluck.de/

Der Autor im Internet: www.facebook.com/luck.harry und www.instagram.com/luck_harry/

Harry Luck veröffentlichte bei dotbooks seine Kriminalromane:

»Tod in München – Rachelust. Sonne und Litzka 1«

»Tod in München – Schwarzgeld. Sonne und Litzka 2«

»Tod in München – Angstspiel. Sonne und Litzka 3«

»Tod in München – Machtbeben. Sonne und Litzka 4«

»Tod in München – Rufmord. Sonne und Litzka 5«

»Kaltes Lachen – Schmidtbauer und van Royen 1« »Kaltes Spiel – Schmidtbauer und van Royen 2«

***

Sammelband-Originalausgabe Dezember 2023

Copyright © der Sammelband-Originalausgabe 2023 dotbooks GmbH, München

Die Originalausgabe von »Tod in München – Rachelust« erschien bereits 2003 und 2012 unter dem Titel »Der Isarbulle« bei emons und Allitera; Copyright © der Originalausgaben 2003 Hermann-Josef Emons Verlag; Copyright © der überarbeiteten Neuausgaben 2020 dotbooks GmbH, München.

Die Originalausgabe von »Tod in München – Schwarzgeld« erschien bereits 2004 und 2011 unter dem Titel »Schwarzgeld« bei KBV und Allitera; Copyright © der Originalausgabe 2004 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim; Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München.

Die Originalausgabe von »Tod in München – Wiesnfeuer« erschien bereits 2005 unter dem Titel »Wiesn-Feuer« bei KBV; Copyright © der Originalausgabe 2005 KBV Verlags- und Mediengesellschaft mbH, Hillesheim; Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2020 dotbooks GmbH, München

Diese Werke wurden vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann GbR

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: © HildenDesign, www.hildendesign.de, unter Verwendung eines Motives von Shutterstock.com

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)

ISBN 978-3-98690-880-5

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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags

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Besuchen Sie uns im Internet:

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www.instagram.com/dotbooks

blog.dotbooks.de/

Harry Luck

Tod in München

Die drei ersten Bände der Sonne-und-Litzka-Reihe in einem eBook

dotbooks.

Tod in München:Rachelust

Wenn sich hinter dem strahlenden Scheinwerferlicht Abgründe auftun … Als »Isarbulle« löst Alfons Waldbauer jede Woche einen spannenden Fall, die TV-Serie ist ein echter Publikumsliebling – doch dann erschüttert ein Mord hinter der Kamera den schönen Schein. Das Opfer: der Regisseur. Der Tatverdächtige: der Isarbulle selbst. Kommissar Jürgen Sonne weiß, dass er sich mit seinen Ermittlungen auf dem Bavaria-Filmgelände auf dünnes Eis begibt. Der skrupellose Reporter Frank Litzka macht ihm die Sache nicht leichter, aber braucht es vielleicht genau dieses kalte Kalkül für die Lösung des Falls? Widerwillig schließt Kommissar Sonne sich mit ihm zusammen – und stößt bald auf dunkle Geschäfte, die sich bis in die höchsten Kreise Münchens ziehen …

Nach einer Idee von Thomas Grimmer und Harry Luck

***

In MemoriamThalkirchner Schnitzel

»Schwappte nicht vielmehr das wirkliche Leben am Freitagabend in die Wohnstuben dieses Landes und an anderen Abenden in die Wohnstuben ungezählter anderer Länder? Wusste dieser Polizist nicht mehr über uns als wir selbst? Und wühlten uns sein stechender Blick und seine bohrenden Fragen nicht derart auf, dass wir zu den unglaublichsten Geständnissen bereit waren, auch wenn unsere Alibis perfekt und unsere Spuren am Tatort unleserlich waren?«

Friedrich Ani

Kapitel 1

Freitag, 7. März. 18.30 Uhr

Richard Graf von Kujawski wusste: Es war aus. Der Polizeibeamte, der ihm mit gezogener Waffe gegenüberstand, würde ihm in wenigen Augenblicken Handschellen anlegen und ihn abführen lassen. Er hatte seine Ehefrau mit ihrer besten Freundin betrogen – zwei Jahre lang. Und gleichzeitig hatte er ein Verhältnis mit dem Kindermädchen gehabt. Doch wegen dieser moralischen Fehltritte würde er nicht verhaftet werden. Graf von Kujawski stellte sein Whiskyglas auf den Mahagonitisch im Salon seiner Villa in Grünwald.

»Sie sind vorläufig festgenommen wegen des dringenden Tatverdachts, Ihre Geliebte Sonja Grunau sowie Ihr Kindermädchen Jennifer Hildebrandt ermordet zu haben«, sagte Oberinspektor Diether Grieshaber und richtete seine Waffe auf den überführten Täter.

Selbst in dieser aussichtslosen Situation bewahrte der Graf seine Würde. Er stand aufrecht und stramm und verzog keine Miene, während der Kripobeamte ihm vorhielt: »Sie sind ein Ehebrecher und Sie sind ein kaltblütiger Mörder. Sie haben den Doppelmord bis ins Detail geplant – so exakt, wie Sie in den vergangenen vierzig Jahren Ihre erfolgreichen Immobiliengeschäfte getätigt haben. Vielleicht sind Sie ein perfekter Makler, Graf von Kujawski, der durch den Kauf und Verkauf von Nobelvillen hier in Grünwald ein eindrucksvolles Vermögen angehäuft hat. Vielleicht sind Sie auch ein perfekter Liebhaber, der nicht nur aufgrund seines Vermögens attraktiv ist. Aber ein perfekter Mörder sind Sie nicht. Die Beweise sind erdrückend! Legen Sie ein Geständnis ab, das Spiel ist aus!«

»Sie mussten sterben.« Graf von Kujawski schien mit sich selbst zu sprechen und blickte gedankenverloren aus dem Fenster. »Diese Flittchen haben mein Leben ruiniert. Zerstört. Sie haben den Tod verdient.«

»Tod durch Mord?«, flüsterte der Oberinspektor, wobei er nach dem Wort »Tod« eine dramaturgische Atempause einlegte und seine Waffe noch einmal bedrohlich auf den Täter richtete.

»Cut! Kannst du die Knarre nicht ein bisschen cooler halten?«, ertönte plötzlich eine Stimme aus dem Studiolautsprecher. Und der Mann mit der Pistole in der Hand war nicht mehr der bekannte Oberinspektor, sondern der Krimidarsteller Alfons Waldbauer.

Er ließ die Waffe sinken und erwiderte: »Tomasek, wir drehen hier keinen ›Schimanski‹. Und wie ein Polizeibeamter bei einer Festnahme seine Pistole zu halten hat, weiß ich ja wohl besser als du. Immerhin gibt es dafür Vorschriften.«

Alfons Waldbauer war bekannt dafür, seine Hauptrolle in der populären Fernsehserie »Der Isarbulle« so realistisch wie möglich zu verkörpern. Bis ins letzte Detail. Dafür las er seit Jahren einschlägige Fachliteratur und pflegte innige Kontakte zu echten Kripo-Beamten. Und die hatten ihm gezeigt, wie eine Polizeiwaffe korrekt gehalten werden muss.

»Wir drehen hier aber keinen Dokumentarfilm über die Polizeiarbeit im 21. Jahrhundert«, rief der Regisseur sichtlich genervt zurück. »Dies wird ein Krimi, der am Freitagabend mindestens vier Millionen Zuschauer vor die Glotze locken muss. Wenn das nicht gelingt, kannst du dir die letzten 260 Folgen des ›Isarbullen‹ künftig um Mitternacht als Wiederholungen im Pay-TV anschauen, denn dann fliegen wir aus dem Abendprogramm. Die Leute wollen Action sehen!«

Tomasek übertrieb. Niemand beim Sender dachte daran, den »Isarbullen« abzusetzen. Aber der Quotendruck hatte auch vor den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten nicht Halt gemacht. Und die Zeiten, in denen der »Isarbulle« ein richtiger Straßenfeger gewesen war und über zehn Millionen Zuschauer gehabt hatte, waren längst vorbei. Mit der Serie war auch ihr Hauptdarsteller in die Jahre gekommen. Alfons Waldbauer wäre als echter Kriminalbeamter bereits vor drei Jahren pensioniert worden. Doch beim Fernsehen bestimmen die Zuschauer, wann Schluss ist. Und noch liebten sie den »Isarbullen«, der seit zweiundzwanzig Jahren mit einer Aufklärungsquote von hundert Prozent einen Mörder nach dem anderen hinter Gitter brachte.

»Alle nochmal auf Anfang«, rief Tomasek, während die Maskenbildnerin dem Darsteller des Mörders Kujawski die glänzende Stirn abtupfte.

Waldbauer wurde zornig: »Entweder ich spiele einen realistischen Polizeibeamten, oder ihr könnt euren Schrott hier alleine machen! Kruzifix! Soll ich vielleicht noch ein bisschen in der Gegend rumballern? Wollt ihr das? Ja? Wir sind hier doch nicht bei ›Alarm für Cobra 11‹.«

Auch Tomasek wurde nun wütend und schrie mit seinem unverkennbaren tschechischen Akzent: »Der Superstar hat mal wieder Sonderwünsche. Soll der Superstar doch Drehbuchautor werden und sich seine Krimis selber schreiben! Möchte er vielleicht auch noch Regie führen? Bitte sehr, dann kann ich ja gehen!«

»Ich gehe selber«, rief Waldbauer, zog seinen Trenchcoat aus, warf ihn auf das Kulissensofa und entfernte sich durch die Terrassentür. Wäre die Szene aufgezeichnet worden, sähe es für den Fernsehzuschauer so aus, als würde der »Isarbulle« in den Garten gehen. Doch die Tür am Drehort führte nur hinter die Pappkulisse, mit der der Bühnenbildner in den Studiohallen auf dem Bavaria-Filmgelände die perfekte Illusion einer Villa im Nobelvorort Grünwald erzeugt hatte.

