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Wir befinden uns im 12. Jahrhundert, zur Zeit der Kreuzzüge. Baudolino, ein gewitzter Bauernsohn aus dem Piemont, wird Adoptivsohn des Kaisers Friedrich I. Barbarossa. Den Kopf voller Flausen, Phantasien und Lügen, lenken seine irrwitzigen Ideen von nun an den Lauf der Weltgeschichte. Von den Liebesbriefen an die Kaiserin, den undurchsichtigen Machenschaften bei der Belagerung Alessandrias und dem rätselhaften Tod Barbarossas gar nicht zu reden ...
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Seitenzahl: 930
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Hanser eBook
UMBERTO ECO
Baudolino
Roman
Aus dem Italienischen
von Burkhart Kroeber
Carl Hanser Verlag
Die Originalausgabe erschien im Jahr 2000 unter dem Titel Baudolino bei Bompiani in Mailand.
ISBN 978-3-446-23907-4
© R.C.S. Libri S.p.A. Milano Bompiani 2000
Alle Rechte der deutschen Ausgabe
© 2001/2011 Carl Hanser Verlag München Wien
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Kreutzfeldt digital, Hamburg
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Zitat
Mi fan patir costoro il grande stento,
Che vanno il sommo bene investigando,
E per ancor non v'hanno dato dentro.
E mi vo col cervello immaginando,
Che questa cosa solamente avviene
Perché non è dove lo van cercando.
Questi dottor non l'han mai intesa bene,
Mai sono entrati per buona via,
Che gli possa condurre al sommo bene.
Perché, secondo l'opinion mia,
A chi vuole una cosa ritrovare,
Bisogna adoperar la fantasia.
E giocar d'invenzione, e 'ndovinare;
E se tu non puoi ire a dirittura,
Mill'altre vie ti posson aiutare.
Questo par che c'insegna la natura,
Che quand'un non può ir per l'ordinario,
Va dret'a una strada più sicura.
Lo stil dell'invenzione è molto vario;
Ma per trovar il bene io ho provato
Che bisogna proceder pel contrario;
Cerca del male, e l'hai bell'è trovato;
Però che 'l sommo bene e 'l sommo male
S'appaion com'i polli di mercato.
(Galileo Galilei, Contro il portar la toga)*
* Gegen das Togatragen
Mit großem Überdruss erfüllen mich jene, / die ständig nach dem höchsten Gute suchen / Und es bis heute nicht gefunden haben. // Und wenn ich's wohl bedenke, scheint mir, / dass solches nur geschieht, / weil es nicht dort ist, wo sie's suchen. // Diese Doktoren haben es nie recht verstanden, / sind nie den richtigen Weg gegangen, / der sie zum höchsten Gute führen kann. // Denn meiner Meinung nach muss, / wer etwas finden will, / die Phantasie anstrengen. // Und mit der Erfindung spielen und raten, / und kannst du nicht geradeaus gehen, / so können dir tausend andere Wege helfen. // Dies, dünkt mich, lehrt uns die Natur: / wenn einer nicht auf dem gewohnten Weg vorankommt, / sucht er sich hintenrum eine bessre Straße. // Die Art der Erfindung ist sehr mannigfaltig; / doch um das Gute zu finden, muss man, ich hab's erprobt, / in umgekehrter Richtung gehen. // Such etwas Böses, und schon hast du es [das Gute] gefunden; / doch höchstes Gut und höchstes Übel / paaren sich wie das Federvieh auf dem Markt.
Inhalt
9 1. Baudolino beginnt zu schreiben
20 2. Baudolino begegnet Niketas Choniates
39 3. Baudolino erklärt Niketas, was er als Junge geschrieben hatte
56 4. Baudolino spricht mit dem Kaiser und verliebt sich in die Kaiserin
66 5. Baudolino gibt Friedrich weise Ratschläge
79 6. Baudolino geht nach Paris
96 7. Baudolino lässt Beatrix Liebesbriefe und den Poeten Gedichte schreiben
103 8. Baudolino im Irdischen Paradies
120 9. Baudolino tadelt den Kaiser und verführt die Kaiserin
12910. Baudolino findet die Könige aus dem Morgenland und lässt Karl den Großen heiligsprechen
14311. Baudolino baut dem Priester Johannes einen Palast
15612. Baudolino schreibt den Brief des Priesters Johannes
17113. Baudolino sieht eine neue Stadt entstehen
19714. Baudolino rettet Alexandria mit der Kuh seines Vaters
22915. Baudolino in der Schlacht von Legnano
23916. Baudolino wird von Zosimos reingelegt
25417. Baudolino entdeckt, dass der Priester Johannes an zu viele Leute schreibt
26418. Baudolino und Colandrina
27019. Baudolino ändert den Namen seiner Stadt
27820. Baudolino findet Zosimos wieder
29321. Baudolino entdeckt die Wonnen von Byzanz
30522. Baudolino verliert den Vater und findet den Gradal
31823. Baudolino auf dem dritten Kreuzzug
33324. Baudolino in der Burg von Ardzrouni
35125. Baudolino sieht Friedrich zweimal sterben
37226. Baudolino und die Reise der Magier
39227. Baudolino in der Finsternis von Abkasia
40728. Baudolino überquert den Sambatyon
41529. Baudolino kommt nach Pndapetzim
43230. Baudolino begegnet dem Diakon Johannes
45031. Baudolino wartet auf die Weiterreise zum Reich des Priesters Johannes
46932. Baudolino sieht eine Dame mit Einhorn
47933. Baudolino begegnet Hypatia
50234. Baudolino entdeckt die wahre Liebe
51235. Baudolino gegen die Weißen Hunnen
52336. Baudolino und die Vögel Roch
53737. Baudolino bereichert die Schätze von Byzanz
55638. Baudolino bei der Abrechnung
58039. Baudolino als Säulenheiliger
59740. Baudolino ist nicht mehr da
1. Kapitel
Baudolino beginnt zu schreiben
Regenspurg Anno Domini MCLV Chronik des Baudolino aus dem geschlecht der Aulari
ich Baudolino sohn des Galiaudo von denen Aulari mit einem haupt alswî ein leu halleluja Dank sei dem Herrn der mir möge vergêben
ich hab gemacht den gröszten raub meines lebens indem ich genommen aus einem schrein des herrn bischoffs Otto vil bögen die villeicht gehören der kaiserlichen Kanzlei und hab sie fast allesamt abgeschabet auszer wo es nit abgienc und hab nun alsô manniglîch Pergamint zum draufschreiben was ich will daz heiszt meine Chronica wiewôl ich sie nit kann schreiben in Latino
wann sie entdekken daz herrn Ottos bögen nimmer dâ sind oh was wird anheben für ein geschrei und werden denken womögelîch wars ein spiôn von denen Episkopi Romani welche nit wôlwollen unserm herren kaiser Frîderîch
aber villeicht merkets ja kainer in der kanzlei wo sie allweil irgentwas schreiben auch wanns niëmandem nutzen tuot und wer diese bögen findet si li infila nel büs del kü denkt sich villeicht nix weiter darbei
dies ist stêngeblieben von dem was allhie zuvôr gestunden und was ich nit gut habe abschaben können sô daz mans muoz überspringen
wenn man dereinst diese pergamenta wird finden nachdem ich sie hab beschrîben wird auch kain Kanzler sie nit verstân perkê questa è una lengua ke denn dies ist ein sprach die noch niëman nit hat geschrîben
aber auch wenn niëman nie diese sprach wird verstân wird man trotzdem subito erraten daz ich es gewên der dies hat geschrîben diweil alle sagen daz wir in der Frasketa parliamo na Lengua ke non è da christiani spreken ein Sprak was nit is von Christenmensken
verflixt swêr is shcreiben mir tuon schon alle finger wê
mein vater Galiaudo hat immer gesagt es muoz eine gâbe der Heiligen Juncfrouwe von Roboreto sein daz ich von kleinauf kaum daz ich jemand sagen hör ein paar worte subito kann ich nâchâmen seine sprach ob er gleich aus Tortona ist oder aus Gavi oder sogar aus Mediolanum allwô man sprikt ain sprak ke gnanca i cani was nitmal die hünde verstân tja und sogar als ich bin begegnet den ersten alemannen in meim leben was waren die mannen welche die stadt Tortona berannten lauter wildedie immerzu sagtenundund nach einem halben tag hab auch ich gesagt rausz und mîngot und sie sagtengê uns hôln schöne daz wir machen fikifuki und wans nit will macht nix brauchst nur sagen wôs is daz wirs uns hôln
aber was ist einhab ich gefragt und sie sagten una domina una donna una feminae facevano il segno de le Tette grosse und malten grôsze brueste in di lufft und sagten weil nêmlich bei dieser belagerung sind wir knapp mit feminae alldiweil die von Tortona sind drinnen und wenn wir erstmal reingehn lass uns nur machen aber hier drauszen sind weit und breit keine zu sehn und dazu vluchten sie sô gotteslesterlîch daz sogar mir is kummen ein gensehaut
bravi suabi di Merda ihr guten swabenleut hab ich gesagt wie soll ich euch sagen wôsint ich bin kein spiôn besorgts euch doch selber
mamma mia momenti mi mazzavano
fast hättens mich umgebracht mi mazzavano o amazzavano o necabant ietzt schreib ich schon fast Latino nit daz ich nit verstêh Latino diweil ich gelernt hab aus einem librum latinum und wenn jemand zu mir redet latino ich kan schon verstên aber schwieric is skribere schreiben in latino wan ich nit weisz wie man die worte skrib buchstabiret
zum exemplum: nie weisz ich obs equus oder equum heiszet und alleweil mach ich fêler mentre da noi un caballo dieweil bei uns ein cavallo ist immer ein Gaul und ich mach nie fêler diweil niemand schreibt Kawallo ja niemand schreibt überhaupt irgendwas weil ja niemand kann lesen
damals ist die sach gut ausgegangen und die Diutschen ham mir kein haar gekrummet alldiweil grad in dem ougenblick sind berittene kummen und ham gerufen lôslôs wir machen neuwen Angriff, und dann is vil grôz durchainander gewên und ich hab nix garnixmer verstunden vor lauter escudieri allhie und hellebardieri alldâ und drommetengetös und türm aus holz hoch wie bäum die sich bewegten auf rädern wie karren, und obendrauff balistari et fundibulari schleudern zum steinewerfen und solchene höllenmaschinen, und andere schleppten lange leitern herbei, und es regnete pfeile auf sie herab alswî hagelkörner in einem grôszgewaltic Sturm, und die Unseren schleudereten vil dicke stein mit ainer species von mächtiger Armbrust und mir swirrten ums haupt alle iaculi welche die Tortonesen warfen von ihren Mauern oh welch eine battaglia!
