Be My Shelter - Lana Rotaru - E-Book

Be My Shelter E-Book

Lana Rotaru

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

**Charmante Perfektionistin trifft auf attraktiven Chaoten.**  **Prickelnde Slow-Burn-Romance um eine packende Challenge, die beide an ihre Grenzen bringt und schließlich über sich hinauswachsen lässt.**  Kaira sagt ständig zu allem Ja, ist für jeden und alles da – und brennt dabei immer mehr aus. Trotzdem liebt sie ihren Alltag. Dank ihres Organisationstalents gelingt es ihr, alles unter einen Hut zu bringen: Studium, Nebenjob, Ehrenamt und ihre chaotische Familie. Cooper hingegen ist allergisch gegen Verpflichtungen und jegliche Form von Stress. Er hält sich mit Gelegenheitsjobs über Wasser, lebt von Tag zu Tag. Als er – eigentlich nur vorübergehend – bei ihr einzieht, kommt es zu intensiven Reibungen. In einer hitzigen Diskussion verabreden sie eine Challenge, die sie über alle Maßen fordern wird. Denn beide werden mit ihren schmerzhaftesten Schwächen konfrontiert. Dadurch kommen sie sich näher als ihnen lieb ist … Die Geschichte von Kaira und Cooper ist perfekt für dich, wenn du diese Tropes liebst: - Slow Burn - Forced Proximity - Good Guy - He falls first - Deep Secret

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 502

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Unsere eBooks werden auf kindle paperwhite, iBooks (iPad) und tolino vision 3 HD optimiert. Auf anderen Lesegeräten bzw. in anderen Lese-Softwares und -Apps kann es zu Verschiebungen in der Darstellung von Textelementen und Tabellen kommen, die leider nicht zu vermeiden sind. Wir bitten um Ihr Verständnis.

Impressum

© eBook: 2024 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

© Printausgabe: 2024 GRÄFE UND UNZER VERLAG GmbH, Postfach 860366, 81630 München

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, sowie Verbreitung nur mit schriflicher Genehmigung des Verlages. Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Projektleitung: Anja Schmidt

Lektorat: Diana Steigerwald

Covergestaltung: ki36 Editorial Design, München, Bettina Stickel, Anika Neudert

eBook-Herstellung: Liliana Hahn

ISBN 978-3-8338-9542-5

1. Auflage 2024

Bildnachweis

Coverabbildung: Adobe Stock

Syndication: www.seasons.agency

GuU 8-9542 11_2024_01

Unser E-Book enthält Links zu externen Webseiten Dritter, auf deren Inhalte wir keinen Einfluss haben. Deshalb können wir für diese fremden Inhalte auch keine Gewähr übernehmen. Für die Inhalte der verlinkten Seiten ist stets der jeweilige Anbieter oder Betreiber der Seiten verantwortlich. Im Laufe der Zeit können die Adressen vereinzelt ungültig werden und/oder deren Inhalte sich ändern.

Die GU-Homepage finden Sie im Internet unter www.gu.de

www.facebook.com/gu.verlag

Lust auf mehr Inhalte, die dein Herz höher schlagen lassen?

Folge uns auf @gu.newadult und freue dich auf:

exklusive Einblicke in unsere Bücher,aufregende Cover-Reveals,Autoren*innen-Insights & vieles mehr!

Garantie

LIEBE LESERINNEN UND LESER,

wir wollen Ihnen mit diesem E-Book Informationen und Anregungen geben, um Ihnen das Leben zu erleichtern oder Sie zu inspirieren, Neues auszuprobieren. Wir achten bei der Erstellung unserer E-Books auf Aktualität und stellen höchste Ansprüche an Inhalt und Gestaltung. Alle Anleitungen und Rezepte werden von unseren Autoren, jeweils Experten auf ihren Gebieten, gewissenhaft erstellt und von unseren Redakteur*innen mit größter Sorgfalt ausgewählt und geprüft. Haben wir Ihre Erwartungen erfüllt? Sind Sie mit diesem E-Book und seinen Inhalten zufrieden? Wir freuen uns auf Ihre Rückmeldung. Und wir freuen uns, wenn Sie diesen Titel weiterempfehlen, in ihrem Freundeskreis oder bei Ihrem Online-Kauf.

KONTAKT ZUM LESERSERVICE

GRÄFE UND UNZER VERLAG Grillparzerstraße 12 81675 Münchenwww.gu.de

Wenn du gewinnst«, wispert Cooper in einer Tonlage, die so sinnlich klingt, dass es mir wohlig den Rücken hinabrinnt und sich eine Gänsehaut auf meinem gesamten Körper ausbreitet, »dann bitte ich dich um ein Date. Ganz klassisch und romantisch.«

»Und wenn du gewinnst?«, erwidere ich, klinge dabei aber nicht so tough, wie ich es mir wünschen würde. Viel eher schwingt in meiner Stimme eine unverkennbare Sehnsucht mit.

»Wenn ich gewinne«, haucht Cooper, und sein Atem streift sanft über meine Lippen.

In diesem Augenblick kann ich jeden Sprenkel in seinen Iriden erkennen. »Wenn ich gewinne, reist du mit mir um die Welt. Ein Jahr lang. Ohne jegliche Verpflichtungen oder Sicherheiten. Nur du und ich. Und der Sternenhimmel über uns.

Für Diana.Ohne dich gäbe es dieses Buch nicht.Du bist mein persönlicher Engel.

Liebe Leser:innen,

ich freue mich von ganzem Herzen, dass ihr mein Buch in den Händen haltet. Bevor ihr in die Geschichte über Kaira und Cooper eintaucht und die Reise euch nach Portland in Oregon führt, möchte ich mich bei meiner lieben Kollegin Pia Kabitzsch bedanken.

Pia ist Psychologin, Speakerin und Bestseller-Autorin und hat die psychologischen Ratschläge in meinem Buch, die dazu dienen, meinen Charakteren das Leben zu erleichtern, sorgfältig geprüft. Danke für deine Unterstützung, liebe Pia!

Ich wünsche euch viel Freude beim Lesen – passt gut auf euch auf!

Eure Lana & euer GU-Team

KAPITEL EINS

Kaira

Früher habe ich meine Freundinnen immer darum beneidet, dass sie in Familien aufgewachsen sind, bei denen das Abendessen in ruhiger, gesitteter Atmosphäre abläuft. Sie haben sich leise und entspannt miteinander unterhalten, vom eigenen Tag berichtet und ihre Sorgen und Gedanken miteinander geteilt.

In meiner Familie läuft das völlig anders ab – und damit habe ich mich inzwischen arrangiert.

»Samuel, dein Löffel ist kein Katapult, also hör auf, den Kartoffelbrei durch die Gegend zu werfen! Jonathan, streck deiner Schwester nicht ständig die Zunge raus. Kaira, könntest du bitte den Saft auffüllen? William, leg doch endlich mal die Zeitung beiseite. Du hattest vor dem Essen genug Zeit, die Nachrichten zu lesen. Kaira, der Saft, bitte! Sofia und Abigail, wenn ihr beiden nicht auf der Stelle die Handys weglegt, konfisziere ich sie!«

In einem einzigen Atemzug hat Mom die Worte wie ein Maschinengewehr über den tosenden Lärm am Esstisch hinweggefeuert – zumindest kommt es mir so vor. Aber da ich der lebhaften Unterhaltung im Hause Morales nur mit halbem Ohr folge – gedanklich hänge ich in meiner übervollen To-do-Liste fest –, bin ich vermutlich keine zuverlässige Referenz.

Am Freitag ist meine Hausarbeit fällig. Zuvor muss ich noch das Quellenverzeichnis überprüfen. Und ich muss daran denken, Mila den Text zu schicken, damit sie ihn auf Rechtschreib- und Grammatikfehler überprüft.

»Kaira!« Mein Name dringt so intensiv an mein Ohr, dass ich zusammenzucke. Mein Blick schießt von meinem Teller in die Höhe und trifft auf Moms strenge Miene. »Kind, wo bist du heute nur mit deinen Gedanken? Ich habe dich bereits zweimal gebeten, die Saftkaraffe aufzufüllen.«

»Entschuldigung.« Mit vor Verlegenheit warmen Wangen lege ich mein Besteck beiseite, zupfe mir die Serviette vom Schoß und erhebe mich von meinem Platz. Gemeinsam mit dem leeren Glasbehälter verschwinde ich in die Küche. Es ist mir superunangenehm, dass Mom meine gedankliche Abwesenheit bemerkt hat. Aber weil während des gemeinsamen Familienessens keine Handys erlaubt sind und ich Angst habe, etwas zu vergessen, muss ich meine Aufgabenliste im Kopf hin und her wälzen.

Zurück im Esszimmer stelle ich die frisch befüllte Karaffe auf den Tisch und setze mich zurück auf meinen Platz.

»Danke, Liebes.« Mom bedenkt mich mit einem warmherzigen Lächeln. Dabei wird mir mal wieder bewusst, wie jung und schön sie mit ihren siebenundvierzig Jahren aussieht. Die braunen Locken und blauen Augen, die zum Familienerbe für all ihre sechs Kinder geworden sind, machen sie in Kombination mit ihren weiblichen Rundungen zu einem echten Hingucker.

»Weißt du, wen ich heute beim Friseur getroffen habe?«, fragt Mom, nachdem sie einen Schluck Saft getrunken hat. »Mrs Adams. Und weißt du, was sie mir erzählt hat? Wie schade sie es findet, dass es zwischen dir und Aiden nicht gefunkt hat.« Sie macht eine theatralische Pause, die mir die Gelegenheit bieten soll, etwas auf ihre Worte zu erwidern.

Aber ich schiebe mir lieber eine Portion Kartoffelbrei und gedünstete Möhren in den Mund.

