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From Corona denial, to Pizzagate and QAnon, to the Jewish world conspiracy & conspiracy myths are experiencing a boom. Providing seductive answers to complex questions, they penetrate everyday communications, especially in times of crisis, poisoning the climate of opinion with their friend&foe images and thus endangering democratic coexistence. This volume provides teachers with basic knowledge about the phenomenon of conspiracy myths. In the theoretical part, central terms are explained, historical references are made and explanatory approaches, mechanisms of action and empirical findings are presented. The practical part of the book describes sensitization, basic knowledge and lesson planning as the three building blocks for dealing with conspiracy myths.
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Seitenzahl: 189
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Die Autorin, der Autor
Sophia Bock promoviert nach ihrem abgeschlossenen Lehramtsstudium (Fächer: Geographie, Deutsch, Bildungswissenschaften; Gymnasiallehramt, Schwerpunkt Sek. II) an der Universität Potsdam zum Thema Verschwörungsideologien als Herausforderung für Schulen und Lehrkräfte.
Wilfried Schubarth hatte bis zu seiner Emeritierung (2021) eine Professur für »Erziehungs- und Sozialisationstheorie« im Bereich Bildungswissenschaften der Universität Potsdam inne. Seine Arbeitsschwerpunkte: Jugend-, Schul- und Bildungsforschung, vor allem Gewalt und (Rechts)Extremismus, Werte- und Demokratiebildung, Lehrkräftebildung, Hochschulforschung. Er ist Mitbegründer und -herausgeber der Reihe »Brennpunkt Schule«.
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1. Auflage 2022
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-041246-0
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-041247-7
epub: ISBN 978-3-17-041248-4
Vorwort
Teil I Theorie: Altes in neuem Gewand. Zur Geschichte, Theorie und Empirie von Verschwörungsmythen
1 Es ist ein Hoax! Was sind Verschwörungsmythen?
1.1 Begriffe, Definitionen und Begriffshistorien
1.2 Der »Verschwörungsbaukasten«
1.3 Verschwörungsvielfalt – Kategorisierungsversuch
2 Hysterie in Historie und Gegenwart – Woher kommen Verschwörungsmythen?
3 Paranoide Menschen oder kranke Gesellschaft? Ursachen für Verschwörungsgläubigkeit
4 Verschwörungen überall? Studien zur Verbreitung von Verschwörungserzählungen
5 Rechts, links oder geradeaus? Gefährdung der Demokratie
5.1 Verschwörungsmythen von »rechts«
5.2 Verschwörungsmythen im Kontext von Demokratie-, Fremdenfeindlichkeit und Gewalt – Empirische Befunde
5.3 Verschwörungsmythen in rechtsextremen Medien
5.4 Verschwörungsmythen von »links«
5.5 Zwischen realen Verschwörungen und legitimer Gesellschaftskritik – Abgrenzungsversuch
Teil II Praxis: Verschwörungsmythen in Schule und Gesellschaft begegnen
6
FakeLess
– Eine Handreichung gegen Verschwörungsideologien
6.1 Ziele und Begründung
6.2 Konzeptaufbau
6.3 Umsetzung in der Schulpraxis
7 Verschwörungsmythen als Herausforderung für Schulen
7.1 Verschwörungsmythen – Relevanz für Lernende
7.2 Umgang mit Verschwörungsmythen – Aufgabe von Schule?
7.3 Verschwörungsmythen – Herausforderung für Lehrkräfte und Lehrkräftebildung
8 Umgang mit Verschwörungsglauben – Empfehlungen für die Jugendarbeit
Frank Winter
9 Verschwörungsglaube als Herausforderung im privaten Umfeld
10 Verschwörungsmythen begegnen – Eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe
Resümee und Ausblick
Anhang
Begleitmaterialien zur Fortbildung
Weiterführende Links
Literaturverzeichnis
Anlass für das vorliegende Buch ist die seit der Corona-Pandemie zunehmende Wahrnehmung von Verschwörungsmythen. Sie haben ein großes Publikum gefunden, mobilisieren Demonstrationen und provozieren Gewalttaten. Der Einfluss rechtsextremer Kräfte wird zu einer Gefahr für die Demokratie. Auch Jugendliche nehmen Verschwörungserzählungen vermehrt wahr. Etwa einem Drittel wird eine Verschwörungsmentalität bescheinigt. Auch ein Teil ihrer Eltern und Lehrkräfte sind verschwörungsgläubig. Vor diesem Hintergrund kommt dem Bildungs- und Erziehungssystem, insbesondere der Schule, eine besondere Rolle im Umgang mit Verschwörungsmythen zu.