zween stunden sâsz ich unter eim gebüsch verstecket und hab gebetet Heilige Jungfrau hilf du kannst alles. Dann ist es ruhiger worden und nahe bei mir sind die mit der sprache von Pavia vorbeigelaufen und haben geschrien sie hätten so viele Tortonesen umgebracht daz es wär wie ein Tanaro von Blut, aber sie waren sêr zufrieden darüber weil sie meinten, sô lernt Tortona endlich es mit Mailand zu halten
als dann auch die Alemannen mit derzurückkamen villeicht ein paar weniger als vorher diweil auch die Tortonesen sich nicht hatten lumpen lassen da hab ich mir gesagt ich verdrükk mich lieber
sô bin ich marsch marsch nach hause gegangen wo es früh am morgen war und hab meim vater Galiaudo alles erzêlt und da hat er zu mir gesagt na bravo geh nur und setz dich mitten mang die Belagerer daz du eines tages ne pike in den hintern kriegst weiszt du denn nicht daz diese dinge nur für die herren gemacht sind? lass sie in ihrer suppe kochen wir müssen an unsere kühe denken denn wir sind ernsthaffte leut nicht solche wie dieser Frîderîch der erst kummt und dann gêt und dann wiederkummt und nichts richtig zu ende bringt
aber dann ist Tortona doch nit gefallen weil sie blôsz die unterstadt und nit auch die Burg eingenommen hatten und hat noch eine weile standgehalten so daz ich zum ende meiner kronik kommen vorgreifen muosz nêmlich als sie ihnen das wasser abgegraben hatten und die Tortonesen anstatt ihr pipi zu trinken zu Frîderîch gesagt haben daz sie ihm treu ergeben sein wollten da hat er sie abziehen lassen aber die stadt hat er erst verbrannt und dann in trümmer gelegt soll heiszen das alles haben die aus Pavia getan die mit den Tortonesen spinnefeind sind denn hier bei uns ist es nit so wie bei den Alemannen wo alle sich untereinander herzlich mögen und immer eintrechticlîch beieinander sind wie diese zwei finger meiner hand wärend bei uns die aus Gamondio wenn sie einen aus Bergolio sehn hauens ihm gleich in die fresse
aber jetzt will ich meine kronik weitererzêlen weil nemlich, wenn ich sô durch den wald der Frasketa streifte besonders bei Nebel ich meine den von der guten sorte bei dem du deine nasenspitze nicht mehr siehst und die dinge ganz plötzlich vor dir auftauchen ohne daz du sie vorher hast kommen sehn also da hab ich manchmal visionen gehabt wie damals als ich das Lioncorno das Einhorn gesehen oder das andere mal als mir San Baudolino erschienen ist und zu mir gesprochen hat und gesagt hat filio de la puta andrai a linferno du hurensohn wirst zur hölle fahren jawohl das hat er gesagt denn die geschichte mit dem einhorn ist sô gegangen:
um ein Einhorn zu fangen musz man bekanntlich eine noch nicht entjuncferte maid unter ein baum setzen und dann riecht das einhorn den juncfrouwelîchen geruch und kommt herbei um den kopf in ihren schôsz zu legen und sô hab ich die Nena aus Bergolio genommen die mit ihrem vater gekommen war um die kuh von meinem vater zu kaufen und hab ihr gesagt komm mit in den wald daz wir ein Einhorn fangen und hab sie unter ein grôszen Baum gesetzt weil ich sicher war daz sie noch juncfrouwe war und hab ihr gesagt bleib schön sitzen und mach die beine breit damit platz ist für den kopf von dem Einhorn und sie hat gefragt wie meinst du das wie soll ich die beine breit machen und ich sagte na da an der stelle hier mach sie schön auseinander und hab sie berührt und da hat sie angefangen zu kieksen und blöken wie eine ziege die ein zicklein gebiert und ich hab nix mehr gesehn mit eim wort sie ist über mich gekommen wie eine apocalypsin und danach war sie nicht mehr rein wie eine lilie und ich hab gesagt ojêminê was machen wir jetzt um das Einhorn anzulocken und in dem moment hör ich eine stimme vom Himmel kommen die zu mir sagt das Einhorn das lioncornus qui tollit peccata mundi das wäre ich und da bin ich zwischen den büschen umhergesprungen wie ein verruckter und hab gebrüllt jip hiiii frr frr alldiweil ich noch glücklicher war als ein echtes einhorn denn ich hatte der juncfrouwe das horn in den schôsz gelegt und deswegen hat San Baudolino dann zu mir gesagt du sohn einer etcetera aber dann hat er mir vergeben und ich hab ihn später noch andre male gesehn in der demmerung aber nur wenn nebel war oder wenigstens dunst und nicht wenn die sonne sgajentat oves et Boves hellstrâlend am himmel stund
aber als ich dann meim vater Galiaudo erzêlt hab daz ich San Baudolino gesehn da hat er mir dreiszig stockhiebe auf den bukkel gegeben und gesagt Oh Herr im Himmel ausgerechnet mir muoz das passieren daz mein sohn Visionen sieht und ist noch nicht mal imstande eine kuh zu melken! entweder ich schlag ihm den schädel ein oder ich geb ihn einem von denen mit welche über die jahrmärkte ziehen und simia dafrica affen aus affrika tanzen lassen! und meine liebe mamma hat geschrien du aufgeblasener nichtsnutz du bist ja noch schlimmer als alles andere was hab ich dem Herrgott getan daz ich einen sohn haben muoz der die Heiligen sieht! und mein vater Galiaudo hat gesagt es stimmt gar nicht daz er die heiligen sieht dieser kerl ist noch verlogener als Judas und denkt sich das alles nur aus um nicht arbeiten zu müssen!
