Schüsse mit Empfangsbescheinigung - Umberto Eco - E-Book

Schüsse mit Empfangsbescheinigung E-Book

Umberto Eco

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Beschreibung

Soll man eher auf die Philosophen hören oder auf die Philosophinnen? Soll man Bücher sammeln oder lesen? Oder soll man einfach nur noch ins Kino gehen? Umberto Eco, einer der markantesten und unterhaltsamsten Kommentatoren unserer Alltagswelt, betrachtet in diesen scharfzüngigen Essays und Glossen Politik, Kultur und die allgemeine Lage. Es geht um Romane, Filme und Romanverfilmungen, um neue und antiquarische Bücher, Katastrophennachrichten und um den alltäglichen Krieg. Ein Feuerwerk an Belesenheit und Witz.

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Über das Buch

Soll man eher auf die Philosophen hören oder auf die Philosophinnen? Soll man Bücher sammeln oder lesen? Oder soll man einfach nur noch ins Kino gehen? Umberto Eco, einer der markantesten und unterhaltsamsten Kommentatoren unserer Alltagswelt, betrachtet in diesen scharfzüngigen Essays und Glossen Politik, Kultur und die allgemeine Lage. Es geht um Romane, Filme und Romanverfilmungen, um neue und antiquarische Bücher, Katastrophennachrichten und um den alltäglichen Krieg. Ein Feuerwerk an Belesenheit und Witz.

Umberto Eco

Schüsse mit Empfangsbescheinigung

Neue Streichholzbriefe

Ausgewählt, übersetzt und eingerichtet von Burkhart Kroeber

Carl Hanser Verlag

Inhalt

Die Wunder des Dritten Jahrtausends. Drei Prophezeiungen gratis, vielleicht falsche

Die Hacker sind systemnotwendig

Vom Lesen im Bett

Erinnerung an eine Kindheit im Krieg

Leibfreudige Katholiken und bigotte Laien. Wo soll das alles noch hinführen?

Die radiophone Hypnose. Über die ungewisse Zukunft eines magischen Mediums

Der Untergang des Vierten Rom

Reisen ins Immergleiche

Diebstähle mit Pfiff

Das mehrfach gewandelte Image der Polizei

Die unwillentlichen Verbündeten von Bin Laden

Eine Botschaft für Leser in zehntausend Jahren

Karneval allüberall

D’Artagnans Einzug ins Panthéon

Odysseus zwischen Togliatti und Agamemnon

Schüsse mit Empfangsbescheinigung

Winkewinke machen im Fernsehen

Große Kriege, kleine Frieden

Mandrake ein italienischer Held?

Gebt uns ein paar Tote mehr

Nachruf auf einen großen Dichter

Gibt es eine europäische Identität?

Wie man eine Schuld auf Raten abzahlt

Philosophieren auf weiblich

Hundert Jahre leben

Die großen Plagen, vom Winde verweht

Kann das Publikum dem Fernsehen weh tun?

Philosophie auf dem Nachttisch

Hände weg von meinem Sohn!

Die Rückkehr der Bildervergötzung

Tragisch inaktuell

Die Freude, Primus zu sein

Ein Mensch, der liest, gilt für zwei

Die Unermeßlichkeit der Irrelevanz

Im Mare Magnum

Jemand sein

Die sinnlosen Schrecken des Karnevals

Reise zum Mittelpunkt von Jules Verne

Der rechte Winkel

Ricœur zuerst und zuletzt

Unsere tägliche Horrormeldung gib uns heute

Mit Verlaub gesagt

Im Krebsgang

Wer hat das Prestige der Nation gerettet?

Zu dieser Auswahl

Die Wunder des Dritten Jahrtausends. Drei Prophezeiungen gratis, vielleicht falsche

Die Debatte über den wahren Beginn des neuen Jahrtausends ist noch längst nicht zu Ende, man braucht nur die Zeitungen und Magazine durchzublättern. Also treffen wir eine drakonische Entscheidung. Ich lese gerade wieder einmal den 1903 erschienenen Zukunftsroman Le meraviglie del Duemila (»Die Wunder des Dritten Jahrtausends«) von Emilio Salgari, dem »italienischen Jules Verne«, wie er gern genannt wird. Darin werden zwei Personen in so etwas wie einen Winterschlaf versetzt und wachen im Jahre 2003 wieder auf. Was finden sie dort? Flugboote mit schlagenden Flügeln, riesige stählerne Elefanten, die mit ihren Rüsseln den Müll in den Städten aufsaugen, Züge, die mit hundert Kilometer pro Stunde durch unterseeische Tunnel rasen, pneumatische Rohrpost, die schnell wie die E-Mail ans Ziel gelangt, vollautomatisierte Fabriken, die allein mit Elektrizität betrieben werden, und — hört, hört — eine Krise des Sozialismus.

