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Ein spritziger Kriminalroman mit überraschendem Twist. Die Basler Kommissare Matteo Santoro und Zina Goldberg haben einen Auftrag: Als Tango tanzendes Paar getarnt sollen sie einer Giftnudel auf die Schliche kommen, die bei einer Tangoveranstaltung ihr Unwesen treibt und die Konkurrentinnen reihenweise aus dem Verkehr zieht. Doch dann stirbt inmitten wirbelnder Paare und unter ihren Augen ein Banker. Auch er wurde vergiftet, allerdings mit tödlichem Ausgang. An Verdächtigen mangelt es nicht – wer mag schon Banker? –, aber dann kommt alles ganz anders.
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Seitenzahl: 512
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Michèle Sandrin, Jahrgang 1954, ist in Basel aufgewachsen. Nach der Matura wurde sie Lehrerin, später studierte sie Psychologie und arbeitete in der Krisenintervention der Schulen Basel-Stadt. Nachdem sie jahrelang leidenschaftlich viele Kriminalromane gelesen hat, treten nun ihre beiden Ermittler Matteo Santoro und Zina Goldberg in die Fussstapfen ihrer literarischen Vorbilder.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2018 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/United Archives
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Irène Kost, Biel/Bienne (CH)
eBook-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-96041-421-6
Originalausgabe
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Wenn der Bart brennt,darf das Gesicht nicht lächeln.
«Der Mann organisiert und schützt den Raum der Frau.»
Darum wollen wohl so viele Frauen unbedingt Tango tanzen, dachte Zina Goldberg. Die Anweisung ihres Tangolehrers begleitete sie, während sie sich durch den Raum – in dem sich mittlerweile an die zweihundert Tänzer und Tänzerinnen tummelten – schweben liess.
Ganz schön angenehm, nicht darauf achten zu müssen, wohin es ging, wer im Wege stand, welche Schritte anstanden. Dass sie bei dieser Gelegenheit geführt wurde, war nur Schein. Denn eigentlich wurde sie nirgendwohin geführt. Und wer nirgends hingeht, kann auch nicht geführt werden. Na ja, spitzfindig, aber wahr, lächelte Zina in sich hinein. Tatsächlich drehten sie sich wie alle anderen Paare im Kreis herum, in einem engeren oder weiteren, aber immer in einem festen Rahmen, ohne Ziel.
So hatte sie immer wieder einen Rundumblick in den Saal: die Theke rechts, die Tische am oberen und am unteren Rand des Saals, die beiden Türen, eine, die direkt nach aussen, die andere, die in den Bahnhof hineinführte. Und schliesslich die Wand gegenüber der Theke mit den wartenden Frauen, die so gut wie möglich, angestrengt entspannt und vermeintlich locker, genau dies zu verheimlichen versuchten, dass sie nichts anderes taten als warten.
Konnte dies die Ursache ihres Auftrags sein, dass so viele Frauen nur dastanden und oft vergebens darauf hofften, zum Tanz aufgefordert zu werden? Unseres blöden, lächerlichen Zum-Mäuse-Melken-Auftrags, schimpfte Zina in sich hinein. Und deshalb ermahnte sie sich, ihren Blick wieder auf ihre Umgebung zu lenken, denn dafür war sie da – zum Beobachten.
Sie hatte den Auftrag, Ungewöhnliches, Unerwartetes, Ungereimtes oder gar Verstohlenes aufzuspüren, um weitere Attacken verhindern zu können. Sie, denn ihr Chef, Matteo Santoro, war vollauf damit beschäftigt, sie in den Armen zu halten, sie durch die Tanzenden zu lotsen und seine neu erlernten Tangoschritte aufs Parkett zu zaubern.
Als ob er ihre Überlegungen Lügen strafen wollte, hörte sie ihren Chef flüstern: «Na, Goldberg, haben Sie unseren Giftmischer schon erspäht?»
«Mischerin!», erwiderte Zina spontan.
«Nur weil so viele Frauen um uns herumtanzen?»
«Weil so viele Frauen nicht tanzen!»
«Da bin ich doch froh, Sie zu einem Tango aufgefordert zu haben.» Santoro seufzte erleichtert auf und führte Zina daraufhin mit Schwung in kleinen Schlenkern um sich herum. «Zudem setze ich weiterhin auf die frechen Viren und die gewissenlosen Bakterien als Tatverdächtige. Viel lieber konzentriere ich mich voll darauf, sie zwischen unseren Mittänzern hindurchzulotsen.»
Zina lenkte ihren Blick über Santoros Schulter in den Saal auf die Tänzerinnen und Tänzer, die an diesem Abend zur Milonga im «Gare du Nord» erschienen waren. Der Saal war voller Leute, die sich zu allem hin auch noch im Kreis drehten.
Oder war es genau umgekehrt?
Auf jeden Fall entsprach, was sie sah, eher einem impressionistischen Gemälde, voller Farben, erahnter Figuren, für kurze Augenblicke festgehaltene Szenen. Paare schwebten und wirbelten um sie herum. Die einen, eng umschlungen, schienen eine selbstverständliche Einheit aus zwei sich umkreisenden und umgarnenden Körpern zu bilden, während andere eher an sich zu reissen und zu zerren pflegten. Dann gab es die Paare, die steif und distanziert ihre Schritte absolvierten, gekonnt oder leicht bemüht, doch immer ausstrahlend, dass sie lieber in den Armen einer anderen Person wären. Nicht zu vergessen die verzückten Frauen in den Armen deutlich gelangweilter Männer, die anscheinend zur Rettung der Beziehung in einen Tangokurs geschleppt worden waren. Dazu passend erzählte der Sänger von einem corazón. Mehr verstand sie nicht, doch so viel war klar: Diesem Herzen ging es hörbar schlecht.
Und ihrem?
Das schlug sich im Augenblick recht gut, fand sie. Eingebettet zwischen einer Hand und einer Brust plapperte es mit einem Gegenüber in einem leichten Galopp.
Für solche Überlegungen war jetzt nicht der richtige Augenblick, ermahnte sie sich gleich, schliesslich war sie im Dienst. Auch wenn dieser seine angenehmen Seiten hatte, das konnte sie sich knapp eingestehen und liess sich selbstvergessen um ihren Tänzer schlängeln.
Die Szene, die sich um sie drehte, war erstaunlich farbenfroh für diesen grauen Herbsttag. Die Frauen trugen bunte, gar glitzernde Kleider oder hatten ihre Hosen mit gewagten Tops aufgepeppt. Sogar die Männer hatten sich, zwar unauffälliger, ins Zeug gelegt. Neben vielen weissen blitzten hier und da farbigere, über den Hosen getragene Hemden auf. Auch ihr Chef hatte sich für diesen Stil entschieden. Sie musste nur den Blick ganz leicht senken, um die Muster auf seiner Schulter zu erkennen. Sie sah lauter kleine Kreise, die sich aneinanderreihten, jeder in einer anderen Farbe, jeder mit seinen eigenen Farbabstufungen. Das erinnerte sie an das Gemälde eines modernen Malers. Nur welchen?
Das war das Gefährliche am Tango.
Nicht nur die Körper tanzten, schwebten, liessen sich treiben. Die Gedanken zogen mit, verloren jegliche Richtung, die Disziplin ging den Bach runter. Was mit den Gefühlen geschah, daran wollte sie gar nicht denken. War das nicht ein leises Glücksgefühl, das sich perlend, gar prickelnd in ihr ausdehnte? Sie war ja nicht da, um über die Gefahren des Tangos zu philosophieren, ermahnte sie sich streng. Sie sollte ihre Umgebung beobachten. Sie liess ihren Blick weiter schweifen.
Da trug tatsächlich einer sogar eines dieser hellblauen Hemden mit den kleinen Blümchen, Edelweisse. Das war doch die Tracht für Schwinger, diese riesigen, kurzhaarigen, breitnackigen Kerle, erinnerte sich Zina, die sonst mit Schweizer Folklore wenig am Hut hatte. Doch dieser Blümchenträger gehörte eindeutig nicht dieser bäuerlichen Kampfzunft an. Nicht nur, dass er zu klein war, er bewegte sich auch zu geschmeidig. Und dann diese Frisur? Als sei ein, nicht besonders inspiriertes, Mami mit Topf und Gartenschere ans Werk gegangen. An wen erinnerte er sie nur? Erinnerungen an Bilder, im Urwald aufgenommen, stiegen vor ihrem inneren Auge auf. Ein spärlich bekleideter Mann mit Pfeil und Bogen streifte alleine durch den Wald. Mit einer Nickelbrille auf der Nase. Bruno Manser! Das war der berühmte Basler, der nach Indonesien geflogen war, um ein Volk zu retten, und verschwunden war, der seinen Einsatz mit dem Leben bezahlt hatte. Nur seine Brille wurde gefunden. Ein Volk, das durch die Abholzung seines Lebensraumes ausgerottet worden war. Milliarden, die zusammengerafft worden waren. Ein Mord, der nie aufgeklärt wurde. Und niemand sprach mehr darüber.
Um einen Mord ging es bei diesem Auftrag zwar nicht, trotzdem war sie zu lange abgeschweift. Tango war der Konzentration wirklich nicht förderlich.
Zu allem hin lief das Lied «El Sueño». Der Traum. Trotzdem musste sie wach bleiben. Zurück ins Gewühl, zurück zu ihrem Beobachtungsposten.
Auf der Tanzfläche wurde es immer enger, und auch um die Tische sassen oder standen immer mehr Besucher, die eine kurze Pause einlegten, angeregt miteinander schwatzten oder vor sich hin träumten. Die Tische waren voller Gläser und Flaschen, denn die Sitzplätze wurden reihum von den Besuchern genutzt, die ihre Getränke dort deponiert hatten.