ich erzehle diese Kronika weil man sonst nicht kapiert wie es an jenem abend gegangen ist als ein nebel war so dicht daz man ihn hätt mitm messer schneiden können dabei wars schon april aber bei uns gibts auch nebel im august und wer nicht aus der gegend ist kann sich leicht verirren zwischen der Bormida und der Frasketa besonders wenn kein Heiliger da ist der ihn an der hand nimmt und sô kam es daz ich auf dem heimweg war und plötzlich seh ich vor mir ein ritter hoch zu ross ganz ineisen
der ritter war ganz in eisen nicht das ross und hatte ein schwert an der seite und sah aus wie der könig von Aragona
und heisz ist mir da durch den kopf gefahren mamma mia jetzt ist das wirklich San Baudolino! er ist gekommen um dich zur hölle zu jagen! aber der rittersmann hat gesagtund da hab ich begriffen daz er ein allemannischer Ritter war der sich im wald verirrt hatte wegen dem nebel und seine leut nicht mehr finden konnte es war ja auch schon fast nacht und er zeigte mir eine Moneta die ich noch nie gesehen hatte und dann war er froh daz ich in seiner sprache geantwort und aufzu ihm gesagt hab wann du sô weiterreitest landstu schön wie die sonne im sumpf
wobei ich nit hätt sagen solln schön wie die sonne wo doch ein sô dichter nebel war daz man ihn mit einem messer hätt schneiden können aber er hat mich trotzdem verstanden
und dann hab ich ihm gesagt daz ich weisz daz die tedeski tieutschen aus einem land kommen wo immer frühlinc ist und wo vielleicht die citri vom Libanus blühn aber bei uns in der Palèa ist nebel und in diesem nebel gehn bastarde um die noch die enkel der enkel von denen arabitz sind welche Carlomanio bekämpft hat und das sind grausame leut die wenn sie einen Pilgersmann sehn schlagens ihm die zähne ein und schneiden ihm die Haare ab die er aufm kopf hat und darum rate ich euch geht lieber in die hütte meines vaters Galiaudo da findet ihr eine schüssel mit warmer suppe und einen strohsack zum schlafen wärend der nacht im stall und morgen wenns hell wird zeig ich euch den weg besonders wenn ihr noch diese Moneta habt Gratie benedicte wir sind arme aber ehrliche leut
sô hab ich ihn zu meinem vater Gaiau Galiaudo gebracht und der hat sofort angefangen zu schimpfen du hornochse du was hast du blôsz im kopf warum hast du meinen namen zu einem fremden gesagt man weisz doch nie nachher ist er ein vasall des markgrafen von Monferrat dem ich noch schuldig bin eine decima de fructibus et de feno et leguminibus oder einen futterzins oder eine gespannmiete oder werweiszwas oh du stiesel jetzt sind wir ruiniert und er wollte schon nach dem stock greifen
da hab ich ihm gesagt daz der herr ein Alemanne ist und nicht einer aus Monferrat und er hat gesagt ich wär noch dümmer als die nacht schwarz ist aber als ich dann die Moneta erwähnt hab da hat er sich beruhigt alldiweil die leut aus Marengo die haben einen dickschädel wie ein ochs aber ein feingespür wie ein pferd und er hat gleich kapiert daz bei der Sache vielleicht was rausspringen könnte und hat zu mir gesagt hör zu, wo du doch alles sagen kannst sagt ihm dies hier:
item, daz wir arme aber ehrliche leut sind
das hab ich ihm schon gesagt
macht nix dann sags halt nochmal, item danke für den Solidus aber da ist auch noch das Heu fürs pferd, item zu der warmen suppe tu ich noch einen käse hinzu und brot und einen krug von dem guten, item sag ihm daz ich ihn da schlafen lasse wo sonst du schlaumeier immer schläfst nämlich hier neben dem feuer und du gehst heute in den stall, item er soll mir die Moneta noch einmal zeigen diweil ich will einen Genueser Solidus und dann soll er sein wie einer von unserer familie denn wir in Marengo halten die gastfreundschaft heilig
der herr hat gesagtschlau wie ein fuchs seid ihr aber handel ist handel ich geb dir zween von diesen Moneta und du fragst nicht ob es ein Genueser ist denn mit einem Genueser kann ichdein haus und all euer vieh also nimm und sei still sô bekommst du noch immer genug und da ist mein vater still gewesen und hat die beiden moneta genommen die ihm der herr auf den tisch geworfen alldiweil wir aus Marengo wir haben einen dickschädel aber ein feingespür und dann hat er gegessen wie ein wolf (der Ritter) oder eher wie zween wölfe und als mein vater und meine mutter sind schlafen gegangen diweil sie den ganzen tag lang mit krummem bukkel geschuftet hatten derweil ich in der Frasketa umhergestreift bin, da hat derzu mir gesagt gut dieser wein, davon trink ich noch was hier am feuer komm setz dich herzu und erzêl mir warum du so gut meine sprache kannst
auch dies hier hab ich nit abschaben können
jetzt fang ich noch einmal an mit der ckronik von jenem abend als der alemannische herr wissen wollt warum ich seine sprache so gut sprechen konnt und da hab ich ihm erzêlt daz ich diese gâbe hab wie die sankti Apostoli und daz ich auch die gabe der Visionen hab wie die Magdalenen indem daz wenn ich im wald umherlaufe seh ich plötzlich den heiligen Baudolino auf einem Einhorn in der farbe von milch und mit seim gewundenen Horn genau da wo die pferde das haben was bei uns die Nase ist
aber es ist schwer zu sagen ob pferde eine nase haben sonst könntens ja auch einen Bart haben wie jener der einen sêr schönen bart hatte in der farbe von einem kupfertopf indes die anderen Alemannen die ich gesehen die hatten meist gelbe haare sogar in den ôren
und er hat zu mir gesagt Nun gut du siehst was du ein Einhorn nennst und vielleicht meinst du das Monoceros aber woher hast du gewuszt daz es Einhörner auf dieser Welt gibt und da hab ich ihm gesagt daz ich es in einem buoch gelesen welches der Eremit der Frasketa hatte und da hat er die ougen weit aufgerissen daz sie aussahen wie die von einer eulen und hat mich gefragt Ja aber kannst du denn auch lesen?
und ob! hab ich gesagt und jetzt erzêle ich die Historia und die geht sô
es gibt einen heiligen Eremiten hier im wald der Frasketa dem die leute manchmal ein huhn bringen oder einen hasen und er sitzt dann vor einem geschriebenen buoch und betet und wenn die leute vorbeikommen schlägt er sich auf die brust mit einem Stein aber ich sage es ist blôsz ein uatarone daz ist ein klumpen erde so daz es nicht so sehr wê tut naja also an jenem tag hatten wir ihm zwei eier gebracht und wie er da in dem buoch las hab ich mir gesagt eins für dich eins für mich wie bei guten christen er darfs nur nit sehn aber ich weisz nit wie ers gemacht hat wo er doch las aber er hat mich plötzlich am Hals gepackt und da hab ich gesagt diviserunt vestimenta mea und da hat er laut gelacht und gesagt Hehe du bist ja ein helles bürschlein komm jeden tag her dann bring ich dir bei wie man liest
sô hat er mir die Buchstaben eingehemmert mit klapsen und kopfnüssen nur daz er dann hinterher als wir allein waren anfing zu sagen was für ein schöner starker junge du bist mit was für nem schönen löwenkopf lass doch mal sehn ob du auch starke arme hast und wie deine brust ist und lass dich mal hier fühlen wo die beine anfangen um zu sehn ob du auch gesund bist da hab ich kapiert worauf er hinauswollt und hab ihm mit dem knie in die balle gestôszen also in di Testicula und er hat sich zusammengekrümmt und geschrien Du Satansbraten ich geh nach Marengo und sag den leuten daz du vom Dämon besessen bist auf daz sie dich verbrennen na gut hab ich gesagt geh doch aber zuerst geh ich und sag daz ich dich gesehn hab in der nacht wie du mit einer Hexen zugange warst und ihn ihr in den mund gesteckt hast und dann sehn wir ja von wem sie werden meinen daz er besessen ist und da hat er gesagt warte doch das hab ich doch nur zum spâsz gesagt ich wollt doch blôsz sehn ob du ein gottesfürchtiger junge bist also reden wir nicht mehr davon komm morgen wieder daz ich dir beibringe wie man schreibet denn lesen ist leicht und kostet nichts weiter du brauchst nur zu schauen und die lippen zu bewegen aber wenn du schreiben willst brauchst du feder und Tinte und folii alldiweil alba pratalia arabat et nigrum semen seminabat denn er sprach zwischendurch immer latein
aber ich hab zu ihm gesagt es genügt wenn man lesen kann dann lernt man was man noch nit gewuszt hat indes wenn man schreibet dann schreibt man immer nur was man schon weisz also bleib ich lieber einer der nit schreiben kann ma il kulo è il kulo aber dem sonst nichts fehlt
als ich dem alemannischen herrn das erzêlt hatte lachte er lôs wie verrückt und sagte Bravo kleiner rittersmann die Eremiten sind allesammt Sodomiten aber sag mir was hast du sonst noch gesehen im wald? na und weil ich daran dachte daz er ja einer von denen war die Tortona erobern wollten für Kaiser Frîderîch hab ich mir gesagt ich tu ihm lieber einen gefallen villeicht gibt er mir dann auch noch eine Moneta und sô hab ich gesagt vor zween nächten da wär mir der Heilige Baudolino erschienen und hätt gesagt der kaiser werde einen grôszen Sieg über Tortona erringen denn Frîderîch sei der einzige und wahre Herr der ganzen Longobardia samt der Frasketa