Salgari spricht von Duemila für das Jahr 2003, aber er wäre offensichtlich bereit, auch das Jahr 2999 ins Duemila zu setzen. So wie wir, wenn wir von den dreißiger Jahren sprechen, die Zeit von Januar 1930 bis Dezember 1939 meinen. Voilà, das ist die Lösung: Jahrzehnte, Jahrhunderte und Jahrtausende werden zwar anders »numeriert«, aber in der Alltagssprache von Null an gezählt: die Fünfzigerjahre, das Zwanzigste Jahrhundert. Vor wenigen Tagen hat nun das Dritte Jahrtausend begonnen, und so werden wir es tausend Jahre lang nennen, in gleicher Weise, wie wir jemanden Philipp oder Emanuel nennen.

Nachdem dies also geklärt ist, bleibt noch die zweite große Plage der letzten zwölf Monate, nämlich daß man von allen Seiten aufgefordert wird, Prophezeiungen für das Dritte Jahrtausend zu machen. Prophezeiungen sollte man niemals machen, es sei denn, man hat göttliche Eingebungen. Aber man kann, wie es jeder tut, der zum Beispiel eine Urlaubsreise antritt und sich überlegt, wie das Wetter sein wird oder was er am Strand von Varazze finden könnte, ein paar vorsichtige Prognosen wagen.

Vorsichtige, denn es braucht bloß in sechs Monaten ein riesiger Meteorit ins Mittelmeer zu stürzen, und Ligurien wird zu einem Taucherparadies, während Basel sich in den schönsten Strand der Schweiz verwandelt.

Hier also drei Prognosen für das Dritte Jahrtausend. Erstens: Verblassen der Vorstellung und des Begriffs von Brüderlichkeit. Wenn die westliche Zivilisation sich immer spärlicher fortpflanzt und China schon jetzt nur ein Kind pro Familie erlaubt, werden die Kinder des Dritten Jahrtausends nicht mehr wissen, was ein Bruder und eine Schwester sind, und nur noch in Fabeln und Märchen davon lesen, so wie man heute von Wolfsjungen und vom Flachsspinnen liest. Beziehungsweise, Familien mit mehreren Kindern wird es auf die Dauer nur noch in der hintersten Dritten Welt geben, so daß eine Kinderschar als etwas sehr Exotisches angesehen wird, wie ein Harem oder ein Ring in der Nase — nein, sorry, das nicht, denn alle Prognosen benennen den Ring in der Nase als eine Zierde, die sich unter den Jugendlichen der hochentwickelten Länder immer mehr ausbreiten wird.

Zweite Prognose: Verschwinden der Nationalstaaten und der Archipele von »Zwillingsstädten«, die durch gemeinsame Produktions- und Handelsinteressen zusammengehalten werden, wie Biella und Kuala Lumpur oder München und Harare. Verschwinden werden damit auch die Nationalsprachen als etwas, das man in der Schule lernt, aber es wird auch nicht eine gemeinsame Weltsprache übrigbleiben, sei sie nun das Englische oder das Chinesische. Wir werden es eher so machen wie im Römischen Reich.

Nehmen wir den Apostel Paulus. Geboren in Kilikien (heute wäre er also ein Türke), war er dazu erzogen worden, griechisch zu sprechen und zu schreiben, doch er besuchte die Synagoge und hatte gelernt, die Torah auf hebräisch zu lesen. In Jerusalem sprach er dann aramäisch, aber wenn er nach seinem Paß gefragt wurde, antwortete er auf lateinisch »civis romanus sum«, und ich weiß nicht, in welcher Sprache er am Ende (so heilig er war) seine Henker verflucht haben wird.