»Was ist jetzt?«, fragte der Kameramann, und Holger Brock, der Regieassistent, seufzte leise vor sich hin. Er hatte derartige Szenen in den drei Jahren, die er jetzt den Job machte, immer wieder erlebt. Manchmal hatte er den Eindruck, Waldbauer sei der Erfolg zu Kopf gestiegen. In siebenundneunzig Ländern wurde der »Isarbulle« ausgestrahlt. In England und Amerika hieß die Serie »The Munich Cop«. Die Franzosen und Belgier kannten ihn als »Commissaire bavarois«.

»Es ist eh Zeit für Feierabend«, sagte Tomasek immer noch gereizt und zündete sich eine Zigarette an. Sigmund Öhrlingshausen, der bekannte Burgschauspieler, der in dieser Folge den Mörder mimte, betrachtete sein Whiskyglas, das nur Apfelsaft enthielt, und wünschte sich einen Schluck richtigen Alkohol. Tomasek richtete einen fragenden Blick auf Brock: »Können wir die Szene morgen früh noch nachdrehen?«

Brock sah in seinen Drehplan: »Morgen ist Außendreh am Flaucher, später im Tierpark Hellabrunn. Die Statisten und die Polizeiwagen sind für neun Uhr bestellt. Wenn wir hier um sieben Uhr weitermachen, dann schaffen wir das.«

Daraufhin sprach Tomasek über den Studiolautsprecher, sodass es alle mitbekamen: »Morgen um sieben Uhr, hier in Studio vier. Wer verschläft, kann sich nebenan bei RTL2 bewerben.«

20.21 Uhr

Jürgen Sonne und Horst Steinmayr hatten es sich auf dem Sofa bequem gemacht. Die zwei Kriminalbeamten waren keine großen Fußballanhänger, aber wenn der 1. FC Köln und 1860 München – die Clubs ihrer beiden Heimatstädte – im Halbfinale des DFB-Pokals aufeinandertrafen, dann wurden aus den beiden Fußballmuffeln plötzlich richtig begeisterte Fans, die sich mit Kartoffelchips und Bier auf einen spannenden Abend in Sonnes Wohnzimmer freuten. Sonne war mit seinen fünfunddreißig Jahren der Jüngere von beiden, sein Kollege war fünf Jahre älter und eine Besoldungsgruppe höher, was immerhin über zweihundertfünfzig Euro im Monat ausmachte. Dennoch trugen beide den Titel des Kriminalhauptkommissars. Natürlich trank Steinmayr ein Paulaner Weißbier, während Sonne sich extra ein paar Flaschen Früh-Kölsch besorgt hatte. Es waren noch knapp zwanzig Minuten bis zum Anpfiff. Steinmayr, ein dunkelhaariger kräftiger Mann mit Schnauzbart, der urbayerische Gelassenheit ausstrahlte, zappte durch die Kanäle. Er stoppte, als er auf dem Bildschirm einen nagelneuen Siebener-BMW mit Blaulicht durch die Ludwigstraße fahren sah.

»Als ob es in München nur eine Straße gäbe«, brummte er. »Immer wenn die eine längere Autofahrt filmen, zeigen sie die Ludwigstraße.«

»Absolut. Und der Wagen«, sagte Sonne lachend und dachte an den Opel Astra, den sie als Dienstwagen hatten. »Einen Siebener-BMW fährt ja nicht mal unser Polizeipräsident.«

»Ich würde gerne mal in das kranke Hirn dieses Drehbuchautors hineinschauen«, murmelte Steinmayr. »Ich bin sicher, der hat noch nie eine Polizeiwache von innen gesehen ...«

»... und sich sein kriminalistisches Wissen bei Miss Marple und Sherlock Holmes abgeschaut«, ergänzte sein Kollege und griff in die Chipsschale. Hinter dem Steuer des Polizeiwagens auf dem Fernsehschirm erkannte er Oberinspektor Grieshaber. »Ich kann diesen Typen nicht mehr sehen«, sagte Sonne. »Der lief doch schon im Fernsehen, da ging ich noch in die Schule. Damals hatte er schon diesen albernen Trenchcoat.«

»Aber noch mehr Haare, genauso wie du«, fügte Steinmayr hinzu. Jürgen Sonne trug neuerdings eine Drei-Millimeter-Kurzhaarfrisur, wobei viele hier den Begriff »Frisur« schon nicht mehr als treffend empfanden und eher von einer »Glatze« sprachen. »Aber sei froh, dass du nicht mehr diesen grässlichen Thomas-Gottschalk-Lockenkopf trägst wie in deinem Führerschein.«

Nach der Trennung von seiner Freundin vor sechs Jahren hatte Sonne »die alten Zöpfe abgeschnitten«, wie er gerne erzählte. Nach siebenjähriger Beziehung war Tina den ständigen Rund-um-die-Uhr-Bereitschaftsdienst leid gewesen und hatte nach wiederholtem Fall von coitus interruptus criminalensis ihre Koffer gepackt. Danach hatte er sich vom Kölner Drogendezernat zur Münchner Mordkommission versetzen lassen, um Abstand von seinem bisherigen Leben zu gewinnen. Durch den Ortswechsel wollte er die schmerzhafte Trennung verarbeiten, und außerdem hoffte er, eine der sprichwörtlich schönen Münchnerinnen kennenzulernen. Das Kennenlernen war weniger das Problem. Nur wurde niemals etwas Langfristigeres daraus.

»Der muss doch mindestens siebzig sein. Ich hoffe, wenn wir mal in dem Alter sind, können wir die Füße hochlegen, im Park spazieren gehen und zwei Mal im Jahr auf Mallorca Urlaub machen«, meinte Steinmayr, der trotz seines leichten Übergewichts eine sportliche Figur, aber im Gegensatz zu seinem stets braun gebrannten Kollegen eine eher blasse Haut hatte.

»Ich muss Sie das fragen«, sagte der Fernsehkommissar jetzt auf dem Bildschirm. »Wo waren Sie letzten Mittwoch zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht?«

»Letzten Mittwoch? Zwischen zweiundzwanzig Uhr und Mitternacht?«, vergewisserte sich der Verdächtige, ob er die komplizierte Frage richtig verstanden hatte. »Ich war zu Hause. Allein.«

»Zu Hause waren Sie. Soso.« Der Inspektor machte eine bedeutsame Pause. »Und es gibt keine Zeugen?«

»Ich sagte es bereits: Ich war allein.«

So schleppte sich der Dialog noch eine Weile dahin, bis Steinmayr auf den Sender schaltete, der – »präsentiert von Radeberger« – das Fußballspiel übertrug. Noch wenige Minuten bis zum Spielbeginn. Ex-Kicker Paul Breitner analysierte wortreich die Strategien, Schwächen und Stärken der aufeinandertreffenden Vereine und ließ sich zu der zu oft gehörten Weisheit hinreißen, wonach der Pokal seine eigenen Gesetze hat. Der Moderator stellte schlaue Zwischenfragen und damit sein Fachwissen unter Beweis.

»Fehlt nur noch, dass er erklärt: Der Ball ist rund, und vor dem Spiel ist nach dem Spiel«, lästerte Steinmayr, während er langsam sein Weißbier in ein entsprechendes Glas eingoss.

»Und nicht zu vergessen: Jedes Spiel hat neunzig Minuten.«

In diesem Moment läutete es an der Tür von Sonnes Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung in Freimann, einem Ortsteil, der nach Sonnes Überzeugung zu Unrecht den Ruf eines primitiven Arbeiterviertels genoss. Ein lediger Polizeibeamter konnte sich hier im Münchner Norden eher eine Wohnung leisten als im teuren Süden, was zweifellos an der nahe liegenden Autobahn nach Nürnberg, der Kläranlage und dem »Euro-Industriepark« lag, in dem nicht nur riesige Einkaufstempel angesiedelt waren, sondern wo auch die Kollegen von der Sitte zu regelmäßigen Einsätzen im Rotlichtmilieu gerufen wurden. Die Münchner Mietpreise waren seiner Meinung nach ein Fall für das Dezernat zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität. Der Pizzabote brachte wie bestellt eine Pizza Funghi, eine Pizza Hawaii, einen Bauern- und einen Tomatensalat. Sonne bezahlte ein ordentliches Trinkgeld und wunderte sich nicht darüber, dass der Bote vom Pizzadienst »Napoli« ein Asiate war. München war halt eine multikulturelle Stadt, in der sich nach fünfeinhalb Jahren auch der Kölner Jürgen Sonne einigermaßen heimisch fühlen konnte. Dass er als »zuagroaster« Rheinland-Preuße ausgerechnet mit dem urbayerischen Horst Steinmayr in der Münchner Mordkommission ein Team bilden sollte, hatte beiden am Anfang zunächst ganz banale Kommunikationsschwierigkeiten bereitet. Doch im Laufe der Zeit hatte der gebürtige Münchner sich angewöhnt, mit seinem Kollegen meistens ein einigermaßen verständliches Hochdeutsch zu sprechen. Und Sonne hatte sich damit abgefunden, dass man eine Münchner Bäckerei mit »Grüß Gott« betreten muss und dass man auf gar keinen Fall »Brötchen« bestellen darf, wenn man Semmeln haben möchte, und Zwetschgen niemals mit Pflaumen verwechseln sollte.