da hat der herr gesagtdu bist ein geschenk des Himmels willst du nicht mitkommen ins kaiserliche lager und dort sagen was San Baudolino dir gesagt hat? und da hab ich gesagt daz ich gern mitkommen wollte und hab hinzugefügt daz San Baudolino mir auch noch gesagt hätte daz die Heiligen Petrusundpaulus nach Tortona kommen würden um die keiserlichen zu führen und da hat er gesagtmir würde schon Petrus allein genügen
Kint komm mit und dein glück ist gemacht
Und allsogleich oder fast alsogleich nêmlich am nêchsten morgen hat der herr meinem vater gesagt daz er mich mitnehmen und an einen ort bringen will wo ich lesen und schreiben lerne und vielleicht eines tages Ministeriale werde
mein vater Galiaudo wuszte nicht was ein Ministeriale ist aber er hat gleich kapiert daz dann ein esser weniger im hause sein würde und daz er mich nicht mehr würde bestrafen müeszen weil ich meiner eigenen wege ginge aber er dachte wôl daz jener herr womöglich einer von denen war die mit Affen auf die jahrmärkte gehn und womöglich würde er mir die hände auf den rükken binden und das gefiel ihm nicht aber der herr hat ihm versichert er sei ein groszer Comes Palatinus und bei den alemannen gebe es keine Sodomiten
was Sodomiten seien hat mich mein vater gefragt und ich hab ihm erklärt daz es die swûlen sind Ach was du nicht sagst hat er darauf gesagt die swûlen gibt es doch überall! aber als er sah daz der herr fünf weitere Moneten aus der Tasche zog zusetzlich zu denen die er uns am abend zuvor gegeben hatte da hat er nix mehr dagegen gehabt und hat zu mir gesagt Geh mein sohn für dich ist es ein glück und villeicht auch für uns und wo diese Alemannen ja so viel herumziehen und immer wieder in unsere gegend kommen kanns ja sein daz du uns ab und zu besuchen kommst und ich hab ihm geschworen daz ich daz tun will und bin rasch rausgegangen aber ein wenig hats mir schon auch das herz zusammengezogen wie ich meine mutter weinen sah als würde ich in den tod gehen
sô sind wir davongegangen und der herr hat gesagt ich sollte ihn dorthin führen wo das Castrum der Kaiserlichen ist und ich hab gesagt das ist ganz leicht wir brauchen blôsz der sonne zu folgen soll heiszen dorthin gehen woher sie kommt
und wie wir sô gehn und schon die zelte zu sehn sind kommt uns eine compania soldaten entgegen alle im harnisch und im selben moment in dem sie uns sehn gehen sie auf die knie und senken die Piken und die Feldzeichen und heben die Schwerter und ich frage mich na was soll denn das bedeuten? da rufen die Soldaten Chaiser hier und da undSanctissimus Rexund küssen dem herrn die hand und mir fällt beinah der kiefer runter so weit hab ich das maul aufgerissen vor staunen denn erst jetzt hab ich begriffen daz dieser herr mit dem roten bart derKaiser Frîderîch selberwar in fleisch und bein und ich hatt ihm den ganzen abend lang lügen erzêlt als ob er irgendein Dorfdepp wär!
jetzt wird er mir den kopf abhaun lassen dachte ich bei mir immerhin hats ihn dann VII Moneten gekostet denn wenn er meinen kopf haben wollte hätt er ihn gestern abend gratis et amoredei haben können
aber er sagt Ihr braucht keine angst mehr zu haben es wird alles gut ich bringe euch grôsze Neuigkeiten von einer Vision! kommsag allen was für eine vision du gehabt hast im wald! na und ich werfe mich nieder als ob ich plötzlich die fallsucht hätte und verdrehe die ougen und lasse mir sabber aus dem mund flieszen und schreie lauthals Ich sehe! ich sehe! und erzêle die ganze Lügenmär von San Baudolino die mich zum Wahrsager macht und alle loben domineddio den Herrn im Himmel und sagen Miracolo miracolo
und da waren auch die gesandten aus Tortona die sich noch nicht entschieden hatten ob sie sich ergeben sollten oder nicht aber als sie mich hatten reden hören warfen sie sich lang ausgestreckt auf den boden und sagten wenn auch die Heiligen sich gegen sie stellten dann wärs besser sich zu ergeben denn lange könnts sô nicht weitergehn
und dann sah ich die Tortonesen die aus der stadt herauskamen männer frauen kinder und greise und alle weinten und klagten indes die alemannen sie wegführten als wärens schafe und andres schlachtvieh und die aus Pavia schrien Alé Alé und stürmten nach Tortona hinein mit äxten und hämmern und keulen und piken denn eine stadt dem erdboden gleichzumachen daz war ihnen eine grôsze lust
und gegen abend sah ich auf dem ganzen hügel einen grôszen rauch und Tortona war quasi nicht mehr da sô ist der krieg wie mein vater Galiaudo immer sagt der krieg ist eine grôsze böse Bestie
aber besser sie als wir
und am abend ist der kaiser ganz zufrieden in die Tabernacula zurückgekehrt und hat mir in die wange gekniffen wie es mein vater nie getan hat und dann hat er einen herren gerufen der kein anderer war als der gute kanonikus Rahewin und hat zu ihm etwas gesagt was ich nit gut verstanden hab aber er wollte daz ich schreiben lernte und den abakus und daz ich auch die grammatik lernte von der ich damals noch gar nix wuszte aber jetzt weisz ich so langsam allmêhelich was sie ist nêmlich eine sache die sich mein vater überhaupts nie nit hätte vorstellen können
wie schön es ist gebildet zu sein wer hätte das gedacht!
gratia agamus domini dominus also in summa Dank sei dem Herrn im Himmel dafür
aber eine kronik zu schreiben bringt einen schon ziemlîch ins schwitzen sogar im winter und ich fürchte auch daz die lampe alsbald erlischt und wie jener andre sagte der daumen schmerzt mich
2. Kapitel
Baudolino begegnet Niketas Choniates
»Was ist das?« fragte Niketas, nachdem er das Pergament in den Händen herumgedreht und einige Zeilen zu lesen versucht hatte.
»Das war meine erste Schreibübung«, antwortete Baudolino. »Seit ich das geschrieben habe – ich war vielleicht vierzehn und noch kaum mehr als ein Waldbauernbub –, trage ich es überall mit mir herum wie ein Amulett. Danach habe ich noch viele andere Pergamente beschrieben, in manchen Zeiten Tag für Tag. Es kam mir so vor, als ob ich überhaupt nur existierte, um abends aufzuschreiben, was mir tagsüber widerfahren war. Später genügten mir knappe monatliche Notizen, wenige Zeilen, um mich an die wichtigsten Geschehnisse zu erinnern. Und ich sagte mir, wenn ich einmal in fortgeschrittenem Alter sein würde – wie man es jetzt sagen könnte –, würde ich anhand dieser Aufzeichnungen die Gesta Baudolini verfassen. So trug ich auf meinen Reisen die Geschichte meines Lebens mit mir herum. Doch bei der Flucht aus dem Reich des Priesters Johannes ...«
»Priester Johannes? Nie gehört ...«
»Ich werde noch von ihm sprechen, vielleicht sogar zu viel. Was ich sagen wollte, bei jener Flucht habe ich meine Aufzeichnungen verloren. Es war, als hätte ich mein Leben selbst verloren.«
»Erzähl mir, woran du dich erinnerst. Ich sammle Bruchstücke von Geschehnissen, Splitter von Begebenheiten und gewinne daraus eine Geschichte, die sich anhört, als sei sie durchwirkt von einem Plan der Vorsehung. Du hast mich gerettet und mir dadurch das bisschen Zukunft gegeben, das mir noch verbleibt. Zum Dank will ich dir die Vergangenheit wiedergeben, die du verloren hast.«
»Aber vielleicht ist meine Geschichte ja sinnlos ...«
»Keine Geschichte ist sinnlos. Und ich bin einer von denen, die den Sinn auch dort zu finden wissen, wo die anderen ihn übersehen. Danach wird die Geschichte zu einem Buch der Lebenden, wie eine helltönende Posaune, deren Klang die Toten aus den Gräbern auferstehen lässt ... Ich brauche nur etwas Zeit, ich muss die Geschehnisse bedenken, sie miteinander verbinden, die Zusammenhänge entdecken, auch die weniger sichtbaren. Aber wir haben ja nichts anderes zu tun, deine Genueser sagen, es wird noch ein paar Tage dauern, bis sich die Wut dieser Hunde gelegt hat.«
Niketas Choniates, vormals Redner am Hofe, oberster Richter des Reiches, Richter des Velums und Logothet der Sekreta oder – wie man bei den Lateinern sagen würde – Kanzler des Kaisers von Byzanz, zugleich Geschichtsschreiber vieler Komnenen sowie der Angeloi, betrachtete neugierig den Mann, der da vor ihm stand. Baudolino hatte ihm gesagt, sie seien sich schon einmal in Kalliupolis am Hellespont begegnet, zur Zeit Kaiser Friedrichs, aber wenn Baudolino damals dabei gewesen war, dann musste er unauffällig zwischen den Ministerialen gestanden haben, während Niketas, der im Namen des Basileus verhandelt hatte, viel schwerer zu übersehen war. Log dieser Lateiner? Jedenfalls hatte er ihn vor der Wut der Invasoren gerettet, hatte ihn an einen sicheren Ort gebracht, ihn wieder mit seiner Familie vereinigt und versprochen, ihn heil aus Konstantinopel hinauszubringen.