Der Band folgt dem Anspruch der Buchreihe, ein aktuelles Phänomen auf dem Stand der Forschung aufzubereiten und pädagogische Gegenstrategien und Fortbildungsangebote abzuleiten. Eine fundierte didaktische Aufarbeitung setzt eine wissenschaftsbasierte Darstellung des Phänomens voraus.
In Teil I (Theorie) wird ein interdisziplinärer Zugang zum Thema (Begriffsdefinitionen, historische Genese u. a.) gewählt. Einen besonderen Fokus bildet der Zusammenhang von Verschwörungsmythen und Rechtsextremismus im Kontext der Medienentwicklung. Darüber hinaus werden empirische Studien zur Verbreitung von Verschwörungserzählungen einbezogen sowie Konsequenzen für die Prävention abgeleitet. Der erste Teil stellt somit das Basiswissen für Lehrende und Lernende dar.
In Teil II (Praxis) wird das Fortbildungskonzept FakeLess zum Umgang mit Verschwörungsmythen vorgestellt, das Lehrkräften konkrete Hilfestellung beim Unterrichten gibt. Hierzu wurde umfassendes Handreichungsmaterial (Didaktischer Kommentar, Kopiervorlagen, begleitende PowerPoint-Präsentation u. a.) entwickelt. Im Schulalltag bleibt, nicht nur während einer Pandemie, wenig Zeit für größere (fächerübergreifende) Projekte. Zu hoch ist der organisatorische Aufwand und zu gering sind die Ressourcen, sich in das Thema einzuarbeiten. Aufgrund der Vielfalt von Verschwörungserzählungen lassen sich jedoch in jedem Unterrichtsfach konkrete Zugänge herstellen, die als anlassbezogene Intervention oder Prävention in wenigen Unterrichtstunden realisierbar sind. FakeLess richtet sich sowohl an Einsteiger:innen als auch an Fortgeschrittene, die Anregungen für die konkrete Unterrichtsplanung benötigen, um zu Expert:innen zu werden. Durch die Diskussion fiktiver und realer Fallbeispiele ist auch kollegiale Fallberatung Teil des Konzepts. FakeLess kann auch auf andere Berufsgruppen wie Sozialpädagog:innen oder Erzieher:innen übertragen werden.
Darüber hinaus wird die Relevanz des Themas auf verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen betrachtet. Konkrete Fallbeispiele und praktische Tipps, auch für das familiäre Umfeld und die Jugendarbeit sowie die Einordnung aller Aspekte in den gesamtgesellschaftlichen Kontext, bilden den Abschluss des Bandes, der durch mehrdimensionale Perspektiven und die Verknüpfung von Theorie und Praxis einen Beitrag zur Demokratiebildung in Schule und Gesellschaft leisten will.
Wir würden uns freuen, wenn wir mit unserem Band Lehrkräften und alle am Thema Interessierten zur Auseinandersetzung mit Verschwörungsmythen motivieren könnten, denn »Der Umgang mit Desinformation und Verschwörungserzählungen wird eine der größten Herausforderungen dieses Jahrzehnts werden« (Lamberty in Leber, 2021).
Potsdam, im Sommer 2021
Sophia Bock und Wilfried Schubarth
In diesem Kapitel werden die vielfältigen Begriffe des Phänomenbereichs sowie der Verschwörungsmythos als unser Leitbegriff unter Einbeziehung der Begriffshistorie näher bestimmt. Darauf aufbauend werden typische Bausteine einer Verschwörungserzählung beschrieben und mit Hilfe eines »Verschwörungsbaukastens« dekonstruiert. Abschließend wird versucht, die Vielzahl der Verschwörungserzählungen mit Hilfe eines Kategorienschemas zu ordnen bzw. zu klassifizieren.