»Ach, Kindchen.« Mom seufzt und strahlt dabei eine mütterliche Enttäuschung aus, die mich direkt ins Herz trifft und es mit so viel Schuld auflädt, dass ich kaum noch Luft bekomme. Aber ich nehme ihr das nicht übel. Aiden ist bereits der vierte Kandidat in sechs Monaten, mit dem mich Mom erfolglos verkuppelt hat.

Ich bin einfach ein hoffnungsloser Fall.

»Was hattest du denn dieses Mal an dem armen Jungen auszusetzen?«, hakt Mom nach, als sich die Stille zwischen uns ausdehnt.

»Nichts«, nuschle ich. »Der Abend war nett.«

»Wow, hast du das gehört, Sofia?«, fragt Abigail und sieht nicht einmal von ihrem Smartphone auf. Sie weiß, dass Mom gerade zu sehr mit mir beschäftigt ist, um ihrer Drohung Taten folgen zu lassen und den Zwillingen die Handys wegzunehmen. »Der Abend war nett.«

»Ja! Das Date muss die reinste Katastrophe gewesen sein. Schließlich weiß jeder, dass nett der kleine Bruder von scheiße ist.«

Die beiden lachen, und ich werfe ihnen einen giftigen Blick zu. Mom hingegen quittiert diese Worte mit einem Kopfschütteln. Dass sie den beiden nicht einmal mit einer Taschengeldpause droht, sollten sie das Sch-Wort bei Tisch noch einmal benutzen, untermalt, wie stark sie auf mich fokussiert ist.

»Ja, aber wenn der Abend doch nett war, wieso gibst du Aiden dann keine weitere Chance?«, fragt Mom. »Vielleicht ist er schüchtern und braucht ein wenig Zeit, um er selbst zu sein. Du darfst nicht so wählerisch sein, Kaira. Glaubst du, wenn ich früher so hohe Ansprüche an Männer gehabt hätte, würde auch nur einer von euch heute hier sitzen?«

Ich schüttle den Kopf, weil ich weiß, dass Mom diese Reaktion von mir erwartet. Und teilweise hat sie ja auch recht mit ihren Worten. Nur ist es so, dass das Desinteresse nicht allein von mir ausgeht. Aiden ist ebenfalls der Meinung, dass das zwischen uns keine Zukunft hat.

Es findet halt nicht jeder mit siebzehn die große Liebe.

»Ich mache mir doch nur Sorgen um dich, mi corazón.« Mom legt ihre Hand auf meine und drücke sanft meine Finger. Reflexartig schaue ich auf. Die zerstörte Hoffnung in ihren Augen bricht mir das Herz.

»Ich möchte nicht, dass du so endest wie Tante Lucia«, sagt Mom. »Allein mit zwölf Katzen in einer kleinen Zweizimmerwohnung.«

»Ich weiß«, sage ich und zwinge mich zu einem Lächeln. Klar, es gibt schlimmere Schicksale als das von Moms älterer Schwester. Meine Tante ist eine glückliche Single Lady und lebt ihr Leben genau so, wie sie es will.

Aber ich will heiraten, und ich will Kinder bekommen.

Nur muss ich mir mit dreiundzwanzig schon derart viel Stress deswegen machen?

»Ich kann Aiden ja noch mal anrufen«, sage ich, um Mom zu besänftigen. Zwar bezweifle ich, dass Aiden darauf eingehen wird, aber dann ist es so.

Sogleich strahlt Mom mit der Sonne um die Wette.

»Mach das, Schätzchen! Und wenn du weißt, wann ihr euch wiederseht, sagst du vorher Bescheid, ja? Dann gehen wir shoppen.«

»Wir kommen mit!«, rufen Sofia und Abigail wie aus einem Mund. Doch weder Mom noch ich beachten sie.

»Du willst shoppen gehen? Warum denn das?« Augenblicklich bereue ich es, eingelenkt zu haben. Es gibt nur wenige Dinge, die ich noch mehr hasse als einkaufen.

»Na ja, wenn du und Aiden euch wiederseht, solltest du dich von deiner besten Seite zeigen – immerhin hast du ihm einen Korb gegeben. Einige Männer können mit einer derartigen Zurückweisung nur schwer umgehen. Und auch wenn dein Wesen wundervoll ist und er dich nur lieben kann, schadet es nicht, deine optischen Vorzüge ins rechte Licht zu rücken. Unter deinen viel zu großen Kapuzenpullovern sieht Aiden ja gar nichts von deiner Figur. Aber es heißt nicht umsonst: Das Auge isst mit.«

Meine Schwestern würgen angewidert, und mein Dad räuspert sich verlegen. Wenigstens bin ich nicht die Einzige, der dieses Gespräch unangenehm ist.

»Ich überleg es mir«, antworte ich ausweichend und wende mich wieder meinem Essen zu. Dass mein Kleidungsstil Mom ein Dorn im Auge ist, weiß ich – sie lässt kaum eine Gelegenheit aus, mir das unter die Nase zu reiben.

Aber ist dies wirklich der Grund, wieso ich keinen Mann finde? Weil ich lieber Hoodies und Leggins statt figurbetonte Kleider trage? Dabei ist Ersteres viel praktischer, wenn ich Käfige im Tierheim reinige oder im Altersheim mit Senioren Bingo spiele.

»Ja, sag mir unbedingt Bescheid.« Mom nickt und grinst breit. Sie weiß, dass ich ihrem Wunsch am Ende sowieso nachkomme und mich von ihr quer durch die ganze Mall schleifen lasse. So ist es schon immer gewesen. Ich kann meiner Familie einfach keinen Wunsch ausschlagen. »Und bis es so weit ist, reden wir über unseren nächsten Mutter-Tochter-Tiktok-Tanz. Das letzte Video hat mir über fünfunddreißigtausend Views und fast dreihundert neue Follower eingebracht.«

»Klar«, sage ich kraftlos. Nach dem Date- und Shopping-Thema jetzt auch noch über den Dreh eines neuen Tiktok-Videos zu reden, kommt mir vor, als müsste ich nach einer Zahnwurzelbehandlung ohne Betäubung auch noch eine mündliche Prüfung in Physik ablegen, mein meistgehasstes Fach in der Schule.

Mom scheint jedoch nichts von meiner Zurückhaltung zu bemerken. Munter plappert sie weiter. »Du kannst ja am Samstag vorbeikommen. Wir frühstücken gemeinsam und studieren dann den Tanz ein.«

»Am Samstag bin ich schon mit Mila und Leandra verabredet.« Meine Antwort lässt Mom einen Flunsch ziehen. Sie ist es gewohnt, dass ich immer da bin, wenn sie mich braucht.

»Könnt ihr das nicht am Freitag machen? Samstag ist der einzige Tag, an dem es nicht ganz so heiß werden soll. Sonst schwitzen wir im Garten doch wie zwei Schweine.«

»Freitags bin ich immer im Altersheim«, erinnere ich Mom, jongliere jedoch im Kopf meine Termine für diese Woche, um Moms Anfrage noch irgendwie gerecht zu werden. Ich weiß, wie wichtig ihr der Tiktok-Account ist. »Vielleicht kann ich meine Freitagsschicht auf Donnerstag legen. Dann müsste ich nur schauen, dass ich am Vormittag ins Tierheim komme, damit ich am Nachmittag Zeit habe.«

Moms Stirn wirft tiefe Falten. Es ist offensichtlich, dass sie keine Ahnung hat, wovon ich rede.

»Schon gut«, sage ich und mache eine wegwerfende Handbewegung. Es ist verständlich, dass Mom sich bei meinem vollen Terminkalender überfordert fühlt. Ohne meine Organizer-App und die ständigen Erinnerungen an wichtige Ereignisse würde es mir genauso gehen. »Ich schaue mal, was sich machen lässt. Okay, Mom? Ich sag dir auf jeden Fall Bescheid.«

Mom nickt dankbar und verlässt ihren Platz, als der melodische Klang der Türklingel den Raum erfüllt. Es gibt nur eine Person, die das wöchentliche Abendessen der Familie Morales stören darf, ohne eine Schimpftirade von Mom zu riskieren.

Bei dem Gedanken, wer soeben an die Haustür getreten sein muss, breitet sich ein aufgeregtes Kribbeln in meinem Bauch aus, und auf meinen Lippen bildet sich ein erfreutes Grinsen. Mich hält es kaum auf dem Stuhl, aber ich will Mom nicht in die Quere kommen. Sie ist vermutlich die Einzige, die nochaufgeregter ist als ich.

»Klopf, klopf«, ertönt schließlich eine tiefe Stimme, ehe die dazugehörige Person im Esszimmer erscheint. Die dunklen Locken und die strahlend blauen Augen weisen den Neuankömmling als weiteren Morales-Spross aus. »Ist am Tisch noch Platz für einen hungrigen Assistenzarzt?«, fragt mein großer Bruder Jason, und sogleich begrüßen Sofia und Abigail ihn mit einer stürmischen Umarmung. Auch Jonathan und Samuel halten für einen Moment in ihrer Kartoffelbreischlacht inne, um das älteste von uns sechs Kindern mit eifrigem Winken willkommen zu heißen.

Widerwillig bleibe ich auf meinem Platz sitzen, um Jason nicht auch noch zu bedrängen.

»Na, ihr zwei Teufel.« Jackson drückt Sofia und Abigail an sich. »Was habe ich da gehört? Ihr habt den Hausmeister eurer Schule im Schrank eingesperrt?«

Sofia will zu einer Antwort ansetzen, aber Mom, die gerade zurück ins Esszimmer tritt, kommt ihr zuvor. Glücklicherweise kenne ich die Story bereits und weiß, dass es sich nur um ein Missgeschick gehandelt hat – etwas, was bei Sofia und Abigail selten der Fall ist.