»Ich hab mein Handy noch in der Jackentasche«, sagte Sonne. Er holte das Mobiltelefon aus der Jacke im Flur und legte es auf das oberste Brett seines Bücherregals am Fenster. Den fragenden Blick seines Kollegen erwiderte er mit den Worten: »Das ist der einzige Ort hier in der Wohnung, wo ich mit dem neuen Handy Empfang habe. Und wie du weißt, haben wir Bereitschaft.«

»Ich weiß. Und ich weiß auch, welcher Verbrecher diesen Dienstplan gemacht hat. Ich werde bei Maurer einen schriftlichen Antrag stellen, dass wir wenigstens beim Pokalfinale frei bekommen. Obwohl die Wahrscheinlichkeit, dass wir bei zwanzig Morden jährlich in der Stadt ausgerechnet heute einen Einsatz haben ...«

»... genauso gering ist wie ein Pokalfinale, in dem die Sechzger mitspielen!« Sonne griff zu seinem Früh-Kölsch und rief: »Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin!«

»Prost«, erwiderte Steinmayr und stieß mit seinem drei Mal größeren Weißbierglas gegen die Kölsch-Stange seines Kollegen.

Die Sechzger hatten Anstoß, verloren aber sofort den Ball an einen Kölner Stürmer, dessen Lockenpracht im Wind wehte.

»Ein Verwandter von dir?«, fragte Steinmayr.

»Ja, mein Zwillingsbruder«, antwortete Sonne lachend. »Aber wir wurden immer verwechselt, daher habe ich mich ...«

»... skalpieren lassen«, fiel ihm Steinmayr ins Wort.

21.46 Uhr

Dunkelheit hatte sich über die Produktionshallen des Bavaria-Filmgeländes in Geiselgasteig gelegt. Tomasek war allein an dem Drehort, wo der »Isarbulle« am nächsten Morgen noch einmal den Mörder festnehmen sollte. Der Regisseur ging die Szene durch. Die ganze Geschichte lief in seinen Gedanken noch einmal ab. Die Folge »Tod durch Mord« war bereits die zweiundfünfzigste, bei der er Regie führte.

»Was für ein absurder Titel: ›Tod durch Mord‹«, murmelte er vor sich hin, während er im Drehbuch blätterte. Die Bücher für die Erfolgsserie wurden immer schlechter. Damit stieg die Verantwortung des Regisseurs, das Bestmögliche aus der Geschichte herauszuholen. Allmählich war er es leid, mit seinem Namen für derart schlechte Krimis zu stehen. In der Tschechoslowakei war er damals, vor seiner Flucht in den Westen, ein renommierter Kinoregisseur gewesen. Die Zeit war nicht stehen geblieben. Beim »Isarbullen« scheinbar schon. Hier wurde Fernsehen der achtziger Jahre gemacht. Er hätte Ideen, die der Reihe mehr Pep geben würden. Ein bisschen Action. Nicht zu viel, wohl dosiert, sodass kein Zuschauer vor Schreck im Fernsehsessel zusammenzuckt. Doch Waldbauer schien sich gegen jede Neuerung mit einer Vehemenz zu wehren, als wollte man ihm ein Körperteil amputieren. Es war krankhaft, wie sich der Schauspieler Waldbauer mit dem Inspektor Grieshaber identifizierte. Tomasek hätte gerne zu dem Whiskyglas auf dem Mahagonitisch gegriffen, wenn es sich nicht um eine Requisite gehandelt hätte.

Er horchte auf. Ihm war, als hörte er ein Geräusch. Das Umdrehen eines Schlüssels? Kaum möglich. Er hatte um diese Uhrzeit abgesehen vom Nachtwächter noch nie eine Menschenseele in den Studios getroffen. Und er war an Drehtagen oft abends nochmal am Set. Die besten Ideen für gute Szenen und geniale Kameraeinstellungen kamen ihm immer vor Ort – wenn er allein war und ganz in seinen Gedanken versinken konnte.

Wieder hörte er etwas. Diesmal ganz deutlich: Schritte. In den menschenleeren Studiohallen wirkte selbst das leiseste Geräusch wie ein Paukenschlag im Kartäuserkloster. Ein Mensch schlich katzenartig über den Gang und näherte sich. Tomasek stand auf und wollte nachsehen. Er ging nur wenige Schritte, dann erschrak er.

»Wie kommst du hier rein?«, fragte er. »Und was machst du mit der Pistole?«

Auf die letzte Frage seines Lebens sollte er keine Antwort mehr bekommen.

22.15 Uhr

Im Autoradio hörten sie auf B5 Aktuell die letzten Minuten der Verlängerung des DFB-Pokalhalbfinales. Kurz vor dem Schlusspfiff nach der regulären Spielzeit, in der kein Tor gefallen war, hatte das Handyklingeln die beiden Kommissare vor dem Fernsehschirm aufgeschreckt. Auch die Verlängerung war torlos geblieben; nun verfolgten sie im Radio das Elfmeterschießen, während sie mit Blaulicht und Sirene durch die Stadt zum Tatort rasten. Die Strecke vom nördlichen Ortsteil Freimann zum Bavaria-Filmgelände südlich der Stadt führte sie einmal quer durch München. Sonne rechnete sich gute Chancen aus, bis zum Eintreffen in Geiselgasteig den Ausgang des Fußball-Krimis noch live mitbekommen zu können.

»Hey, Jürgen, pass doch auf, fahr nicht so schnell!«, rief Steinmayr, als Sonne am Nordfriedhof die Kreuzung Schenkendorfstraße/Ungererstraße überquerte. Würden sie weiter geradeaus fahren, kämen sie auf die Leopold- und später auf die Ludwigstraße, die Lieblingsstrecke der Fernsehkommissare. Doch sie bogen nach links in die Dietlindenstraße, um über den Isarring an der Isar entlang und am Englischen Garten vorbei Richtung Süden weiterzufahren.

Beide Vereine hatten bisher ihre Elfmeter verwandelt, als der Radioreporter nach dem nächsten Schuss der Kölner ein lautes »Gehalten« durch den Äther jagte.

»Schau gefälligst auf die Straße!«, rief Steinmayr, als Sonne vor Entsetzen über den verschossenen Elfmeter mit den Händen auf das Lenkrad trommelte und gleichzeitig ein Motorrad die Spur wechselte, offenbar ohne die Alarmsignale des Polizeifahrzeuges zu bemerken. Sonne zog das Lenkrad nach links und scherte nach dem Motorrad sofort wieder mit quietschenden Reifen rechts ein. Er blickte in den Rückspiegel und stellte fest, dass der Motorradfahrer nur kurz ins Schlingern gekommen war und seine Fahrt jetzt sicher fortsetzte. Sonne beschleunigte wieder das Tempo.

Während der nächsten Minuten verfolgten sie mit gegensätzlichen Gefühlen, wie die Spieler der Sechzger jeden weiteren Elfmeter verwandelten und damit ins Pokalfinale einzogen. Sonne schwieg für den Rest der Fahrt, und Steinmayr streute Salz in die Wunden seines Kollegen, indem er mit variiertem Text einen Gospelsong anstimmte: »Und wir holen den Pokal, halleluuuuuuuja ...«

Nach knapp zwanzig Minuten fuhren sie auf das Filmgelände. Für den Nachtpförtner, der die Schranke an der Haupteinfahrt bediente, war es nichts Außergewöhnliches, Polizeifahrzeuge durchzulassen. Doch nur selten saßen darin wirkliche Kriminalbeamte. Zwei Streifenwagen, ein Notarztwagen und mehrere Zivilfahrzeuge mit Blaulicht auf dem Dach standen bereits vor Halle vier auf dem Gelände, das mit seinen vielen Gebäuden, Straßen und Kreuzungen eine richtige kleine Stadt darstellte. Kriminaloberkommissar Hakan Caliskan – ein gebürtiger Türke mit deutschem Pass und bairischem Dialekt – erwartete Steinmayr und Sonne bereits.

»Was ist denn mit dir los?«, fragte er, als er das griesgrämige Gesicht von Jürgen Sonne sah.

»Du hast ja keine Ahnung«, antwortete Sonne. »Du weißt nicht, was es für einen Fußballfan bedeutet, die entscheidenden Minuten des Untergangs am Autoradio miterleben zu müssen. Bist du schon lange hier?«

»Als der Alarm vom Kriminaldauerdienst kam, war ich bei Petra in Fürstenried. Das liegt ja schon fast auf halber Strecke hierher.«

»Du bist in letzter Zeit öfter bei deiner neuen Flamme als zu Hause, kann das sein?«, fragte Sonne.

»Kann schon sein«, erwiderte Caliskan und lachte. »Ich habe halt auch meine schönste Nebensache der Welt.«

»Zur Sache, Männer«, sagte Steinmayr und fragte seinen jungen Kollegen: »Was ist passiert?«

Caliskan referierte die wichtigen Fakten, wie auf der Polizeischule gelernt: »Der Notruf ging um zweiundzwanzig Uhr drei in der Einsatzleitstelle ein. Der Nachtwächter vom Sicherheitsdienst, er steht dort drüben, hatte bei seinem Routinerundgang zwei Schüsse in Halle vier gehört. In der Studiokulisse fand er die Leiche von Drahomir Tomasek, neunundfünfzig Jahre alt, von Beruf Fernsehregisseur. Nach erstem Augenschein von zwei Schüssen in den Oberkörper tödlich getroffen. Mehr wird der Notarzt sagen können. Außer dem Nachtwächter gibt es keine Zeugen. Die Kollegen vom K 311 sind schon bei der Arbeit.«

Hinter den rot-weißen Plastikbändern mit der Aufschrift »Polizeiabsperrung« hatte ein Dutzend Männer vom Kommissariat 311 in weißen Schutzanzügen ihre Silberkoffer geöffnet und penibel damit begonnen, sämtliche Spuren – von Fingerabdrücken über Haare bis Textilfasern – zu sichern, einzutüten und zu beschriften. So manche auf den ersten Blick völlig belanglose Spur hatte sich später als das entscheidende Mosaiksteinchen bei der Aufklärung eines Verbrechens erwiesen.