Niketas betrachtete seinen Retter. Der Mann sah weniger wie ein Christ als wie ein Sarazene aus. Ein sonnenverbranntes Gesicht, eine bleiche Narbe quer über die ganze Wange, ein Kranz noch rotblonder Haare, der seinem Kopf etwas Löwenhaftes verlieh. Niketas wäre wohl recht erstaunt gewesen, wenn er erfahren hätte, dass dieser Mann bereits über sechzig Jahre alt war. Er hatte sehr große Hände, und wenn er sie verschränkt im Schoße hielt, sah man sofort die knotigen Knöchel. Bauernhände, mehr für die Hacke als für das Schwert gemacht.
Gleichwohl sprach er ein flüssiges Griechisch, ohne bei jedem Wort feine Tröpfchen zu spucken, wie es die Fremden gewöhnlich taten, und Niketas hatte ihn erst vor kurzem mit den Invasoren in ihrer rauhen Sprache reden hören, die er schnell und trocken sprach, wie einer, der sie auch zum Schimpfen und Beleidigen zu gebrauchen weiß. Im übrigen hatte ihm Baudolino am Abend zuvor gesagt, dass er eine Gabe besitze: Es genüge ihm, zwei Leute in irgendeiner Sprache miteinander reden zu hören, und nach kurzer Zeit sei er in der Lage, mit ihnen zu sprechen. Eine einzigartige Gabe, von der Niketas gedacht hätte, sie sei nur den Aposteln gewährt.
Das Leben am Hofe, zumal an diesem, hatte Niketas gelehrt, die Menschen mit stillem Misstrauen zu taxieren. Was ihm an Baudolino auffiel, war, dass dieser Lateiner bei allem, was er sagte, sein Gegenüber mit einer verhaltenen Ironie ansah, als wolle er ihm bedeuten, seine Worte nicht allzu ernst zu nehmen. Eine schlechte Angewohnheit, die man jedem beliebigen zubilligen mochte, nur nicht einem, von dem man eine wahrheitsgemäße Aussage erwartete, um sie dann in Geschichtsschreibung zu übersetzen. Andererseits war Niketas von Natur aus neugierig. Er liebte es, andere erzählen zu hören, und nicht nur von Dingen, die ihm noch unbekannt waren. Auch was er bereits mit eigenen Augen gesehen hatte, kam ihm, wenn er einen anderen darüber reden hörte, ganz neu vor, so als sehe er es aus einem neuen Blickwinkel, als befände er sich auf dem Gipfel eines jener Berge, die auf den Ikonen gemalt sind, und sähe die Steine so, wie sie die Apostel auf dem Gipfel sahen, und nicht wie die Gläubigen unten. Außerdem machte es ihm Vergnügen, die Lateiner zu befragen, die in allem so anders als die Griechen waren, angefangen bei ihren ganz neuen, untereinander so verschiedenen Sprachen.
Niketas und Baudolino saßen einander gegenüber in einem Turmzimmer, das doppelte Spitzbogenfenster nach drei Seiten hatte. Durch eines sah man auf das Goldene Horn und das gegenüberliegende Ufer von Pera mit dem Turm von Galata, der sich aus seiner Umgebung von eng zusammengedrängten Häusern und Hütten erhob; durch das andere sah man den Hafenkanal in den Sankt-Georgs-Arm einmünden; das dritte ging nach Westen, und dort hätte man ganz Konstantinopel sehen müssen. Doch an jenem Morgen war die zarte Farbe des Himmels verdunkelt vom dichten Rauch aus den Palästen und Kirchen, die vom Feuer verzehrt wurden.
Es war die dritte Feuersbrunst, von der die Stadt in den letzten neun Monaten heimgesucht wurde. Die erste hatte die Lager- und Vorratshäuser des Hofes zerstört, vom Blachernenpalast im Nordosten bis hinunter zur Konstantinsmauer, die zweite hatte sämtliche Warenhäuser der Venezianer, Amalfitaner, Pisaner und Juden vernichtet, von Perama bis fast an die Küste, ausgenommen allein jenes Viertel der Genueser unterhalb der Akropolis, in dem sie sich befanden, und die dritte wütete jetzt in der ganzen Stadt.
Unten tobte ein wahres Flammenmeer, die Arkaden brachen zusammen, die Paläste stürzten ein, die Säulen knickten um, die Feuerkugeln, die aus dem Zentrum des Brandes hervorstoben, verzehrten die weiter entfernten Häuser, wonach die Flammen, getrieben von launischen Winden, die das Inferno genussvoll nährten, zurückkehrten, um zu verschlingen, was sie zuvor noch ausgespart hatten. Darüber ballten sich dichte Wolken, an der Unterseite noch rötlich vom Widerschein des Feuers, aber sonst von einer anderen Farbe, bei der man nicht zu sagen vermochte, ob sie auf einer Täuschung durch die Strahlen der aufgehenden Sonne beruhte oder auf der Natur der Spezereien, der Hölzer und anderen Materialien, die dort verbrannten. Überdies kamen je nach der Windrichtung aus verschiedenen Teilen der Stadt Gerüche von Muskatnuss, Zimt, Pfeffer und Safran, Senf oder Ingwer – so dass die schönste Stadt der Welt zwar brannte, aber wie eine Räucherpfanne voller Duftstoffe.
Baudolino stand mit dem Rücken zum dritten Fenster und sah aus wie ein dunkler Schatten, umgeben vom zwiefachen Schein des anbrechenden Tages und der Feuersbrunst. Niketas hörte ihm teils zu, teils vergegenwärtigte er sich noch einmal die Geschehnisse der vergangenen Tage.
An jenem Morgen, es war Mittwoch, der 14. April Anno Domini 1204 – oder im Jahre 6712 seit Anbeginn der Welt, wie man in Byzanz zu zählen pflegte –, hatten sich die Barbaren seit nunmehr zwei Tagen endgültig in den Besitz von Konstantinopel gebracht. Das byzantinische Heer, das auf den Paraden so prachtvoll glänzte mit seinen schimmernden Rüstungen, Helmen und Schilden, und die kaiserliche Wache der englischen und dänischen Söldner mit ihren schrecklichen Doppeläxten, die noch am Freitag den Feinden tapfer entgegengetreten und nicht gewichen waren, hatten sich am Montag, als die Feinde schließlich die Mauern überwanden, gleichsam in Luft aufgelöst. Es war ein so unerwarteter Sieg gewesen, dass die Sieger gegen Abend von selbst innehielten, da sie eine nächtliche Rückeroberung fürchteten – und um sich gegen diese zu schützen, hatten sie den neuen Brand gelegt. Doch am nächsten Morgen musste die ganze Stadt entdecken, dass der Usurpator Alexios Dukas Murtzuphlos ins Hinterland geflohen war. Die Bürger, nun verwaist und besiegt, verfluchten jenen Thronräuber, dem sie noch am Abend zuvor gehuldigt hatten, so wie sie ihn hatten hochleben lassen, als er seinen Vorgänger erwürgt hatte, und da sie nicht wussten, was sie tun sollten (Feiglinge, Feiglinge, Feiglinge, welch eine Schande, jammerte Niketas über diese Kapitulation), versammelten sie sich zu einem großen Zug, mit dem Patriarchen an der Spitze und Priestern aller Arten in ihren rituellen Gewändern und Mönchen, die um Gnade flehten, bereit, sich den neuen Machthabern zu verkaufen, wie sie sich seit jeher den alten verkauft hatten, die Kreuze und Bildnisse unseres Herrn Jesus Christus zumindest so hoch erhoben wie ihr Geschrei und Gejammer, und so zogen sie den Eroberern entgegen in der Hoffnung, sie zu besänftigen.