»Wieso bist du allein gekommen?« Mom stemmt empört die Hände in die Hüften. »Wo sind meine frisch geborenen Enkelinnen? Ich habe extra neue Spielsachen gekauft, weil ich dachte, du bringst sie heute Abend mit.«

Jason wendet sich mit einem liebevollen Lächeln um.

»Mom, Stacy und Caitlin sind gerade einmal siebenundzwanzig Tage alt. Das Einzige, was sie momentan interessiert, sind Ambers Brüste – und vielleicht noch, wer von den beiden als Nächstes die Windel vollmacht. Mal ganz ehrlich: Es kann doch kein Zufall sein, dass immer dann eine von ihnen nach einer frischen Windel schreit, wenn wir entweder für einen Termin spät dran sind oder Amber und ich uns gerade für ein Nickerchen auf die Couch gelegt haben.«

»Natürlich ist das kein Zufall.« Mom lächelt milde. »Das ist ein Naturgesetz. Glaubst du, du oder deine Geschwister wart da anders?« Sie schüttelt den Kopf. »Dein Dad und ich haben uns so oft verspätet, dass die Leute uns extra eine halbe Stunde früher eingeladen haben, weil sie wussten, dass wir es sonst nicht pünktlich schaffen würden. Und jetzt setz dich an den Tisch. Ich hol dir einen sauberen Teller.«

»Nein, Mom, das brauchst du nicht. Ich muss gleich wieder los. Ich wollte nur kurz vorbeischauen und mir vielleicht eine Kleinigkeit mitnehmen.«

Mom verschwindet trotzdem in der Küche.

Ergeben seufzend lässt sich Jason auf ihren Stuhl neben mich fallen. Er weiß genau, dass er keine Chance hat.

»Hey«, sagt er, als ich ihm tröstend eine Hand auf die Schulter lege. Sofia und Abigail haben sich wieder auf ihre Plätze zurückgezogen und versinken sogleich in der Welt ihrer Handys.

»Alles gut bei dir?«, frage ich. »Du hast seit Tagen nichts in die Familien-Chatgruppe gepostet. Ich wollte schon anrufen und fragen, was los ist. Aber ich dachte, du hast bestimmt genug um die Ohren.«

»Ja, sorry.« Jason verzieht das Gesicht. »Gerade ist es wirklich nicht leicht.«

Ich mustere meinen Bruder eingehend. Er wirkt müde und abgeschlagen. Die Ringe unter seinen Augen, die er seit dem Beginn seiner Assistenzarztzeit wie ein neumodisches Accessoire voller Stolz mit sich herumträgt, sind zu tiefschwarzen Balken geworden, und seine für gewöhnlich faltenfreie Stirn weist inzwischen deutliche Erschöpfungsanzeichen auf.

»Das kann ich mir vorstellen. Ein Neugeborenes ist ja schon eine Umstellung. Aber gleich ein Doppelpack? Puh!«

»Ja, die ständigen Unterbrechungen in der Nacht sind wirklich nicht ohne. Aber das ist nicht mein größtes Problem. Sondern Amber. Seit die Mädchen auf der Welt sind, streiten wir nur noch. Es ist zum Haareraufen. Egal, was ich tue oder sage, es ist schlichtweg falsch. Natürlich weiß ich, dass es vielen Paaren am Anfang so geht und wir uns im Laufe der Zeit einpendeln werden. Es ist nur … ich mache mir Sorgen, verstehst du? Sie war früher immer so fröhlich und ausgelassen. Jetzt weint sie ständig und schreit mich an …«

»Das tut mir ehrlich leid.« Ich streiche Jason über den Rücken. Ich liebe alle in meiner Familie, aber mit ihm fühle ich mich am meisten verbunden, weil der Altersunterschied zwischen uns nur zwei Jahre beträgt. Wir haben schon viel miteinander erlebt.

»Wenn ich dir oder euch irgendwie helfen kann, musst du nur einen Ton sagen. Vielleicht kann ich mit den Mädchen einen Spaziergang machen, damit Amber etwas Schlaf nachholen kann. Ich habe gehört, dass so etwas bereits Wunder wirken kann.«

»Das würdest du tun?« Jasons Miene hellt sich zusehends auf, bis er mich regelrecht anstrahlt. »Danke, Schwesterherz, das wäre großartig! Ich schlage es Amber gleich auf dem Weg zur Arbeit vor.«

»Mach das. Dann kann ich mich endlich dafür revanchieren, dass du mir damals bei meinem Aufsatz für die Uni-Bewerbung geholfen hast. Außerdem freue ich mich, wenn ich Caitlin und Stacy wiedersehen darf. Das letzte Mal konnte ich sie ja nur kurz im Arm halten, ehe ich losgefahren bin, um die Sachen für Amber zu holen, die du zu Hause vergessen hattest.«

Jason nickt, kommt jedoch nicht dazu, etwas zu erwidern, denn Mom platziert in dieser Sekunde einen frischen Teller, Besteck und ein Glas für ihn.

»Nun erzähl doch mal, wieso bist du heute allein gekommen?« Sie räumt ihr benutztes Geschirr beiseite und positioniert sich dann hinter ihrem Sohn.

»Wie du weißt, ist mein Urlaub zu Ende. Ich mache mich gleich auf den Weg ins Krankenhaus.«

»Dann hättest du deine Familie erst recht mitbringen sollen. Wir hätten uns um sie gekümmert. Jetzt ist deine arme Frau mit den zwei Kleinen die ganze Nacht allein.«

»Das ist sie nicht«, sagt Jason und häuft sich etwas von der Lasagne auf den Teller. Sogleich fängt er an zu essen. »Das Schwiegermonster ist da«, murmelt er mit vollem Mund. »Seit vier Tagen, um genau zu sein.« Er zieht die Nase kraus, was Mom entgeht. Kein Wunder, dass Jason so unter Stress steht.

Zwischen ihm und Ambers Mutter herrschen Spannungen. Sie ist der Meinung, dass er und Amber zu früh geheiratet und eine Familie gegründet haben. Dass Jason seine Arztkarriere vorantreibt, während Amber ihr Studium unterbrochen hat, trägt nicht gerade zur Besserung der Stimmung bei.

»Hildegart sieht meine Enkelinnen vierundzwanzig Stunden am Tag, während ich nicht einmal mehr Fotos zu sehen bekomme? Das wird ja immer besser!«

Jason und ich wechseln einen unauffälligen Blick. Mom sollte bewusst sein, dass die zwei frisch geborenen Zwillinge ebenso Hildegarts Enkelinnen sind wie auch ihre.

Glücklicherweise stecken sich Jonathan und Samuel in dieser Sekunde gegenseitig Möhren in die Nase, was Moms Fokus auf sie lenkt. Jason beugt sich sogleich in meine Richtung. Dabei senkt er seine Stimme, als wollte er mir ein Geheimnis anvertrauen. »Darf ich dich noch um einen Gefallen bitten?«

»Klar, worum geht’s?«

»Nächste Woche kommt Cooper Bryston in die Stadt, um mich zu besuchen.«

Als ich Jason schweigend ansehe, fügt er hinzu: »Du weißt schon, mein Kumpel aus der Uni. Du kennst ihn. Du hast uns mal aus der Kneipe abgeholt und ins Studentenwohnheim gefahren, als du für eine Woche bei mir auf dem Campus geschlafen hast.«

»Ach ja?« Während meiner Besuche bei Jason habe ich ihn regelmäßig nachts von irgendwelchen Partys, Bars oder Kneipen abholen müssen. Die Male, bei denen er dabei allein in mein Auto geklettert ist, kann ich an einer Hand abzählen. »Ich bräuchte schon mehr Details, wenn ich mich erinnern soll.«

»Ist nicht so wichtig. Jedenfalls kommt Cooper in die Stadt, und ich wollte dich fragen, ob er bei dir unterkommen kann.«

»Wie bitte? Er soll bei mir wohnen? Wieso? Kann er nicht in einem Hotel einchecken? Du weißt, dass ich nur eine winzige Zweizimmerwohnung habe, Jason. Meine Couch lässt sich nicht einmal ausklappen.«

»Cooper sagte irgendwas davon, dass er nicht ins Hotel kann oder will … und er erwähnte einen Hund. Ich habe es nicht genau verstanden, muss ich zugeben. Die Mädchen haben die ganze Zeit geweint, und Amber hat mich alle naselang gerufen. Aber ich möchte unbedingt die Gelegenheit nutzen und etwas Zeit mit meinem alten Kumpel verbringen, wenn er sich schon bei mir meldet.« Jason setzt seinen flehendsten Dackelblick auf, inklusive Schmolllippe und glänzenden Kulleraugen. »Du weißt, ich würde dich nicht bitten, wenn es eine Alternative gäbe. Mom und Dad kann ich wegen Dads und Samuels Hundehaarallergie nicht fragen, und zu mir kann er auch nicht. Aus bekannten Gründen.«

Ich nicke langsam. Amber und er haben gerade wirklich keinen Kopf für einen Hausgast.

Trotzdem …

»Bitte, Schwesterherz«, flüstert Jason, als ich nachdenklich an meiner Unterlippe kaue. »Damit würdest du mir einen gigantischen Gefallen tun. Ich hab Cooper seit meiner Unizeit nicht mehr gesehen. Es würde mir unheimlich viel bedeuten.«

In meiner Brust pulsiert es, und jede Faser meines Körpers schreit danach, Jasons Bitte auszuschlagen. Wie soll ich einen für mich Wildfremden in meiner Wohnung übernachten lassen? Zwar bezweifle ich, dass Jasons Kumpel ein Vergewaltiger oder Mörder ist, dennoch verursacht mir die Vorstellung Herzrasen, mir mein Badezimmer mit jemand anders teilen zu müssen. Auch aus diesem Grund habe ich mich dazu entschieden, zwei Nebenjobs anzunehmen, um mir eine eigene Wohnung zu leisten, anstatt in ein WG-Zimmer zu ziehen. Doch Jason sieht mich weiterhin so flehend an, dass ich gar nicht anders kann, als nachzugeben.