»Dann schauen wir uns das mal an«, sagte Sonne und entdeckte im gleichen Moment einen jungen Mann, der einige Meter hin und her lief und dabei sein Mobiltelefon wie eine Wünschelrute vor sich hertrug.

»Wer sind Sie, und was machen Sie hier?«, fragte Steinmayr den Wünschelrutengänger.

»Ich suche eine Stelle, wo mein verdammtes Handy endlich Empfang hat.« Er zeigte seinen mintfarbenen Presseausweis im Scheckkartenformat und sagte: »Ich bin Frank Litzka. Polizeireporter von der ATZ.«

Jetzt erkannte Sonne das Gesicht des jungen Journalisten. Er hatte diese Presseausweise schon oft gesehen. In fast unleserlichen Minibuchstaben legitimierten sie den Inhaber, »sich zur Erleichterung seiner Berufsausübung innerhalb der behördlichen Absperrungen zur aktuellen Berichterstattung aufzuhalten, sofern dies nicht aus zwingenden Gründen verweigert werden muss«.

Er nahm den Ausweis in die Hand. »Eigentlich müsste hier drauf stehen: ›Der Inhaber ist berechtigt, den Polizeifunk abzuhören, um noch vor den Beamten am Ort des Verbrechens eintreffen zu können, damit er sofort eine reißerische Schlagzeile formulieren kann.‹ Dann wäre Ihr Verhalten legitim. Aber das steht hier nicht. Es ist ja nicht das erste Mal, dass Sie noch vor der Polizei am Tatort sind, Herr Litzka. Dass Sie den Polizeifunk abhören, werden wir Ihnen irgendwann schon noch nachweisen.«

Litzka reagierte nicht auf die Worte des Kommissars. Endlich zeigte sein Handydisplay Empfang an. Er wählte die Nummer des Nachtredakteurs seiner Zeitung.

»Ihr müsst den Aufmacher rausschmeißen. Ich habe eine neue Schlagzeile: ›Mord beim Isarbullen. TV-Regisseur im Studio erschossen.‹ Ich schreibe euch zwanzig Zeilen für die Eins und nochmal vierzig Zeilen für den Lokalteil. Habe meinen Laptop dabei. Ich schaffe es bis zum Andruck um Mitternacht.«

Frank Litzka, der seine Artikel mit dem Redaktionskürzel »flitz« unterschrieb und daher überall mit seinem Spitznamen »Flitzer« bekannt war, war als freier Mitarbeiter einer der beiden Münchner Boulevardzeitungen mit modernster Technik ausgerüstet, damit er von seinem tragbaren Computer aus einen Text drahtlos in die Redaktion schicken konnte. Das Einzige, was er brauchte, war Handyempfang. Offenbar hatte die Konkurrenz von dem Fall nichts mitbekommen, so konnte er sich auf einen exklusiven Aufmacher am nächsten Tag freuen.

»Wahrscheinlich weiß er wieder mehr als wir«, sagte Sonne genervt. Die beiden Kommissare ließen den hochgewachsenen, hageren Reporter mit den kurzen dunklen Haaren und der kleinen randlosen Brille in der Dunkelheit zurück.

Sie betraten die Halle, die inzwischen vom gleißenden Licht der Studioscheinwerfer ausgeleuchtet war. So mussten die Beamten von der Spurensicherung nicht ihre eigenen Lampen aufbauen. Die Atmosphäre war unwirklich: In der Fernsehkulisse lag vor zahlreichen Kameras eine Leiche in einer Blutlache. Man erwartete, dass in jedem Moment eine Stimme aus dem Off »Cut« rufen und der Tote mit den beiden Einschusslöchern in der Brust sich das Filmblut abwischen und aufstehen würde. Steinmayr näherte sich der Leiche und sah das Manuskript auf dem Boden liegen, das Tomasek bei seinem Tod in der Hand gehalten hatte. Auf dem Deckblatt stand in großen Lettern: »TOD DURCH MORD«.

22.46 Uhr

Sie vernahmen zunächst den einzigen Zeugen. Er saß auf einem Stuhl in einem kleinen Raum, in dem sich tagsüber die Komparsen aufhielten, wenn sie stundenlang darauf warteten, für eine Tagesgage von neunzig Euro durchs Bild zu laufen oder Passanten zu mimen. Steinmayr setzte sich ihm gegenüber hin, während Sonne auf und ab ging und sich auf einem Block Notizen machte.

»Zwei Schüsse. Kurz nacheinander«, schilderte der Ohrenzeuge knapp seine Wahrnehmung.

»Sie wussten sofort, dass es sich um Schüsse handelte?«, fragte Sonne.

»Ich bitte Sie!«, entgegnete der Wachmann empört. »Für meinen Job muss ich den Umgang mit der Waffe beherrschen. Wir haben regelmäßig Schießtraining. Da weiß ich sehr wohl, wie ein Pistolenschuss klingt und wie eine durchgeknallte Sicherung.«

»Haben Sie vorher irgendjemanden auf dem Gelände gesehen?«, fragte Steinmayr.

»Ja. Tomasek.«

»Was machte er so spät noch auf dem Filmgelände?«, wollte Sonne wissen.

»Er war oft abends hier. Nach hektischen Drehtagen. Manchmal, wenn ich ihm auf meiner Runde begegnete, rauchten wir eine Zigarette zusammen und quatschten zwei Minuten. Er kannte sicherlich nicht meinen Namen. Aber er kannte mein Gesicht. Einmal erzählte er, dass er es genieße, die Studioluft ohne Hektik und Stimmengewirr zu atmen. Er sagte, wenn er die tote Kulisse betrachte, sehe er die Figuren wie aus dem Nichts auftauchen und ihre Rolle spielen.« Kurz hielt er inne und fügte dann hinzu: »Ich glaube, er hat gekokst.«

Steinmayr sah ihn fragend an.

»Ist doch gang und gäbe hier. Aber darüber will ich nicht sprechen.« Der Wachmann zuckte mit den Schultern und genoss es offenbar, den Szenekenner zu geben. Doch Steinmayr ging darüber hinweg.

»Was taten Sie, nachdem Sie die Schüsse gehört hatten?«

»Ich lief zur Halle. Und um Ihre nächste Frage vorwegzunehmen: Nein, mir ist niemand mit gezogener Pistole entgegengekommen. Ich fand den Toten so, wie er jetzt noch da liegt.«

Sie bestellten den Zeugen für den nächsten Vormittag ins Polizeipräsidium, wo er seine Aussage unterschreiben sollte. Mehr Zeugen gab es im Moment nicht zu vernehmen. Sie traten wieder vor die Produktionshalle, wo der Reporter Litzka gerade seinen Laptop zusammenklappte.

»Und immer schön bei der Wahrheit bleiben«, mahnte Sonne.

»Und Sie, immer schön den Mörder finden«, erwiderte Litzka, den Tonfall des Kommissars nachäffend. »Wir sehen uns wieder«, rief er, als er schon fast verschwunden war.

»Das mit dem Polizeifunk werden wir ihm eines Tages nachweisen«, brummelte Steinmayr.

Der Notarzt klappte seinen Koffer zu und sprach mit Staatsanwältin Heidrun Staudinger, die soeben am Tatort eingetroffen war. Steinmayr und Sonne traten zu ihnen.

»Da gibt's nicht viel zu untersuchen«, sagte der Arzt. »Er muss sofort tot gewesen sein. Sieht so aus, als ob die erste Kugel die Lunge und die zweite das Herz zerfetzt hat. ›Unnatürlicher Tod‹ kann man da guten Gewissens auf dem Totenschein eintragen.«

»›Tod durch Mord‹ könnte man auch sagen«, murmelte Sonne.

Unterdessen hatten die Experten von der Spurensicherung ihre ersten Arbeiten abgeschlossen. Kommissar Kellerbach vom K 311 fasste die Erkenntnisse zusammen: »Zwei Schüsse, beide aus etwa zwei Metern Entfernung abgefeuert. Da war es nicht schwer, das Ziel zu treffen. Beide Treffer in den Brustbereich waren tödlich. Interessant sind die Patronenhülsen: Kaliber neun Millimeter.«

»Neun Millimeter?«, fragte die Staatsanwältin.

»Um genau zu sein: Kaliber neun Millimeter mal neunzehn«, präzisierte er seine Angaben und gab damit den Durchmesser und die Länge der Kugel an.

Sonne und Steinmayr blickten sich kurz an. Dann sagte Sonne: »Das ist wirklich sehr interessant. Und Sie täuschen sich nicht?«

Er zog seine Frage sofort zurück, als er die entgeisterte Miene des Spurenexperten sah. Beiden war klar, was dieses Kaliber bedeutete: Eine Polizeikugel wurde nicht alle Tage in der Leiche eines Mordopfers gefunden.

Kapitel 2

Samstag, 8. März. 6.30 Uhr

Holger Brock hätte beinahe einen Auffahrunfall verursacht, als er auf der Landshuter Allee beim Überqueren der Dachauer Straße an einem Zeitungsautomaten die Schlagzeile las und abrupt bremsen musste. Zehn Zentimeter groß waren die Buchstaben, mit denen auf der Titelseite der ATZ verkündet wurde: »Mord beim Isarbullen – Regisseur im Studio erschossen«. Es war bereits die dritte Rotphase an dieser Kreuzung. Da er täglich auf dem Weg von seiner Wohnung in Ingolstadt ins Studio hier auf dem Mittleren Ring im Stau stand, konnte er die Länge der Ampelphasen ziemlich genau einschätzen. Der Regieassistent sprang aus dem Wagen und nahm sich eine Zeitung aus dem stillen Verkäufer, ohne der Warnung vor den »ständigen Zahlungskontrollen« an dem Selbstbedienungsautomaten Beachtung zu schenken. Nach wenigen Sekunden saß er wieder hinterm Lenkrad, und bis es Grün wurde, konnte er die ersten Zeilen des Artikels im typischen abgehackten Boulevard-Stil lesen:

»Diesmal waren es keine Platzpatronen! Die Schüsse fielen am späten Abend. Auf dem Bavaria-Filmgelände. Der Mord stand nicht im Drehbuch. Der Tote ist Drahomir Tomasek (59) – niedergestreckt von zwei Schüssen. Er war mitten in den Dreharbeiten zu einer neuen Folge von ›Der Isarbulle‹. Doch jetzt ermittelt kein TV-Kommissar, sondern die echte Mordkommission. Das Tatmotiv ist völlig unklar. Fieberhaft fahndet die Polizei ...«

Jetzt schaltete die Ampel auf Grün, und Brock konnte mit seinem Golf die Kreuzung überqueren. Tausend Gedanken schnellten ihm durch den Kopf. Ihm war klar, dass heute keine Dreharbeiten stattfinden würden. Dennoch fuhr er geradewegs zum Studio.