Letzte Prognose: Ende der Ethik. Eine Ethik verlangt ein Modell des Lebens, das zu befolgen schwierig ist und eine gewisse Anstrengung erfordert. Die Medien werden jedoch als Lebensmodelle immer mehr Personen mit sehr wenig heroischen Tugenden propagieren, die jedoch für alle zum Vorbild geworden sind, weil sie unentwegt im Fernsehen, in der Presse oder im Internet erscheinen. Nicht die heilige Katharina oder Florence Nightingale, sondern Lady Di oder Monica Lewinsky. Alle auf die Altäre! Prost Neujahr.

(6. Januar 2000)

Die Hacker sind systemnotwendig

Die jüngsten weltweiten Virenanschläge aufs Internet dürfen uns nicht wundern. Je komplizierter eine Technik ist, desto angreifbarer wird sie. In einer niedrig fliegenden Propellermaschine war es ein leichtes, mit einem Flugzeugentführer fertig zu werden: Man machte die Tür auf und warf ihn hinaus. In einer interkontinentalen Düsenmaschine kann auch ein Irrer mit einer Schreckschußpistole alle in Schach halten.

Das Problem ist eher das der Beschleunigung des technischen Fortschritts. Nachdem die Gebrüder Wright den ersten Flug versucht hatten, vergingen Jahrzehnte, bis Blériot, Richthofen, Baracca, Lindbergh, Balbo das Fluggerät schrittweise perfektioniert hatten. Das Auto, das ich zur Zeit fahre, kann Sachen, die der alte Fiat 600, auf dem ich den Führerschein gemacht habe, sich niemals hätte träumen lassen, aber wenn ich damals mit einem Wagen wie meinem heutigen hätte anfangen müssen, wäre ich irgendwo im Graben gelandet. Zum Glück bin ich mit meinen Autos gewachsen und konnte mich nach und nach an ihre immer größere Kraft gewöhnen.

Beim Computer dagegen schaffe ich es nicht, rechtzeitig alle Möglichkeiten der Maschine und ihrer Programme zu lernen, bevor eine neue Maschine mit noch komplexeren Programmen auf den Markt kommt. Ich kann auch nicht einfach beschließen, mit dem alten Computer weiterzumachen, obwohl er mir eigentlich genügt hätte, da einige unverzichtbare Verbesserungen nur noch auf den neuen Maschinen laufen. Diese zunehmende Akzeleration hat in erster Linie kommerzielle Gründe (die Industrie will, daß wir unseren alten Computer verschrotten und einen neuen kaufen, auch wenn wir ihn gar nicht brauchen), aber sie ist auch eine Folge der Tatsache, daß niemand die Techniker daran hindern kann, einen stärkeren Prozessor zu erfinden. Und das gleiche geschieht mit Mobiltelefonen, Recordern, Palmtops und dem ganzen digitalen Gerätepark.

Unser Körper könnte sich mit seinen Reflexen nicht schnell genug an Autos gewöhnen, die ihre Leistung alle zwei Monate steigern würden. Zum Glück sind die Autos dafür zu teuer, und die Autobahnen sind, was sie sind. Computer kosten immer weniger, und die Autobahnen, über die sie ihre Botschaften jagen, sind nur selten verstopft. Infolgedessen kommt der neueste Computer auf den Markt, bevor wir es geschafft haben, alles zu lernen, was der vorige konnte. Dieses Drama betrifft nicht nur die gemeinen Benutzer, sondern auch diejenigen, die den Datenfluß kontrollieren sollten, einschließlich der FBI-Agenten, der Banken und sogar des Pentagons.

Wer hat die Zeit, vierundzwanzig Stunden am Tag die neuen Möglichkeiten seines Computers zu studieren? Die Hacker, eine neue Art von Eremiten, die den ganzen Tag mit (elektronischer) Meditation verbringen. Hin und wieder zeigt sich einer von ihnen, wie neulich im Fernsehen, als sich einer in die Rede von Clinton eingeschaltet hatte. Sie sind alle so: bleich, übergewichtig, unbeholfen, unterentwickelt, ausschließlich vor dem Bildschirm aufgewachsen. Während sie zu den einzigen echten Experten einer Innovation mit unerträglichen Rhythmen werden, haben sie Zeit, alle Fähigkeiten der Maschine und des Netzes zu verstehen, nicht aber, eine neue Philosophie über sie zu entwickeln und ihre positiven Anwendungen zu studieren, weshalb sie sich der einzigen unmittelbaren Tätigkeit widmen, die ihnen ihre unmenschliche Kompetenz gestattet: dem Stören, Beschädigen, Destabilisieren des globalen Systems.