Ganz hinten an der Wand, gegenüber der Theke, erblickte Zina auch ihre Freundin Violetta Bloch und ihren Mann Peter. Sie winkte ihr grinsend zu, er zwinkerte verschwörerisch. Ob das eine gute Idee gewesen war, die zwei in ihre Mission einzubeziehen? Wenigstens schienen sie ihre helle Freude an diesem blödsinnigen Unternehmen zu haben.
Sie musste sich wieder auf ihre Aufgabe konzentrieren. Du meine Güte, sagte sich Zina, wie soll ich bei diesem Herumwirbeln etwas Ungewöhnliches bemerken, zudem werden es immer mehr Besucher und noch viel mehr Besucherinnen.
In diesem Augenblick nahm sie doch etwas wahr, das nicht in ihr impressionistisches Bild passte. Da hatte wohl ein kubistischer Maler bei den Impressionisten mitgemischt. Dunkle quadratische Formen hatten sich in das bunte Gemälde verirrt.
Bei der nächsten Umdrehung versuchte sie festzuhalten, was ihre Wahrnehmung angekratzt hatte. Sie standen bei der Türe, die in die Bahnhofshalle führte. Männer. Eine ganze Gruppe Männer, die sichtlich perplex in die Runde blickten. Das war aussergewöhnlich in dieser frauenlastigen Halle. Beim nächsten Schlenker in ihre Richtung nahm sie noch mehr Ungewöhnliches wahr. Anzüge. Die Herren trugen dunkle Anzüge. Schwarze Anzüge, mit diesen gleichen, fast zu kurzen Hosen, die nach unten schmaler wurden, mit diesen schmalen, dezenten Krawatten. Oder nannte man diese vestimentäre Düsternis Anthrazit? Das kann nur eines bedeuten, das sind …
«Bestatter?», tönte es an ihrem rechten Ohr.
«Nicht ganz falsch, denn diese Spezies wird es schaffen, unser Wirtschaftssystem in den Tod zu manövrieren.»
«Auftragskiller der ehrenwerten Familie?»
«Dafür sind die Aufschläge ihrer Kittel zu schmal, ihr Blick zu kalt und ihre Köfferchen zu klein. Sie hätten dann eher Instrumentenkoffer dabei. Aber Sie kommen der Sache schon näher.»
«Bankiers?», fragte Santoro.
«Banker! Nicht die seriösen Verwalter unseres Geldes, sondern die Horde verantwortungsscheuer Trader, die von einer Krise zur anderen rasen, die von uns gerettet werden wollen, wenn sie sich wieder mal verzockt haben.»
«Sie haben natürlich recht, Goldberg. Ihre Lieblinge, wie ich höre. Nur sind das in unserem Falle nicht unsere Lieblingsverdächtigen. Halten Sie weiter Ausschau nach verstohlenen Gestalten, die mit Phiolen hantieren oder ihre Siegelringe in Weingläser leeren.»
Zina hörte das Grinsen aus der Stimme ihres Chefs heraus. Im Gegensatz zu ihr konnte er diesem lächerlichen Auftrag anscheinend mit Gleichmut begegnen.
Auch ihr oberster Chef hatte sich kaum über diesen Auftrag geärgert. Es war ihm sichtlich peinlich, seine zwei Ermittler für heikle Angelegenheiten für diese Bagatelle an die Tangofront zu schicken, doch der Auftrag kam von ganz oben, und da konnte er sich nicht ungestraft querstellen. Zudem waren in den letzten Wochen einige Artikel erschienen über diese merkwürdigen Vorfälle, die über die Polizei nicht viel Schmeichelhaftes zu berichten hatten.
Zina konnte sich lebhaft an die Erklärungen und Anweisungen des Generals, wie der oberste Chef unter seinen Untergebenen genannt wurde, erinnern. Hinter seinem Schreibtisch verschanzt, hatte er ihnen, von Seufzern, Räuspern, Blicken an die Decke und Ähs unterbrochen, die unmögliche Mission dargelegt: «Also, äh, eine unangenehme Sache, diese Geschichte, und niemand hat eine Erklärung dafür. Warum gerade an diesen Tanzveranstaltungen immer wieder Frauen jeden Alters aufs Klo rennen müssen, um sich zu übergeben oder zu, ähm, also Sie wissen schon, ähm … bleibt in beiden Fällen ein Rätsel. Zudem geht’s schön abwechslungsweise einmal oben, einmal unten raus, nicht wahr.» Worauf sich der General räusperte, an die Decke schaute, sich dann wieder auf seinem Sessel zurechtrückte, um an die Decke gerichtet nach einem tiefen Seufzer mit seiner Erklärung fortzufahren: «Unangenehm für uns ist nur, dass es sich kaum um eine hygienische Problematik handeln kann, denn nicht alle werden von dieser Epidemie betroffen. Wen es trifft, sind die Damen. Männer werden verschont. Alle.»
«Die Frauen finden es zum Kotzen, die Männer wissen von nichts», hatte sie gemurmelt.
«Und wie kommt es, dass wir in diese Magen-Darm-Grippe hineingezogen werden?», hatte Santoro gefragt, der sich bereits zu diesem frühen Zeitpunkt an der Virentheorie festgekrallt hatte.
«Hier wird es eben heikel, Santoro. Eine dieser Damen hat sich an einen unserer Regierungsräte gewandt, ausserordentlich empört und aufgebracht. Sie fühle sich in ihrer Bewegungsfreiheit, in ihrer körperlichen und seelischen Immunität und ganz allgemein und überhaupt bedroht. Und sie wurde vom Angesprochenen – Angeschrienen wäre wohl treffender – ernst genommen. Denn sie ist seine Ex-Frau. Also eigentlich handelt es sich um seine vorletzte Ex-Frau. Ich weiss nicht, wie der offizielle Titel für so was lautet.»
«Ex-Ex-Frau vielleicht?», hatte sie vorgeschlagen.
«Auf jeden Fall haben Sie beide nun einen Auftrag», war der General forsch weitergefahren. «Denn genau für solche Fälle sind Sie beide zuständig. Für heikle eben.» Worauf er wieder tief einatmete und zur Abwechslung nicht die Decke, sondern Santoro und Zina angestarrt hatte.
Nach links schielend hatte Zina bei Santoro ein Zucken um den linken Mundwinkel erblickt, bevor dieser sich öffnete. Der Mund, nicht der Winkel und auch nicht der Chef.
«Und woraus soll er bestehen, dieser Auftrag? Sollen wir beim Würgen Händchen halten oder für genügend Klopapier sorgen?», hatte Santoro gefragt.
«Ganz und gar nicht. Hier wird Ihr berühmter Spürsinn und Ihr ganzes Taktgefühl verlangt, Santoro. Sie werden inkognito, als Tangotänzer verkleidet, an diesen Veranstaltungen teilnehmen und allem Verdächtigen nachgehen, um diesen Giftattacken ein Ende zu bereiten. Dann nehmen Sie noch ein paar Proben der, äh, also Sie wissen schon. Dann wissen wir endlich, womit die armen Frauen vergiftet wurden, und der Herr Regierungsrat hat wieder seine Ruhe. Und wir auch.»
«Da werde ich passen müssen. Es wäre nicht sehr dezent, als Mann eine Damentoilette zu betreten. Goldberg, Sie werden an die Klofront geschickt», hatte Santoro erklärt, sichtlich erheitert.
«Es wird ja wohl Ihre Kompetenzen nicht überbeanspruchen, einen beinschwingenden Irren auf frischer Tat zu erwischen», hatte sich der General, wieder um Ernsthaftigkeit bemüht, eingemischt. «Dann haben wir diese leidige Geschichte vom Halse, und Sie können wieder Mörder jagen, was ja Ihre angestammte Aufgabe ist. Wenn sich endlich wieder mal einer aufrafft, Ihnen Arbeit zu …» Hier hatte sich der General unterbrochen, wohl in der Einsicht, dass er sich auf glitschiges Parkett manövriert hatte. Er hatte es mit einem neuen Argument versucht: «Zudem sind einige Artikel über die Chose in den Tageszeitungen erschienen. In den einen wird geheult, dass Frauen nirgends mehr sicher sein können, in den andern, dass so was früher nicht möglich gewesen wäre, im Klartext, als noch nicht so viele Ausländer die Schweiz überfluteten. Es könnte der Anfang einer regelrechten Pressekampagne sein. Sie verstehen, es könnte für die Polizei im Allgemeinen und für Ihre Abteilung im Besonderen peinlich werden, wenn die Geschichte breitgetreten wird.»
«Ein kleines Problem gibt es da noch», hatte Santoro eingewandt, «ich kann zwar tanzen, aber den argentinischen Tango beherrsche ich wirklich nicht, im Gegensatz zu meiner Assistentin.»
«Dann lernen Sie das eben, Santoro. Der Staat verordnet Ihnen einen Schnellkurs. Hoch das Bein! Hopsassa! Ab aufs Parkett mit Ihnen und keine Widerrede.»
Und so war es gekommen, dass sie nach einem ganzen Tag Privatunterricht an dieser Tangoveranstaltung über das Parkett schritten und wirbelten. Wäre der Auftrag nicht so abstrus gewesen, sie hätte die Begleitumstände geniessen können. Ihr Partner beherrschte zwar erst wenige Schritte, doch er hatte den Sinn seiner Aufgabe eindeutig verstanden.
Der Mann organisiert und schützt den Raum der Frau.