7.05 Uhr

»Da kommt einiges auf uns zu«, sagte Steinmayr zu Sonne.

Die Studiohalle war als Tatort abgesperrt und versiegelt worden. Die Nachricht vom Tod des Regisseurs hatte sich am frühen Morgen wie ein Lauffeuer in der Crew verbreitet. Einige aus dem Team waren sogar noch in der Nacht von Kripo-Beamten aufgesucht und nach ihren Alibis gefragt worden. In der Filmhalle hatte die Mordkommission zwei provisorische Vernehmungszimmer eingerichtet. Alle Mitglieder des Filmteams mussten befragt werden.

»Weißt du noch, wie viele Namen im Abspann des ›Isarbullen‹ zu lesen sind?«, fragte Steinmayr. »Von der Maskenbildnerin bis zur Assistentin des Aufnahmeleiters. Ich hoffe, du hast genug Notizpapier für die Vernehmungen dabei.«

Mit Grauen dachte Sonne an die Schreibarbeiten. Jede Zeugenbefragung musste schließlich abgetippt werden. Das wurde in den Fernsehkrimis nie gezeigt.

Kommissar Hakan Caliskan brachte ihnen eine Liste mit allen Mitarbeitern, die zum Team gehörten. Und nach und nach kamen sie an den Drehort. Überall wurde leise geredet, fast andächtig wie in einer Kirche. Die Leiche war zwar schon in der Nacht abtransportiert worden, dennoch schien es allen unangebracht, laut zu sprechen. Völlig still wurde es, als der schwarze Mercedes von Franz-Xaver Silbermann auf das Gelände fuhr.

Der Produzent des »Isarbullen« ließ sich seit seinem siebzigsten Geburtstag vor vier Jahren nur noch selten bei den Dreharbeiten sehen, obwohl er ein Büro auf dem Bavaria-Gelände hatte. Er war auch der »Erfinder« des »Isarbullen« und hatte die Serie weltweit erfolgreich gemacht. Kein Mensch hatte so viele Morde auf dem Gewissen wie er. Vor zweiundzwanzig Jahren, als der »Isarbulle« seinen ersten Fall löste, waren Silbermanns Haare noch schwarz gewesen. Jetzt hatten sie eine zu seinem Namen passende Farbe angenommen. Er war der Grandseigneur des deutschen Fernsehkrimis. Zahlreiche Krimiserien wurden von seiner Firma, der Isar-Television GmbH, produziert. Das tägliche Geschäft hatte Silbermann längst an seinen Produktionsleiter weitergegeben, außerdem hatte er seit drei Jahren einen Juniorpartner und Teilhaber. Doch der war jetzt tot, in der vergangenen Nacht auf dem Studiogelände erschossen.

Silbermann stieg aus seinem Wagen, der von seinem persönlichen Assistenten gelenkt wurde. Es gab Mitarbeiter bei Isar-Television, die ihrem höchsten Chef noch nie persönlich begegnet waren. Und so machte sich eine ehrfurchtsvolle Stille in der Crew breit. Auch Sonne und Steinmayr kannten Silbermann nur von den Promi-Seiten der Klatschzeitungen. Wie er mit seiner blau getönten Brille, dem Seidenschal und dem silbernen Gehstock an seinen Mitarbeitern entlangschritt, erweckte er den Eindruck, als wollte er auf eine Bühne treten und dort den »Bambi« oder die »Goldene Kamera« entgegennehmen. Die dunkle Brille ließ seine Emotionen nicht erkennen. Erst als er zu sprechen begann, bemerkte jeder die tiefe Betroffenheit in seiner Stimme.

»Liebe Kollegen«, begann der Produzent. »Ich kann mir vorstellen, dass die Ereignisse der vergangenen Nacht Sie alle sprachlos machen. Jeder hier ist fassungslos und entsetzt. Viele von Ihnen, die von Anfang an mit mir zusammenarbeiten, haben seit zweiundzwanzig Jahren mit Mord zu tun. Wir haben schon viele Leichen gesehen – auch wenn es nur Fernsehleichen waren. Dass Menschen getötet werden, gehört für uns alle zum täglichen Handwerk. Doch nun haben wir es mit einem echten Mord zu tun.« Er stockte und holte Luft. Er rang sichtlich um Fassung. Dann sprach er weiter mit seiner sonoren Stimme, die ihm eine Karriere als Märchenerzähler ermöglicht hätte: »Verehrte Kollegen, nach diesem Tag wird nichts mehr so sein wie es war. Ein Kollege – für viele von uns auch ein Freund – ist ermordet worden. Bei jedem Fernsehmord, den wir künftig drehen, werden wir uns an dieses schreckliche Ereignis erinnern. Aber wie heißt es in unserer Branche so schön: The show must go on. Jeder Drehtag, den wir verlieren, kostet uns viel Geld. Es wäre nicht in Drahomirs Sinne, die Dreharbeiten abzubrechen. Wie Sie wissen, war er als Co-Autor an diesem Drehbuch beteiligt. Er hätte gewollt, dass diese Folge weitergedreht wird. Dennoch: Der heutige Drehtag ist hiermit abgesagt. Wir verschieben die Produktionsarbeiten um einen Tag, wir machen am Montag weiter. Brock, Sie bemühen sich, den verlorenen Tag durch einen neuen Drehplan wieder reinzuholen. Notfalls streichen Sie einen freien Sonntag. Heute halten Sie sich bitte alle für die Herren von der Polizei bereit. Seien Sie kooperativ und beantworten Sie alle Fragen! Es ist in unser aller Interesse, dass dieses Verbrechen schnell aufgeklärt wird.« Silbermann schwieg einen Moment. Er war ein Meister der Dramaturgie. Dann beantwortete er die unausgesprochene Frage, die während seiner ganzen Ansprache in der Luft hing: »Die Regie übernimmt während der restlichen Drehtage ...«, sein Blick schweifte über die versammelte Mannschaft, dann zeigte er mit seiner ausgestreckten, leicht zitternden Hand auf den jungen Mann, der mit verschränkten Armen an der Studiowand lehnte, »... Holger Brock. Ich weiß, Herr Brock, dass es Ihr Regie-Debüt ist. Und sicherlich hätten Sie sich das unter anderen Umständen gewünscht. Aber Sie haben lange genug mit Drahomir zusammengearbeitet, um zu wissen, wie Sie diesen Film in seinem Sinne zu Ende bringen werden. Meine Damen und Herren, ich danke Ihnen.«

Steinmayr beendete die wenigen Sekunden der Stille. »Herr Silbermann, haben Sie noch einen Moment Zeit für uns?«

»Selbstverständlich, kommen Sie mit in mein Büro.«

Steinmayr begleitete Silbermann, während Sonne und Caliskan mit den ersten Vernehmungen begannen.

7.15 Uhr

Sonne bestellte als Erstes den Regieassistenten in das Vernehmungszimmer. Er war der Einzige, dessen Namen und Funktion er nun kannte. Und dass er die Nachfolge des Ermordeten übernehmen sollte, war ansatzweise so etwas wie ein Motiv.

»Darf ich Ihnen zu Ihrem neuen Job gratulieren?«, fragte er Brock provokant.

»Sie können mir glauben, dass sich meine Freude in Grenzen hält. Von heute auf morgen in einer laufenden Produktion die Regie zu übernehmen, ist sicher nicht der Traum eines jeden Regieassistenten. So etwas braucht Vorbereitung.«

»Aber vielleicht erhalten Sie jetzt eine Chance, die Sie sonst erst in einigen Jahren bekommen hätten?«

»Möglich. Aber jeder weiß doch, dass ich der Notnagel bin, weil kein anderer da ist. Glauben Sie, man findet von einem Tag auf den anderen einen Top-Regisseur? Die kann man sich nicht beim Arbeitsamt bestellen. Wahrscheinlich bin ich bei der nächsten Produktion wieder der Assi.«

Brock war ein sportlicher Mann, Anfang dreißig und mit einer glänzenden Fönfrisur wie aus dem Werbespot für »Head & Shoulders«. Sein Fünf-Tage-Bart und sein aus der Hose hängendes Hemd hätten jeden anderen liederlich wirken lassen. Ihm gab es etwas Unkonventionelles. Er schien sich wirklich nur begrenzt über seinen plötzlichen Aufstieg zu freuen. Wenn er jedoch seinen Chef aus dem Weg geräumt hatte, um dessen Platz einzunehmen, dann wäre es unklug von ihm, jetzt die Freude über das Erreichte zur Schau zu stellen.

»Herr Brock, Sie kennen diese Routinefragen aus den Drehbüchern. Wo waren Sie gestern Abend zwischen ...«

Brock unterbrach: »Ich war den ganzen Abend zu Hause. Nach dem Zoff hier am Set bin ich direkt heimgefahren. Ich wohne in Ingolstadt. Dort bin ich gegen zwanzig Uhr angekommen. Ich habe den Abend über das Haus nicht mehr verlassen.«

»Zoff?«, fragte Sonne interessiert.