Dabei kann es sein, daß viele von ihnen glauben, im »Geist von Seattle« zu handeln, das heißt, sich dem Moloch der Globalisierung entgegenzustemmen. In Wahrheit sind sie jedoch die besten Kollaborateure des Systems, denn um sie zu neutralisieren, muß das System sich immer mehr und immer noch schneller erneuern. Ein Teufelskreis, in dem der Protestler das, was er zu zerstören glaubt, stabilisiert und potenziert.

(15. März 2000)

Vom Lesen im Bett

In dieser Kolumne komme ich immer wieder auf ein paar fixe Ideen zurück. Nicht weil ich von ihnen besessen wäre, sondern weil die Medien sie geradezu zwanghaft immer wieder ansprechen. So stellen sie gerne die quälende Frage, ob wir uns dem Ende jener noblen Tätigkeit nähern, die das Lesen ist. Gewöhnlich mache ich darauf aufmerksam, daß wir überall Buchläden aus dem Boden wachsen sehen, die immer größer und reichhaltiger werden und in denen es von Jugendlichen nur so wimmelt. Auch wenn diese am Ende nichts kaufen — wenn man zwei Stunden damit verbringt, Buchumschläge anzusehen und Banderolen mit Werbesprüchen zu lesen, kommt man danach so heraus, wie es mir als Knabe erging, nachdem ich die letzte Nummer der Fiera letteraria gelesen und aus ihr erfahren hatte, daß es faszinierende Bücher gab, die ich dringend lesen mußte und wollte, sobald ich in der Lage sein würde, sie mir zu besorgen.

Allerdings sind diese Jugendlichen nur eine Minderheit, und die Statistiken sagen uns, daß es Millionen Menschen gibt, die nie ein Buch lesen. Viele rechtfertigen sich mit der Behauptung, die harte tägliche Arbeit lasse ihnen keine Zeit zur Lektüre. Das mag für jene gelten, die schwerste unmenschliche Arbeiten machen, aber kaum für die vielen anderen, deren Stunden vernünftiger eingeteilt sind.

Einer der am besten zum Lesen geeigneten Orte ist das Bett. Wem es gelänge, womöglich durch Reduzierung der Zeit, die er vor der Glotze verbringt oder beim Herumhängen in der Kneipe, auch nur eine halbe Stunde für die abendliche Lektüre zu reservieren, käme im Jahr auf über einhundertachtzig Stunden Lektüre, was nicht wenig ist. Alle, die Leser aus Lust und Berufung sind, werden sich an die Schlachten erinnern, die sie als Kinder schlugen, um abends noch lesen zu dürfen: an die Verhandlungen mit den um ihre Augen besorgten Eltern und wie es ihnen womöglich gelang, heimlich mit einer Taschenlampe unter der Bettdecke zu schmökern. Auch angenommen, es tut einem Kind nicht gut, abends im Bett noch zu lesen, würde dieses Kind doch anfangen, diese Gewohnheit zu schätzen, wenn es sähe, wie seine Eltern sie pflegten. Und mit einer richtigen Lampe kann man auch lesen, ohne den müderen Partner zu stören.

Viele unserer Verhaltensweisen werden uns von den Massenmedien nahegelegt. Es heißt, daß der siebenjährige amerikanische Bub, der in der Schule um sich geschossen hat, von zu vielen Gewaltfilmen beeinflußt war. Gewiß versichern uns Soziologen und Psychologen, daß ein Film nur dann negative Einflüsse auf ein Kind haben kann, wenn dieses Kind schon von sich aus verhaltensgestört ist, aber ein Junge, der mit sieben Jahren jeden Tag im Fernsehen einen Film mit ratternden Maschinenpistolen und überall herumspritzendem Blut gesehen hat, ist fraglos schon dadurch geschädigt. Und jetzt überlegen wir einmal, was uns die Kino- und Fernsehfilme über das Thema Lesen im Bett sagen.