Die Frau lässt sich ja doch ganz leicht führen, freute sich Santoro. Zumindest beim Tanzen, räumte er widerwillig ein. Seine rechte Hand hielt er unter den Schulterblättern seiner Assistentin, ihre rechte Hand lag in seiner linken, und anscheinend ohne Anstrengung folgte ihr Körper seinen Schritten und Umdrehungen. Zudem konnte er seine Nase ungestraft an ihre Haare halten, was seine Stimmung weiter hob. Ein leichter Duft, Zitrone, Bergamotte und vielleicht auch ein kaum wahrnehmbarer Hauch Mimose, vermutete er und lächelte. Wenn er den Blick nur ein wenig senkte, konnte er ihre leicht mandelförmigen Augen mit den schwarzen Wimpern, ihre hohen Wangenknochen, den kleinen Mund mit den schön geschwungenen Lippen erahnen. Doch sein Auftrag bestand nicht darin, sie mit zärtlichem Blick zu betrachten.
Er liess seinen Blick im grossen Saal mit der hohen Decke herumschweifen, der heute für die verschiedensten Veranstaltungen genutzt wurde. Er kannte ihn von Fussballübertragungen, die er mit seinem Sohn besuchte. Ursprünglich war dies das ehemalige Bahnhofbuffet des Badischen Bahnhofs.
Ein deutscher Bahnhof auf Schweizer Boden, ein Unikat in Europa.
Dieser war zwar 1913 erbaut worden, Santoro fühlte sich jedoch in einen Film aus den dreissiger Jahren versetzt. Das lag wohl daran, dass das Deutsche Reich damals seine Macht gegenüber der stolzen und reichen Stadt demonstrieren wollte. Darauf deuteten die Dimension des Baus, die herbe Strenge des Baustils, wie auch die Ausgestaltung mit Säulengang und dem markanten quadratischen Turm hin. Dieser Saal, wie auch der ganze Bau, schien in dieser politisch bewegten Zeit festgefroren zu sein. Und diese war geprägt von den Erzählungen seines Vaters. Nicht dass sein Vater sie selbst erlebt hätte – er war erst in den sechziger Jahren als Gastarbeiter in die Schweiz gekommen. Aber er konnte darüber berichten, als sei er bei den damaligen Ereignissen selbst an vorderster Front dabei gewesen. In der Geschichte der Arbeiterbewegung war sein Vater versiert. Dafür hatten seine Partei und seine Gewerkschaft gesorgt. Auch eine Art von Integration, sinnierte Santoro. Einer gelungenen Integration.
Die Lieblingsgeschichte seines Vaters handelte vom Hitlerfetzen.
Im März 1933 hatten die Nazis die Hakenkreuzfahne am Uhrenturm aufgehängt, was von vielen Baslern als Provokation aufgefasst wurde. Gleich darauf kam es zu Strassenschlachten im Kleinbasel, weil Antifaschisten versuchten, die Fahne herunterzureissen, der Hitlerfetzen aber von der Polizei geschützt wurde. Damals war die Basler Polizei eine wüste Schlägerbande, die bevorzugt auf demonstrierende Arbeiter, Sozialisten und Kommunisten einschlug. Erst die Regierung des Roten Basel, wie sein Vater ihm noch heute bei jeder Gelegenheit unter die Nase rieb, hatte die Basler Polizei zu einer volksnahen, professionellen Polizei umgestaltet.
Und prompt knallte Santoro fast mit einem tanzenden Paar zusammen.
Er sollte sich auf das Tanzen konzentrieren, sagte sich Santoro, denn auf der Tanzfläche wurde es immer enger, immer mehr Menschen drängten in den Saal. Und nicht nur Tänzer, stellte er fest. Sowohl aus der Bahnhofshalle wie auch durch die Türe, die direkt nach draussen führte, strömten immer mehr sichtlich durchfrorene Besucher herein. War diese Gruppe dort nicht erst kürzlich rausgegangen?
Und was machten diese zwei Knaben hier um diese Zeit, die um die Tische herumwuselten? Sie schienen in ein Spiel vertieft, dessen Sinn und Regeln nur ihnen bekannt waren.
Santoro war wieder in die Vergangenheit abgeschwenkt.
Während der Nazizeit tummelten sich hier Agenten, Devisenschieber, Schmuggler, aber auch Widerständler, Fluchthelfer und Flüchtlinge. Widerstandsgruppen legten hier nachts Flugblätter in die Waggons, die ins Reich fuhren. Dank der Bahngewerkschafter hingen Züge für Truppentransporte auf Abstellgleisen fest, deren Weichen nicht mehr funktionierten, und vor allem konnten dank ihnen Schlupflöcher für Flüchtlinge organisiert werden. Das Rote Basel war zu jener Zeit ein Fluchtpunkt für Antifaschisten und Juden, denn hier konnten sie auf ein organisiertes und geduldetes Auffangnetz hoffen. Auch Arbeiter aus der ganzen Schweiz pilgerten nach Basel, um Arbeit zu suchen. Das Rote Basel hatte den Arbeitsrappen eingeführt, um grosse Bauprojekte zu verwirklichen und vor allem, um die schwerwiegende Arbeitslosigkeit einzudämmen. Wie sein Vater, der nichts von seinem rot glühenden Eifer verloren hatte, immer wieder betonte, hatte Basel damals tatsächlich eine Regierung, welche die Interessen der Arbeiter vertrat.
Auch heute hatte Basel offiziell eine rote Regierung, mit ein wenig Grün versetzt natürlich.
Vertrat sie auch, wie früher, die Arbeiter? Santoro bezweifelte dies immer mehr.
Eher war sie die Regierung der Schicht, die sich hier im Kreis drehte. Hier waren die Mitglieder des sogenannten sozialen Kuchens in grosser Zahl vertreten: Lehrer, Sozialarbeiter und -pädagogen, vermischt mit einigen Studenten, Juristen und Ärzten. Und da die Männer diese anstrengenden und wenig Profilierungsmöglichkeiten bietenden Berufe desertiert hatten, waren hier die Frauen deutlich in der Überzahl. Er redete ja schon wie seine Assistentin, rügte sich Santoro. Als er den Blick prüfend durch den prallvollen Raum schweifen liess, stellte er fest, dass sie in diesem Falle leider recht hatte.
Schon wieder.
Doch auch diese Menschen konnten nicht wirklich daran interessiert sein, nur ein paar neue Velowege zu bekommen, um im Gegenzug den Abbau in den Schulen, in den Spitälern und bei der Polizei schweigend hinzunehmen. Und das alles nur, weil die grossen Unternehmen einmal mehr steuerlich erleichtert werden sollten. Wenn es so weiterging, würde er noch die Ansichten seines Vaters übernehmen.
Heute war er nicht bereit, sich die Laune verderben zu lassen. Er schnupperte an Zinas Haaren und konzentrierte sich auf die Gegenwart.
Der Anblick der Banker konnte seine Laune auch nicht verderben. Sie hatten sich wie selbstverständlich Sitzplätze am ersten Tisch neben der Türe, die in den Bahnhof führte, ergattert und waren nicht bereit, diese bald wieder zu verlassen, wie die sonstigen Besucher es so selbstverständlich taten. Der Kerl mit dem breiten Nacken war eindeutig als Leitfigur auszumachen, er führte das Wort und auch das Grüppchen. Die anderen drei Männer hörten ihm angestrengt zu. Da war ein schlanker Jüngling, der seine Unruhe zu unterdrücken suchte, ein älterer Mann, der ein Gähnen zurückhielt, und ein dicklicher Mittvierziger, der seine Langeweile zu verheimlichen suchte. Und da sass ein vierter Mann, der auch zur Gruppe gehörte. Der schaute die Gruppe an, als ob er sie bewache.
Der Leithammel versuchte nun auch die anderen Tischnachbarn in seinen Bann zu ziehen. Dabei schien er nur bei einem schmächtigen Mann mit Fliege und einem Jüngling mit blonden Locken Erfolg zu haben. Der Fliegenmann drehte sich zum Redner und ignorierte seine Partnerin, die ihn zur Tanzfläche lotsen wollte. Er gehörte wohl zu diesen Ehemännern, die zu einem Tangokurs verdonnert worden waren, um «die Beziehung» aus dem Totenreich auferstehen zu lassen.
Hinter dem adretten Herrn mit der Fliege stand ein Mann, den Santoro sofort als einen Lehrer nach alter Schule klassifizierte, mit ein bisschen zu langen und deutlich angegrauten Haaren. Er schaute mit leicht verwundertem und amüsiertem Blick auf den so dominant auftretenden Banker hinunter.
Auch das junge Paar, das weiter hinten am Tisch sass, war in den Bann des Redners gezogen worden. Doch nur widerwillig. Ihre Blicke drückten Verachtung, wenn nicht gar Abscheu aus. Sein Vater hätte seine helle Freude an diesen zwei kritischen jungen Menschen gehabt. Bei der nächsten Umdrehung erblickte Santoro ein neues Gesicht. Eine attraktive Frau stand in der Nähe des Tisches, gross, schlank, wohlgeformt, blond wie Weizen im Hochsommer. Nur dass die Frau die Lippen zusammenpresste und starr geradeaus starrte, geriet ihr nicht zum Vorteil.
Die Banker haben keinen positiven Einfluss auf die Sozialkompetenzen des Sozialkuchens, grinste Santoro in sich hinein. Wie sind die Kerle nur in diesem Tanzsaal gelandet, fragte er sich.
Wer hier eindeutig nicht vertreten ist, das ist die Arbeiterklasse, stellte er fest, um sich gleich wieder zu korrigieren. In den Kulissen waren sie sehr wohl anzutreffen. Er erblickte einen kleinen, stämmigen und verschwitzten Mann am Eingang zur Küche, die sich hinter dem Tresen befand.
