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Hochspannung garantiert! Im Kampf für die Wahrheit kommt Liv der Liebe gefährlich nah. Seit seiner Verurteilung hat er beharrlich geschwiegen, doch jetzt erzählt er ihr seine Geschichte: Die ambitionierte Studentin der Journalistik Liv beschließt, ihre Abschlussarbeit über einen der aufsehenerregendsten Kriminalfälle der jüngeren Zeit zu schreiben: den Mord an der beliebten und erfolgreichen Influencerin Sarah Mills. Der Fall scheint glasklar, der Mörder hat gestanden und sitzt seine Strafe bereits ab. Nach dem Prozess hat er sich nicht mehr zu dem Fall geäußert. Bis heute. Überraschenderweise lässt er sich auf Interviews mit Liv ein. Je öfter sie mit ihm spricht, desto mehr zweifelt Liv an der offiziellen Version der Geschichte. Und sie beginnt sich zu fragen, ob es nur noch Angst ist, die ihr Herz höherschlagen lässt, sobald sie das Gefängnis betritt. Romance hinter Gittern: "Dangerously Close" erzählt von jenem unwiderstehlichen Prickeln, das nicht sein darf. - Die starke, ambitionierte Protagonistin Liv agiert fernab von Rollenklischees und begeistert mit ihrer Entschlossenheit und ihrem Mut Leser*innen ab 16 Jahren, die Crime-Romance-Geschichten lieben. - Du zählst zu den New Adults? Du magst Tropes wie "Forbidden Love" und "Morally Grey Characters"? Dann ist dieser aufregende Mix aus Romance und Thrill perfekt für dich. - Spannender Twist: Wenn du spürst, dass die offizielle Version der Geschichte nicht die wahre ist, gerät die Grenze zwischen Gut und Böse ins Wanken. - Autorin Lana Rotaru schreibt seit Jahren romantische Bücher für junge Erwachsene – dies ist ihr erster Gefängnisthriller.
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Seit seiner Verurteilung hat er beharrlich geschwiegen, doch jetzt erzählt er ihr seine Geschichte: Die ambitionierte Studentin der Journalistik Liv beschließt, ihre Abschlussarbeit über einen der aufsehenerregendsten Kriminalfälle der jüngeren Zeit zu schreiben: den Mord an der beliebten und erfolgreichen Influencerin Sarah Mills. Der Fall scheint glasklar, der Mörder hat gestanden und sitzt seine Strafe bereits ab. Nach dem Prozess hat er sich nicht mehr zu dem Fall geäußert. Bis heute. Überraschenderweise lässt er sich auf Interviews mit Liv ein. Je öfter sie mit ihm spricht, desto mehr zweifelt Liv an der offiziellen Version der Geschichte. Und sie beginnt sich zu fragen, ob es nur noch Angst ist, die ihr Herz höherschlagen lässt, sobald sie das Gefängnis betritt.
Für dich.
Wenn du fest an dich selbst glaubst, wirst du niemals daran zweifeln, dich in die richtige Person verliebt zu haben.
Liebe*r Leser*in,
wenn du traumatisierende Erfahrungen gemacht hast, können einige Passagen in diesem Buch belastend sein. Sollte es dir damit nicht gut gehen, sprich mit einer Person deines Vertrauens. Auch hier kannst du Hilfe finden: www.nummergegenkummer.de
Schau gern hinten nach, dort findest du eine Auflistung der potenziell belastenden Inhalte in diesem Buch. (Um keinem*r Leser*in etwas zu spoilern, steht der Hinweis hinten im Buch.)
Olivia
Die jährlich stattfindende Spendengala der HRA, der Human Rights of America, hatte schon viele Leben verändert. Hauptsächlich von jungen Frauen und Männern, die allein keinen Weg aus ihren gewalttätigen Beziehungen fanden oder die sich aufgrund vermeintlicher Liebe in die organisierte Prostitution oder den Drogenhandel hatten zwingen lassen.