Ich kann einfach nicht Nein sagen.

Nicht bei meiner Familie.

Nicht bei Jason.

»Wenn er einen Hund hat, sollte ich wohl ein paar Leckerchen besorgen.«

KAPITEL ZWEI

Kaira

»Wow, wie siehst du denn aus?«, ruft meine Freundin Leandra, als ich am Freitagnachmittag das Brautmodengeschäft Bride Dreams betrete. Sie und Mila haben es sich bereits in weichen Ledersesseln bequem gemacht. »Hast du letzte Nacht Vampire Diaries gebingewatcht, oder was ist der Grund für die nachtschwarzen Ringe unter deinen Augen?«

»Auch dir ein herzliches Hallo«, entgegne ich mit einem sarkastischen Lächeln und stelle meinen Kaffeebecher auf dem kleinen Glastisch vor mir ab. Anschließend ziehe ich mir den Riemen meiner Umhängetasche über den Kopf. Das Ding bleibt an meinem Pferdeschwanz hängen, und ich muss ziehen und zerren, ehe ich die Tasche aus meinen dunklen Locken befreit habe. Ich stelle sie neben dem freien Sessel auf dem Boden ab, schlüpfe aus meiner Jacke, hänge diese über die Sessellehne und lasse mich erschöpft auf das weiche Polster sinken. Der Tag war der reinste Spießrutenlauf, und ich bin unglaublich froh, dass dieses Treffen der letzte Punkt auf meiner heutigen To-do-Liste ist. Ich muss dringend ins Bett. Denn auch wenn Leandra bei ihrer Frage ein wenig mehr Taktgefühl hätte aufbringen können, hat sie meinen derzeitigen Zustand treffsicher zusammengefasst: Ich bin vollkommen übermüdet. Aufgrund meines Besuchs bei Amber und den Zwillingen am Mittwoch – wo ich nicht nur zwei Stunden mit den Mädchen im Kinderwagen spazieren gegangen bin, sondern hinterher noch geputzt und Essen vorgekocht habe – musste ich meine gesamte Woche umstrukturieren. Dadurch sind all meine Termine und Verpflichtungen durcheinandergeraten, und ich habe mehr Vorlesungen verpasst als gedacht. Immerhin ist meine Hausarbeit abgegeben, und als ich Amber am Abend verlassen habe, hat sie bereits um einiges ausgeruhter und ausgeglichener gewirkt. Jetzt muss ich am Wochenende nur noch die verpassten Vorlesungen und ausgefallenen Tutorien nachholen. Doch das sollte ich sogar dann schaffen, wenn Mom mich den ganzen Samstag für den Dreh ihres Tiktok-Videos einspannt.

»Lea hat recht. Du siehst wirklich nicht gut aus«, sagt Mila und wirft mir unter zusammengezogenen Augenbrauen einen besorgten Blick zu.

»Vielen Dank für die schmeichelnden Worte«, gebe ich schnippischer zurück als beabsichtigt. Der wenige Schlaf beginnt, seinen Tribut zu fordern, daher greife ich nach meinem Kaffee und trinke einen großen Schluck. Leider ist das schwarze Gold nur noch lauwarm, weil ich während der U-Bahnfahrt in meiner Organizer-App herumgewerkelt habe, anstatt mich an meinem dampfenden Lebenselixier zu erfreuen.

»Du weißt, wie ich das meine«, sagt Mila mit liebevoller Strenge und rückt ihre Brille zurecht. »Ich mache mir Sorgen um dich. Du arbeitest so hart für die Uni, gibst Nachhilfestunden und arbeitest noch im Tierheim.«

»Vergiss ihre Obsession nicht, mit alten Knackern Bingo zu spielen«, feixt Leandra. »Aber abgesehen davon kann ich Kairas Arbeitswahn nachvollziehen – was nicht bedeutet, dass ich ihn gutheiße oder gar teile. Aber wenn eine Frau einen gewissen Lebensstandard halten will, muss das Geld fließen. Schließlich kann sich nicht jeder von uns einen reichen Kerl angeln.« Sie zwinkert Mila zu und wirft ihr langes blondes Haar keck über ihre Schulter.

»Forster ist nicht reich.« Mila lacht mit geröteten Wangen.

»Er ist Alleinerbe einer Hotelkette«, wirft Leandra ein.

»Seine Eltern haben ein kleines Gasthaus am Stadtrand. Und die zehn Zimmer, die es dort gibt, sind selten alle gleichzeitig belegt.«

»Und was ist mit seiner Tante? Sie hat doch auch ein Hotel – und keine Kinder.«

Milas Antwort darauf bekomme ich nicht mehr mit. Meine schlaftrunkenen Gedanken driften ins Nirwana ab, bis Leandra eindringlich »Kaira!« ruft. Dieser Moment fühlt sich an, als hätte sie mir einen Kübel Eiswasser über den Kopf gegossen.

Ich schrecke so abrupt in die Höhe, dass ein Teil des Kaffees, den ich noch immer in der Hand halte, sich großzügig über meinen dunkelgrünen Kapuzenpullover ergießt.

Mit einem stillen Fluch auf den Lippenstelle ich den deckellosen Becher – das habe ich davon, wenn ich versuche, möglichst auf Plastik zu verzichten – zurück auf den Tisch und zupfe ein paar der blütenweißen Taschentücher aus der Box, die hier standardmäßig stehen. Damit rubble ich über den Fleck auf meinem Pullover.

»Ist wirklich alles okay bei dir?«, hakt Mila vorsichtig nach. Die Falten auf ihrer Stirn verursachen mir ein schlechtes Gewissen.

»Sorry. Ich wollte nicht wegdämmern. Die letzten Tage waren nur etwas chaotisch.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln, das hoffentlich weniger zermatscht aussieht, als es sich anfühlt. »Mir geht es gut. Wirklich. Und in nächster Zeit wird es auch wieder deutlich ruhiger bei mir sein.«

»Du meinst, in der Zeit, wo Jasons heißer Kumpel bei dir einzieht?« Leandra zieht grinsend eine Augenbraue in die Höhe und nippt an dem Champagnerglas in ihrer Hand. Ich habe keine Ahnung, wo das plötzlich herkommt, aber da Mila ebenfalls eine Flöte in der Hand hält, nehme ich an, dass die Mitarbeiterinnen des Ladens sie bewirtet haben.

»Erstens«, sage ich an Leandra gerichtet und stopfe mir die nassen Taschentücher in die Jeanstasche, »woher willst du wissen, dass der Typ heiß ist? Du kennst ihn ebenso wenig wie ich. Und zweitens zieht er nicht bei mir ein. Jason hat mich gebeten, ihn und seinen Hund auf meiner Couch übernachten zu lassen. Das ist alles.«

Natürlich habe ich meine beiden Freundinnen gleich nach dem Essen bei meinen Eltern über Jasons Bitte in Kenntnis gesetzt. Und wie erwartet hat Leandra vor Freude und Aufregung über diese Neuigkeit gejohlt, während Milas Reaktion deutlich zurückhaltender ausgefallen ist. Vermutlich fragt sie sich, wie ich diesem Gefallen zustimmen konnte. Insgeheim frage ich mich das noch immer selbst.

»Erstens.« Leandra äfft meinen Tonfall nach und stützt sich mit gekreuzten Unterarmen auf ihrem überschlagenen Bein ab. »Wieso sollte dein extrem heißer Bruder nicht auch einen extrem heißen Kumpel haben?« Sie quittiert meine Gesichtsakrobatik mit einem frechen Grinsen. Dass Leandra schon seit der Schulzeit einen Crush auf meinen Bruder hat, ist kein Geheimnis. Nur ist er eben mein Bruder und somit für sie tabu. »Und zweitens, egal ob der Typ bei dir einzieht oder nur eine Nacht bleibt – das ist deine Chance, endlich mal wieder flachgelegt zu werden.«

»Lea!« Mila sieht sich mit großen Augen um, doch niemand scheint diese Worte gehört zu haben.

»Was denn? Ist doch wahr. Kairas Terminkalender ist so voll, dass sie nicht einmal Zeit hat, es sich selbst zu besorgen. Ihre Vagina muss eingestaubter sein als Kleopatras Grab.«

Milas Augen werden noch größer. Gleichzeitig hat sie sichtlich Mühe, sich ein Lachen zu verkneifen. Ich hingegen hätte meiner Freundin für ihren Spruch am liebsten ordentlich Paroli geboten. Leider kann ich das nicht, denn Leandra hat recht. Zumindest damit, dass ich seit etwa einem Jahr keinen körperlichen Kontakt zum anderen Geschlecht habe. Von dem unangenehm feuchten Gutenachtkuss von Moms erstem Verkupplungskandidaten einmal abgesehen.

»Können wir uns jetzt bitte auf den eigentlichen Grund unseres Besuchs hier konzentrieren?«, frage ich und verschränke die Arme vor der Brust. »Denn es ist völlig egal, ob dieser Cooper heiß ist. Es wird nichts zwischen uns laufen. Schließlich ist er Jasons Kumpel, und ich habe keine Lust auf ein sexuelles Abenteuer. Um mit einem Mann intim zu werden und mich fallen lassen zu können, brauche ich eine gewisse Vertrauensbasis. Und die kann mir ein Fremder nicht bieten, der nach ein paar Tagen schon wieder weiterzieht.«

Mila nickt mir anerkennend zu, und ich bin mir sicher, dass sie mir gedanklich für meine Ansprache applaudiert.

Leandra hingegen rollt mit den Augen und trinkt den Rest ihres Champagners in einem Zug.