Er reichte einer jungen Frau mit dunklen schulterlangen Haaren ein Glas Wasser. Diese erwiderte die Geste nicht mit der gebührenden Dankbarkeit. Im Gegenteil. Mit durchgedrücktem Rücken sprach sie sichtlich anklagend auf ihn ein. Dieser erwiderte den verbalen Angriff mit schuldbewusster, doch auch trotziger Miene. Dann schüttelte er den Kopf und erhob die Hände abwehrend vor sich – ein bisschen höher, und er hält die Hände hoch wie vor einer Waffe, sinnierte Santoro. Die einzige Waffe der Frau schien ihr Kinn zu sein. Dieses reckte sie angriffslustig nach vorne.
Santoro vollführte einige Schritte, um sich dieser Szene zu nähern. Er wollte hören, was sich die beiden zu sagen hatten. Die beiden Kontrahenten steigerten sich sichtlich in einen ausgewachsenen Streit hinein. Was machte diese Studentin – danach sah sie aus – hinter dem Tresen? Was hatte sie diesem sichtlich hart arbeitenden kleinen Mann vorzuwerfen? Dieser packte jetzt das Gitter voller Gläser für die Geschirrspülmaschine.
«Ich müsse arbeite! Keine Zeit diskutiere!», hörte ihn Santoro über die Schulter rufen, bevor er in die Küche verschwand.
Die Studentin blieb einen Augenblick wie festgefroren stehen, bevor sie hocherhobenen Hauptes wieder hinter dem Tresen hervortrat, um im Gewühl der tanzenden Paare zu verschwinden.
«Chef, da stimmt was nicht. Schauen Sie mal die Menschenmenge dort bei der Tür, die nach draussen führt. Sie wird immer grösser.»
«Na gut», seufzte Santoro widerwillig und blieb stehen, «dann gehen wir mal schauen, was die Leute daran hindert, nach Hause zu gehen.»
Sie schlängelten sich durch die Tänzer, zwängten sich dann durch die wartende Menge vor dem Eingang, öffneten die Tür und traten auf die kleine Terrasse, die auf den kleinen Hof führte.
Wie im Märchen, dachte Zina und starrte staunend auf den Baum, der mitten im Hof aufragte. Er glitzerte in der klirrenden Kälte, schien aus Kristall geschliffen zu sein. Das Licht der Strassenlampen spiegelte sich in jedem Ast, in jedem Zweig und liess den ganzen Baum erstrahlen. Als habe eine Fee ihren Zauberstab erhoben, um die Welt in ein stilles Funkeln und Schimmern zu verwandeln.
«Eisregen!», entzauberte Santoro das Eismärchen.
Nicht genug. Auch ein Paar, das lachend und aufschreiend über die Pflastersteine des Hofs rutschend und sich gegenseitig festhaltend zum Tor, das zur Strasse führte, gelangen wollte, trug dazu bei, den Bann zu brechen.
Welche Kuh will hier wohl die andere vom Eis holen, fragte Zina sich ernüchtert.
«Das erklärt natürlich einiges», sagte Santoro. «Und hören Sie das? Diese Stille in der Stadt? Der Verkehr ist zusammengebrochen. Kein Wunder, wagt sich da keiner mehr nach draussen. Ausser den beiden Verrückten da vorne natürlich. Die werden es nicht mal mehr auf die Strasse schaffen. Oder sollen wir eine Wette abschliessen? Ich wette auf einen Armbruch noch vor dem Tor dort hinten.»
«Sollten wir sie nicht eher vor ihrer Torheit retten? Sie wissen schon, die Polizei, dein Freund und Helfer und so weiter?»
«Ich soll auf diese holprige Eisbahn treten? Mit meinen Tanzschuhen? Um ein sichtlich geeintes Pärchen mit meinen Rettungsversuchen zu stören? Schauen Sie doch, wie sie aneinanderhängen und einem gemeinsamen Ziel entgegen…»
«Torkeln wäre der passende Ausdruck», beendete Zina den Satz. Auch sie konnte ein Kichern nicht unterdrücken.
Ihre gemeinsame Heiterkeit wurde jäh von einem heftigen Stoss von hinten beendet.
«Es hat begonnen!», stiess Violetta Bloch hervor, während sie mit den beiden zusammenstiess.
«Du meine Güte, ist das glitschig hier!», rief sie aus, um mit offenem Mund staunend und verstummt auf den Baum zu starren.
«Was hat begonnen?», fragte Zina beunruhigt.
Violetta hörte sie nicht. «Die reinste Kunstinstallation. Das sollten wir festhalten», fuhr sie fort und zückte ihr Handy.
Während Zina Violettas Arm festhielt, um sie besser schütteln zu können, sah sie im Augenwinkel, wie eine zierliche Frau mit wackligen Schritten die Treppe hinunterstolperte, um bald darauf durch das Tor zu verschwinden. Eine Elfe auf der Flucht, konnte sie gerade noch denken, als Violetta, eindeutig entzaubert, sich an die Stirn fasste und lossprudelte: «Eine junge Frau ist Richtung Klo gerannt, die Hand vor den Mund haltend. Ich glaube, es geht los.»
«Dann greifen Sie mal zu Ihrem Glasröhrchen und holen Ihre kleine Probe, Goldberg. Unterdessen hole ich mir ein Glas und halte drinnen die Stellung.» Dabei nahm Santoro Zina bei den Schultern und dirigierte sie zur Tür.
«Ich komme mit», verkündete Violetta. «Freundinnen sollten solidarisch sein», fügte sie mit der Betonung auf solidarisch an und hastete Zina nach.
Zina war schon durch den ganzen Saal gerast und erreichte die Tür neben dem zweiten Ausgang, die runter zum WC führte. Da wurde sie von einer üppigen Dame überholt, die es anscheinend noch eiliger hatte. Sie stürzte sich, nach vorne gebeugt, die Treppe hinunter. Mit einer Hand hielt sie sich am Geländer fest, mit der anderen sichtbar verzweifelt ihren Mund zu.
Noch eine, seufzte Zina und hetzte ihr nach.
Unten angekommen, hörte sie nicht wie erwartet ein unmusikalisches Duo, sondern ein Trio laut würgen, ächzen und stöhnen, oder lautete die richtige Bezeichnung eher Terzett, fragte sie sich, während sie die Plastikhandschuhe anzog und ein Glasröhrchen aus ihrer Gesässtasche holte. Wie sollte sie an ihre Proben kommen?
Da brauste Violetta laut schnaufend in den Raum, hielt kurz inne, lauschte, lief gleich darauf zielstrebig auf eine der Kabinen zu und klopfte energisch gegen die Tür.
Santoro hatte sich an die Seite von Violettas Ehemann gestellt. Entspannt an die Wand gelehnt, überblickten sie den gesamten Raum. Ihnen gegenüber befand sich die lange Theke, die von Trauben wartender Gäste belagert wurde. Auch um die Tische, die in der Nähe der beiden Ausgänge aufgestellt worden waren, drängten sich zahlreiche stehende Tänzer und Tänzerinnen, die über die Köpfe derjenigen, die einen Stuhl ergattert hatten, nach ihren Gläsern langten.
Am Tisch der Banker ging es hoch her. Besonders einer der Schwarzgekleideten war in Hochstimmung. Der Mann mit viereckigem Kopf und breitem Nacken spielte sich hier eindeutig als Alphamännchen auf. Er hielt mit weit ausladenden Gesten seinen Zuhörern eine erregte Rede.
Zu den üblichen Besuchern der Milonga hatten sich nun aufgehaltene Zugreisende gesellt, denn vereinzelt standen auch Koffer herum. Und dazwischen wuselten die beiden Knaben, die ihm schon vorher aufgefallen waren.
Die Tanzfläche war deutlich überbevölkert, die Paare konnten nur noch kleine Schritte in eng gezogenen Kreisen ausführen. Nein, eine Übersicht konnte hier niemand mehr haben.
«Schauen Sie dort! Da rennt wieder eine», flüsterte ihm Peter Bloch zu und deutete mit dem Kinn in Richtung einer jungen, schlanken Tangotänzerin, die ihren Partner stehen liess und auf ihren hohen Absätzen durch die Tänzer hastete.
«Es sieht ganz so aus, als ob sich das Essen dieser armen Frau in ihrem Magen nicht mehr wohlfühlt und nun mit Macht nach draussen drängt», sagte Santoro wenig mitfühlend. War das nicht die energische Studentin mit dem angriffslustigen Kinn?
«Und dort, schauen Sie, diese Bohnenstange! Die marschiert durch den Saal wie ein Oberfeldwebel, der wenig disziplinierten Soldaten auf den Pelz rücken will.»
«Sie stakst auch Richtung Untergeschoss. Ihr Blick lässt für ihr strategisches Ziel nichts Gutes erwarten», antwortete Santoro.
«Das sind wohl Ihre Assistentin und … du meine Güte, meine Frau! Sie wird vor Wut platzen, wenn ich sie in dieser Sache alleine lasse.»
«Und diese wutentbrannte gestrenge Dame, die sich daranmacht, die Party dort unten zu bereichern, wird die Stimmung auch nicht heben.»
Die beiden Männer sahen sich an, nickten beide und stiessen sich gleichzeitig von der Wand ab.