Doch es gab auch dieses andere Beispiel.
Das von Sarah Mills.
Auch ihr Leben hatte sich durch die Spendengala radikal verändert.
Jedoch nicht zum Guten.
Und genau dieser Gedanke spukte mir seit Tagen durch den Kopf, weshalb ich heute Abend gar nicht hier sein wollte. Meine Eltern hatten mich dazu überredet, und ich konnte ihnen Wünsche nur schwer abschlagen.
»Die Colemans haben wirklich alle Register gezogen«, sagte Mom und lotste mich damit aus meinen Überlegungen. Wir standen an einer der Bars, die im barocken Ballsaal verteilt waren, umgeben von Prunk und Extravaganz, die mich schier zu erschlagen drohten. Geschwungene Linien und verspielte Blüten in Gold rankten sich kunstvoll an Kronleuchtern und Kerzenständern. Opulente Goldspiegel zierten die cremeweißen Wände mit samtiger Textur, und ein auf Hochglanz polierter Marmorboden verschwand beinahe unter gigantischen Blumenbouquets in noch größeren Vasen und dekadent dekorierten Tischarrangements.
Ja, der Saal, der jedes Jahr für diese Veranstaltung gemietet wurde, strahlte noch heller und schöner als sonst. Fast so, als wollte er sich von der düsteren Vergangenheit distanzieren, die seit zwei Jahren an ihm haftete.
Mein Blick glitt weiter und blieb an den geladenen Gästen meiner Heimatstadt Wilmington hängen. Alle waren in feinste Haute Couture oder maßgeschneiderte Designeranzüge gekleidet und nippten an ihren Champagnergläsern. Sie unterhielten sich, als wäre ich die Einzige, die seit Tagen unentwegt an das Unglück denken musste, das sich hier ereignet hatte. Aber vielleicht war es so. Menschen tendierten dazu, die Vergangenheit hinter sich zu lassen und nach vorn zu blicken. Besonders, wenn die Vergangenheit derart düster war.
»Da sind Clarence und Mercedes«, sagte Mom über die Hintergrundmusik hinweg und winkte mit ihrer Clutch einem untersetzten Mann um die sechzig zu, der soeben mit einer hochgewachsenen Frau in einem mitternachtsblauen Kleid den Saal betrat.
Clarence und Mercedes Henson waren mit meinen Eltern befreundet, seit ich denken konnte. Er war ein renommierter Staatsanwalt und sie Herzchirurgin. Ich war mit ihrer Tochter Josephine auf die Rosehill Prep gegangen, eine Privatschule, die ihre Schüler auf die Aufnahme an Elitecolleges und -universitäten vorbereitete. Leider war unser Kontakt nach unserem Schulabschluss eingeschlafen. So war nun mal der Lauf der Dinge, wenn die eine in Rhode Island auf die Brown University ging, die andere aber in Delaware geblieben war, um dort Journalismus zu studieren.
Ob mein nächster Artikel für den Delaware Inquire wohl darüber handeln sollte? Wieso es Menschen so schwerfiel, Kontakt über weite Distanzen aufrechtzuerhalten?
Auch wenn diese Geschichte vermutlich keinen Pulitzer-Preis gewinnen würde, war der Ansatz besser als jeder andere, der mir in den vergangenen Wochen in den Sinn gekommen war. Allmählich musste ich meine Schreibblockade wirklich überwinden. Auch Mrs Williams, die Professorin, die meine Masterthesis betreute, wurde langsam ungeduldig.
Ich sollte ihr ein Thema vorschlagen. Aber ich konnte mich nicht entscheiden.
Es war wie verhext.
Jedes Mal, wenn ich dachte, endlich etwas gefunden zu haben, worüber ich schreiben wollte, verflog mein Interesse kurz darauf wie Rauch im Wind.