Menschen im Bett sieht man in den üblichen Filmen bei vier Gelegenheiten: a) wenn sie der Liebe obliegen, b) wenn sie sich streiten, c) wenn sie kurz vor der Scheidung stehen und nicht mehr miteinander reden, d) wenn sie sich zurechtkuscheln, um heiter und glücklich einzuschlafen. Wer der Liebe obliegt oder mit chinesischen Vasen schmeißt, liest nicht, okay. Aber nie sieht man auf der Leinwand oder dem Bildschirm Paare, die ins Bett gehen und etwas lesen, sich dann das Gutenachtküßchen geben, einer dreht sich nach rechts, der andere nach links, und beide sinken sofort in Schlaf wie zwei Hafenarbeiter nach zwölf Stunden ununterbrochener Schwerstarbeit. Nur in einem Fall (und das nur sehr selten) lesen sie: wenn das Paar bereits voll in der Krise ist und das Lesen des einen ein Ausdruck seiner Verachtung für den anderen und ein Akt des offenen Krieges mit dem Partner ist. Ich jedenfalls habe noch nie einen Film gesehen, in dem die Gattin zum Gatten sagt: »Liebster, dieses Buch solltest du auch mal lesen, es ist hinreißend.«

Unsere Kinder wachsen auf, ohne daß ihnen die Glotze vorführt, wie angenehm, nobel und beruhigend es ist, vor dem Einschlafen noch etwas zu lesen. Statt dessen wird ihnen vorgeführt, wie aufregend es ist, mit MPs herumzuballern oder eine Partie Poker zu spielen. Also worüber beklagen wir uns?

(16. März 2000)

Erinnerung an eine Kindheit im Krieg

Die Abende zwischen 1943 und 1945 verbrachte ich in der kleinen Küche eines bescheidenen Landhauses, ehe ich mit einem warmen Ziegelstein als Bettwärmer schlafen ging. Mein Vater arbeitete in der Stadt, am Samstag kam er mit dem Fahrrad, und so erfuhren wir, daß er nicht bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen war.

Ich hörte Radio, während ich meine Briefmarkensammlung ordnete. Die Marken kaufte ich mir in Kuverts zu erschwinglichen Preisen im örtlichen Schreibwarenladen, und dann ließ ich mich von ihnen zu Phantastereien über die Fidschi-Inseln, die Dominikanische Republik oder Kamerun anregen.

Am späten Abend (damals um elf Uhr nachts) beendete das Radio sein Programm mit patriotischen Hymnen. Dann, nach ein paar Minuten Stille, erklang eine Stimme (ich glaube von Carlo Buti) und sang das Lied Tornerai — »Du wirst wiederkommen«. Kurz darauf hörte man ein Brummen am Himmel: Das war Pipetto, der englische Aufklärer, nach dessen Vorbeiflug man die Uhren stellen konnte.

Zwischen einem Lied und dem anderen (ich erinnere mich an Lassù, a Capocabana, a Capocabana la donna è regina, la donna è sovrana — »Droben in Capocabana, in Capocabana ist die Frau Königin, ist die Frau Herrin«) hörte man die Durchhaltereden des Propagandisten Mario Appelius mit seinem Slogan »Gott verfluche die Engländer!« oder »Die Stimme von John Amery« (das war ein britischer Verräter, der nach dem Krieg gehängt wurde) oder die Familienserie »Was passiert im Hause Rossi?«, propagandistische Szenen in zwei Familien, abwechselnd einer Familie Rossi in Mailand, die auf den Endsieg wartete, und einer gleichnamigen Familie in Rom, die noch unter dem amerikanischen Joch lebte und dem Faschismus nachtrauerte.

Dann, wenn es soweit war, schloß man die Fenster, drehte das Radio leise und stellte es auf die Frequenz von Radio London ein. Nach dem schicksalhaft pochenden »Tun-tun-tun-tam« begann Colonel Stevens in seinem Italienisch mit fast parodistisch klingendem Akzent zu sprechen. Wir lauschten gebannt, um zu erfahren, wie die Dinge standen, obwohl wir uns bewußt waren, daß auch er Propaganda machte.