Zina und Violetta hatten alle Hände voll zu tun. Zum Glück trage ich Handschuhe, nur schade, dass ich meine Nase nicht einpacken kann, beschwerte Zina sich bei sich verdrossen. Violetta tätschelte, unzusammenhängende Trostworte wiederholend, den Rücken der üppigen Dame, die über der Schüssel hing. Diese Probe hatte Zina bereits ergattert. Die Frau, die schon vor ihrer Ankunft eine Kabine reserviert hatte, konnte sie auch abhaken. Sie hatte sie auf dem Fussboden sitzend vorgefunden, wie sie ihre langen schwarzen Haare zurückstrich. Ein klassisches Profil, dachte Zina, bevor dieses wieder in der Schüssel verschwunden war. Nun versuchte Zina, die junge Studentin in der anderen Kabine davon zu überzeugen, ihr die Türe zu öffnen. Das war aussichtslos. Zwischen zwei Würgern schrie diese ausser sich, man solle sie gefälligst in Ruhe lassen.
Da stürmte eine vierte Kandidatin für eine aufnahmebereite Schüssel in den Vorraum und verschwand, Zina zur Seite schubsend, in die nächste freie Kabine. Auch diese Türe war ihr nun verwehrt. Sie liess die erste Frau alleine in ihrem Elend und wollte versuchen, bei der neuen Besucherin durchzukommen, als die Eingangstüre mit grosser Energie aufgestossen wurde. Die Veranstaltung ist ausverkauft, wollte Zina anführen, als sie erkannte, dass dies keine potenzielle Würgerin war. Was die Frau loswerden wollte, war nicht ihr letztes Essen, sondern eine gehörige Portion Wut.
«Sind wir denn nirgends mehr in Sicherheit?», stiess sie ausser Atem aus, um gleich auf Zina loszustürmen.
«Was machen Sie hier? Warum suchen Sie nicht die Täter? Wer sind Sie überhaupt? Sind Sie nicht diese Polizistin, die für unsere Sicherheit garantieren sollte? Sie sind nur eine lächerliche kleine –»
«Halten Sie mal den Latz!», schrie Violetta, die sich zwischen die Bohnenstange und Zina geschoben hatte. «Helfen Sie lieber mit. Gehen Sie da rein und unterstützen Sie die arme Frau, die sich die Seele aus dem Leib würgt.»
Dabei schob Violetta die erzürnte Dame, die vor Erstaunen über diese wenig respektvolle Behandlung erstarrt war, in die Kabine mit der üppigen Dame rein.
«Tätscheln Sie ihr den Rücken und sagen Sie ihr, dass alles gut kommt. Und lassen Sie uns unsere Arbeit machen.»
Als die Dame sich aus ihrer Erstarrung löste und den Mund öffnete, blickte Violetta streng und befahl: «Jetzt!»
Einmal Lehrerin, immer Lehrerin, sagte sich Zina, die dieser Auseinandersetzung mit einem Lächeln gefolgt war. Sie konnte sich, da sie ihre Freundin in Aktion gesehen hatte, sehr wohl vorstellen, wie sie mit ihren baumlangen Schülern fertigwurde. Mit ihnen etwas anfangen konnte, korrigierte sie sich, als sie an Violettas Lieblingsmotto dachte.
Violetta klopfte an die Türe der kleinen schlanken Frau, die als Letzte gekommen war, und wurde bald eingelassen. Nur meine Kandidatin lässt mich immer noch nicht ein, dachte Zina. Ob es an meinem Mangel an natürlicher Autorität liegt?
Lange konnte sie nicht in ihren Selbstzweifeln verweilen, denn wieder wurde die Türe aufgestossen. Diesmal stürzte eine mittelalterliche Frau mit blonden Locken herein, schaffte es nicht mehr bis zur letzten freien Kabine und stürzte sich auf das erste Lavabo. An der Tür erschien wieder jemand. Ein Mann.
Das ist doch der Verschnitt von Bruno Manser und schmalem Schwinger, dachte Zina, als der Neuankömmling zu seiner Partnerin eilte, um sie zu stützen. Diese hatte sich zum Ziel gesetzt, die Schüssel so schnell wie möglich zu füllen.
Wenigstens komme ich da mit Leichtigkeit an meine Probe ran, seufzte Zina und holte ein neues Glasröhrchen aus der Reserve.
Santoro und Peter Bloch schlängelten sich zielstrebig durch die Tanzpaare, darauf bedacht, auf keine Füsse zu treten und den unerwarteten Schlenkern der Tanzenden auszuweichen. Santoro dachte, dass er seine Hoffnung, ein Virus als Täter entlarven zu können, fallen lassen musste, als auf seiner linken Seite Schreie ertönten. Darauf war lautes Klirren zu hören, das eine Massenbewegung auslöste. Die Menschen drängten in seine Richtung, die Tänzer blieben stehen und wurden in Richtung Haupteingang gescheucht.
Ein säuerlicher Duft verteilte sich im Raum. Da hat es eine Frau nicht geschafft, dachte Santoro und versuchte gegen den Strom zu schwimmen. Er konnte sich nur langsam einen Weg durch die nun sichtlich beunruhigten Menschen bahnen. Im Augenwinkel erblickte er Peter Bloch, der es ihm gleichtat. Hoffentlich artet die Aufregung nicht in eine Massenpanik aus, betete er und hetzte weiter seinem Ziel entgegen.
Und plötzlich stand er alleine in einem Kreis von erschreckten Menschen, die vor etwas zurückgewichen waren. Er hatte freie Sicht auf den Bankertisch.
Diesmal hat es keine Frau erwischt, war sein erster Gedanke.
Das Alphamännchen war daran, den Tisch vollzukotzen. Die Tischnachbarn waren alle aufgesprungen, hatten dabei eine Menge Gläser und Flaschen umgeworfen und schauten erschrocken, die meisten auch angewidert, auf die Szene, die sich ihnen bot.
Aber hatte Santoro nicht auf einem der Gesichter ein Lächeln erblickt, bevor sich die Person abgewandt hatte?
Und wo, verdammt noch mal, war ihr Chef geblieben?
Schwang er dort oben weiterhin das Tanzbein, eine vollbusige Blondine im Arm, die ihn mit ihren Augenaufschlägen traktierte, anschmachtete, jede seiner Aussagen mit einem begeisterten Lächeln oder gar mit einem offenherzigen, hellen Lachen begrüsste, während sich hier unten Frauen die Seele aus dem Leib würgten?
Oder zumindest ihr letztes Essen.
Der blonden, vollbusigen Hyäne könnte ich Gift geben!
Santoro stieg über die Scherben, die seinen Weg säumten, und versuchte, zum sich weiter erbrechenden Banker durchzukommen. Dabei holte er seine Handschuhe und ein Glasröhrchen aus seinen Hosentaschen.
«Und ich hatte so darauf gehofft, dass dieses Röhrchen an mir vorbeiziehen möge», stöhnte er.
Als er endlich am Ziel angelangt war, bekam er als Erstes einen Schlag in die Magengrube, denn der Banker fuchtelte jetzt, ausser sich, mit den Armen in der Luft herum.
«Sie sind hier! Ich weiss es! Da! Da! Ich sehe Sie», schrie er mit weit aufgerissenen Augen.
Der Mann ist in Panik, dachte Santoro, und als der Banker wild um sich schaute, ergänzte er: Der fühlt sich verfolgt. Eine allgemeine Panik verhindern, das hat jetzt oberste Priorität, sonst wird es in diesem überfüllten Raum gefährlich. Er suchte mit den Augen Peter Bloch, den er bald im Gewühl erblickte, und winkte ihn zu sich. Auch dieser war sichtlich beunruhigt.
Da kam eine Frau, auf ihren hochhackigen Schuhen schwankend, die Hand vor den Mund haltend, an ihm vorbei und stürzte, die Menschen, die ihr im Wege standen, mit der freien Hand zur Seite schubsend, Richtung Untergeschoss. War das nicht die hübsche Frau mit den weizenblonden Haaren, die seinem Vater gefallen hätte?
Zina wurde zur Seite gestossen und schlug gegen die Wand. Eine blonde, sehr schlanke und sehr hübsche Frau mit üppigem Busen schaute sich gehetzt um und erblickte die letzte offene Tür.
«Noch eine», stöhnte Zina.
Und so genau hatte sie das doch nicht gemeint, mit der Hyäne und dem Gift, dachte sie leicht zerknirscht.
Doch bevor sie sich erholen und sich sagen konnte, dass nicht sie das Elend der jungen Frau bewirkt hatte, war diese in der letzten freien Kabine verschwunden, und bald waren nur noch die bekannten Geräusche zu hören.
Santoro versuchte Blickkontakt mit dem Banker herzustellen, sprach ihn an, doch der Banker rollte wild mit den Augen, machte einige unsichere Schritte, schwankte und stolperte, riss die letzten stehenden Gläser und Flaschen um, stiess auf seinem Weg Richtung Ausgang Stühle um und prallte mit andern Besuchern zusammen, die er jedoch nicht wahrzunehmen schien. Dabei schrie er weiter und hielt die Hände vor sich, als wolle er sich vor einem Angriff schützen. Er hatte Angst, das war offensichtlich, Santoro konnte es in seinen weit aufgerissenen Augen erkennen, doch der oder die Angreifer waren eindeutig nur für den Banker sichtbar.
Oder?
Aus dem Augenwinkel sah Santoro, dass Peter Bloch versuchte, die Umstehenden zu beruhigen und den Strom der Besucher aufzuhalten, der ebenfalls Richtung Ausgang drängte, doch er hatte im aufkommenden Lärm nur mässig Erfolg. Zudem liefen verunsicherte Tänzer und Tänzerinnen in alle Richtungen.
Die Kollegen des Bankers waren auch keine Hilfe, denn die standen, sichtbar schockiert, stocksteif herum und starrten auf ihren Anführer. In ihren Augen las Santoro verschiedene Gefühlsausdrücke. Der kleine Dicke war deutlich angewidert, der Breitschultrige schaute in die Runde und suchte anscheinend einen echten Angreifer. Und der junge Schlanke? Hatte er da nicht Angst in dessen Augen aufblitzen sehen?