Mom und Dad beobachteten die Hensons dabei, wie sie sich einen Weg in unsere Richtung bahnten. Dabei legte Dad Mom einen Arm um die Hüfte und zog sie noch ein Stück näher an sich. Es schien, als könnte er selbst nach über fünfundzwanzig Ehejahren keinen Millimeter Distanz zwischen sich und seiner Frau ertragen.
Wenn du fest an dich selbst glaubst, wirst du niemals daran zweifeln, dich in die richtige Person verliebt zu haben, hatte mir Dad einst geantwortet, als ich ihn nach dem Geheimnis einer glücklichen Beziehung gefragt hatte.
Ich mochte den Gedanken, dass es irgendwo auf der Welt jemanden gab, der so perfekt zu mir passte, wie meine Eltern es füreinander taten. Jedoch war die Welt verdammt groß und die Wahrscheinlichkeit, dieser Person jemals zu begegnen, klitzeklein.
Mit einem innerlichen Kopfschütteln wandte ich mich von meinen Eltern ab und der Bar hinter mir zu. Im Gegensatz zu ihnen hatte ich noch kein Getränk in der Hand.
»Jasmin. David. Wusste ich es doch, dass wir euch heute Abend hier antreffen.« Mr Henson begrüßte Mom mit einer freundschaftlichen Umarmung, dann reichte er Dad die Hand. Seine Frau folgte seinem Beispiel, wobei sie meinen Eltern jeweils zwei hauchfeine Küsschen auf die Wangen hauchte.
»Natürlich.« Dad nippte an seinem Champagnerglas. »Ich lasse mir doch nicht solch ein Event entgehen! An Abenden wie diesem werden die interessantesten Geschichten geboren.«
»So kennt man dich. Immer auf der Lauer für eine Titelstory.«
Dad quittierte den freundschaftlichen Seitenhieb mit einem selbstironischen Lächeln. Er wusste, dass er ein unverbesserlicher Workaholic war – was als Chefredakteur des Delaware Inquire, der größten und auflagenstärksten Tageszeitung dieses Bundesstaates, wohl kaum zu vermeiden war. Aber dass bei ihm heute Abend die Arbeit im Vordergrund stand, bedeutete nicht, dass er keinen Spaß haben würde. Er wusste, wie er das Nützliche mit dem Angenehmen verband.
»Und Olivia, du bist auch hier!« Mrs Henson hauchte mir ebenfalls Küsschen auf beide Wangen, nachdem ich meine Bestellung abgeschlossen und mich der Gruppe zugewandt hatte. »Schau nur, wie wunderschön du aussiehst!« Ihr Blick glitt über mich, und ich strich mir verlegen über den fließenden Silberstoff meines Kleides. Es lag wie eine zweite Haut an und war am Rücken tief ausgeschnitten. Zwei feine Träger hielten es auf meinen Schultern, und dank des Beinschlitzes, der mir bis zur Hüfte reichte, besaß ich ausreichend Bewegungsfreiheit.
Vermutlich hatte das Kleid irgendwann ein Vermögen gekostet – laut Etikett stammte es von Valentino. Aber ich hatte es vor drei oder vier Jahren in einem Edel-Secondhandshop erstanden. Wieso sollte ich den Preis eines Kleinwagens für ein Kleidungsstück ausgeben, das ich nur zu einer Handvoll Gelegenheiten tragen konnte?
»Hallo, Mrs Henson. Hallo, Mr Henson.« Lächelnd nickte ich den beiden zu. »Ist Josephine nicht mit Ihnen gekommen?«
Mrs Henson schüttelte den Kopf. »Leider nicht. Sie hatte es vor, aber ihr bevorstehender Uniabschluss hält sie zu sehr auf Trab.«
Diese Worte nutzte Mom, um Mrs Henson in ein Gespräch darüber zu verwickeln, wie schnell die Zeit verging, da ich ebenfalls bald mein Masterstudium abschließen würde.
Aber nur, wenn ich mich endlich für ein Thema entscheide. Seufzend nippte ich an meinem Ginger Ale, das ich mir statt Champagner bestellt hatte. Ich mochte keinen Alkohol, was mich früher auf Partys regelmäßig zur Außenseiterin gemacht hatte.