»Ja. Tomasek und Waldbauer haben sich in die Haare gekriegt. Es ging mal wieder um das Übliche: Tomasek wollte ein bisschen mehr Drive in die Szenen bringen, und Waldbauer wollte lieber ein Doku-Drama draus machen. Danach hat Tomasek den Dreh abgebrochen. Die Stimmung war zu gereizt.«

»Kam es deswegen öfter zu Auseinandersetzungen?«

»Ja. Waldbauer hat im Laufe der Jahre eine Liebe zum Detail entwickelt, die schon fast krankhaft ist. Er hat einen Spezi bei der Polizei, diesen Lechner, mit dem er regelmäßig zusammen im Augustiner sitzt und von dem er sich aus dem Polizeialltag berichten lässt. Er hat die Vorstellung, den ganzen Action-Krimis eine möglichst realistische Darstellung der Polizeiarbeit entgegenzusetzen. Ich glaube, er ist sogar Mitglied in der Polizeigewerkschaft und hat eine Fachzeitschrift für Kriminaltechnik abonniert. Wenn ein Regisseur Wert auf einen spannenden Film legt, dann muss das natürlich oft auf Kosten der Realitätsnähe gehen.«

»Absolut. Ich glaube, es wäre ziemlich langweilig, unseren Polizeialltag realistisch zu zeigen. Ich habe noch nie einen Fernsehkommissar Vernehmungsprotokolle tippen sehen.«

»Wie dem auch sei. Aber ich glaube nicht, dass Waldbauer Tomasek deshalb umgebracht hat.«

Der Gedanke, dass ein Fernsehkommissar, der zum Inbegriff für Recht, Ordnung und Moral geworden ist, zum Mörder wird, war auch für Sonne jenseits des Vorstellbaren.

»Worum genau ging es beim gestrigen Streit?«, fragte Sonne, und Brock schilderte die Szene, die sich am Vortag abgespielt hatte.

Dann kam Sonne nochmal auf das Alibi des Regieassistenten zurück: »Es gibt also niemanden, der bezeugen kann, dass Sie gestern Abend zu Hause waren?«

»Doch, der Bote von ›Chinatown‹. Ich hatte mir eine ›Ente süßsauer‹ bringen lassen. Auf der Quittung steht das Datum. Und vielleicht haben die bei ›Chinatown‹ die Uhrzeit meiner Bestellung notiert.«

Sonne hatte schon bessere Alibis gehört – die sich jedoch auch manchmal als falsch herausgestellt hatten. Im Moment hatte er aber keinen Grund, an den Angaben Brocks zu zweifeln. »Wir werden Ihre Angaben überprüfen«, fügte er hinzu und fragte dann: »Wer ist diese attraktive blonde Dame, die eben draußen bei Ihnen stand? Sie kommt mir bekannt vor. Gehört sie auch zum Team?«

»Sie meinen Ulrike? Ulrike Gellner. Sie kennen Sie wahrscheinlich aus ›Liebe und Schmerz‹. Da spielte sie dieses blonde Dummchen Nora. Sie ist bei der Daily Soap ausgestiegen, um sich mal in der richtigen Schauspielerei zu versuchen. Man erzählt, sie sei aus der Serie rausgeschrieben und gefeuert worden. Keine Ahnung, ob da was dran ist. Vielleicht kennen Sie sie aber auch aus dem Playboy. Da war sie vor acht Jahren ›Playmate des Monats‹.«

Sonne errötete leicht. Denn er hatte bislang noch nie jemandem gestanden, dass er gelegentlich den Playboy las, und zwar nicht nur wegen der Reportagen und Interviews. An Ulrike Gellner als Playmate konnte er sich jedoch nicht erinnern.

»Und jetzt hat sie eine Rolle im ›Isarbullen‹?«, überging er das Thema.

»Keine große Rolle. Sie spielt die Tochter von Graf von Kujawski, dem Mörder. Macht ihre Sache ganz ordentlich.«

»Hatte sie gestern auch Drehtag?«

»Ja, gestern Vormittag hatte sie eine kleine Szene. Ob sie am Nachmittag noch hier war, weiß ich nicht.«

»Trauen Sie Ihr zu, dass Sie den Wechsel von der Soap in die ernsthafte Schauspielerei wirklich schafft?«

»Auch in der ernsthaften Schauspielerei, oder was Sie so nennen, müssen manchmal entsprechende Rollen besetzt werden.«

»Was für Rollen?«

»Na, Nutten und Flittchen ... Gerade im ›Isarbullen‹ gibt es davon immer eine Menge.«

»Sie meinen, sie wird das Sexbomben-Image nicht los?«

»Schwer. Ein Schauspieler, der einmal in eine Schublade gesteckt wurde, kommt da nur schwer wieder heraus. Und Regisseure denken eben meist in Schubladen. Tomasek hat sich sogar manchmal einen Spaß draus gemacht.«

»Was für einen Spaß?«

»Er hat Ulrikes Rolle schon mal leicht verändert. Er verordnete ihr einen Minirock oder ein tief ausgeschnittenes Oberteil, wovon im Drehbuch überhaupt keine Rede war. Naja, mir hat's gefallen. Und ich bin sicher, den Zuschauern auch. Das ist halt das harte Schicksal einer attraktiven Frau, die ihr Glück im Filmbusiness versucht.« Brock lachte hämisch.

»Wären Sie so freundlich, Frau Gellner zu mir zu schicken?«

Sonne hatte zwar Zweifel, dass die junge Schauspielerin ihm wichtige Angaben zum Mordfall machen konnte. Aber die Chance, die hübsche Frau kennenzulernen, wollte er sich nicht nehmen lassen.

Hoffentlich hat sie keine Abneigung gegen Polizisten, dachte er.

7.20 Uhr

Silbermanns Büro lag im ersten Stock des zu einem Firmengebäude umfunktionierten Wohnhauses auf dem Bavaria-Gelände. Eine junge Sekretärin öffnete die Tür und führte Kommissar Steinmayr die Treppe hinauf. An den Wänden hingen überall große eingerahmte Szenenfotos aus dem »Isarbullen« und anderen von Silbermann produzierten Serien. Im Flur befanden sich in Kisten die Drehbuchexemplare für die nächsten Folgen. Es sah nach Arbeit aus. Silbermanns Büro war ebenso edel wie seine ganze Erscheinung. Auch die Skulpturen, die überall aufgestellt waren, bewiesen Stil und machten deutlich: Hier arbeitete jemand, der sich guten Geschmack leisten konnte. Der wertvolle rote Teppich schien alle störenden Geräusche zu schlucken. In einer Vitrine standen mehrere »Bambis«, eine »Goldene Kamera« und ein »Telestar«. In seiner Jeans, mit Hemd ohne Schlips und kariertem Leinensakko kam sich Steinmayr in diesem Raum definitiv underdressed vor.

»Setzen Sie sich«, sagte Silbermann zu Steinmayr und deutete auf einen Ledersessel in der Ecke des mit edlem Holz vertäfelten Raumes, der größer war als das Großraumbüro im Polizeipräsidium, in dem Steinmayr mit seinen Kollegen arbeitete. Im hinteren Teil stand ein Regal mit Hunderten von Videokassetten. Offenbar waren hier alle Krimi-Folgen säuberlich archiviert. Silbermann räumte einige von hoffnungsvollen Nachwuchsautoren eingereichte Drehbuchvorschläge sowie einen Stapel von Selbstdarstellungen junger Schauspieler zur Seite. Dann nahm er seine zum Markenzeichen gewordene blau getönte Brille ab und setzte ein anderes Gestell auf, mit dem ihn auf der Straße wohl kaum jemand erkannt hätte. Unaufgefordert brachte Silbermanns Assistent Kaffee.

»Sie haben Tomasek schon lange gekannt?«, fragte der Kommissar.

»Bitte sprechen Sie seinen Namen Tomascheck aus, wie Scheckkarte am Ende. Darauf legte er Wert. Er war Tscheche. Wussten Sie, dass die besten Krimiregisseure aus Tschechien kommen?«

Steinmayr überging die Frage. »Sie erwähnten eben, dass Tomasek ...«, nun sprach er den Namen korrekt aus, »... auch Drehbücher schrieb.«

»Er war Co-Autor. Er war kein begnadeter Schreiber. Aber durch seine langjährige Erfahrung war er ein Meister der Spannung. ›Suspense‹ nennen wir das. Es gehört eine Menge Kunst dazu, einen Fernsehzuschauer so in den Bann zu ziehen, dass er sechzig Minuten lang dranbleibt. Tomasek beherrschte das wie kein anderer. Das Sechzig-Minuten-Format ist eine Herausforderung für jeden Fernsehmacher. Ich könnte Ihnen jeden Neunzig-Minuten-Tatort durch das Herausstreichen von überflüssigen Dialogen und sinnlosen Autofahrszenen auf eine Stunde kürzen. Da bin ich sicher.«

Steinmayr dachte an den »Isarbullen«, von dem er am Vorabend gemeinsam mit Sonne kurze Sequenzen gesehen hatte. Er stellte sich vor, dass man die Folge auch verlustfrei auf die Länge einer »Tagesschau« hätte kürzen können. Ihm lag die Frage auf der Zunge, ob Tomasek für diese Episode verantwortlich gewesen war.