»Genau wegen dieser Einstellung schenke ich dir jedes Jahr zu deinem Geburtstag einen neuen Vibrator.« Sie stellt das Glas auf den Tisch und erhebt sich vom Sessel, ohne auf meinen funkelnden Blick zu achten. »Und jetzt lasst uns ein paar betörende Brautjungfernkleider anprobieren, die sich möglichst schnell und unkompliziert ausziehen lassen. Denn im Gegensatz zu euch habe ich vor, mich auf der Hochzeit von einem wildfremden Typen bis zur Ekstase vögeln zu lassen.«

***

Am Samstagmorgen stehe ich frisch geduscht und bereit für den Tag in der Kochnische meiner Wohnung und sehe der Sonne dabei zu, wie sie über den Dächern meiner Heimatstadt aufgeht. In der Hand halte ich eine Tasse Kaffee, und der köstliche Duft meines Lieblingsgetränks kitzelt in meiner Nase. Zum ersten Mal seit Tagen fühle ich mich annähernd ausgeschlafen und energiegeladen. Dabei haben Mila und Leandra nach unserem erfolgreichen Aufenthalt im Brautmodenladen auch noch darauf bestanden, mich zum Essen einzuladen. Verblüffend, was ein paar zusätzliche Stunden Schlaf bewirken können.

Im Kopf gehe ich nun meine To-do-Liste für den heutigen Tag durch und erweitere sie um ein paar Punkte. Bevor ich zu meinen Eltern fahre, will ich ein wenig einkaufen. Zwar weiß ich nicht, was Jasons Kumpel gern isst, aber mehr als eine vertrocknete Zitrone, eine halbe Flasche Ketchup und ein paar Eiswürfel sollte ich im Kühlschrank haben, wenn er vor meiner Tür steht.

Ich trinke meinen Kaffee leer, stelle die Tasse in die Spüle und durchquere mein kleines Wohnzimmer. Ein Haken an der Rückseite der Wohnungstür stellt meine Garderobe dar.

Nachdem ich überprüft habe, dass man Handyakku geladen und der Klingelton auf laut gestellt ist, schlüpfe ich in meine Chucks und schnappe mir meine Umhängetasche und Jeansjacke. Bereits mit einem Fuß über der Türschwelle versuche ich, mir beides überzuwerfen.

»Hoppla!«, ruft eine dunkle Stimme, und die dazugehörige Person weicht zwei Treppenstufen hinab, wie ich erkenne, als ich erschrocken meinen Arm sinken lasse, den ich in den Jackenärmel quetschen wollte.

Vor mir steht ein Typ mit verwuschelten dunkelblonden Haaren, die unter einer verwaschenen Basecap hervorlugen. Seine grünen Augen wirken klug und in Kombination mit dem Dreitagebart, den breiten Schultern und dem karierten Hemd, über das er eine Steppweste gezogen hat, auch verwegen.

»Entschuldigung«, sage ich mit heißen Wangen und trete einen Schritt zurück durch meine offen stehende Wohnungstür. »Nach dir.« Ich deute mit der Hand auf die Treppe, von der ich annehme, dass der Typ sie gerade herauf- oder hinunterlaufen wollte, ehe ich ihm wie ein unbeholfener Ninja in den Weg gesprungen bin.

Doch der Kerl macht keinerlei Anstalten weiterzugehen. Stattdessen sieht er mich an, als würde er darüber nachdenken, in welches Kuriositätenkabinett er mich am ehesten stecken soll. Dabei richtet er den Rucksackriemen über seiner Schulter.

»Ich habe mich immer schon gefragt, wie Jason wohl als Frau aussehen würde«, sagt er plötzlich, und sein tiefes Timbre nimmt einen leichten Singsang an. Er besitzt einen Akzent, den ich nicht einordnen kann. Gleichzeitig zeichnet sich auf seinen vollen Lippen ein amüsiertes Lächeln ab, das neben zwei niedlichen Grübchen auch schneeweiße Zähne aufblitzen lässt. »Aber in meiner Vorstellung war er nie so süß.«

Völlig abgelenkt von dem grünen Meer, das mir entgegenblickt, brauche ich einen Moment, um zu begreifen, was ich soeben gehört habe. Doch schließlich macht es klick, und mir entflieht ein heiseres Keuchen.

»Scheiße! Du bist Cooper, nicht wahr?«

Mein Gegenüber nickt, und das Lächeln wandelt sich zu einem Grinsen. Einem, das Leandra als verflucht heiß betiteln würde, weil es die Augen seines Besitzers auf schelmische Weise zum Funkeln bringt.

Ich schlucke hart, denn dieses Grinsen ist verdammt gefährlich und besitzt zweifelsfrei die Macht, reihenweise Herzen zu brechen.

Außerdem – und das ist am schlimmsten – werde ich die kommenden Tage mit diesem Grinsen zusammenwohnen.

Verdammt!

Ich habe ein Problem.

KAPITEL DREI

Kaira

»Und, ähm, wie war deine Reise? Hast du gut hergefunden?« Cooper den Rücken zugewandt, stelle ich mich auf die Zehenspitzen, um zwei frische Tassen aus dem Regal über der Spüle herauszufischen. Ich bin nicht sonderlich klein und das Regal ist auf einer akzeptablen Höhe angebracht. Aber Coopers verfrühtes Auftauchen hat mich so unvorbereitet erwischt, dass ich die frischen Kaffeetassen immer tiefer fortschiebe, anstatt sie herauszuholen.

Dabei ist es für mich in Ordnung, ihn schon jetzt in meiner Wohnung zu haben. Da ich kaum Wachzeit hier verbringe, um Chaos anzurichten, herrscht stets eine gewisse Grundordnung. Jedoch, so ehrlich muss ich zu mir selbst sein, kann ich nicht festmachen, wann ich das letzte Mal staubgewischt habe.

Zudem wundert es mich, dass Cooper sich offenbar ebenso wenig an mich erinnern kann wie ich mich an ihn. Denn laut Jason sind wir uns bereits während ihrer gemeinsamen Studienzeit begegnet.

Cooper schweigt, also riskiere ich einen Blick über meine Schulter. Er steht mitten im Raum, die Hände in den Taschen seiner Jeans vergraben, und sieht sich um. Sein Trekkingrucksack hängt ihm tief auf dem Rücken, was seine Statur noch stattlicher wirken lässt.

Mir steigt Hitze in die Wangen, und ich wende mich eilig wieder dem Regal zu. Cooper besitzt diese Ausstrahlung, die den ganzen Raum einnimmt und mich schier dazu zwingt, ihn anzustarren.

Gerade als ich endlich meinen Zeigefinger in zwei Tassenhenkel geschoben habe, erfüllt Coopers Timbre das Herzstück meiner Wohnung und lässt mich innehalten.

»Die Reise war okay. Im Reisebus saß ich zwar neben einem Typen, der mir in einer Tour ins Ohr geschnarcht hat und dabei so viel Speichel auf meine Schulter gesabbert hat, dass ich ihn jetzt problemlos klonen könnte. Aber dafür war der Taxifahrer so fair, einen Schleichweg zu nehmen, anstatt an einer Baustelle vorbeizufahren, wo sich seinen Worten nach immer ein ordentlicher Stau bildet.« Nach einer kurzen Pause fügt er hinzu: »Brauchst du Hilfe? Das sieht unbequem aus, was du da machst.«

Ertappt zucke ich zusammen, ziehe hastig die Tassen hervor und stelle sie vor mich auf die kleine Theke neben der Kaffeemaschine.

»Stimmt, auf der Hauptstraße staut es sich immer. In der Regel wegen des Berufsverkehrs. Aber für heute ist eine Demonstration gegen Tierversuche in der Forschung angekündigt, deswegen war es eine gute Idee, einen anderen Weg zu nehmen. Setz dich ruhig.«

Beim Sprechen habe ich erst die eine, dann die zweite Tasse mit Kaffee gefüllt. Zum Glück ist die Kanne von heute Morgen noch halb voll.

Cooper schweigt erneut auf meine Worte, was mir verdeutlicht, was für eine Niete ich im Small Talk bin. Mit bekannten Menschen kann ich mich stundenlang unterhalten. Aber bei Fremden stelle ich mich jedes Mal an, als käme ich von einem fernen Planeten.

»Wie … ähm … trinkst du deinen Kaffee?«, frage ich und wende mich mit glühenden Wangen zu Cooper herum. Mein einziger Trost ist, dass ich Jasons Kumpel nur wenige Tage beherbergen muss. Wenn ich Glück habe, ist er in dieser Zeit so viel unterwegs, dass ich ihn kaum zu Gesicht bekomme.

Aber dafür braucht er einen Schlüssel.

Ansonsten sitzt Cooper hier fest, und ich darf mir bis in alle Ewigkeit Jasons Gemecker anhören, was ich für eine schlechte Gastgeberin bin.

Cooper sieht mich an, die moosgrünen Augen amüsiert aufblitzend, während seine Mundwinkel erneut diese zwei Grübchen zum Vorschein bringen.

Verflixt, der Typ ist niedlich!

Obwohl ich es niemals vor Leandra zugeben würde, scheint etwas an ihrer Theorie dran zu sein, dass mein Bruder attraktive Freunde besitzt.

»Ähm, sorry, was hast du gesagt?« Eine neue Welle Scham kriecht meinen Hals empor, und ich schiebe meine Hände in die Bauchtasche meines Hoodies. Dass ich Coopers Erwiderung ausgerechnet wegen dieser Art von Gedanken überhört habe, setzt der Peinlichkeitstorte die Kirsche auf.

»Ich sagte, dass ich meinen Kaffee am liebsten mit viel Abstand trinke.« Cooper lässt seinen Rucksack zu Boden sinken und setzt sich auf die Couch. Seine langen Beine verschwinden zum Teil unter dem niedrigen Couchtisch, der sowohl aus Platz- als auch aus Bequemlichkeitsgründen gleichzeitig als Esstisch dient.