»Wie lief deine Verabredung mit Montgomery?«, fragte Mom Mr Henson, der sein Gespräch mit Dad beendet und den Platz mit seiner Gattin getauscht hatte. »David meinte, dass ihr euch diese Woche endlich miteinander getroffen habt.«
»Das wollten wir, ja.« Mr Henson verzog das Gesicht. »Ihm ist die Einführung seines Neffen Barry in den Gefängnisvorstand dazwischengekommen.«
»Gefängnisvorstand?«, fragte ich. »Geht es hier etwa um den Mr Montgomery? Direktor des Hawthrone-Gefängnisses?«
Mr Henson nickte, und mein Puls ging schneller. Für Menschen wie mich, die sich schon immer für Kriminalfälle interessierten, war Mr Montgomery so etwas wie ein Rockstar. Er leitete das größte und älteste privat geführte Gefängnis in Pennsylvania, das in zwei Standorte unterteilt war. Da gab es einmal die Hochsicherheit im Norden, mit der größten Anzahl an Entführern, Vergewaltigern und Mördern in ganz Pennsylvania. Und das »gewöhnliche« Gefängnis in Philadelphia, in dem hauptsächlich Kleinkriminelle wie Diebe oder Drogendealer einsaßen.
Ach, was würde ich dafür geben, ein Mal ein Interview mit jemandem wie Montgomery führen zu dürfen. Vielleicht könnte ich dieses dann in meine Masterarbeit einbinden?
Bliebe nur die Frage, zu welchem Thema – und natürlich, wie ich meine Eltern von der Idee überzeugen sollte, mich auch nur in die Nähe eines – und insbesondere dieses – Gefängnisses zu lassen. Ich wusste nicht, ob ihre teilweise übertriebene Fürsorge daher rührte, dass sie mich im Alter von wenigen Monaten adoptiert hatten. Aber als meine Vorliebe für die dunklen Kreise der Gesellschaft mich immer mehr zum Journalismus führte, waren sie wenig begeistert gewesen. Sie hatten sogar versucht, mich davon abzubringen, neben meinem Studium beim Delaware Inquire zu jobben. Als würde ich, nur weil ich Journalistin werden wollte, unweigerlich in Lebensgefahr geraten. Klar, es gab auch Fälle, in denen Presseleute bedroht oder gar körperlich angegriffen wurden. Sogar von einer Entführung hatte ich mal gehört, die in einem Leichenfund geendet war.
Aber das war doch nicht die Regel!
Ganz zu schweigen davon, dass es für mich nichts Spannenderes gab, als die finsteren Abgründe der Menschheit zu erforschen.
»Darf ich fragen, worum es bei dem Treffen gehen sollte?«, hakte ich mit schwer zu unterdrückender Aufregung nach. Moms Augenrollen, das mit einem Seufzen einherging, ignorierte ich geflissentlich.
»Die Staatsanwaltschaft wünscht sich, dass einer der Inhaftierten in einem laufenden Verfahren als Zeuge aussagt«, erklärte Mr Henson. »Nur leider scheint Mr Montgomery davon nicht viel zu halten. Jedenfalls vertröstet er mich seit Wochen.«
»Ich sagte dir bereits, dass es nichts Persönliches ist.« Mom lenkte die Unterhaltung zurück auf ein Terrain, das sie für sicherer hielt. »Montgomery ist ein harter Knochen. In der Vergangenheit habe ich mir auch schon das ein oder andere Mal die Zähne an ihm ausgebissen.«
Mit erhobenen Brauen sah ich zu ihr. Diese Worte hörte ich zum ersten Mal. Und ehrlich gesagt fiel mir die Vorstellung schwer, dass es jemanden gab, der Jasmin Abrams widerstehen konnte. Sie war eine knallharte Anwältin, die vor nichts und niemandem zurückschreckte, obendrein bildschön, klug und charmant.