Als hätte er die Gedanken seines Gesprächspartners erraten, sagte Silbermann: »Natürlich gibt es gute und weniger gute Folgen. Das liegt aber daran, dass auch der beste Regisseur aus einem schlechten Buch keinen guten Film machen kann. Er kann dann nur das Beste rausholen. Das hat Tomasek oft getan. Viele Autoren haben ihn dafür gehasst, dass er sich in die Dramaturgie einmischte und das Umschreiben kompletter Szenen verlangte. Es hat da schon manchen bösen Streit gegeben. Als eine Auseinandersetzung mit einem Autor einmal zu eskalieren drohte, musste ich eingreifen. Ich machte Tomasek offiziell zum Co-Autor. Er konnte keine Dialoge schreiben, Deutsch ist ja nicht seine Muttersprache. Aber in letzter Zeit war er an der Entwicklung der Story-Lines maßgeblich beteiligt.«

»Story-Lines?«, fragte Steinmayr.

»Ich mag diese neumodischen Begriffe auch nicht. Bei modernen Produktionen gibt es eigene Story-Liner, die legen die Handlungsstränge fest. Dann gibt es die Dialog-Autoren, die für die einzelnen Szenen zuständig sind. Das wird vor allem bei den Daily Soaps so gehandhabt. Wir hier bei der Isar-Television legen aber noch Wert darauf, dass ein Buch aus einem Guss ist und möglichst aus einer Hand kommt. Ich arbeite nicht nur mit den besten Schauspielern, sondern auch mit den besten Autoren und Regisseuren.«

Steinmayr dachte wieder an den »Isarbullen« vom Vorabend: Armes Deutschland, wenn die besten Fernsehmacher nichts Besseres auf die Reihe kriegen.

»Wie gut war Ihr Verhältnis zu Tomasek?«

»Als er anfing, für mich zu arbeiten, war er ein Mitarbeiter, einer von vielen. Doch im Laufe der Jahre sind wir Partner geworden. Ich habe diesem partnerschaftlichen Verhältnis vor drei Jahren eine rechtliche Form gegeben und ihn zum Teilhaber meiner Firma gemacht.«

»Sollte er Ihr Nachfolger werden?«

»Offen gestanden: Darüber habe ich nachgedacht. Ich bin aber zu keinem Schluss gekommen. Die Überlegungen haben sich ja nun leider erübrigt.«

»Was ließ Sie daran zweifeln, ihn zum Kronprinzen zu machen?«

»Er war Künstler, kein Geschäftsmann. Er wollte sich nicht um Geld und Verträge kümmern. Und im Fernsehgeschäft geht es um viel Geld. Das können Sie mir glauben, Herr Kommissar.«

»Eine Frage noch, Herr Silbermann: Hatte Tomasek etwas mit Drogen zu tun?«

Den Produzenten schien diese Frage nicht zu überraschen. »Möglich. Ich weiß es nicht. Wenn ja, hätte es mich nicht gestört, solange er seine Arbeit gut macht.«

7.29 Uhr

Kommissar Hakan Caliskan hatte sich Ulrike Gellner zugewandt. Auch ihm war die attraktive junge Frau aufgefallen. Zwar hatten ihn seine Chefs nicht dazu beauftragt, aber es konnte ja nicht schaden, zumindest mal die Personalien aufzunehmen. Wenigstens die Telefonnummer, dachte er sich. Für mögliche spätere Rückfragen. Er kannte sie aus der Serie »Liebe und Schmerz«. Dort hatte sie es mit ihrem ansteckenden Lächeln immer im Handumdrehen geschafft, nach und nach fast alle in der Serie vorkommenden Männer zuerst um den Verstand und dann in ihr Bett zu bringen. Ausschlaggebend dafür war nicht nur ihr Lächeln. Ihre extrem kurzen Röcke und die äußerst tief ausgeschnittenen und eng anliegenden Oberteile verfehlten ihre Wirkung nicht.

Doch jetzt war die Schauspielerin ziemlich unauffällig in Jeans und Stoffmantel gekleidet. Caliskan malte sich aus, was sie unter ihrem Mantel trug, und überlegte sich, wie er herausfinden könnte, ob sie im richtigen Leben ebenso nymphoman veranlagt war wie die Nora aus der Serie.

Er wollte gerade auf sie zugehen und sie mit seinem Dienstausweis beeindrucken, als Holger Brock aus der Halle kam und zu ihr sagte: »Ulrike, der Hauptkommissar möchte dich vernehmen. Du sollst zu ihm reinkommen.«

Sie nickte zu Brock und ging wortlos in die Studiohalle.

Caliskan fühlte sich wie ein kleines Kind, das vor dem weihnachtlich dekorierten Schaufenster eines Spielzeugladens stand, dessen Besitzer soeben die Tür verriegelte und den Laden schloss. Es gab Momente, in denen er sich ärgerte, noch kein Hauptkommissar zu sein. Doch darauf musste er mit seinen fünfundzwanzig Jahren noch etwas warten. Wahrscheinlich ist sie eh lesbisch, versuchte er sich einzureden – auch wenn er das nicht so richtig glauben konnte.

7.33 Uhr

»Gellner, Ulrike. 26 Jahre alt. Geboren in Leverkusen. Ich wohne seit fünf Jahren in München. Beruf Schauspielerin.«

»Eine Rheinländerin?«, fragte Sonne und fügte beiläufig hinzu: »Ich komme aus Köln.«

Das schien sie aber nicht sonderlich zu interessieren.

Sonne notierte sich die Personalien. »Ich kenne Sie aus ›Liebe und Schmerz‹. Wie kommen Sie zum ›Isarbullen‹?«

»Nach über vier Jahren in der Rolle der blonden Dumpfbacke hatte ich genug von Seifenopern. Außerdem hatte ich mit jedem Typen aus der Serie schon geschlafen. Da ist den Autoren irgendwann nichts mehr eingefallen, was sie mit mir anfangen sollten. Und dann haben sie mich sterben lassen. Wie einfallsreich!« Sie lachte, aber ihr Lachen wirkte aufgesetzt. Es war nicht das Lächeln, mit dem sie in der Serie den Männern reihenweise den Kopf verdreht hatte.

»Und vom ›Isarbullen‹ erhofften Sie sich den Durchbruch in die seriöse Schauspielerei?«

»Tomasek hat mich quasi entdeckt. Nicht in der Serie, sondern auf dem Filmgelände. Die Serie ›Liebe und Schmerz‹ wird auch hier produziert, in der Halle neun. Dort stehen unter einem Dach alle Kulissen für die Innenaufnahmen. Als ich im letzten Sommer in der Kantine auf meinen Einsatz wartete, kam er zufällig hinzu, bat mich um Feuer, was ich ihm nicht geben konnte, weil ich nicht rauche. Wir kamen ins Gespräch. Und schon nach fünf Minuten bot er mir eine Nebenrolle an.«

»Wieso konnte er Ihnen eine Rolle anbieten? Er ist doch Regisseur und nicht Produzent.«

»Er ist nicht nur Silbermanns Lieblingsregisseur, sondern seit einiger Zeit auch Teilhaber der Produktionsfirma. Silbermann lässt ihm weitgehend freie Hand.«

»Und nun haben Sie Ihre erste große Rolle im ›Isarbullen‹?«

»Die erste, die über wenige Sätze und zwei Drehtage hinausgeht. Ich hatte schon mehrere kleine Rollen. In der letzten Folge hätte ich einen größeren Part übernehmen sollen. Aber ich musste ...«, sie zögerte einen unmerklichen Augenblick, »... aus gesundheitlichen Gründen absagen. Eine Operation. Ich musste die Drehtermine verschieben«.

Sonne fragte nicht weiter nach ihrer Krankheit. »Was war Tomasek für ein Mensch?«

»Profi durch und durch. Was er sagte, hatte Hand und Fuß.«

»Kamen Sie gut mit ihm zurecht?«

»Ich hatte als Neue nicht die Position, mich mit ihm auf Diskussionen einzulassen. Daher habe ich getan, was er verlangte – auch wenn er manchmal etwas skurrile Vorstellungen hatte. Aber in der Regel gab der Erfolg ihm Recht. Ich war überzeugt, von ihm noch viel lernen zu können.«

»Hatte er Feinde?«

»Weiß ich nicht. Ich würde sagen: Die meisten respektierten ihn, ohne ihn zu mögen. Aber Feinde? Keine Ahnung.«

»Hat er gekokst?«

»In meiner Gegenwart nicht. Aber ich kann mir vorstellen, dass ein Drogentest bei vielen, die hier in der Produktionsfirma arbeiten, nicht negativ ausfallen würde.«

»Bei Ihnen auch nicht?«, fragte Sonne.

Sie lächelte und sagte: »Ich glaube, ich muss Fragen nicht beantworten, wenn ich mich selbst dadurch belasten könnte. Stimmt's?«

»Stimmt«, sagte er und lächelte zurück.

»Einem Polizisten würde ich diese Frage nicht beantworten«, bemerkte sie etwas schnippisch. »Aber wenn wir uns im Biergarten kennengelernt hätten, dann würden Sie durchaus einen vertrauenerweckenden Eindruck machen.«

»Und was würden Sie dann sagen?«

»Die Wahrheit.«

»Und die wäre?«

»Dass ich bis auf einen Joint im Alter von sechzehn noch nie Drogen genommen habe.«

Er hatte den Eindruck, sie spielte mit ihm. Handelte es sich hier um ihr übliches Spiel mit Männern, von denen sie merkte, dass sie sie attraktiv fanden, oder wollte sie mit ihrem scheinbar selbstbewussten Verhalten etwas überdecken? Sonne überlegte, wie er die Vernehmung der schönen Schauspielerin noch etwas in die Länge ziehen könnte. Aber viel mehr als die Frage nach einem Alibi fiel ihm nicht ein: »Was haben Sie gestern Abend gemacht?«

»Ich war bei meiner Freundin, Natalina Faraldo. Sie ist Maskenbildnerin bei ›Liebe und Schmerz‹. Ich habe mit ihr meinen Text gelernt. Sie verdächtigen mich doch nicht, oder?«

»In keinster Weise, Frau Gellner, reine Routinefrage«, beteuerte Sonne.