Das in diesem Buch fokussierte Phänomen wird als Verschwörungsmythos bezeichnet und gehört zu einem facettenreichen semantischen Themenfeld, weshalb Begriffsklärungen notwendig und hilfreich sind. Hinzu kommt, dass die Thematik politisch sehr brisant ist, da sie an kontroverse politische Grundsatzdebatten anschließt und vorhandene (Macht-)Strukturen zu delegitimieren versucht. Dadurch werden die Analysen bezüglich des Phänomenbereichs und die verwendeten Begriffe stets selbst Teil dieser gesamtgesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Das hat sich insbesondere während der Corona-Pandemie gezeigt.
Die große Begriffsvielfalt zeigt die Übersicht der in diesem Feld verwendeten Begriffe. Die Übersicht basiert auf Google-Suchanfragen und deren jeweilige Treffer. Die Anzahl spiegelt sich in der Größe der Darstellung wider (Abb. 1).
Abb. 1: Verschwörungsbegriffe und deren Verwendungshäufigkeit (Trefferanzahl bei Google-Suche; eigene Darstellung [Stand: 10.06.2021])
Der mit Abstand am häufigsten verwendete Begriff ist der Begriff der Verschwörungstheorie. Es folgen Verschwörungsmythos, Verschwörungserzählung und Verschwörungsideologie. Diese Begriffe haben sich offenbar im Diskurs etabliert. Weniger häufiger verwendet werden Verschwörungsdenken, -lüge, -fantasie, -glaube, -mentalität oder -narrativ, wobei letzteres ein Synonym für -erzählung ist. Zu unterscheiden ist dabei zwischen Inhalten, z. B. Verschwörungsmythen und -erzählungen, und Persönlichkeitsmerkmalen, z. B. Verschwörungsdenken oder -mentalität. Einen Sonderfall stellt die Verschwörungslüge dar: einerseits Tautologie (Wortdoppelung), andererseits ein Begriff bzw. eine Annahme aus der Szene der Verschwörungsgläubigen, dass über Verschwörungen Lügen verbreitet werden. Daher erscheint bei der Google-Suche als erster Treffer eine gleichnamige Publikation eines in der Szene bekannten Verlages (Panta, 2020).
Der Terminus Verschwörungstheorie wird im Zyklus moderner Aufmerksamkeitsökonomie inflationär verwendet. Spätestens seit den Anschlägen des 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York taucht die Verschwörungstheorie als geflügeltes Wort auf. Der Ursprung des Begriffs ist nicht eindeutig belegbar und selbst Gegenstand von Verschwörungsnarrativen. Erstmalig lässt sich die englische Variante conspiracy theory in der US-amerikanischen Presse 1881 nach dem Mordanschlag auf den damaligen Präsidenten James A. Garfield nachweisen. Die Tat ereignete sich im politischen Klima eines Landes, das sich immer noch von dem 1868 beendeten Bürgerkrieg erholte. Nach der Tat wurde der Verdacht geäußert, wahlweise ehemalige Unionisten oder Konföderierte hätten das Attentat in die Wege geleitet (McKenzie-McHarg, 2018).
Eines der wohl prominentesten Narrative bezieht sich auf die Aufarbeitung des Attentates auf den 35. Präsidenten der USA John F. Kennedy im Jahr 1963. Dabei gab es viele Unklarheiten und Verdächtigungen. Als Antwort auf diverse Vorwürfe wurde von Seiten der ermittelnden Behörden der Begriff der conspiracy theory geprägt, um von der offiziellen Version der Ereignisse abweichende Theorien rund um das Attentat zu diskreditieren. So etablierte sich mit der Zeit der Begriff als Abwertung für Theorien, die die Regierungsnarrative hinterfragen. Wie der Religionswissenschaftler Michael Blume in seiner Arbeit zur Phänomenologie der Verschwörungsmythen beschreibt, könnte dieses Narrativ zur Genese des Begriffes selbst wiederum Teil einer Verschwörungserzählung sein, die den öffentlichen Diskurs über Verschwörungstheorien als Teil eines Programms zur Unterdrückung regierungsfeindlicher Meinungen diskreditieren sollte (Röther & Blume, 2020).