Daher hatte es auch niemanden von uns überrascht, als die hohen Tiere ihrer Kanzlei sie vor zwei Jahren zu dem Team berufen hatten, das gemeinsam mit Mr Henson und seinen Leuten am Vermont-Fall gearbeitet hatte.
Ein Fall, der in die Geschichte einging.
Selbst jetzt, zwei Jahre später, konnte ich nicht daran zurückdenken, ohne eine zentimeterdicke Gänsehaut zu verspüren.
Westin Vermont, so hieß der wegen Mordes verurteilte Straftäter, dem die Medien den Spitznamen Beast from the East verliehen hatten, war in meinem Alter gewesen, als er den aufstrebenden Stern am Influencerhimmel Sarah Mills getötet hatte.
Und zwar genau hier.
An diesem Ort.
Während der HRA-Spendengala vor zwei Jahren, bei der ich ebenfalls anwesend gewesen war.
Kein Wunder, dass mich in Bezug auf heute Abend seit Tagen ein mulmiges Gefühl quälte.
Das genaue Motiv war trotz Vermonts Geständnisses noch immer unklar. Aber in Anbetracht der bekannten Details war anzunehmen, dass es eine Tat aus zurückgewiesener Liebe gewesen war.
Zuerst war Vermont Sarah auf ihren Social-Media-Kanälen gefolgt, hatte dann vermehrt Kontakt gesucht. Als Sarah online darauf einging und oberflächliche Interaktionen mit ihm pflegte, wurde Vermont gierig.
Er wollte mehr – und ging aus diesem Grund dazu über, Sarah zu verfolgen. Erst virtuell. Dann physisch.
Ironischerweise sprach Sarah in den Wochen vor ihrem Tod sogar von einem Stalker. Doch die Beweise reichten nicht aus, damit die Polizei tätig wurde.
Nachdem sich Vermont unbefugt Zutritt zu der Veranstaltung verschafft hatte, über die Sarah den ganzen Abend auf Instagram berichtete, hatte er sie auf einem der Balkone im zweiten Stock mit seiner Anwesenheit konfrontiert. Was dort exakt vorgefallen oder gesprochen worden war, wusste niemand. Sarah konnte sich dazu nicht mehr äußern, und Vermont schwieg beharrlich. Allein, dass er dort oben gewesen und Sarah über die Balkonbrüstung geschubst hatte, hatte er gegen den Rat seines Anwalts gestanden.
Mich schüttelte es, als der Name immer wieder durch meinen Verstand geisterte. Wie eine verstorbene, ruhelose Seele.
Westin Vermont.
Westin Vermont.
Westin Vermont.
Es war absurd, dass ein Name durch eine bestimmte Tat zu so viel mehr werden konnte als einer Aneinanderreihung von Buchstaben. Plötzlich verband ich mit diesem Mann, den ich noch nie in meinem Leben persönlich gesehen oder gesprochen hatte, Emotionen und Gedanken, die sehr viel stärker und intimer waren, als sie hätten sein dürfen.
Und noch absurder war es, dass ich nie wieder an Sarah würde denken können, ohne gleichzeitig an Vermont denken zu müssen.
Es war wie bei Romeo und Julia.
Bonnie und Clyde.
Persephone und Hades.
Sarah Mills und Westin Vermont waren für alle Ewigkeit miteinander verbunden.
Ich verbannte die Gedanken aus meinem Kopf und konzentrierte mich auf das Gespräch zwischen Mom und Mr Henson. Aber da sie gerade darüber diskutierten, wer von ihnen das bessere Pilzrisotto-Rezept besaß, ließ ich mich erneut von meinen Überlegungen gefangen nehmen. Vermont war nicht der Einzige, der eine morbide Faszination in mir weckte. Auch Sarah vermochte das, wenn auch aus völlig anderen Gründen. Nicht zum ersten Mal erwischte ich mich bei der Frage, was Sarah so besonders gemacht hatte, dass Vermonts Wahl auf sie gefallen war. Was an ihr hatte ihn so sehr beeindruckt? Ihr sozialer Status? Ihre offene Persönlichkeit? Oder hatte es weniger spezifische Gründe gegeben?