»In keiner Weise«, korrigierte sie ihn. »›Kein‹ lässt sich nicht steigern.«

»Wie bitte?«, fragte der Kommissar verdutzt.

»Entschuldigen Sie! Dumme Angewohnheit von mir. Ich habe vier Semester Germanistik studiert.«

»Kein Problem, Sie haben ja Recht. Ah, da kommt der Kollege Steinmayr.«

Steinmayr betrat das Vernehmungszimmer, und Sonne begleitete Ulrike Gellner noch zur Tür.

»Schönes Kind, oder?«, sagte Sonne, als er die Tür hinter der Schauspielerin geschlossen hatte.

»Zu blond«, antwortete Steinmayr.

»Aber sie ist nicht blöd. Sie hat Abitur und studiert.«

»Und warum hat sie dann keinen anständigen Beruf? Aber egal. Ich habe etwas Interessantes über Tomasek erfahren. Er ist ...«

»... Teilhaber der Produktionsfirma. Ich weiß.«

»Na prima«, sagte Steinmayr. »Wenn wir beide dasselbe herausgefunden haben, dann nenne ich das optimalste Verhörstrategie.«

»›Optimal‹ kann man nicht steigern«, warf Sonne ein.

Sein Kollege sah in sprachlos an.

»Ich habe auch Abitur«, grinste Sonne.

Und Steinmayr fragte: »Und warum hast du dann keinen anständigen Beruf?«

Sie lachten. Sonne hatte nach dem bitteren Fußballabend seine gute Laune wiedergefunden.

9.07 Uhr

Alfons Waldbauer saß in seiner Garderobe. Vor ihm lag die ATZ mit der Schlagzeile: »Mord beim Isarbullen«. Den Aufmacher hatte er bereits gelesen. Der Tod des Regisseurs war für ihn immer noch unwirklich, wie ein böser Traum. Er blätterte jetzt in den Lokalteil und las.

»Monat für Monat ermittelt Oberinspektor Diether Grieshaber auf unseren Fernsehschirmen. Seine Fälle sind schlicht. Die hölzernen Dialoge sind sein Markenzeichen. Eingeschworene Fans können die Texte bereits mitsprechen. Der ›Isarbulle‹ verkörpert das, was wir in unserer Gesellschaft so oft vermissen: Gerechtigkeit und Ordnung. Nach nur sechzig Minuten hat er die heile Welt wieder hergestellt, den Gesetzesbrecher überführt, den Fall gelöst. Doch die heile Welt des ›Isarbullen‹ ist nun in Unordnung geraten. Der dunkle Schatten eines echten Mordes liegt seit gestern über dem sauberen Image der Serie.«

Waldbauer legte das Blatt zur Seite und brummelte vor sich hin. »So ein Schmarrn.«

Er war es gewohnt, Unsinn über sich in der Zeitung zu lesen. Als er vor zweiundzwanzig Jahren vom Theater zum Fernsehen wechselte und die Hauptrolle in einer neuen Krimireihe übernahm, prophezeiten die Kritiker ihm ein schnelles Aus. Zu behäbig sei das alles, hieß es damals. In der Zeit, als amerikanische Action-Serien mit viel Blut und Leichen die Fernsehzuschauer immer mehr vor die Bildschirme bannten, wirkte ein dröger Polizist wie der »Isarbulle« eher langweilig. Er benutzte keine Fäuste und nur selten seine Pistole. Einen Draufgänger hätte Waldbauer nie verkörpern können. Denn er spielte sich selbst. Während die Rolle anfangs noch wie ein passender Anzug war, in den er bei Drehbeginn hineinschlüpfte und den er danach wieder in der Garderobe abgab, wurde der Inspektor Grieshaber im Laufe der Zeit zu seiner zweiten Haut. Grieshaber war Waldbauer war Grieshaber. Er hätte auch kein Kostüm gebraucht, denn der Oberinspektor trug die gleiche Kleidung wie der Schauspieler. Und so geschah es nicht selten, dass Waldbauer auf der Straße mit »Grüß Gott, Herr Grieshaber« angesprochen wurde. Er ärgerte sich darüber nicht.

Er ärgerte sich aber, wenn junge Fernsehmacher sich an seiner Figur vergreifen wollten, wenn Redakteure des Senders, Drehbuchautoren oder auch Regisseure in seine Rolle hineinredeten und Vorschriften machten, wie Waldbauer den Grieshaber zu spielen hatte. Dabei war er doch derjenige, der den Inspektor am besten kannte, der seit vielen Jahren Tag und Nacht mit ihm verbracht hatte, der alles über ihn wusste.

Es klopfte an seiner Garderobentür.

»Ja, bitte?«, rief er. Annette, die Produktionsassistentin, teilte ihm mit, dass ihn die Herren von der Kripo sprechen wollten. Er folgte ihr in den Raum, in dem Steinmayr und Sonne auf ihn warteten.

»Grüß Gott, Waldbauer«, stellte er sich vor.

Sonne verkniff sich die von Preußen immer wieder für besonders witzig gehaltene Erwiderung »Wenn ich ihn sehe«. In seiner Anfangszeit in München hatte er die »Grüß Gott«-Formel noch aus tiefster Überzeugung heraus abgelehnt. Inzwischen kam sie ihm aber selbst zuweilen wie von selbst über die Lippen.

Für die beiden Kommissare war es, als würde ein alter Bekannter den Raum betreten. Einer, der regelmäßig zu Besuch kommt, seit Jahren schon. Aber natürlich war ihnen klar, dass es sich um eine einseitige Bekanntschaft handelte.

»Angenehm, Steinmayr. Mordkommission. Und das ist mein Kollege Sonne.«

Auch Sonne streckte die Hand aus. »Ich habe in meiner Jugend keine Folge des ›Isarbullen‹ verpasst.«

Waldbauer war korrekt und tadellos wie immer im grauen Anzug gekleidet. Seine schwarzen Haare waren exakt gekämmt. Seine etwas altmodische Brille saß gerade auf der Nase. Alle drei, die echten Kommissare und der TV-Ermittler, nahmen Platz an dem runden Tisch, der in der Mitte des kargen Raumes stand. Die Situation war grotesk: Der berühmteste Kripo-Beamte der Republik, der einzigartige Oberinspektor Diether Grieshaber, saß im Verhör, und diesmal war er derjenige, der die Fragen beantworten musste.

Für einen kurzen Moment schwiegen alle drei. Sonne und Steinmayr wollten sich gegenseitig den Vortritt lassen. Sonne wusste nicht so recht, wie er sich solch einem prominenten Menschen gegenüber verhalten sollte. Er musste sich klar machen, dass ihnen hier ein Schauspieler gegenübersaß. Diesen Oberinspektor, den jeder kannte, gab es nicht. Er war eine Erfindung der Drehbuchautoren. Sie waren die Polizisten, und Waldbauer war ein Zeuge. Genau wie die Tausenden davor, die sie schon vernommen hatten.

»Herr Waldbauer«, begann Sonne, »Sie hatten gestern Abend einen heftigen Streit mit Drahomir Tomasek.«

»Das war eine künstlerische Auseinandersetzung. Persönlich hatten wir nichts gegeneinander.«

»Ihre Kollegen berichten, dass es häufiger zu solchen Streitigkeiten gekommen ist«, warf Steinmayr ein.

»Ich möchte das nicht als Streitigkeiten bezeichnen. Nennen wir es Disharmonien. Mir hat oft nicht gefallen, was Tomasek aus Grieshaber machen wollte. Er wollte einen Senioren-Rambo aus mir machen, der wild durch die Gegend schießt und sich waghalsige Verfolgungsjagden liefert. Aber ohne mich. Die können sich noch so viel neue Konzepte ausdenken. Da steige ich eher aus und setze mich zur Ruhe.«

»Was für neue Konzepte?«, fragte Steinmayr.

»Ich weiß das nicht genau. Es wird erzählt und war auch in der Zeitung zu lesen, dass der Sender eine ›Verjüngung‹ der Serie plant. Mehr Action, ein bisschen Sex. Und einen jungen Assistenten soll ich angeblich bekommen. Oder sogar eine Assistentin. Damit der ›Isarbulle‹ auch für die sogenannte werberelevante Gruppe der Vierzehn- bis Neunundvierzigjährigen attraktiver wird, die dem Sender bislang in der Einschaltquote fehlt. Die Kukident-Generation ist für die Werbeindustrie weniger interessant. Aber offiziell äußert sich beim Sender niemand dazu. Man sagt immer, man sei zufrieden mit den Einschaltquoten.«

»Sind Sie denn selber zufrieden mit der Quote?«

»Natürlich bin ich verwöhnt. Die sechzig Prozent, die wir früher Monat für Monat erreicht haben, sind heute ein Traum vergangener Zeiten. Dem Privatfernsehen sei Dank. Heute sind wir über zwanzig Prozent schon froh.«

»Dieses angebliche neue Konzept: Glauben Sie, dass Tomasek dahintersteckte?«, fragte Steinmayr.

»Möglich. Aber wie gesagt: Über diese angeblichen Pläne hat offiziell keiner ein Wort verloren. Und worüber nicht gesprochen wird, das kann man nicht dementieren.«

»Was haben Sie gestern nach dem abrupten Drehabbruch getan?«

»Ich bin nach Hause gefahren. Ich wohne mit meiner Frau in Gauting. Dort haben wir zu zweit den Abend verbracht.«

»Was halten Sie von Brock, dem Regieassistenten?«, wollte Sonne wissen.

»Er ist ehrgeizig, aber nicht bissig genug. Er ist in drei Jahren nicht über den Status eines Anfängers hinausgewachsen. Ich bin der Meinung, es hat seinen Grund, dass Silbermann ihm nie größere Aufgaben übertragen hat.«

»Aber jetzt hat er es getan.«