Welch ein Wahn, Barmherzigkeit zu erhoffen von diesen Barbaren, die nicht darauf warten mussten, dass die Feinde sich ihnen ergaben, um endlich zu tun, wovon sie seit Monaten träumten: die größte, volkreichste, edelste und opulenteste Stadt der Welt zu plündern und sich die Beute zu teilen. Der riesige Zug der um Gnade Flehenden fand sich gegenüber Falschgläubigen mit verzerrter Miene, deren Schwerter noch rot von Blut waren und deren Pferde unruhig stampften. Als sei der Zug nicht vorhanden und niemals vorhanden gewesen, begannen sie mit der Plünderung.
O Herr Jesus Christus, welche Drangsal, welche Nöte und Qualen hatten die Unseren da zu erleiden! Warum hatten uns nicht das Toben des Meeres, eine Verdunklung oder vollständige Verfinsterung der Sonne, ein blutroter Hof des Mondes oder die Bewegungen der Sterne dieses äußerste Unglück angekündigt? – So klagte Niketas, als er am Dienstagabend in dem umherirrte, was die Hauptstadt der letzten Römer gewesen war, auf der einen Seite bemüht, den Horden der Ungläubigen aus dem Weg zu gehen, auf der anderen von immer neuen Bränden am Weitergehen gehindert, voller Verzweiflung einen Weg nach Hause suchend und voller Angst, dass inzwischen vielleicht schon einige dieser Hunde seine Familie bedrohten.
Schließlich, gegen Abend, als er nicht wagte, durch die Parks und über den offenen Platz zwischen der Hagia Sophia und dem Hippodrom zu gehen, war er zu der riesigen Kirche gelaufen, da er ihre hohen Portale offenstehen sah und nicht annahm, dass die Zerstörungswut der Barbaren so weit gehen würde, auch diesen heiligen Ort zu schänden.
Doch als er eintrat, erbleichte er vor Entsetzen. Der weite Raum war übersät mit Leichen, zwischen denen sich sturzbetrunkene feindliche Reiter bewegten. Nicht weit vor ihm war das Lumpenpack gerade dabei, mit Keulenschlägen die silberne und mit Gold beschlagene Gittertür des Presbyteriums aufzubrechen. Die prächtige Kanzel hatten sie mit Seilen umwunden, um sie herunterzureißen und durch ein Maultiergespann fortschleppen zu lassen. Eine grölende Horde trieb die Tiere mit Schlägen und Schreien an, aber die Hufe glitten auf dem blanken Steinboden aus, die Bewaffneten setzten den armen Tieren mit Stichen und Klingenhieben zu, die also Gequälten brachen vor Angst in lautes Gewieher aus, einige stürzten zu Boden und brachen sich ein Bein, so dass der ganze Raum um die Kanzel ein einziges Gemenge aus Blut und Kot war.
Teile dieser Vorhut des Antichrist machten sich über die Altäre her, Niketas sah, wie einige ein Tabernakel aufbrachen, den Kelch herausrissen, die geweihten Behältnisse auf den Boden warfen, mit ihren Dolchen die Edelsteine vom Kelch absprengten, diese in ihre Taschen steckten und den Kelch auf einen Haufen anderer zum Einschmelzen bestimmter Gegenstände warfen. Doch zuvor nahmen einige grinsend aus der Satteltasche ihres Pferdes eine Flasche Wein, gossen etwas in das geweihte Gefäß und tranken daraus, wobei sie die Bewegungen eines Zelebranten nachäfften. Schlimmer noch, auf dem nun leergeräumten Hauptaltar vollführte eine halb entblößte Prostituierte, die Züge entstellt von irgendeinem Rauschtrank, barfüßig einen Tanz, frivol auf dem Tisch der Eucharistie die heilige Liturgie parodierend, während die Männer lachten und sie aufforderten, sich auch noch die letzten Kleider vom Leibe zu reißen. Nachdem sie der Aufforderung Stück für Stück Folge geleistet hatte, war sie darangegangen, vor dem Altar den lüsternen alten Kordax zu tanzen, und schließlich hatte sie sich, müde rülpsend, in den Sessel des Patriarchen geworfen.
Weinend über das, was er sah, hatte Niketas sich rasch auf den Weg zum hinteren Teil der Kirche gemacht, wo jene Säule stand, die der Volksmund die Schwitzende nannte – denn in der Tat überzog sie sich, wenn man sie berührte, mit einem mystischen Schweiß, aber es war nicht aus mystischen Gründen, dass Niketas sie erreichen wollte. Etwa auf halbem Wege dorthin traten ihm zwei hochgewachsene Invasoren entgegen – ihm erschienen sie wie Riesen – und riefen ihm etwas in herrischem Ton zu. Es war nicht notwendig, ihre Sprache zu verstehen, um zu begreifen, dass sie aufgrund seiner höfischen Kleidung dachten, er müsse mit Gold beladen sein oder ihnen sagen können, wo er welches versteckt habe. In diesem Augenblick fühlte sich Niketas verloren, denn wie er bei seinem verzweifelten Gang durch die Straßen der eroberten Stadt gesehen hatte, genügte es nicht zu zeigen, dass man nur wenige Münzen bei sich trug, oder zu verneinen, dass man irgendwo einen Schatz verborgen habe: Ehrwürdige Greise, erniedrigte Hochgestellte, ihres Besitzes beraubte Besitzer wurden aufs schlimmste gefoltert, damit sie verrieten, wo sie ihre Habe versteckt hatten, wurden getötet, wenn sie es nicht verraten konnten, weil sie nichts mehr besaßen, oder liegen gelassen, wenn sie es verrieten, nachdem sie so viele und grässliche Qualen erlitten hatten, dass sie in jedem Fall daran starben, indes ihre Peiniger eine Steinplatte anhoben, eine falsche Wand einrissen, eine Hängedecke ruinierten und ihre gierigen Hände auf kostbares Tafelgeschirr legten, Samt und Seide befühlten, Pelze streichelten, Edelsteine und Geschmeide zwischen den Fingern drehten, Dosen und Säckchen voll seltener Spezereien beschnupperten.
So sah sich Niketas in jenem Augenblick bereits tot, er beweinte seine verlorene Familie und bat den Allmächtigen um Vergebung für seine Sünden. Im selben Augenblick kam Baudolino in die Hagia Sophia.
Er kam hereingesprengt, prächtig wie Saladin, auf einem Ross mit Schabracke, ein rotes Kreuz auf der Brust, das gezogene Schwert in der Hand, und er brüllte: »Gottverfluchte Saubande, Lumpenpack, Hurenböcke, Himmelsakra, ist das die Art, wie man mit den Dingen unseres Herrn umgeht?« Dabei drosch er mit der flachen Klinge auf jene gotteslästerlichen Plünderer ein, die genau wie er ein Kreuz auf der Brust trugen, nur dass er nicht betrunken war, sondern außer sich. Er trieb sie rechts und links auseinander, sprengte mitten hindurch, und als er bei der auf dem Patriarchensessel hingefläzten Hure ankam, bückte er sich hinunter, packte sie an den Haaren und schleifte sie in den Kot der Maultiere, wobei er ihr grässliche Dinge zurief über die Mutter, die sie geboren hatte. Doch ringsumher waren diejenigen, die er durch sein Tun zu bestrafen glaubte, so betrunken oder so sehr damit beschäftigt, Edelsteine zusammenzuraffen, wo immer es welche geben mochte, dass sie gar nicht bemerkten, was er tat.