War es womöglich nur ein grauenhafter Zufall gewesen, dass Vermont sich ausgerechnet Sarah ausgesucht hatte? Hätte es genauso gut jemand anders erwischen können?
Beispielsweise … mich?
So abwegig diese Überlegung auf den ersten Blick wirken mochte, hatten Sarah und ich einige Gemeinsamkeiten besessen – was in mir unweigerlich das Gefühl erweckte, mit diesem tragischen Ereignis verbunden zu sein.
Wir waren am selben Tag geboren worden und gemeinsam auf die Rosehill Prep gegangen, hatten uns sogar während einer Klassenfahrt ein Schlafzimmer geteilt. Unsere Eltern befanden sich in denselben gesellschaftlichen Kreisen, und …
Okay, ehrlicherweise war es das schon.
Obwohl wir in derselben Gesellschaftsschicht aufgewachsen waren, hatten Sarah und ich in zwei völlig verschiedenen Welten gelebt.
Ich war diejenige, die schon immer Journalismus studieren wollte.
Sie war diejenige, die jedes Jahr zur Homecoming-Queen gewählt wurde.
Ich sammelte massenweise Bücher, und das bis heute.
Sie Follower auf Instagram und TikTok.
Ich war seit zwei Jahren Single.
Sie … tot.
Der letzte Punkt hatte sich mir gegen meinen Willen aufgedrängt und killte meine bereits überstrapazierten Nerven. Mein Magen drehte sich auf links, und mich fröstelte es grauenhaft.
Für gewöhnlich war ich eher unempfindlich – als angehende Journalistin musste man sich frühzeitig ein dickes Fell zulegen. Aber die Tatsache, dass ich im Gegensatz zu Sarah meinen zweiundzwanzigsten und dreiundzwanzigsten Geburtstag hatte erleben dürfen, war nichts, was ich einfach von mir wischen konnte.
Vor allem nicht heute Abend.
Nicht auf dieser Spendengala, die aus Pietätsgründen letztes Jahr ausgefallen war und somit zum ersten Mal seit Sarahs Tod wieder stattfand.
»Entschuldigt ihr mich bitte?«, platzte es aus mir heraus. Mom, Dad und die Hensons sahen mich mit besorgten Mienen an. »Ich gehe ein wenig an die frische Luft.«
»Ist alles okay?« Moms Stirn warf tiefe Falten, als sie mir eine Hand auf die Schulter legte. Ihre Finger waren warm und weich, dennoch zuckte ich zusammen, als pressten sich Eiswürfel auf meine Haut. »Du bist ganz blass um die Nase.«
»Ja … nein … ich meine …« Ich wusste selbst nicht, was ich sagen wollte, daher zwang ich mich zu einem unbekümmerten Lächeln. »Mir geht’s gut. Hier drinnen ist es nur so stickig.« Zur Untermalung meiner Worte fächelte ich mir mit der freien Hand Luft zu.
Ehe Mom etwas sagen konnte, das meiner hauchfeinen Fassade noch mehr Risse bescherte, wandte ich mich an die Hensons.
»Es hat mich sehr gefreut, Sie beide heute Abend wiederzusehen. Bitte grüßen Sie Josephine ganz herzlich von mir.« Mit einem letzten Lächeln machte ich auf dem Absatz kehrt, stellte mein kaum angerührtes Glas ab und eilte an der Bar entlang. Auf der anderen Seite des Saals erstreckte sich eine Wand aus bodenhohen Fenstern. Diese führten auf die Terrasse, wo Sarahs Körper nach ihrem Sturz aufgekommen war.
Ich konnte nicht sagen, welcher Teil meines Verstandes mich ausgerechnet dorthin lotste. Aber ich kämpfte mir tapfer einen Weg durch die Menschen, die sich zu einer Art lebendem Labyrinth vereinten.