Im deutschen Sprachgebrauch tauchte der Begriff erst später auf. Die erstmalige Verwendung wird zwar bereits 1787 in einem Dokument zur »Jakobiner-Verschwörung« erwähnt, findet jedoch keine massenmediale Verbreitung (Giese, 1784). 1945 verwendete der Wissenschaftsphilosoph Karl Popper in seinem Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« den Ausdruck der »Verschwörungstheorie der Gesellschaft«, womit er sich auf Denkmuster bezieht, die gesellschaftliche Umbrüche gewissen dunklen Mächten, wie etwa einem imaginären »Weltjudentum«, zuschreiben (Popper, 1992). Diese kritische Betrachtungsweise findet sich auch im »Wörterbuch der Soziologie« von 1982, welches Verschwörungs- bzw. Konspirationstheorien als Machtinstrument beschreibt, dessen zentrale Funktion darin bestehe, die Symptome strukturellen oder personellen Versagens in einem Machtsystem – etwa in Form eines offenen Machtkonfliktes – einer (fiktiven) Gruppe von Verschwörer:innen zuzuschreiben, deren Handeln ein ansonsten stabiles System untergrabe (Hartfiel & Hillmann, 1982).
In der jüngsten Vergangenheit haben sich zahlreiche Wissenschaftler:innen unterschiedlicher Fachdisziplinen intensiv mit diesem Phänomen auseinandergesetzt. Im Rahmen seiner Dissertation benennt der Psychologe Sebastian Bartoschek (2017) zentrale Merkmale einer Verschwörungstheorie: »[…] jeder Versuch […] ein Ereignis, einen Verlauf, eine Überzeugung oder einen Zustand durch das zielgerichtete heimliche Wirken einer Gruppe von Personen zu erklären« (Bartoschek, 2017, S. 22). »Gruppe« meint hierbei mindestens zwei Personen, deren Wirken im Kontext von Verschwörungstheorien grundsätzlich als illegitim und/oder illegal wahrgenommen wird. Mit konspirativen, der Allgemeinheit schädlichen Handlungen einer kleinen, oftmals als elitär beschriebenen Gruppe fasst Bartoschek die Grundbausteine des Phänomens Verschwörungstheorie auf (Bartoschek, 2017). Diese Definition deckt sich mit anderen aktuellen Definitionen, wie denen der Ökonomin, Bürgerrechtlerin und Netzaktivistin Katharina Nocun und der Psychologin Pia Lamberty sowie des amerikanischen Philosophen Brian Lee Keeley (Keeley, 1999; Nocun & Lamberty, 2020).
Der Amerikanist Michael Butter bezieht sich auf die Definition des amerikanischen Politikwissenschaftlers Michael Barkun und erweitert die Definition des Begriffs Verschwörungstheorie, indem er ihr drei wesentliche Eigenschaften zuschreibt: Es geschieht erstens nichts durch Zufall. Zweitens ist nichts so, wie es scheint, und drittens ist alles miteinander verbunden (Butter, 2018).
Da sich »Verschwörung« und »Theorie« im wissenschaftlichen Sinne widersprechen, wird der Begriff Verschwörungstheorie zunehmend abgelehnt. Nach dem Politologen Samuel Salzborn geht es nicht um die evidenzbasierte Erklärung tatsächlicher Vorkommnisse, sondern um die Überbrückung von Differenzen zwischen politisch-gesellschaftlichen Realitäten und weltanschaulichen Idealvorstellungen. Diese Verschwörungsfantasien seien vielmehr weitgehend geschlossene Weltbilder, die auf Basis von Glauben und nicht von Evidenzen operierten (Salzborn, 2019). Der australische Philosoph David Coady verweist darauf, dass für Verschwörungstheorien ein negatives Framing der jeweiligen Verschwörergruppen und die machtbasierte Manipulation zentrale Merkmale seien (Coady, 2003).