»Damit meine ich, dass ich keinen Kaffee mag«, sagt er, als ich ihn noch immer ansehe. »Sorry, ich vergesse immer, dass nicht jeder meinen Humor versteht. Jedenfalls trinke ich am liebsten Grüntee mit einer Scheibe Zitrone und einem Schuss Honig. Im Notfall geht aber auch jede andere Teesorte.«

Immer noch perplex starre ich Cooper an. Zwar habe ich von Menschen gehört, die keinen Kaffee mögen. Aber ich bin noch nie jemandem begegnet. In meinem Familien- und Freundeskreis verehren alle Kaffeebohnen.

»Tee …«, wiederhole ich und durchforste meinen Verstand, ob ich die einsame Packung Kamillentee, die ich mir einst wegen eines Magen-Darm-Infektes gekauft habe, noch besitze oder ob sie bei meiner letzten Entrümpelungsaktion in den Mülleimer gewandert ist.

Cooper scheint mir meine Überlegungen vom Gesicht abzulesen, denn er stößt ein leises Lachen aus, ehe er sich zu seinem Rucksack vorbeugt und darin herumwühlt. Ich versuche währenddessen, das Gefühl einzuordnen, das der warme Klang in mir auslöst.

»Mach dir keinen Stress, ich hab noch etwas Tee bei mir.« Cooper richtet sich auf und hält einen kleinen Leinenbeutel mit einer dunkelroten Kordel in die Höhe.

High-Class-Tee aus biologischem Anbau.

Dankbar für die Gelegenheit, meinen unruhigen Fingern etwas zu tun zu geben, wende ich mich wieder der Küchentheke zu. Ich nutze den Wasserkocher eigentlich nur, um mir während meiner Periode eine Wärmflasche zu machen. Aber auch wenn ich mich nicht erinnern kann, wann ich das Ding das letzte Mal entkalkt habe, ist es noch immer besser, als Cooper nichts zu trinken anbieten zu können.

Ich gieße den Inhalt seiner Kaffeetasse zurück in die Kanne und stelle das schmutzige Geschirr zu meiner Tasse von heute Morgen in die Spüle. Anschließend befülle ich den Wasserkocher und schalte ihn ein.

Dabei bilde ich mir ein, Coopers Blick auf mir zu spüren.

Mein Puls beschleunigt sich, weshalb ich mich beeile, eine frische Tasse aus dem Regal zu fischen und mich wieder zu Cooper herumzudrehen.

»Wo … ähm … wo ist eigentlich dein Hund?«, frage ich, die Finger krampfhaft um das Porzellan zwischen ihnen geschlungen. Ich hoffe inständig, dass Cooper mich nicht für unhöflich hält. Nur fällt es mir gerade ungemein schwer, mich entspannt zu unterhalten, weil ein Teil meines Verstandes dazu übergegangen ist, meine To-do-Liste für den heutigen Tag zu aktualisieren. Meinen geplanten Einkauf muss ich jetzt nach dem Besuch bei meinen Eltern erledigen, was meine Lernzeit reduziert und mich einige Extranerven kosten wird. Die Geschäfte sind am Samstagnachmittag immer supervoll.

Hinzu kommt, dass ich bei meiner Rückkehr unbedingt die Wohnung saugen, die Gästebettwäsche heraussuchen sowie mein Badezimmer umräumen muss, damit Cooper beim Zähneputzen nicht auf meine Tampons starrt.

Das Nacharbeiten des verpassten Lernstoffs verschiebe ich dann auf morgen. Ebenso wie die Vorbereitung der Tutorien.

»Du hast doch einen Hund, oder?«, hake ich nach, als Cooper mich mit zusammengezogenen Brauen ansieht. Das stetig lauter werdende Rauschen des Wasserkochers zwingt mich, meine Stimme anzuheben.

»Jason sagte, dass du wegen deines Hundes nicht ins Hotel kannst oder willst.«

Coopers Lippen teilen sich für eine Erwiderung, doch ein penetrantes Klingeln, das aus meiner Hosentasche kommt, unterbricht ihn. Es ist der Wecker, der mich daran erinnert, mich auf den Weg zu meinen Eltern zu machen, damit ich nicht zu spät komme – eine Todsünde im Hause Morales.

Hastig stelle ich Coopers Tasse auf die Theke hinter mir, hole mein Handy hervor und schalte den Wecker aus. Anschließend stecke ich das Telefon weg und stoße mich von der Küchentheke ab.

Im Schrank unter der Spüle hole ich einen der unzähligen To-go-Becher heraus, die sich dort über die letzten Monate angesammelt haben, und fülle diesen mit meinem Kaffee. Ich bin so abhängig von diesen Dingern, dass ich mich gar nicht mehr daran erinnern kann, wie mein Leben ohne sie ausgesehen hat.

»Wie auch immer«, sage ich und gehe mit meinem zweiten flüssigen Frühstück auf die Wohnungstür zu. Meine Jacke hängt samt Tasche wieder brav an ihrem Platz am Garderobenhaken. »Falls das arme Tier irgendwo draußen festgebunden ist, kannst du es gern hereinholen. Meine Vermieterin ist in dieser Hinsicht total entspannt. Sie hat selbst einen Hund, und soweit ich weiß, besitzt ein Großteil der Nachbarn Tiere.«

Um nicht erneut in den Hausflur zu stolpern und mit jemandem zusammenzustoßen, schlüpfe ich dieses Mal sofort in meine Jeansjacke, ehe ich mir den Gurt meiner Umhängetasche über den Kopf ziehe. Dabei klimpert mein Schlüsselbund leise. Eine melodiöse Erinnerung daran, dass ich Cooper noch etwas geben will.

»Ich muss jetzt los zu meinen Eltern«, sage ich und hole den Schlüsselbund aus der Tasche. Beim Sprechen fummle ich sowohl den Haustür- als auch den Wohnungsschlüssel vom Ring. »Ich hoffe, das ist okay für dich. Normalerweise würde ich dich niemals einfach so zurücklassen, aber ich hatte erst nächste Woche mit dir gerechnet und muss noch ein paar Dinge erledigen. Fühl dich trotzdem ganz wie zu Hause.« Ich werfe Cooper die beiden Schlüssel zu. Geschickt fängt er diese auf. »Bleib hier und guck etwas fern, oder geh raus und erkunde die Gegend. Ganz wie du magst. In zwei, maximal drei Stunden bin ich zurück. Dann habe ich Tee für dich dabei. Und Honig. Und Zitronen.« Mein Lächeln wird mit jedem Satz verkrampfter, was vor allem daran liegt, dass Cooper immer irritierter wirkt.

»Wenn dir noch etwas einfällt, was du die nächsten Tage brauchst, sag mir einfach Bescheid, ich kaufe eh später ein. Wobei … dafür brauchst du wohl meine Nummer, nicht wahr?« Ein verlegenes Lachen perlt mir über die Lippen, und meine Wangen werden ein weiteres Mal warm. Hoffentlich denkt Cooper nicht, dass ich mich ihm aufdrängen will. Er soll bloß die Möglichkeit haben, mich im Notfall kontaktieren zu können.

»Wenn Jason dir meine Nummer noch nicht gegeben hat, tippe ich sie dir rasch ins Handy, wenn du magst. Für alle Fälle.« Ich verberge meine untere Gesichtshälfte im Kragen meiner Jacke.

Wie macht Leandra das nur? Sie gibt ständig irgendwelchen Typen ihre Nummer.

»Du willst mein Handy?« Cooper stiert mich mit schwer zu deutender Miene an. Als ich daraufhin mit einer kruden Mischung aus Nicken, Kopfschütteln und Schulterzucken reagiere, präsentiert Cooper wieder dieses verflucht schöne Lächeln.

»Das könnte zu einem Problem werden. Denn ich habe kein Handy.«

»Wie bitte?« Nun bin ich es, die ihr Gegenüber anstarrt. »Du hast kein Handy?«

Cooper schüttelt grinsend den Kopf.

Mir schießen spontan ein Dutzend Fragen durch den Kopf, doch mir will keine über die Lippen kommen – unter anderem weil mich die Antwort darauf nichts angeht. So unvorstellbar ich den Gedanken auch finde, Cooper hat sicherlich triftige Gründe für diese Entscheidung. Und selbst wenn nicht, wer bin ich, darüber zu urteilen?

»Und ich habe auch keinen Hund«, sagt Cooper. Im Gegensatz zu mir scheint ihn die Situation zu amüsieren. »Jason muss bei unserem letzten Telefonat etwas missverstanden haben. Dexter, der Hund, von dem ich ihm erzählt habe, gehört zwei Bekannten von mir. Ich habe während ihrer Flitterwochen auf ihn aufgepasst. Trotzdem freut es mich zu hören, dass du kein Problem mit einem vierbeinigen Reisebegleiter hättest. Menschen, die Tiere mögen, sind mir gleich sympathisch.«

Obwohl ich gedanklich noch immer bei der Neuigkeit feststecke, dass Cooper nicht nur in Bezug auf sein favorisiertes Heißgetränk in meiner Welt ein Einhorn darstellt, verursachen seine Worte ein warmes Gefühl in meiner Brust.

Doch der Moment der Verbundenheit wird von einer bitteren Note durchzogen.

Ich habe zugestimmt, Jasons Kumpel bei mir übernachten zu lassen, weil ich dachte, dass er wegen seines Haustiers nicht so leicht ein Hotelzimmer findet. Dass es besagtes Haustier überhaupt nicht gibt und Cooper deshalb problemlos woanders übernachten könnte, stößt mir sauer auf.