Der junge Mann löste sich aus seiner Starre und eilte in Richtung seines Vorgesetzten. Als er ihn erreicht hatte, versuchte er ihn zu beruhigen.
Schlimmer kann es nicht werden, dachte Santoro, als er einen Schrei hörte. Er drehte den Kopf in Richtung des Geschehens und sah einen Mann, der gekrümmt beim Bankertisch stand und sich die linke Seite hielt.
Der kleine Mann mit der Fliege.
Der knallt noch ungebremst auf den Boden, dachte Santoro. Doch bevor der Mann den Boden erreichte, fassten ihn Peter Bloch und der ältere Lehrer, der hinter ihm gestanden hatte, unter die Arme und liessen ihn langsam sinken, sodass der bewusstlose Mann sanft auf dem Boden landete.
«Wir brauchen einen Arzt!», rief Santoro in den Saal hinein, «einen Arzt, sofort!»
Da kniete sich eine stämmige Frau neben den zusammengebrochenen Mann, hielt seine Hände in ihren fest und sprach ihn ruhig an. Die Partnerin des Fliegenmannes löste sich nun auch aus ihrer Starre, eilte zu ihm und verscheuchte energisch Peter Bloch und den Lehrer. Bald lag der Mann in ihren Armen.
Santoro war dabei, den Notruf zu wählen. Am anderen Ende der Leitung konnten sie ihn im ganzen Lärm nicht verstehen. Er drängte nach draussen, fand sich im Gang wieder, der zur Bahnhofshalle führte. Dort hatten sich einige Besucher versammelt, die aufgeregt miteinander redeten oder verunsichert herumstanden.
Er wiederholte sein Anliegen und musste sich anhören, dass die Ambulanz mit Verzögerung kommen werde, da der Eisregen den ganzen Verkehr lahmgelegt hatte.
«Ich höre nichts mehr aus der Kabine, die blonde Frau mit den hochhackigen Schuhen antwortet nicht mehr», sagte Zina.
«Du musst reingehen», antwortete Violetta.
«Reinklettern», sagte Zina nüchtern. «Mach mir mal die Leiter.»
Hinter Santoro war nun auch der Banker im Gang aufgetaucht, der jetzt sichtlich Mühe mit dem Atmen hatte. Er wurde von zwei Frauen gestützt, die verzweifelt nach einem geeigneten Ort suchten, um ihn hinzulegen. Sie dirigierten ihn mit fester Hand zu den Sitzen an der Wand. Santoro folgte ihnen, um sie zu unterstützen. Vielleicht konnten sie ihn dort hinlegen, bis er sich beruhigt hatte.
Doch das war nicht möglich. Jeder Sitz war durch eine Lehne vom andern getrennt. Um Obdachlose daran zu hindern, sich hinzulegen, schimpfte Santoro in sich hinein.
Es blieb ihnen nur noch übrig, den Mann auf den Boden zu legen. Da die beiden jungen Frauen wussten, was sie taten, hastete Santoro zurück in den Saal. Das Unternehmen erwies sich als schwierig. Gleich hinter der Tür waren Frauen und Männer damit beschäftigt, ihre Mäntel bei der Garderobe zu suchen. Santoro kämpfte sich durch das Gewühl und sah, dass einige Besucher einen Ring um den zusammengebrochenen Mann mit der Fliege gebildet hatten, um für ihn Raum zu schaffen. Santoro erkannte den Lehrer, der versuchte, den schützenden Kreis zu erweitern, unterstützt durch das junge Pärchen, das ebenfalls am Bankertisch gesessen war. Da kam ihm Peter Bloch, sichtlich ergriffen, entgegen.
«Es geht dem Mann mit der Fliege schlecht, sehr schlecht, sagt die Ärztin. Wo bleibt die Ambulanz?»
«Auf Eis gelegt. Hier stimmt was nicht. Zwei Männer, die gleichzeitig zusammenbrechen, das kann kein Zufall sein. Ich fordere mal Verstärkung an. Und dann hol ich Goldberg aus den Tiefen herauf.»
«Ich gehe zurück zum Patienten. Die Ärztin hat, soweit das überhaupt möglich ist, alles im Griff, aber ich will sie informieren, dass Hilfe angefordert wurde.»
«Gehen Sie schon mal vor, ich schau noch schnell im Gang nach. Dem Banker scheint es ebenfalls gar nicht gut zu gehen», erklärte Santoro.
Als er durch die Tür kam, erkannte er, dass er sich getäuscht hatte. Blauäugig war er davon ausgegangen, dass sich die Lage nicht verschlimmern könnte. Doch sie hatte es getan. Die beiden jungen Frauen waren eindeutig daran, eine Herzmassage am liegenden Mann durchzuführen.
Er zog einmal mehr sein Handy hervor.
Zina, nach ihrer Kletterpartie endlich in der Kabine angekommen, hatte die vollkommen erschöpfte Frau vorgefunden, die mit geschlossenen Augen über der Schüssel zusammengebrochen war. Sie war nicht sicher, ob die Frau noch bei Bewusstsein war. Sie tätschelte zuerst ihre Hand, und als keine Reaktion kam, schlug sie leicht mit der Hand auf ihre Wange und sprach sie an. Auch damit hatte Zina wenig Erfolg, die Frau stöhnte, hielt die Augen weiterhin geschlossen. Zina nahm sie in die Arme, setzte sie an eine Wand und versicherte sich, dass sie ruhig und regelmässig atmete.
Zina setzte sich auch hin, denn sie wollte einen Augenblick ausruhen und nachdenken. Was machten sie hier? Worum ging es hier eigentlich? Um einen Anschlag gegen Frauen im Allgemeinen?
Und wo blieb ihr Chef? Tanzte er einfach weiter über ihrem Kopf hinweg?
Dachte er gar nicht an seine Assistentin, die hier unten … nicht mehr wusste, an welcher Front sie kämpfen sollte?
Na ja, es hatte wohl wieder einmal keinen Sinn, auf Hilfe von oben zu hoffen.
Sie rappelte sich auf, öffnete die Tür und trat in den Vorraum.
Auch dort hatte sich die Situation nicht gebessert. Der Mann mit dem Blümchenhemd sass, seine Partnerin in den Armen, am Boden und redete beruhigend auf sie ein. Er schaute auf, als Zina auf ihn zuging. Sein Blick drückte Besorgnis aus.
«Wir brauchen Hilfe», sagte Zina und holte ihr Handy heraus.
Santoro ärgerte sich. Auch die Verstärkung werde auf sich warten lassen, hatte er sich anhören müssen. Der Eisregen hatte die ganze Stadt in eine Eisbahn verwandelt. Die Rettungswagen krochen wie alle anderen Fahrzeuge herum, wenn sie nicht irgendwo am Strassenrand gestrandet waren. Die Räumungsfahrzeuge waren zwar unterwegs, doch die Temperaturen waren zu niedrig. Das Salzen wirkte nicht.
Die beiden jungen Frauen wechselten sich ab. Die eine führte die Herzmassage aus, die andere beatmete den bewusstlosen Mann.
Da stürzte ein Mann aus der Tür, der daran war, einen Defibrillator aus seiner Hülle zu holen.
Santoro machte sich auf den Weg nach unten. Es war höchste Zeit, dass er mit Zina die nächsten und wichtigsten Massnahmen besprach.
«Wie meinen Sie das, der Wagen ist unterwegs?», fragte Zina verzweifelt. Und nachdem sie realisiert hatte, was die Person am anderen Ende sagte, versuchte sie zu erklären, dass noch eine Ambulanz kommen musste.
Obwohl sie selbst nun vollends verwirrt war.
Was sollte sie als Nächstes tun? Die üppige Dame stöhnte fast ununterbrochen, war jedoch in der Obhut der älteren Bohnenstange. Auch die kleine Schlanke war in besten Händen – Violetta kümmerte sich um sie. Die Blonde hatte ihren Ehemann. Auch gut. Der Frau mit dem klassischen Profil ging es besser, sie sass inzwischen an die Wand gelehnt neben dem Ehepaar. Blieb die kleine, energische Studentin, die sich weiterhin in ihrer Kabine verschanzt hatte. Wenn sie keine Hilfe wollte, sollte sie bekommen, was sie sich wünschte, nämlich gar nichts. Zina zielte wieder in Richtung der Kabine mit der Frau, die zuletzt gekommen war, da wurde sie am ehesten gebraucht. Doch sie kam nicht weit. Aus einer Kabine stürmte die Studentin mit wutverzerrtem Gesicht, schubste Zina zur Seite und brauste nach oben.
«Der kommt mir nicht davon! Der wird was erleben», stiess sie hervor.
Zina fegte ihr nach.
Da braut sich was zusammen, dachte sie.
Sie war kaum einige Stufen hochgerannt, als sie mit Santoro zusammenprallte.
«Was ist mit dieser Furie, die an mir vorbeigestürmt ist?», fragte er. «Rennt sie vor Ihnen davon?»
«Die Frage ist eher, zu wem sie hinrennt. Sie will jemandem an den Kragen, und sie sieht gefährlich aus.»
«Madonna! Noch mehr Probleme», rief Santoro aus.
«Dann kommen Sie mit, statt eine alternde Sängerin herbeizurufen», antwortete Zina und zog ihn mit. Wobei sie sich fragte, ob sie an ihm zerrte oder sich an ihn klammerte. Dieser Frage wollte sie jetzt nicht nachgehen.
«Die Jungfrau, Goldberg, ich meinte die heilige Muttergottes, um Gottes willen.»