Nach Nocun und Lamberty ist »[e]ine Verschwörungserzählung […] eine Annahme darüber, dass als mächtig wahrgenommene Einzelpersonen oder eine Gruppe von Menschen wichtige Ereignisse in der Welt beeinflussen und damit der Bevölkerung gezielt schaden, während sie diese über ihre Ziele im Dunkeln lassen« (Nocun & Lamberty, 2020, S. 18). Gemeint ist hier ein konkretes Narrativ, etwa das angesprochene Kennedy-Attentat. Diese Narrative speisen sich bewusst oder unbewusst, direkt oder indirekt aus Verschwörungsmythen. Der Mythos ist zunächst ein abstraktes Narrativ, welches in seiner Realitätskonstruktion ein oftmals ähnlich geschlossenes Weltbild vermittelt, wie es bei religiösen Vorstellungen der Fall sein kann.
Einer der wohl langlebigsten und in seiner Konsequenz auf vielfältige Art zerstörerischste Verschwörungsmythos ist wohl der der »Jüdischen Weltverschwörung«. Das Grundmotiv der Juden als destruktive, im Verborgenen wirkende Macht entzieht sich dabei jeder Logik oder Beweisführung und wird zum kausalen Versatzelement, das in unzählige Sachverhalte narrativ eingestrickt werden kann, so geschehen bei den großen europäischen Pestwellen ebenso wie in der Weltwirtschaftskrise nach 1929 (Kap. 2). Die Narrative, die diesen Mythos in ihre Struktur einpflegen, müssen keineswegs miteinander kohärent oder in ihrer Zielrichtung einstimmig sein. Antisemitische Elemente in Verschwörungserzählungen finden sich sowohl in religiösen Kontexten als auch in rechts- wie linksextremen Kreisen (Nocun & Lamberty, 2020) (Kap. 5).
Neben den inhaltlichen Abgrenzungsmerkmalen ergeben sich auch solche, die sich auf die Verhaltenskomponenten beziehen. Dabei wird zwischen der Verschwörungsmentalität bzw. dem Verschwörungsglauben und der Verschwörungsideologie unterschieden. Erstgenannte beziehen sich auf die psychologischen, soziologischen und theologischen Dispositionen der Anhänger:innen. Grundannahme ist hierbei die Persönlichkeitseigenschaft, sich selbst als »erwacht« gegenüber anderen »Schlafschafen« zu bezeichnen. Die positive Überhöhung durch den Glauben an eine Verschwörungserzählung ist zentrales Merkmal, den der bzw. die Gläubige unter Gleichgesinnten empfindet. Sofern eine problematische weltanschauliche Komponente hinzukommt und konkrete Leitbilder sozialer Gruppen und/oder Organisationen totalitär durchgesetzt werden sollen, entwickelt sich aus dem Verschwörungsglauben bzw. der Verschwörungsmentalität eine Verschwörungsideologie. Diese wird meist von Gruppen oder Bewegungen genutzt, um die Ideologie zu verbreiten. Beispielhaft ist hier die Bewegung der Querdenker zu nennen, bei der sich ganz unterschiedliche Akteure (Impfgegner:innen, (Rechts)Esoteriker:innen, Corona-Leugner:innen, Reichsbürger:innen u. a.) zusammenschließen (Zentrum Ökumene, Koch & Blöser, 2021).
Die verschiedenen Begriffsbestimmungen haben wir in eine eigene zusammenfassende Übersicht integriert (Abb. 2). Die drei übergreifenden Merkmale – 1) Nichts geschieht durch Zufall, 2) Nichts ist, wie es scheint, und 3) Alles ist miteinander verbunden – durchdringen sowohl die Inhalte von Verschwörungsmythen, -erzählungen usw. als auch die Denk- und Verhaltensweisen der jeweils Betroffenen. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass das jeweilige Ereignis durch das Wirken geheimer Mächte erklärt wird. Während Verschwörungsmythos eher ein abstraktes, übergeordnetes Narrativ bezeichnet, stellen Verschwörungserzählungen jeweils ganz konkrete Narrative dar (Kap. 1.3).