Leider ist es für einen Rückzieher zu spät. Ich habe Jason meine Unterstützung zugesagt und will Cooper, jetzt, da er bereits in meinem Wohnzimmer steht, nicht rausschmeißen.

Trotzdem werde ich Jason noch einmal auf die Sache ansprechen. So einfach lasse ich ihn damit nicht davonkommen.

Das charakteristische Ploppen des Wasserkochers, der sich nach Erreichen der Temperatur von selbst ausschaltet, reißt mich aus meinen Gedanken. Cooper scheint es ähnlich zu gehen. Er schiebt die beiden Schlüssel in die Tasche seiner Weste, ehe er sich langsam von der Couch erhebt und auf die Küchennische zutritt.

»Mach dir wegen mir keinen Kopf, Kaira.« Er öffnet den kleinen Leinenbeutel in seiner Hand. An einer schmalen Kette zieht er eine metallische Kugel mit winzigen Löchern hervor. Nachdem er das Tee-Ei geöffnet hat, füllt er ein paar der dunkelgrünen getrockneten Blätter hinein. »Wie ich bereits sagte, habe ich im Bus kaum Schlaf bekommen. Ich werde mir also nach dieser Tasse Tee eine heiße Dusche und anschließend eine Mütze Schlaf gönnen, wenn das in Ordnung ist.«

Mit ruhigen, ja, regelrecht bedächtigen Bewegungen führt er das Tee-Ei in die Tasse und übergießt dieses mit heißem Wasser. Der Anblick hat etwas Meditatives an sich.

»Ist gut«, meine ich, eine Hand bereits an der Türklinke. Ich weiß, dass die Zeit drängt, dennoch fällt es mir schwer, die Wohnung zu verlassen. Zwar halte ich Jasons Kumpel nicht für einen Perversling, der meine Unterwäscheschublade in meiner Abwesenheit durchwühlt. Dennoch ist es ein merkwürdiges Gefühl, jemand mir Fremdes allein in meiner Wohnung zurückzulassen. Vor allem da er kein Handy besitzt, um mich zu kontaktieren.

Um mein Zögern zu kaschieren, sage ich: »Wenn doch was sein sollte, klingle einfach bei meiner Vermieterin Mrs Darcy. Sie wohnt unter mir und hat meine Handynummer.«

Cooper nickt.

Nun gibt es für mich also keinen Grund mehr hierzubleiben. Dennoch …

»Wenn ich zurückkomme, kann ich uns was zu essen kochen«, höre ich mich sagen. »So als Willkommensgruß. Viel hat mir Jason zwar nicht über dich verraten, aber wer weiß, vielleicht decken wir noch das ein oder andere Missverständnis zwischen euch auf.«

Nun hebt Cooper den Kopf. Sein Blick trifft meinen, und einen Augenblick lang scheint die Zeit stehen zu bleiben. Erst als sich seine Lippen zu diesem charmanten Lächeln verziehen, finden sowohl mein Herzschlag als auch das Raum-Zeit-Gefüge zurück in ihren Rhythmus.

»Du willst für mich kochen?«, fragt Cooper und klingt dabei überraschter, als ich erwartet hätte. Doch ehe ich mir Gedanken darüber machen kann, ob Cooper mein Angebot anders aufgefasst hat, als es gemeint ist – nämlich als nette Geste –, nickt er.

»Ja. Okay. Warum eigentlich nicht? Lass uns zusammen essen. Nur verrate Jay nicht, dass wir ein Date haben, einverstanden? Er würde mir den Kopf abreißen.« Mit einem Augenzwinkern wendet sich Cooper wieder seinem Tee zu, während ich endlich aus der Wohnung flüchte, den stetig wachsenden Zeitdruck im Nacken.

Doch auf meinem Weg zum Auto rattert es zwischen meinen Schläfen. Was zum Henker war das? Meint Cooper es ernst, dass wir ein Date haben?

Und was halte ich davon? Zugegeben, Coopers Lächeln und sein Augenzwinkern haben mir ein warmes Kribbeln in der Brust verursacht. Aber seine Aussage, dass ich Jay nichts verraten soll, hat mir einen Stich versetzt.

Über mich selbst verärgert, schüttle ich den Kopf und damit die Gedanken von mir ab. Es spielt keine Rolle, ob das heute ein richtiges Date ist oder welche widersprüchlichen Empfindungen Cooper in mir auslöst. In wenigen Tagen wird er verschwinden, und ich habe meine Wohnung wieder für mich allein. Bis es so weit ist, werde ich ihm einfach bestmöglich aus dem Weg gehen. Denn mit jemandem unter einem Dach zu wohnen, der mich mühelos aus dem Konzept bringen kann, bedeutet Drama. Etwas, das ich ganz und gar nicht in meinem Leben gebrauchen kann.

KAPITEL VIER

Cooper

Ein unangenehmer Druck zwischen meinen Lendenwirbeln lotst mich aus einem viel zu kurzen Schlaf.

Wo bin ich?

Die weiße, schnörkellose Decke mit dem Spinnennetz in der linken Ecke gehört jedenfalls nicht dem luxuriösen Gästezimmer, in dem ich die letzten Wochen übernachten durfte.

Aber zu wem gehört sie dann?

Ich sehe mich in dem überschaubaren Wohnzimmer um, von dem weitere Räume abgehen. Ein Fernseher steht auf einem niedrigen Sideboard, ein schmales Regal, das bis oben hin mit Büchern vollgestellt ist, an einer Wand. Die kleine Kochnische besteht aus einem Spülbecken, einem Zwei-Kochplatten-Herd, einer Kaffeemaschine, einem Wasserkocher und einer Mikrowellen-Backofen-Kombi. Die Zweisitzer-Couch, auf der ich gepennt habe, vollendet gemeinsam mit dem winzigen Kühlschrank das Interieur.

Da fällt es mir wieder ein.

Ich bin in Portland.Bei Kaira Morales.

Jasons kleiner Schwester.

Wobei sich der Begriff »klein« maximal auf ihre Körpergröße bezieht – und selbst das nur, wenn man sehr pingelig ist. Denn obwohl Kaira mir gerade einmal bis zum Kinn reicht, ist sie alles andere als klein.

Und definitiv entspricht sie nicht dem Bild, wie ich mir eine kleine Schwester vorstelle.

Mit den dunklen Locken, den langen Wimpern um die strahlend blauen Augen und dem herzförmigen Gesicht mit Sommersprossen auf der spitzen Nase sieht sie unglaublich niedlich aus.

Und erst ihre Lippen …

Sie sind so voll und sehen so weich aus, dass ich sie am liebsten berühren würde.

Ich reibe mir mit beiden Händen über das Gesicht. Stopp! So will ich nicht über Kaira denken. So darf ich nicht über sie denken. Abgesehen davon, dass sie Jasons Schwester ist, wohnen wir jetzt zusammen. Es wäre eine schlechte Idee, dieses Arrangement zu verkomplizieren – auch wenn es mich in den Fingern juckt, Kaira erneut in Verlegenheit zu bringen, nur um ein weiteres Mal diese niedliche Röte auf ihre Wangen zu zaubern. So wie in dem Moment, als sie mir ihre Handynummer geben wollte.

Gott, ich habe mir auf die Zunge gebissen, um sie bei ihrem Gestammel nicht zu unterbrechen. Denn Jason hat mir Kairas Nummer sofort gegeben, als feststand, dass sie mich bei sich aufnimmt. Aber weil ich meine neue Mitbewohnerin viel zu anziehend finde, habe ich ihr lieber zugehört, anstatt sie aufzuklären.

Über mich selbst den Kopf schüttelnd, erhebe ich mich von der Couch. Mein Magen fühlt sich gefährlich leer an – was kein Wunder ist, wenn ich bedenke, dass meine letzte Mahlzeit Stunden zurückliegt und aus einem aufgeweichten Bahnhofsautomatensandwich bestand.

Aber bevor ich mich auf die Suche nach einer anständigen Mahlzeit mache, muss ich mir die Zähne putzen und duschen. Mit meinem Kulturbeutel sowie frischer Kleidung begebe ich mich in Richtung Badezimmer. Kairas Wohnung ist so klein, dass ich es schnell gefunden habe.

Unter der Dusche putze ich mir die Zähne und erlaube es meinen Gedanken, zurück zu Kaira zu gleiten. Meinte sie nicht, dass sie nur kurz weg ist? Zwei, maximal drei Stunden? Laut der Wanduhr in der Kochnische ist es aber bereits nach drei Uhr nachmittags. Demnach ist sie inzwischen seit über fünf Stunden unterwegs.

Generell ist das kein Problem für mich, immerhin soll sich Kaira trotz meiner Anwesenheit frei fühlen. Dennoch wäre es gut zu wissen, ob sie nur aufgehalten wurde und jeden Moment zurückkommt oder ob sie zu dem Typ Mensch gehört, der Verabredungen eher locker sieht. Laut Jason ist Kaira ständig unterwegs, weshalb er mir prophezeit hat, dass ich sie selten zu Gesicht bekommen werde.

So ist es am besten!, rufe ich mir in Erinnerung und trete aus der Dusche. Zwar hat Kaira gesagt, dass sie nach ihrer Rückkehr kochen will, aber nach meiner deplatzierten Date-Aussage ist es nur von Vorteil für unser weiteres Zusammenwohnen, wenn es nicht zu diesem gemeinsamen Mittagessen kommt.

Künftig muss ich deutlich besser darauf achten, was mir über die Lippen kommt.

Wieder vollständig angezogen, trete ich aus dem Badezimmer. Kaira scheint immer noch unterwegs zu sein, weshalb ich in meine Stiefel schlüpfe und meine Weste über mein Langarm-Shirt ziehe. Meine Haare sind noch nass, aber trotz der Seattle-Seahawks-Basecap werden sie schon trocknen.