«Wenn Sie auf die Hilfe einer Frau warten, die behauptet, Jungfrau zu sein, gleich nachdem sie ein Kind geboren hat, das, kaum angekommen, auch noch behauptet, ein Sohn Gottes zu sein, dann können wir nur noch auf ein Wunder hoffen, sag ich Ihnen. Die hat genug eigene Probleme zu lösen. Und dessen Vater können Sie auch gleich vergessen, der interveniert nie in den unteren Gefilden.»
«Goldberg, Sie quasseln.»
«Ich entkomme gerade der Hölle, Chef! Das macht mich redselig.»
«Ich will Sie ja nicht betrüben, aber da oben ist auch der Teufel los.» Santoro keuchte und hielt ihr die Türe zum Saal auf.
Und nun konnte auch Zina sehen, dass hier einiges los war. Die Besucher der Milonga strömten aus dem Saal, Flaschen, Gläser und ein Teppich aus Scherben übersäten den Boden, Stühle waren umgestossen worden, und dort, hinter dem Tisch, lag ein Mann am Boden. Darum konnten sie sich jetzt nicht kümmern. Sie suchten die energische kleine Studentin, doch die war im Getümmel untergetaucht. Wo konnte sie nur sein?
«Ich habe eine Idee, wo sie sich befinden könnte», beantwortete Santoro in diesem Augenblick ihre stumme Frage. «Wir schauen mal in der Küche nach.»
Und tatsächlich. Kaum waren sie hinter die Theke gerannt, hörten sie die Stimmen. Die sehr lauten Stimmen.
«Geben Sie es zu, Sie waren das! Was haben Sie in mein Glas geschüttet. Los, sagen Sie es!»
«Was Sie mir sage? Ich nicht verstehe, ich nichts mache. Warum Sie mit mir so schimpfe?»
Als Zina und Santoro in die Küche eintraten, bot sich ihnen ein merkwürdiges Spektakel. Zina konnte nicht erkennen, ob es sich dabei um einen Tanz oder um einen Slapstick handelte. Die Studentin hatte sich in Rage geschrien und bedrängte, den Zeigefinger erhoben, einen kleinen verschwitzten Mann, der immer weiter vor ihr zurückwich. Dabei hielt er die Hände schützend vor sich und wiederholte verzweifelt die gleichen Sätze: «Ich nichts mache. Ich nicht verstehe.»
«Sie haben sich nie an die Abmachungen gehalten, und nun wollen Sie mich ausschalten. Los, geben Sie es zu!»
Weiter kam sie nicht. Mittlerweile hatten sich Zina und Santoro zwischen die Streithähne geworfen. Zina stellte sich vor die Angreiferin und versuchte sie sanft zurückzudrängen. In der Zwischenzeit holte Santoro den Angegriffenen aus der Schusslinie und brachte ihn nach hinten, wo er ihn auf einen Schemel setzte. Dabei erblickte er zwei Knaben, die sich in einer Ecke gemütlich eingerichtet hatten. Vor ihnen auf dem Tisch lagen eine Chipstüte und zwei Fläschchen mit Sprudelwasser. Der eine hielt ein Smartphone in der Hand, auf welchem ein Film lief. Doch die beiden hatten keinen Blick für den Bildschirm übrig. Sie blickten in Richtung Auseinandersetzung, die sich in der Realität abspielte, und die schien ihnen nicht zu gefallen. In ihren aufgerissenen Augen konnte Santoro Angst erkennen.
In der Zwischenzeit hatte die junge Frau, ihres Angriffsziels beraubt, auch ihre Aggressivität und ihre Kraft verloren, stellte Santoro fest. Sie lehnte sich nun, den Blick zu Boden gerichtet, an die Arbeitsfläche.
«Frau Hüdihühi immer schimpfe mit mir. Ich erkläre, sie nicht verstehe. Ich ihr sage, meine Frau Spital, Herz nicht gut. Ich müsse schaffe, sonst keine Geld. Ich meine Sohn mitnehme, sonst er alleine zu Hause, und dann er immer spielt Video oder geht Strasse. Das nicht gut, er erst zwölf Jahre alt. Ich sage, keine Problem, morge keine Schule, er schlafe. Sie sage, ich muss unterschreibe, immer Sohn neun Uhr in Bett. Aber das nicht möglich, wenn ich muss schaffe. Und heute Mutter von Freund kommt und holt meine Sohn und Freund ab. Aber nicht möglich. Sie anrufe und sagt, nicht fahre mit Auto. Keine Taxi, keine Tram. Also Kinder hierbleibe, warte, bis Strasse besser. Aber Frau Hüdihühi nicht zufriede, sie nie zufriede mit mir, sie immer schimpfe.»
«Sie sind Therapeutin?», fragte Zina die junge Frau.
Zina konnte nicht verhindern, ihr Erstaunen so offenherzig zu zeigen. Das war sicherlich ein Fehler, denn die Miene ihres Gegenübers verfinsterte sich noch mehr. Sie musste die Stimmung der jungen Frau unbedingt ein bisschen aufhellen, um so schnell und so schmerzlos wie möglich die notwendigen Informationen zu erhalten, um sich wieder Wichtigerem widmen zu können.
«Entschuldigen Sie meine unangebrachte Frage, aber Sie wirken so jung. Erklären Sie mir, was Sie tun, bitte.»
«Ich habe einen Master in Psychologie und bin QQT-Therapeutin.»
Kuh-Kuh?, staunte Zina.
«Quick Quality Therapy, eine Methode, die in den USA entwickelt wurde. Wir gehen mehrmals pro Woche zu unseren Klienten und begleiten sie in ihren Anstrengungen, die gemeinsamen Abmachungen konkret umzusetzen. Die Stadt Basel hat dieses Programm gekauft. Wir werden dann eingesetzt, wenn Eltern ein Coaching in Erziehungsfragen benötigen. Dies zeigt sich meist an unangebrachtem Verhalten der Kinder in der Schule.»
«Ich müsse unterschreibe, sonst meine Sohn Liridon, er komme in Heim. Weg! Ich immer rede mit ihm, aber er immer mache Dummheite in Schule. Lehrerin sage, meine Sohn schwatze, mache Clown, nicht arbeite, er störe und mache keine Aufgabe. Frau Üdishühi sage, ich muss helfe bei Aufgabe, aber ich nicht verstehe. Diese Woche er muss Taschenlampe machen. Warum? Wenn meine Sohn brauche Taschenlampe, ich kaufe. Keine Problem.»
Die beiden Knaben kamen hinzu. Der eine holte ein zusammengefaltetes Blatt aus dem Hosensack, das schon ziemlich in Mitleidenschaft gezogen worden war.
Die beiden schauten Santoro an, als seien sie brav wie Anton, die reinsten Musterschüler. Er unterdrückte ein Grinsen.
«Und wie kommen Sie auf die Idee, dass dieser Mann Sie vergiftet hat, Frau Rüdishüsli?», fragte Zina.
«Rüdisühli ist mein Name. Er hat mir ein Glas Wasser geholt. Ich dachte, ich komme so informell mit ihm in Kontakt. Er wollte nicht, dass ich in die Küche komme. Jetzt weiss ich natürlich, warum. Dort hat er seinen Sohn versteckt.» Frau Rüdisühli reckte wieder einmal ihr Kinn und nickte dann bedeutungsvoll.
«Und wie erklären Sie sich die anderen Frauen dort unten, die wie Sie krank geworden sind?», fragte Zina.
Frau Rüdisühli schaute sie erstaunt an. War es möglich, dass sie gar nicht mitbekommen hatte, was um sie herum alles geschehen war?
Santoro starrte auf die Blätter, die er von Liridon erhalten hatte. Da waren mehrere Tabellen aufgelistet, gespickt mit Abkürzungen wie SoF3, N2, Stu1, AEP, Par und viele Ph. Und eine Ermahnung, das Kleingedruckte nicht zu übersehen. Es handelte sich bei diesen Blättern um einen Wochenplan für die laufenden zwei Wochen einer Stammgruppe. Was war eine Stammgruppe, fragte er sich. Gab es keine Klassen mehr? In der ersten Tabelle standen die Aufgaben, in der zweiten die Bemerkungen. Da war zum Beispiel zu lesen: «Kurzfilm Ph1.1 04. ‹Was ist Strom?› Ph 1/01 ‹Taschenlampe› (Input)»; darunter: «Taschenlampe nach Regeln nachbauen.» Das hatte den Vater davon überzeugt, seinem Sohn die Taschenlampe lieber zu kaufen. Er löste seinen Blick von den Blättern, denn ihm war ganz sturm im Kopf, zu viele elektrische Impulse auf einmal.
Er hatte jetzt wirklich keine Zeit, sich um die Irrungen und Wirrungen der Schulen zu kümmern. Und Lust schon gar nicht. Er gab das Blatt den beiden Jungen zurück, schaute den Vater mitfühlend an, legte eine Hand auf dessen Schulter und liess sie dort einen Augenblick liegen.
Als er den Blick Richtung Ausgang richtete, sah er, dass Zina Frau Rüdisühli beruhigt hatte, und beschloss, das Ganze auf sich beruhen zu lassen. Der Mann vor ihm hatte schon genügend Probleme. Nachdem er für weitere Fragen seinen Namen und eine Telefonnummer erbeten hatte und sich verabschieden wollte, trat eine der beiden Frauen, die sich um den Banker gekümmert hatten, in die Küche. Er nahm den Ausdruck in ihren Augen wahr. Gleichzeitig hörte er die Sirenen in der Ferne aufheulen. Die Rettungswagen waren endlich angekommen.
Doch für einen der Betroffenen kamen sie offensichtlich zu spät.