Abb. 2: Begriffseinordnung (eigene Darstellung, angelehnt an Barkun, 2006; Butter, 2018; Nocun & Lamberty, 2020)
Das vorliegende Buch fokussiert sowohl auf Verschwörungsmythen als auch deren exemplarische Beispiele konkreter Verschwörungserzählungen. Zugleich geht es – mit Blick auf Jugendliche und Schule – auch um Persönlichkeitsdimensionen wie die der Verschwörungsideologie und um Möglichkeiten, die Resilienz gegenüber Verschwörungsnarrativen zu erhöhen.
Doch wie genau funktioniert eine Verschwörungserzählung? Was sind ihre Bestandteile? Steht dahinter ein Konzept? Die Antwort: Ja. Die Autor:innen Raab et al. (2017) bezeichnen dieses Konzept als »Verschwörungsbaukasten«, mit dem sich Verschwörungserzählungen dekonstruieren lassen, denn: »Eine Verschwörungstheorie besteht aus psychologisch wirksamen narrativen Bausteinen. Wenn wir uns die Einzelteile vor Augen führen, verstehen wir besser, warum Menschen immer wieder auch eher wackeligen Konstruktionen Glauben schenken« (Raab et al., 2017, S. 213).
Nur wenn die einzelnen Bausteine identifiziert werden können, ist auch die Überprüfbarkeit und Argumentation mit Fakten im Rahmen der Prävention und der Umgang mit Verschwörungsgläubigen möglich – sofern diese dafür (noch) zugänglich sind.
Abb. 3: Bestandteile einer Verschwörungserzählung (eigene Darstellung angelehnt an Raab et al., 2017)
Es braucht zunächst ein merkwürdiges Ereignis (Baustein 1). Merkwürdig deshalb, weil es zunächst eine Erklärungslücke im Hinblick auf dieses Ereignis oder Geschehen zu geben scheint. Dies hängt maßgeblich von den zur Verfügung stehenden Informationen, der Art der medialen Berichterstattung über das Ereignis und den persönlichen Kenntnissen, Erfahrungen und dem Grad der persönlichen Betroffenheit ab, ob eine Begebenheit und als wie merkwürdig sie wahrgenommen wird. Oft stehen nur einzelne, mitunter widersprüchliche Informationsversatzstücke zur Verfügung, deren Einordnung unterschiedlich sein kann und deren Leerstellen individuell gefüllt werden.
Baustein 2 ergibt sich aus einer Informationsflut zu dem als merkwürdig wahrgenommenen Ereignis, wobei der Fantasie im Hinblick auf die Entwicklung einer Verschwörungserzählung keine Grenzen gesetzt sind. Oft werden dabei die offiziellen Fakten mit angeblichen Unterstellungen von Wissen und geheimen Machenschaften der offiziellen Stellen (Behörden, Regierungen, Geheimdienste u. a.) gegenübergestellt und somit Zweifel an der Wahrheit der Aussagen gesät. Aus dieser Informationsflut setzt dann automatisch das Bedürfnis ein, diese ordnen zu wollen, um eine plausible Erklärung für das merkwürdige Ereignis zu generieren – ein an sich zunächst überlebenswichtiger und notwendiger Prozess. Aufgrund der individuellen und damit beliebigen Bewertung und Kontextualisierung der Fakten ergibt sich aber auch die große Gefahr der Manipulation. Die Unübersichtlichkeit der Informationen regt verschiedenste Gruppen – vor allem Rechtsextreme – mitunter zur Durchsetzung ihrer Einzelinteressen an, indem sie die Informationsflut um weitere propagandistische Fehlinformationen ergänzen, um die Verunsicherung zu verstärken bzw. im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie für ihre Zwecke zu nutzen.
Jede Verschwörungserzählung weist meist mehrere, sich mitunter auch aus anderen hinzugezogenen Narrativen bedienende Elemente auf (Baustein 3). Teil dieser Narrative für die Begründung der Verschwörung sind angebliche Beweise (Bilder, Zitate, Augenzeugenberichte etc.), die idealerweise auch öffentlich zugänglich sind und somit die (Schein-)Seriosität einer Quelle für sich beanspruchen. Hinzukommen Hinweise der Verschwörungsgläubigen auf die angebliche Intransparenz im Hinblick auf das Handeln öffentlicher Institutionen, Organisationen und Nachrichtendienste, denen selbst das Attribut der heimlichen Verschworenen zugeteilt wird – mit der Kontrastfunktion zur eigenen Verschwörungserzählung. Als Ergänzung wird wiederum die allumspannende Komponente des Mythos hinzugezogen, bei dem meist auf Geheimbünde/-gesellschaften/-organisationen verwiesen wird – häufig mit antisemitischen und rechtsextremen Bezügen.