Nach Colonel Stevens kamen die Sonderbotschaften. Einige sind mir unvergeßlich geblieben, zum Beispiel »Die Sonne geht noch einmal auf«, die anderen habe ich nur noch vage in Erinnerung, es waren Sätze wie »Morgen trifft Michele ein« oder »Die Äpfel sind reif«, aber sie wurden von jener fernen Stimme wie eine surrealistische Litanei vorgetragen.

Wir wußten, daß es Nachrichten oder Instruktionen für den Partisanenkrieg waren, zum Beispiel die Ankündigung, daß an dem und dem Ort zu der und der Stunde Waffen und Lebensmittel per Fallschirm abgeworfen wurden. Fast alle waren an »la Franchi« gerichtet.

Man munkelte, daß Franchi der legendäre und höchst verwegene Kommandant der royalistischen Badoglianer war, die blaue Halstücher trugen, beim Angriff »Vorwärts Savoien!« riefen und von den Engländern großzügig mit Waffen und Material versorgt wurden, während die kommunistischen Garibaldiner mit dem roten Stern und den roten Halstüchern nichts bekamen.

Einige Jungen aus dem Dorf, die ich kannte, waren zu den Garibaldinern gegangen, andere zu den Badoglianern, aber oft hing die Wahl nur davon ab, wo man sich gerade befand, wenn man in die Wälder ging.

Später erfuhr ich, daß Franchi kein anderer als Graf Edgardo Sogno war. Im September 1943 war Sogno mit dem König und Badoglio nach Brindisi geflohen, hatte sich aber dann per Fallschirm im Norden absetzen lassen, um den Widerstand zu organisieren. Hätte der Thronfolger Umberto es ihm nachgetan, hätte er die Monarchie vom Verrat seines hasenfüßigen Vaters erlöst. Aber dazu reichte der Mut dieses Blue Pimpernel nicht.

In den Jahrzehnten der Nachkriegszeit war Edgardo Sogno dann, verführt von seinem glühenden Antikommunismus, zum Prototyp des »Reaktionärs« geworden (und schließlich in der »postfaschistischen« Alleanza nazionale gelandet). Was soll’s? So ist die Geschichte unseres Landes verlaufen, voller Widersprüche.

Aber Franchi-Sogno war der Held meiner Kindheit gewesen, der Robin Hood, von dem ich im Bett mit dem warmen Ziegelstein unter der Decke träumte, und so möchte ich seiner gedenken, nachdem er nun vorige Woche mit 84 Jahren gestorben ist.

(17. August 2000)

Leibfreudige Katholiken und bigotte Laien. Wo soll das alles noch hinführen?

Spricht man von den großen spirituellen Transformationen, die das Ende des zwanzigsten Jahrhunderts bezeichnet haben, so nennt man zumeist als erstes die Krise der Ideologien, die unleugbar ist und die traditionellen Unterscheidungen zwischen links und rechts aufgeweicht hat. Es stellt sich jedoch die Frage, ob der Fall der Berliner Mauer die Ursache dieser Aufweichung oder nur eine ihrer Folgen war.

Denken wir an die Naturwissenschaft: Sie galt als ideologisch neutral, Ideal des gemeinsamen Fortschritts sowohl für Liberale wie für Sozialisten (strittig war nur die Frage, wie und zu wessen Gunsten dieser Fortschritt gelenkt und verwaltet werden sollte — exemplarisch ist dafür immer noch das Kommunistische Manifest von 1848, das eine Eloge der kapitalistischen Errungenschaften anstimmte, um dann mehr oder minder zu schließen: »Das alles wollen jetzt wir haben«). Progressiv war, wer auf den technologischen Fortschritt vertraute, und reaktionär, wer die Rückkehr zur Tradition und zur unverseucht-ursprünglichen Natur predigte. Fälle von »rückwärtsgewandter Revolution« wie die der Maschinenstürmer waren Randerscheinungen. Sie änderten nichts am klaren Gegensatz der beiden Sichtweisen.

Zu wanken begann dieser Gegensatz erst in der Bewegung von 1968, als sich in die Schwerindustrie verliebte Stalinisten mit Blumenkindern trafen und Operaisten, die sich von der Automation die Abschaffung der Arbeit versprachen, mit Propheten der Befreiung durch die Droge des Don Juan. Er zerbrach in dem Moment, als der Pro-Dritte-Welt-Populismus zum gemeinsamen Banner sowohl der extremen Linken wie der extremen Rechten wurde, und heute stehen wir vor Antiglobalisierungsbewegungen à la Seattle, in denen sich neue Maschinenstürmer, radikale Umweltschützer, Ex-Operaisten, Lumpenproletarier und autonome Straßenkämpfer im Protest gegen das Klonen, den Big Mac, die Genmanipulation und die Atomkraft treffen.