Warum zum Teufel war ich heute Abend nur hergekommen?
Ich hatte die ganze Zeit über gewusst, dass ich es früher oder später bereuen würde.
Und wie gewöhnlich konnte ich mich auf mein Bauchgefühl verlassen.
Westin
Es hieß, die HRA hätte schon einige Leben verändert. Dazu konnte ich nichts sagen, weil mich dieser Reiche-Leute-Verein bis vor zwei Jahren nicht die Bohne interessiert hatte.
Aber eine Nacht – eine einzige Entscheidung – hatte alles verändert und mich enger mit diesen Leuten verbunden, als ich es jemals für möglich gehalten hätte.
»Ey, Vermont! Isst du den noch?« Fuzzy, ein schmächtiger Typ mit großen Augen, der mich an einen Breitmaulfrosch erinnerte, deutete mit dem Kopf auf den unberührten Puddingbecher auf meinem Tablett.
Wortlos schob ich das pissgelbe Plastikding über den kahlen Metalltisch. Von mir aus konnte er alles von dem Fraß haben, der uns heute Abend serviert worden war. Meinen Appetit hatte ich auf der hauchdünnen Matratze zurückgelassen, auf der ich mir Nacht für Nacht den Rücken verrenkte.
»Danke, Bro!« Fuzzy machte sich gierig über die dunkle Masse in dem Becher her, die so fest war, dass sie selbst mit viel Fantasie niemals als Schokoladenpudding durchgehen würde. Zwar war das Essen im Hawthrone-Gefängnis noch nie sonderlich gut gewesen. Aber bis vor zwei Wochen hatte ich zumindest vage erkennen können, was vor mir auf dem Teller lag. Nun hatte der Lieferant gewechselt, und alles – völlig egal ob Rührei, Lasagne oder Hähnchenschnitzel – sah identisch aus. Es war eine schleimig grün-braune Pampe, die nach in Gülle eingelegten Socken schmeckte.
Dabei hieß es, dass ein privat geführtes Gefängnis für Gefangene viel mehr Vorteile bot als ein staatliches.
Zumindest sitze ich nicht mehr in der Hochsicherheit fest.
Nach zwei Wochen in der leibhaftigen Hölle war ich überraschend in den Standardstrafvollzug verlegt worden. Bis heute hatte ich keine Ahnung, wie es dazu gekommen war.
»Wie kannst du diesen Fraß nur in dich reinstopfen, Fuzzy?« Mad Eye, der nach einer Figur aus dem Harry-Potter-Universum benannt worden war, weil er ein klobiges und schlecht verarbeitetes Glasauge besaß, verschränkte die Arme vor der Brust und schüttelte angewidert den Kopf. »Mich bringt bereits der bloße Anblick zum Kotzen. Ganz zu schweigen von dem Gestank.«
»Ich brauch die Vitamine«, konterte Fuzzy mit vollem Mund und spuckte dabei einige Klümpchen von sich. »Ich bin noch im Wachstum. Außerdem stehe ich auf die Bröckchen, die sie da reinmachen. Die knirschen so herrlich zwischen den Zähnen.« Zur Untermalung seiner Worte bewegte er den Unterkiefer hin und her, was ein Geräusch verursachte, als würde jemand über eine Schiefertafel kratzen.
Mad Eye gab ein Stöhnen von sich, als würde er jeden Moment den Kampf gegen seinen Würgereiz verlieren.
Sofort grinste Fuzzy noch breiter.