Mit ein paar Geldscheinen in der Tasche verlasse ich die Wohnung. In den letzten Monaten bin ich viel herumgekommen. Aber ich war noch nie in Portland, Oregon. Mal sehen, was die Stadt zu bieten hat.

***

Es ist schwer zu sagen, was ich von Portland halte. Denn es ist ganz anders als Seattle, wo ich geboren und aufgewachsen bin. Anstatt des typischen Großstadtflairs, der aus verpesteter Luft, lautstarkem Verkehrslärm und hektischem Menschentreiben besteht, macht Portland seinem Ruf als umweltfreundlichste Großstadt Amerikasalle Ehre. Überall grünt und blüht es, breite Fahrradwege entzerren den Verkehr, und dank einer überraschend hohen Anzahl an Elektroautos riecht die Luft frischer.

So schlendere ich, erfüllt von tiefer Entspannung, durch die von Bäumen gesäumten Straßen, genieße die Septembersonnenwärme und lasse mich von der Kreativität Kunstschaffender umhüllen oder von den köstlichen Düften der unzähligen Foodtrucks anlocken, die ebenso bunt und schrill aussehen wie ihre Besitzer. Ich habe weder ein konkretes Ziel noch eine Ahnung, wie lange ich unterwegs sein werde. Aber genau das mag ich so, wenn ich neu an einen Ort komme und meinem Erkundungsdrang die Kontrolle überlasse.

Die Ungewissheit, wen ich treffen und was ich erleben werde, macht für mich Freiheit aus.

»Du bist neu hier, stimmt’s?« Eine tiefe, mir unbekannte Stimme weht an mein Ohr und zieht meine Aufmerksamkeit auf sich. Ich habe gerade die Informationstafel des Washington Parksstudiert, der mich eher an einen weitläufigen Wald mit einem Zoo, Museen und einer ganzen Reihe von Gärten erinnert.

»Was hat mich verraten?« Lachend nähere ich mich dem Mann im Foodtruck. Der Verkäufer, dessen Stand wie ein altmodischer Eiswagen aussieht, ist um die fünfzig. Seine grau melierten schwarzen Haare sind kurz geschnitten, die dunklen Augen stechen unter buschigen Augenbrauen hervor. Er trägt ein farbenfrohes und weit geschnittenes Oberteil, das sich an den Armen bauscht.

Ich kenne mich nicht sonderlich gut mit afrikanischer Traditionskleidung aus, aber hier erkenne ich zweifelsfrei einen Boubou.

»Nichts«, erwidert der Verkäufer und lacht herzhaft. »Okay … Alles.«

Grinsend besehe ich mir die Speisekarte, während ich den köstlichen Duft inhaliere, der mir trotz vollem Magen das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt.

»Senegalesische Spezialitäten?«, frage ich. Einzelne Begriffe davon habe ich schon einmal gehört.

Der Verkäufer nickt anerkennend. »Nicht schlecht. Die wenigsten Leute erkennen das. Und noch weniger interessiert es. Also? Was darf ich dir anbieten? Chicken Yassa? Mafé? Pastels?«

»Um ehrlich zu sein, bin ich pappsatt.« Ich reibe mir über den vollen Bauch. »Aber die Versuchung ist groß, das muss ich zugeben. Es riecht fantastisch.«

»Das will ich doch meinen«, brummt der Verkäufer, der sich auf seine Ellbogen gestützt aus dem Verkaufsfenster lehnt. »Alles Familienrezepte meiner Maman – Gott hab sie selig. Sie hat sie mir mitgegeben, als ich vor zwanzig Jahren nach Amerika kam. Sie meinte, wenn ich sie schon wegen einer anderen Frau verlasse, dann soll ich wenigstens dafür sorgen, dass ihre Enkel auf diese Weise an ihre Oma denken.«

»Du bist der Liebe wegen nach Amerika gekommen?«

Der Verkäufer nickt. »Meine Frau Trudy hat in Senegal ein Auslandssemester eingelegt. Sie hat sich sofort in das Land verliebt, sagt sie. Aber eigentlich meint sie damit, dass sie sich sofort in mich verliebt hat.« Bellend lacht er los, und ich falle mit ein.

»Cooper«, sage ich nach einem Moment und reiche dem Verkäufer die Hand.

»Lamine«, antwortet dieser und ergreift mit seiner Pranke meine Finger. »Freut mich.«

»Ebenfalls«, erwidere ich.

»Also, Cooper. Wenn du schon mein Essen verschmähst, verrate mir doch wenigstens, was deine Geschichte ist. Was führt dich nach Portland? Wie ein klassischer Tourist siehst du jedenfalls nicht aus.«

»Ach, nein?« Ich reibe mir lachend den Nacken, als Lamine den Kopf schüttelt. »Dann muss ich wohl noch mal mit meiner Stylistin reden.« Nach einem Moment der Stille, in dem Lamines Blick auf mir haftet, füge ich hinzu: »Wärst du sehr enttäuscht, wenn ich sage, dass ich keine Geschichte habe? Dass ich tatsächlich nur unterwegs bin, um die Stadt zu erkunden?«

Lamine mustert mich noch eingehender, dann richtet er sich zu seiner vollen Größe auf. Er ist ein Baum von einem Mann.

»Nein, enttäuscht wäre ich nicht.« Lamine verschränkt die Arme vor der Brust. »Aber ich würde dich fragen, wieso du mir ins Gesicht lügst.«

Erneut entlockt mir Lamine ein Lachen. Ich mag den Kerl.

»Gut gekontert«, sage ich. »Und ja, du hast recht. Ich bin kein klassischer Tourist. Ich bin auf der Durchreise und hier, um einen Kumpel zu besuchen.«

»Das ist alles?« Lamine zieht die buschigen Brauen zusammen. »Mehr bekomme ich nicht?« Einige Sekunden ziehen ins Land, ehe Lamine seufzt und sich seine Haltung entspannt. »Okay, für den Moment akzeptiere ich das. Aber sei dir gewiss, Cooper, lange gebe ich mich damit nicht zufrieden. Ich sehe in deinen Augen, dass du mehr zu erzählen hast. Und ich liebe tragische Geschichten.« Nun wieder grinsend, stützt sich Lamine erneut auf die Ellbogen ab und lässt seinen Blick über die abgedeckten Warmhalteplatten unter sich gleiten. »Und jetzt sag mir, Cooper, was soll ich dir einpacken? Du magst zwar gerade satt sein, aber spätestens morgen wirst du wieder Hunger bekommen. Und wie schade wäre es, wenn du mir bei deinem nächsten Besuch hier nicht bestätigen könntest, dass die Gerichte meiner Maman ebenso köstlich schmecken, wie sie riechen?«

KAPITEL FÜNF

Kaira

Mein Kopf ist leer, meine Beine sind bleischwer, und mein Magen scheint sich vor Hunger um seine eigene Achse zu drehen.

Kurz gesagt: Ich kann es kaum erwarten, mich auf die Couch zu werfen, sämtliche Speisen meines Lieblings-Thailänders zu bestellen und die Wartezeit bis zur Lieferung mit alten Scrubs-Folgen zu überbrücken.

Wenn ich Glück habe, verleiht mir diese Kombination genügend Energie, um wenigstens noch ein bisschen zu lernen, ehe ich auf der Couch einschlafe.

Vor der Haustür angekommen, krame ich in meiner Umhängetasche nach dem Schlüsselbund. Das vertraute Klimpern der Anhänger stimuliert meine Nerven, doch der Effekt lässt sofort nach, als ich erkenne, dass etwas fehlt.

Meine Haustür- und Wohnungsschlüssel.

Abgesehen von den unzähligen Anhängern, die meine Familie mir im Laufe der Jahre geschenkt hat, befinden sich nur noch mein Auto- und Briefkastenschlüssel sowie der Schlüssel für das kleine Kellerabteil, das zu meiner Wohnung gehört, am Schlüsselring.

Glühende Panik durchströmt mich. Ich habe keine Ahnung, wie das passieren konnte und wo ich die fehlenden Schlüssel verloren habe.

Sie können buchstäblich überall sein.

Bei meinen Eltern angekommen, habe ich als Erstes den Frühstückstisch gedeckt, weil Mom in einem Telefonat mit ihrer Schwester Lucia festhing, meine Geschwister jedoch kurz vor dem Hungertod standen. Deswegen haben sie, während ich abgelenkt war, meine Tasche nach etwas Essbarem durchforstet und sind dabei mit meinen Sachen nicht gerade zimperlich umgegangen.

Nach dem Essen – und einer ordentlichen Standpauke meinerseits – hat Mom mir dann den neuesten Tiktok-Tanz beigebracht. Nach rund zwei Stunden hatten wir endlich eine Aufnahme im Kasten, die ihren Ansprüchen genügte.

Leider bin ich nach dem Dreh in die Schusslinie der Zwillinge geraten, die mich – weiß der Geier, wie ihnen das gelungen ist – dazu überredet haben, ihnen bei einem Sozialkundeprojekt für die Schule zu helfen. Nach wie vor frage ich mich, worum es dabei geht. Laut Sofia war es von essenzieller Wichtigkeit, mir vor laufender Handykamera kiloweise Make-up ins Gesicht zu kleistern, während Abigail jeden ihrer Pinselstriche wie bei einer Dokumentation genauestens kommentierte.

Meine Tasche lag erst wieder in meinen Händen, nachdem die Prozedur überstanden war und ich mir die zentimeterdicke Farbe abgewaschen hatte.

Auf meinem Weg hinaus hat mich Mom abgefangen und mich gebeten, sie »kurz« in die Stadt zu fahren. Zwar besitzt sie selbst einen Führerschein, aber weil Dad der Vertragswerkstatt nicht traut und die jüngst durchgeführte Inspektion überprüft hat, springt der Familienwagen nicht mehr an.