«Tanzende Frauen kommen in die Hölle …», begann Violetta, «… nicht tanzende Männer in den Himmel», beendete Zina.
«Die Weisheit des Tages?», fragte Santoro.
«Das Geblödel übermüdeter Frauen», schloss Peter Bloch den Reigen und erntete für seine Frechheit prompt von Violetta einen Zuckerwürfel, der auf seiner Nase landete.
Die vier sassen – aufrecht auf Hockern, die beiden Männer – oder lagen schier, hingefläzt auf dem Sofa, die beiden Frauen. Das Bahnhofrestaurant «Les Gareçons» war eigens für sie geöffnet worden.
Es war sechs Uhr morgens, und die Lage hatte sich so weit beruhigt, dass die vier, die während der ganzen Nacht im Einsatz gewesen waren, nun endlich den lang ersehnten Kaffee trinken konnten. Zudem wollten sie alle Informationen austauschen und ordnen. Das Ehepaar Bloch hatte, in Ermangelung genügender Polizeikräfte, geholfen, einige Personalien aufzunehmen. Der entsandte Polizeiwagen war von einer Ampel aufgehalten worden, was ihm eine Beule zwischen den Scheinwerfern eingebracht hatte, und musste selbst gerettet werden.
Inzwischen war in der Stadt die Normalität wieder eingekehrt. Die Züge fuhren wieder, die Wartenden hatten ihre Reise fortgesetzt, das Eis schmolz dahin, die Tänzer waren nach Hause gegangen, der Verkehr dröhnte am Bahnhof vorbei. Alles ging wieder seinen gewohnten Weg. Nur für einen von ihnen hatte die Reise im Tanzsaal ein Ende gefunden. Sein Ende.
«Rolf H. Stutz ist noch vor dem Eintreffen des Krankenwagens gestorben», begann Santoro die Bestandesaufnahme. «Er war tatsächlich Banker, Sie hatten recht mit Ihrer Annahme, Goldberg.»
«War ja auch nicht schwierig. Die Kerle sind ja alle gleich. Sie sind so einfach zu erkennen wie die Waggis, die alten Tanten oder die Harlekine. Im Gegensatz zu diesen Gestalten der Basler Fasnacht tragen sie nur keine Larven. Zumindest nicht offiziell. Konnten Sie herausfinden, wie sie im Tanzsaal gelandet sind?»
Santoro antwortete: «Ja, sie kamen aus Zürich und waren unterwegs nach Frankfurt, zu einem Symposium, wie mir einer aus der Gruppe erklärt hat, der am wenigsten schockiert war. Ich habe seinen Namen notiert. Ach ja, hier habe ich ihn: Angelo Rizzo heisst der Kerl, und er hat etwas mit Sicherheit zu tun. Ihr Zug hätte um einundzwanzig Uhr zweiundzwanzig weiterfahren sollen, doch er blieb hier stehen. Aus Sicherheitsgründen, sei durchgesagt worden. Der Eisregen hat auch den ganzen Schienenverkehr lahmgelegt. Wie lange die Züge aufgehalten werden sollten, das war am Anfang nicht klar. Also beschlossen sie zu warten und haben sich zuerst hier im ‹Les Gareçons› aufgehalten, bis das Restaurant um dreiundzwanzig Uhr geschlossen wurde. Dann sind sie der Musik gefolgt und beim Tango gelandet.»
Die vier schauten sich an, und langsam formte sich auf jedem Gesicht ein verschmitztes Lächeln.
«Nein, Goldberg, sagen Sie es nicht», begann Santoro.
«Der letzte …», begann diese trotzdem, «Tango …», fuhr Violetta fort, «… in Basel.»
Die Männer schauten sich an und erkannten beide den gleichen Gedanken in den Augen des andern: Frauen!
«Ich gebe mal meine Informationen weiter, damit wir nach Hause kommen», begann Peter Bloch, um Ernsthaftigkeit bemüht, und holte eine vollgekritzelte Serviette aus seinem Hosensack hervor.
«Rudolf A. Oberhänsli, das ist der Name des Mannes mit der Fliege. Er war immer noch bewusstlos, als die Sanitäter ihn zur Ambulanz getragen haben. Ruedi, wie ihn seine Frau nennt, ist Staatsangestellter, hoher Beamter im Erziehungsdepartement. Das A steht für Albert, aber das ist vollkommen wurscht. Das hat mir auch seine Frau erklärt.»
«Dass es wurscht ist, dass er im Spital ist oder dass er ein hoher Staatsbeamter ist?», fragte Zina und schaute angestrengt nicht in Richtung ihrer Freundin.
«Das A. Und sie heisst Sabine Oberhänsli-Schlipf, falls das jemanden interessiert.»
«Hat sie auch einen Beruf, oder ist sie nur als die Frau des hohen Beamten registriert?», hakte Zina mit harmlosem Blick nach.
«Sie leitet auch. Eine kleine Gruppe mit Schulschwierigkeiten. Grossen Schwierigkeiten. Sie unterrichtet in einer Villa, die in einem grossen Park liegt. Warum sie das erzählt hat, weiss ich auch nicht.»
«Ob da ein Zusammenhang besteht? Villa und hoher Beamter?» Violetta hatte nachgefragt.
«Danach fragt in Basel niemand. Das solltest du doch langsam wissen, Weib», sagte Peter Bloch.
«Wer war der Jüngling mit den blonden Locken neben Oberhänsli?», fragte Violetta.
«Der Kerl heisst Robin Hützli», antwortete Peter Bloch.
«Und lebt im Wald?», fragte Zina, um Harmlosigkeit bemüht.
«Eher im sozialen Dschungel. Auch er ist Lehrer und unterrichtet an einer Primarschule, wo er in der Schulleitung sitzt, wie er mir sichtlich stolz berichtete. Und jung ist er nicht mehr. Ich schätze ihn auf knapp über vierzig. Das erkennt man aber nur von Nahem. Er äusserte seine Bestürzung und seine grosse Anteilnahme. Er kennt Oberhänsli, der übrigens Stabsleiter ist. Hützli hat ihn im Zusammenhang eines Schulentwicklungsprojektes an seiner Schule kennen- und schätzen gelernt, wie er sich ausgedrückt hat. Was ihn aber nicht dazu bewegt hat, dem Herrn zu helfen, als er zusammenbrach. Um was es genau ging bei diesem Projekt, das muss ich mal nachschauen.» Peter Bloch schaute auf seiner Serviette nach und stöhnte. «Da habe ich es ja wieder. Irgendwas mit heterogenen Lerngruppen, Beurteilungen der Kompetenzen, abverlangten Synergien, individualisierenden und gemeinschaftsbildenden Unterrichtsformen. Den Rest erspare ich Ihnen. Ist wohl auch nicht wichtig.»
«Immerhin wissen wir nun, dass sich die beiden kannten. Wie steht es mit den zwei jungen Leuten mit dem kritischen Blick?», fragte Santoro.
«Das sind die letzten zwei auf meiner Liste», sagte Peter Bloch. «Beide sind Studenten. Carmen Alvarez studiert Ethnologie und Gender Studies. Florian Tschudi studiert Soziologie und befasst sich insbesondere mit der Verteilung des Reichtums in der Schweiz. Ihr Augenmerk war nicht auf Oberhänsli gerichtet, sondern auf die Finanzgruppe. Sie sind übrigens beide politisch engagiert, grün für sie, rot für ihn, was sie beide mit Stolz mitgeteilt haben. Es war ihnen wichtig, sich von den anderen Anwesenden an diesem Tisch zu distanzieren. So auch der ältere Herr, der hinter Oberhänsli stand. Er heisst Hans Kraft und ist natürlich auch Lehrer. Den hätte ich fast vergessen. Da war auch noch eine sehr hübsche blonde Frau, aber die ist nach unten verschwunden, als das Theater losging.»
«Und? Hat irgendeiner deiner Befragten irgendetwas Ungewöhnliches wahrgenommen?», fragte Zina.
«Die Antwort heisst zusammenfassend gesagt: Nein, sie haben nichts gesehen. Oberhänslis Ehefrau war darauf konzentriert, ihren Mann zuerst auf die Tanzfläche zu locken, dann zu zerren. Hützli fand die Diskussion über die Anforderungen in der Wirtschaftswelt und die mangelnde Vorbereitung der Jugendlichen darauf, die von Stutz losgetreten wurde, sehr anregend und spannend, und die beiden Studenten haben sich schrecklich aufgeregt, sowohl über den Inhalt als auch über die protzige Art des Auftritts von Stutz. Die unterwürfige und verständnisheischende Art von Oberhänsli fanden sie erbärmlich. Trotzdem haben sie versucht, dem Banker zu helfen, als er zusammenbrach. Dasselbe gilt für den älteren Lehrer, Herrn Kraft: Aufregung, dann Hilfe. Und falls jemand erfahren möchte, ob ich etwas Ungewöhnliches gesehen habe, kann ich nur sagen, dass diese Bankergruppe im hohen Masse dysfunktional ist. Als geübtem Supervisor von Gruppen fällt mir so was auf, ob ich es will oder nicht.»
«Sie meinen, es herrschte unter den Kerlen eine explosive Stimmung, das habe sogar ich von der Tanzfläche aus gesehen», sagte Santoro.
«Und die hat sich im ganzen Raum ausgedehnt. Wie ein Duft aus ganz besonderen Kräutern. Bitteren, giftigen Pflänzchen», ergänzte Peter Bloch.
«Wir werden später der Frage nachgehen müssen, wie es zu dieser Spannung zwischen den fünf Bankern gekommen ist. Goldberg, was gibt es von der Klofront zu berichten?»