Während er noch dabei war, stieß er unversehens auf die zwei Riesen, die sich gerade anschickten, den armen Niketas zu foltern. Er blickte den Ärmsten an, der um Gnade flehte, ließ die Haare der Kurtisane los, die verunstaltet auf den Boden sank, und sagte in bestem Griechisch: »Bei allen zwölf Magierkönigen aus dem Morgenland, bist du nicht der Logothet Niketas, der Minister des Basileus? Was kann ich für dich tun?«
»Bruder in Christus, wer immer du sein magst«, rief Niketas, »befreie mich von diesen Barbaren, die meinen Tod wollen, rette meinen Leib, und du wirst deine Seele retten!« Die beiden lateinischen Pilger hatten von diesem Wortwechsel in orientalisch klingenden Tönen nicht viel verstanden, und so fragten sie Baudolino, der einer der ihren zu sein schien, in provenzalischer Sprache. Und in bestem Provenzalisch erwiderte Baudolino, dass dieser Mann ein Gefangener des Grafen Balduin von Flandern sei, in dessen Auftrag er gerade nach ihm gesucht habe, wegen gewisser arcana imperii, die zwei elende Sergenten wie sie nie und nimmer verstehen würden. Die beiden waren einen Moment wie vor den Kopf gestoßen, dann beschlossen sie, dass es nur Zeitverlust wäre, eine Diskussion anzufangen, da sie in derselben Zeit mühelos andere Schätze suchen gehen konnten, und verdrückten sich in Richtung Hauptaltar.
Niketas kniete zwar nicht nieder, um die Füße seines Retters zu küssen, auch weil er ja schon auf dem Boden lag, aber er war zu erschüttert, um mit der seinem Rang gebührenden Würde zu reagieren. »Oh, guter Mann«, sagte er, »hab Dank für deine Hilfe! Nicht alle Lateiner sind also losgelassene Bestien mit hassverzerrten Gesichtern! Nicht einmal die Sarazenen haben sich so aufgeführt, als sie Jerusalem zurückeroberten und Saladin sich mit wenigen Münzen begnügte, um die Einwohner zu verschonen! Welch eine Schande für die ganze Christenheit, Brüder bewaffnet gegen Brüder, Kreuzpilger, die das Heilige Grab befreien sollten und statt dessen, von Neid und Habgier erfasst, das Reich der Romäer zerstören! O Konstantinopel, Konstantinopel, erhabene Stadt! Nährmutter der Kirche, Ahnherrin des Glaubens, Weiserin der rechten Lehre, Pflegerin der Wissenschaften, Heimstatt des Schönen, so hast du nun aus der Hand Gottes den Becher des Zornes getrunken und bist verbrannt in einem noch größeren Feuer als jenem, das einst die Pentapolis zerstörte! Welche neiderfüllten, unversöhnlichen Dämonen haben die Unmäßigkeit ihres Rausches über dir ausgegossen, welche rasenden, hasserfüllten Freier haben die Hochzeitsfackel in dir entzündet? O Mutter, einst warst du bekleidet mit dem Golde und Purpur des Kaisers, jetzt bist du besudelt und in den Schmutz getreten von deinen Söhnen. Gleich in einen Käfig gesperrten Vögeln finden wir weder den Weg, diese Stadt zu verlassen, die doch die unsere war, noch die Gelassenheit, in ihr zu bleiben, sondern irren wie schweifende Sterne in ihr umher!«
»Kyrios Niketas«, erwiderte Baudolino, »man hat mir gesagt, dass ihr Griechen zu viel und über alles redet, aber ich hatte nicht gedacht, dass ihr so weit geht. Im Moment ist die einzige Frage, wie man hier rauskommt. Ich kann dich im Viertel der Genueser in Sicherheit bringen, aber du musst mir den schnellsten und sichersten Weg zum Neorionhafen zeigen, denn dieses Kreuz, das ich auf der Brust habe, schützt nur mich, nicht dich. Hier ringsum haben die Leute das Licht des Verstandes verloren. Wenn sie mich mit einem griechischen Gefangenen sehen, werden sie denken, dass er etwas wert sein muss, und werden ihn mir wegnehmen.«
»Einen guten Weg wüsste ich schon, aber er folgt nicht den Straßen«, sagte Niketas, »und du müsstest dein Pferd zurücklassen.«
»Dann lassen wir's eben zurück«, sagte Baudolino mit einer Unbekümmertheit, die Niketas erstaunte – er wusste ja noch nicht, wie wenig ihn sein Reittier gekostet hatte.
So ließ sich Niketas auf die Beine helfen, nahm Baudolino bei der Hand und zog ihn behutsam zur Schwitzenden Säule. Er blickte umher: In der ganzen Weite des Kirchenraumes waren die Pilger, die von weitem gesehen wie wimmelnde Ameisen aussahen, mit Plündern und Raffen beschäftigt und achteten nicht auf die beiden. Er kniete sich hinter der Säule auf den Boden und zwängte die Finger in eine etwas unregelmäßige Fuge zwischen zwei Steinplatten. »Hilf mir ein wenig«, sagte er zu Baudolino. »Zu zweit werden wir's vielleicht schaffen.« Tatsächlich ließ sich die Platte nach einiger Anstrengung heben und gab den Blick auf eine dunkle Öffnung frei. »Da ist eine Treppe«, sagte Niketas. »Ich gehe voran, ich weiß, wohin man treten muss. Zieh hinter dir die Steinplatte wieder zu.«
»Was machen wir denn jetzt?« fragte Baudolino.
»Wir steigen hinunter«, sagte Niketas, »dann tasten wir uns zu einer Nische vor, dort finden wir Fackeln und Feuerzeug.«
»Schöne große Stadt, dieses Konstantinopel, und so voller Überraschungen!« kommentierte Baudolino, während er tastend die Wendeltreppe hinunterstieg. »Schade, dass diese Schweine keinen Stein auf dem anderen lassen werden!«
»Diese Schweine?« fragte Niketas. »Gehörst du denn nicht zu ihnen?«
»Ich?« wunderte sich Baudolino. »Keineswegs. Wenn du meinst, wegen meiner Kleidung – die habe ich mir bloß geliehen. Ich war schon in der Stadt, als diese Kerle eindrangen. Aber wo sind denn bloß diese Fackeln?«
»Geduld, nur noch ein paar Stufen. Sag mir, wer bist du, wie heißt du?«
»Baudolino aus Alexandria, nicht aus dem in Ägypten, sondern aus dem, das heute noch Caesarea heißt, aber wer weiß, vielleicht heißt es heute ja gar nicht mehr, sondern ist verbrannt wie Konstantinopel. Ich meine das Alexandria in Oberitalien, zwischen dem Meer und den Bergen im Norden, unweit von Mediolanum, kennst du das?«
»Ich habe von Mediolanum gehört. Es wurde einmal vom König der Alemannen zerstört. Und später hat unser Basileus den Einwohnern Geld für den Wiederaufbau gegeben.«
»Richtig, ich war beim König der Alemannen, bevor er starb. Du bist ihm einmal begegnet, als er die Propontis überquerte, vor etwa fünfzehn Jahren.«
»Fridericus Rotbart. Ein großer, hochedler Herrscher, mildtätig und barmherzig. Er hätte sich nie so benommen wie diese hier ...«
»Wenn er eine Stadt eroberte, war auch er nicht zimperlich.«
Endlich waren sie am Fuß der Treppe angelangt. Niketas fand die Fackeln, entzündete sie, und im flackernden Schein der hochgehaltenen Lichter schritten sie durch einen langen Gang, dessen Wände nass glänzten, bis Baudolino auf einmal den Bauch von Konstantinopel erblickte – dort, wo sich, fast direkt unter der größten Kirche der Welt, unbemerkt eine andere Basilika in die Weite und Tiefe erstreckte, ein Wald von Säulen, die sich im Dunkel verloren wie ebenso viele Bäume eines Sumpf- oder Lagunenwaldes, der in flachem Wasser wächst. Eine ganz auf den Kopf gestellte Basilika oder Abteikirche, denn auch das Licht, das schwach auf Kapitelle fiel, die undeutlich im Schatten der hohen Gewölbe zu sehen waren, kam nicht aus Rosetten oder Fenstern, sondern aus der spiegelnden Wasserfläche am Boden, die den Fackelschein reflektierte.