Wesentliches Element von Verschwörungserzählungen ist Baustein 4, der Wertebezug. Da es nachgewiesenermaßen keine sogenannte Verschwörungspersönlichkeit gibt (Kap. 3), sondern grundsätzlich jeder Mensch für den Glauben an Verschwörungserzählungen anfällig ist, kommt es vor allem darauf an, inwiefern sich eine Person in ihren Werten bedroht sieht, insbesondere dann, wenn die am merkwürdigen Ereignis beteiligten Gruppen und Akteure entgegen den eigenen Wertvorstellungen handeln. Wichtig ist hierbei in der Analyse deren Werte zu benennen und den eigenen Wertvorstellungen gegenüberzustellen. Dadurch lässt sich beurteilen, wie tiefgreifend die Erschütterung des eigenen Weltbildes ist, denn: »Eine Verschwörungstheorie wird umso erfolgreicher sein, je mehr Menschen sie es erlaubt, die eigenen Werte und Überzeugungen als bedroht anzusehen« (Raab et al., 2017, S. 220).
Kausalität und Absicht (Baustein 5) beschreiben die näheren Umstände, durch die das merkwürdige Ereignis eingetreten ist. In Studien wurde nachgewiesen, dass Menschen eher zum Glauben an eine Verschwörungserzählung tendieren, wenn die Akteure und Gruppen angeblich aus direktem Vorsatz handeln oder gehandelt haben. Ist das Verhalten hingegen eher fahrlässig bzw. wird absichtlich kein Ziel verfolgt, gibt es auch keine konkrete Kausalität und somit eine geringere Tendenz, aus den Ereignissen Verschwörungserzählungen zu entwickeln: »Steht der Vorwurf des Vorsatzes im Raum, dann sind die Leute signifikant dazu geneigt, […] eine Verschwörungsabsicht zu unterstellen, während die Verschwörungsskeptikerinnen und -skeptiker diese Ansicht nun umso stärker ablehnen. Wenn der Vorwurf der fahrlässigen Handlung im Raum steht, passiert hingegen nichts« (Raab et al., 2017, S. 223). Es kommt bei der Manipulation also maßgeblich auf die bewusste Selbstreflexion und den Wertebezug an. Mit Wertebezug ist das generelle Misstrauen, das Unterstellen von »bösen Absichten« gemeint.
Widersprüche (Baustein 6) ergeben sich aus allen anderen Bausteinen und machen Verschwörungserzählungen zu dem, was sie letztlich sind: Geschichten. Widersprüche fungieren im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie als konstituierende Elemente, die die Erzählung spannend machen und intellektuell herausfordern. Grundsätzlich sollten diese offenen Fragen und Plattitüden mittels Fakten falsifizierbar sein (Raab et al., 2017).
Das Themenspektrum von Verschwörungsmythen ist ebenso weit wie komplex. Hinzukommt der Umstand, dass viele Verschwörungserzählungen mitunter einen wahren Kern besitzen, an dessen Wahrheitsgehalt der Zweifel des Verschwörungsglaubens andockt. Insofern ist zunächst die Einteilung nach dem Philosophen Jan Skudlarek sinnvoll, der zwischen wahren und falschen Verschwörungen unterscheidet und das Verhältnis hinsichtlich der Wissenschaftlichkeit zwischen Fakt und Fake kontrastiert. Beispielhaft lässt sich dies anhand des Verschwörungsmythos um die Arbeit von Geheimdiensten verdeutlichen:
»Verschwörungserzählungen sind spekulative Geschichten, denen die faktische Basis fehlt. Ein Ratespiel. Und Raten ist nun mal das Gegenteil von Wissen […] Sie werden nicht durch Verschwörungstheoretiker aufgedeckt, sondern durch faktische Recherche, durch wissenschaftliches Arbeiten oder durch Whistleblowing« (Skudlarek, 2021, S. 208).