Eine nicht geringere Transformation ist im Gegensatz zwischen religiöser und säkularer Welt eingetreten. Seit Jahrtausenden verband sich der religiöse Geist mit Mißtrauen gegenüber dem Fortschritt, Ablehnung der Welt und intransigentem Festhalten an der Lehre. Dagegen lebte die säkulare Welt voller Optimismus den Umbau der Natur, die Dehnbarkeit der ethischen Prinzipien, die freudige Entdeckung »anderer« Religiositäten und »wilder« Denkungsarten.

Gewiß fehlte es unter den Gläubigen nicht an Berufungen auf die »irdischen Realitäten«, auf die Geschichte als Heilsweg (man denke an Teilhard de Chardin), während es auf der anderen Seite keinen Mangel an weltlichen »Apokalyptikern« gab, an negativen Utopien à la Orwell oder Huxley und an einer Science-fiction, die uns die Schrecken einer Zukunft unter der Herrschaft einer grauenerregenden wissenschaftlichen Rationalität ausmalte. Aber letzten Endes gebührte es sich für die religiöse Predigt, uns auf den Tag des Jüngsten Gerichts zu verweisen, und für die weltliche, ihre Hymnen auf die Lokomotive zu singen.

Der jüngste Weltjugendtag*1 mit den »Papa kids« zeigt dagegen das Ausmaß der von Wojtyla bewirkten Transformation: eine Masse von Jugendlichen, die sich zum Glauben bekennen, aber die — nach den Antworten, die sie in diesen Tagen auf Interviewfragen gaben — weit entfernt von fundamentalistischen Neurosen darauf bestehen, über voreheliche Beziehungen und Verhütungsmittel selbst zu entscheiden, einige sogar über Drogen und alle über Diskotheken. Währenddessen jammert die laizistische Welt über die Umweltverschmutzung durch Lärm und über einen Geist des »New Age«, in dem sich Neorevolutionäre, Anhänger des Monsignore Milingo und Liebhaber einer Wellness durch orientalische Massagen zu treffen scheinen.

Wir sind erst am Anfang, da kommt noch einiges auf uns zu.

(31. August 2000)

Die radiophone Hypnose. Über die ungewisse Zukunft eines magischen Mediums

Vor ein paar Wochen erzählte ich von den Gefühlen, die ein zwölfjähriger Junge während des Krieges beim abendlichen Radiohören empfand, wenn er zuerst italienische Schlager und dann Radio London mit den Nachrichten für die Partisanen hörte. Diese Erinnerungen haben sich mir ins Gedächtnis eingebrannt und bleiben darin lebendig. Wird ein Junge von heute ebenso tiefe Erinnerungen an die Fernsehnachrichten über den Krieg am Golf oder im Kosovo behalten?

Diese Frage habe ich mir vorige Woche gestellt, als wir — im Rahmen des Prix Italia — diverse Radiosendungen der letzten sechzig Jahre wiederhören konnten.

Die Antwort gab mir eine berühmte Unterscheidung von Marshall McLuhan (die übrigens viele Theoretiker des Mediums Radio antizipiert haben, von Brecht bis Benjamin und von Bachelard bis Arnheim), nämlich die zwischen »heißen« und »kalten« Medien. Ein heißes Medium beschäftigt nur einen unserer fünf Sinne und läßt uns keinen Raum zum Interagieren. Ein kaltes Medium beschäftigt zwar mehrere Sinne, aber es spricht uns nur stück- oder portionsweise an und verlangt, daß wir kooperieren, um das Empfangene zu ergänzen, zusammenzusetzen und zu entwickeln.

Heiß ist für McLuhan ein Film oder ein Vortrag, denen man passiv im Sitzen folgt, kalt eine Debatte oder ein Fernsehabend; heiß ist eine hochaufgelöste Fotografie und kalt ein Comic, der die Realität mit schematischen Strichen zeigt.