»Die Stadt ist voller Zisternen«, sagte Niketas. »Die Gärten von Konstantinopel sind kein Geschenk der Natur, sondern ein Ergebnis der Kunst. Aber schau, das Wasser steht jetzt nur noch kniehoch, weil das meiste zum Löschen der Brände benutzt worden ist. Wenn die Eroberer auch noch die Aquädukte zerstören, werden alle verdursten. Normalerweise kann man hier nicht zu Fuß durch, nur mit einem Boot.«
»Geht das denn so weiter bis zum Hafen?«
»Nein, diese Zisterne endet vorher, aber ich kenne Passagen und Treppen, die sie mit anderen Zisternen und Gängen verbinden, so dass wir unterirdisch wenn nicht direkt bis zum Neorion, so doch bis zum Prosphorion gehen können. Allerdings«, sagte er bekümmert, als ob er sich erst in diesem Augenblick auf eine andere Pflicht besann, »ich kann nicht mitkommen. Ich zeige dir den Weg, aber dann muss ich umkehren. Ich muss meine Familie retten, sie ist in einem kleinen Haus hinter der Irenenkirche versteckt. Du musst wissen«, fügte er wie zur Entschuldigung hinzu, »mein schönes großes Haus ist bei der zweiten Feuersbrunst verbrannt, damals im August ...«
»Kyrios Niketas, du bist wohl nicht recht bei Trost. Erst lässt du mich hier runtersteigen und auf mein Pferd verzichten, obwohl ich ohne dich sehr gut durch die Straßen zum Neorion gelangt wäre, und dann willst du umkehren und mich allein weitergehen lassen. Meinst du, du könntest deine Familie erreichen, bevor dich zwei andere Sergenten anhalten wie die, bei denen ich dich gefunden habe? Und selbst wenn es dir gelingt, was willst du dann tun? Früher oder später wird dich jemand finden, und wenn du meinst, du könntest die Deinen nehmen und in Sicherheit bringen – wohin willst du denn gehen?«
»Ich habe Freunde in Selymbria«, sagte Niketas zögernd.
»Ich weiß zwar nicht, wo das ist, aber um dort hinzugelangen, musst du erstmal aus der Stadt hinaus. Kyrios Niketas, du kannst für deine Familie nichts tun. Aber wo ich dich hinbringe, dort finden wir Freunde aus Genua, die in dieser Stadt das gute und schlechte Wetter machen. Sie sind gewohnt, mit den Sarazenen zu handeln, mit den Juden, den Mönchen, der kaiserlichen Wache, den persischen Kaufleuten und jetzt auch mit den lateinischen Pilgern. Es sind gewiefte Leute, du sagst ihnen, wo sich deine Familie befindet, und sie bringen sie dir morgen dahin, wo wir sein werden. Wie sie das anstellen, weiß ich nicht, aber sie werden es tun. Sie würden es in jedem Fall für mich tun, weil wir alte Freunde sind, und um der Liebe zu Gott willen, aber sie sind immerhin Genueser, und so kann es nichts schaden, wenn du ihnen ein kleines Geschenk machst. Dann bleiben wir dort, bis sich die Lage beruhigt hat, gewöhnlich dauert eine Plünderung nicht länger als ein paar Tage, du kannst mir glauben, ich habe schon viele gesehen. Und dann gehen wir nach Selymbria oder wohin immer du willst.«
Niketas war überzeugt und bedankte sich. Und während sie weitergingen, fragte er Baudolino, warum er sich in der Stadt befand, wenn er doch kein Kreuzpilger war.
»Ich bin angekommen, als die Lateiner bereits am anderen Ufer angelegt hatten, zusammen mit anderen, die ... die jetzt nicht mehr da sind. Wir sind von sehr weit her gekommen.«
»Warum habt ihr die Stadt nicht verlassen, solange noch Zeit war?«
Baudolino zögerte mit der Antwort. »Weil ... weil ich hierbleiben musste, um etwas zu begreifen.«
»Und hast du es begriffen?«
»Leider ja, aber erst heute.«
»Eine andere Frage: Warum machst du dir so viel Mühe mit mir?«
»Was soll ich denn sonst mit einem guten Christen machen? Aber im Grunde hast du schon recht. Ich hätte dich von diesen zwei Kerlen befreien und dann allein fliehen lassen können, aber ich habe mich an dich geheftet wie ein Blutegel. Schau, Kyrios Niketas, ich weiß, dass du ein Geschichtsschreiber bist, so einer, wie Bischof Otto von Freising einer war. Aber als ich Bischof Otto kannte und bei ihm war, bevor er starb, da war ich ein Knabe und hatte keine eigene Geschichte und wollte nur die der anderen erfahren. Jetzt hätte ich vielleicht eine, aber ich habe nicht nur alles verloren, was ich über meine Vergangenheit aufgeschrieben hatte, sondern ich bringe auch alles durcheinander, wenn ich mich zu erinnern versuche. Nicht, dass mir die einzelnen Fakten entfallen wären, aber ich bin nicht imstande, ihnen einen Sinn zu geben. Und nach dem, was mir heute widerfahren ist, muss ich unbedingt mit jemandem darüber sprechen, sonst werde ich verrückt.«
»Was ist dir denn widerfahren?« fragte Niketas, während er mühsam durchs Wasser stapfte – er war zwar jünger als Baudolino, aber sein Leben als Gelehrter und Höfling hatte ihn korpulent und träge gemacht.
»Ich habe einen Menschen getötet. Es war der, der vor fast fünfzehn Jahren meinen Adoptivvater ermordet hat, den besten aller Könige, den Kaiser Friedrich.«
»Aber Friedrich ist doch in Kilikien ertrunken!«
»Das glauben alle. Aber er ist ermordet worden. Kyrios Niketas, du hast mich heute Abend in der Hagia Sophia wütend mit dem Schwert dreinschlagen sehen, aber glaub mir, ich hatte in meinem ganzen Leben noch niemals Blut vergossen. Ich bin ein friedlicher Mensch. Diesmal jedoch musste ich töten, ich war der einzige, der hier für Gerechtigkeit sorgen konnte.«
»Du wirst mir alles erzählen. Aber sag mir zuerst, wie es kam, dass du genau im rechten Augenblick, wie von der Vorsehung geschickt, in der Hagia Sophia erschienen bist, um mir das Leben zu retten.«
»Während die Pilger anfingen, die Stadt zu plündern, war ich gerade dabei, einen finsteren Ort zu betreten. Als ich vor ungefähr einer Stunde wieder herauskam, war es schon dunkel, und ich befand mich in der Nähe des Hippodroms. Ich wurde fast überrannt von einer Schar Griechen, die schreiend vor etwas davonliefen. Ich konnte mich gerade noch in den Eingang eines halbverbrannten Hauses retten, und als sie vorbei waren, sah ich die Pilger, die sie verfolgten. Da begriff ich, was im Gange war, und siedend heiß schoss mir ein Gedanke durch den Kopf: Ich war zwar ein Lateiner und kein Grieche, aber bevor diese bestialisierten Lateiner das merkten, würde zwischen mir und einem toten Griechen kein großer Unterschied mehr sein. Ach wo, das ist doch nicht möglich, sagte ich mir, die können doch nicht die größte Stadt der Christenheit zerstören wollen, gerade jetzt, wo sie sie erobert haben ... Dann fiel mir ein, als ihre Vorfahren zur Zeit Gottfrieds von Bouillon in Jerusalem eindrangen, da haben sie ebenfalls alle umgebracht, Frauen, Kinder und Haustiere, obwohl die Stadt anschließend die ihre wurde, und man kann von Glück sagen, dass sie nicht auch das Heilige Grab zerstört haben. Es stimmt zwar, dass es damals Christen waren, die in eine Stadt der Ungläubigen einfielen, aber gerade jetzt auf meiner Reise habe ich erlebt, wie heftig Christen wegen eines kleinen Wörtchens übereinander herfallen können, und bekanntlich streiten sich ja unsere Priester seit Jahren mit euren Priestern über die Frage des Filioque. Und schließlich, da hilft nun mal nichts, wenn Krieger in eine Stadt eindringen, hält keine Religion sie zurück.«
»Was hast du dann also gemacht?«
»Ich habe den Hauseingang verlassen und bin dicht an den Mauern entlang bis zum Hippodrom gegangen. Und dort habe ich die Schönheit verblühen und sterben sehen. Du musst wissen, seit ich mich in der Stadt befinde, bin ich immer wieder dorthin gegangen, um jene Mädchenstatue zu betrachten, ich meine die mit den wohlgeformten Füßen, mit Armen wie Schnee und roten Lippen und mit jenem Lächeln und jenen Brüsten und jenen Kleidern und jenen Haaren, die im Winde zu tanzen schienen, eine Statue, bei der man, wenn man sie von weitem sah, gar nicht glauben mochte, dass sie aus Bronze war, so lebendig wirkte sie, wie aus Fleisch und Bein ...«
»Du meinst die Statue der Helena von Troja. Was ist denn mit ihr geschehen?«