Hinzukommt, dass Verschwörungsmythen nicht nur von Einzelpersonen oder Gruppierungen jenseits der Öffentlichkeit verbreitet werden, sondern mitunter auch von politischen Machthaber:innen und Staatsregierungen sowohl in der Vergangenheit als auch gegenwärtig immer wieder politisch instrumentalisiert wurden bzw. werden. Wie stark die Verbreitung von Verschwörungserzählungen ist, zeigen inzwischen zahlreiche Studien (Kap. 4).
Verschwörungsmythen und Verschwörungserzählungen lassen sich kategorisieren und systematisieren, auch wenn die einzelnen Narrative dabei oft vermischt werden und sowohl evolutions- als auch adaptionsfähig sind. Dadurch lassen sich sie sich mitunter mehreren Kategorien zuordnen. Verbindendes Element eines jeden Verschwörungsmythos ist die Wissenschaftsleugnung bzw. Wissenschaftsfeindlichkeit, denn die Anerkennung wissenschaftlicher Fakten und Arbeitsweisen brächte jedes Weltbild einer Verschwörungserzählung zum Einsturz. Folgendes Schaubild unternimmt den Versuch einer Kategorisierung, wobei kein Anspruch auf Vollständigkeit besteht (Abb. 4):
Ein breites Spektrum und große Überschneidungspunkte lassen sich bei den Kategorien Rechtsextremismus und Antisemitismus erkennen. Diese Kategorien machen einen Großteil der »etablierten« bzw. bekannten Verschwörungserzählungen aus. Der »Klassiker« ist dabei der Mythos einer »Jüdischen Weltverschwörung«, bei dem davon ausgegangen wird, dass einflussreiche jüdische Familien große Bereiche des Weltgeschehens kontrollieren würden. Daraus resultiert u. a. auch die Verschwörungserzählung des »Great Reset« (Neustart des Weltwirtschaftssystems). Als Beleg dafür dienen die nachweislich vom zaristischen Geheimdienst »Ochrona« gefälschten »Protokolle der Weisen von Zion«, die angeblich bestätigen sollen, dass jüdische Großfinanciers die Kontrolle über den Finanz- und Bankensektor übernehmen und sogar verschiedene Nationen gegeneinander ausspielen wollen (Bartoschek, 2017). Obwohl die Fälschung lange bekannt und bewiesen ist, dienten diese Dokumente sowohl zur Zeit der NS-Diktatur als Legitimation für die Judenvernichtung als auch in jüngster Vergangenheit beim Anschlag auf die Synagoge in Halle,
Abb. 4: Kategorisierung von Verschwörungsmythen und Verschwörungserzählungen
dessen Attentäter sich ebenfalls zu antisemitischen Einstellungen wie der Holocaust-Leugnung und den Glauben an judenfeindliche Verschwörungserzählungen bekannte (Pfahl-Traughber, 2020).
Das Feindbild gegen Juden an sich wird oft auch auf ganz bestimmte Personen(-gruppen) projiziert, so beispielsweise auf die jüdische Bankiersfamilie Rothschild, den jüdischen Philanthropen George Soros, die Geheimbünde der Illuminaten und Freimaurer oder den Microsoft-Gründer Bill Gates – wobei letztgenannter kein Jude ist, sondern das Motiv der Finanzmacht in die antisemitische Verschwörungsmotivik integriert wird. Auch zu dem Anschlag auf das World Trade Center am 11. September 2001 in New York – zu dem es eine Vielzahl von Verschwörungserzählungen gibt – existieren Verschwörungserzählungen mit antisemitischen Bezügen. So wird behauptet, dass jüdische Angestellte vor den Anschlägen rechtzeitig gewarnt worden wären und deshalb frei hatten, weshalb es nur wenige jüdische Opfer gab. In der Verbreitung dieser Annahme spielte auch die problematische Berichterstattung der BBC eine tragende Rolle, die anstelle von »Israelis« allgemein von »Juden« sprach und eine viel zu hohe Opferzahl angab (Bartoschek, 2017).