Ich kannte das halbe Hemd kaum, weil es erst vor wenigen Wochen zu uns gestoßen war. Aber ich war mir sicher, dass ich in meinen zwei Jahren Haft noch nie jemanden getroffen hatte, der auch nur annähernd so gut gelaunt war wie Fuzzy. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich meinen, dass der neunzehnjährige Knabe auf Droge war. Aber dann würde Mad Eye seine Zeit mit anderen Häftlingen verbringen. Mein Knastvater, wie sich mein sechzig Jahre alter Zellennachbar selbst bezeichnete, verfolgte eine Nulltoleranz-Strategie, was Drogenkonsum betraf. Selbst Zigaretten verachtete er – was der Hauptgrund war, wieso ich bisher keine einzige Kippe geraucht hatte, obwohl es überraschend einfach war, an die Glimmstängel zu kommen. Mad Eye gehörte einfach zu den Leuten, die man lieber zu seinen Freunden als zu seinen Feinden zählte.
Meine beiden Kumpel verfielen in Schweigen, wodurch mir die schallende Geräuschkulisse im Gefängnisspeisesaal nur noch lauter vorkam. Ungefiltert bohrte sie sich in meinen Kopf, was sich anfühlte, als würde eine Heavy-Metal-Band zwischen meinen Schläfen für ihre World Tour proben.
Der mangelnde Schlaf in den letzten Nächten und die fehlende Nahrungszufuhr in den letzten vierundzwanzig Stunden waren eine schlechte Kombination.
Fuzzy suchte meinen Blick. »Was ist los, Mann? Du bist heute noch schweigsamer als sonst – und das will bei dir echt was heißen.« Sorge war in seinen hellen Augen zu erkennen, ehe sich diese auf Mad Eye richteten. Zumindest nahm ich das an. Fuzzy schielte so stark, dass es nie eindeutig war, wen oder was er ansah.
»Findest du nicht auch, Mad Eye? Ich habe Vermont heute noch keine zehn Worte sagen hören. Nicht mal sein geliebtes Fick dich ist ihm bisher über die Lippen gekommen.«
»Fick dich, Fuzzy«, murmelte ich, den Blick auf meine Finger gerichtet. Die Anspannung, die mir seit Tagen im Nacken saß und heute ihren Höchstwert erreicht hatte, hatte mich dazu gebracht, an meinen Nägeln zu knibbeln. Nun waren überall eingerissene und blutende Stellen zu sehen.
»Da!«, sagte Fuzzy empört. »Genau das meine ich! Er hat mir nicht einmal den Mittelfinger gezeigt. Er ist überhaupt nicht bei der Sache.«
Mad Eye lachte, was sich für mich jedes Mal so anhörte, als würde ein Bär furzen. »Wenn du willst, zeig ich dir den Mittelfinger.«
Fuzzy setzte zu einer Antwort an, aber Mad Eye unterbrach ihn. »Lass gut sein, Kleiner. Heute ist sein Jahrestag. Da darf ruhig auch mal das Biest mies drauf sein. Morgen wird er uns sicherlich wieder mit seinem Sonnenscheingemüt erfreuen.«
In meinen Fingern zuckte es, und ich war versucht, Mad Eye mit einem Stinkefinger zu beglücken. Doch wie Fuzzy bereits erkannt hatte, war ich nicht mit dem Herzen dabei.
»Heute ist sein Jahrestag?« Fuzzy sog scharf die Luft ein und wandte sich wieder mir zu. »Dann bist du heute vor zwei Jahren eingebuchtet worden?«
»Nein, nicht der Jahrestag, du Ochse!« Mad Eye schnaubte. »Der Tag seiner Tat. Heute vor zwei Jahren hat er das Internetsternchen umgebracht.«
»Oh«, sagte Fuzzy. Mehr nicht.
Aber das war auch nicht nötig.
Oh war ziemlich passend.
Olivia
Der spätsommerliche Abendwind blies sanft über meine schweißfeuchte Haut und brachte mich trotz der angenehmen Temperatur zum Frösteln. Wie konnte es sein, dass ich auf einmal so stark auf Sarahs Schicksal reagierte? Selbst nachdem die Medien den Mord bis ins kleinste Detail zerpflückt hatten, hatte ich nicht solche Probleme damit gehabt.
Vielleicht stand ich damals zu sehr unter Schock. Oder ich erlebe gerade einen heftigen Flashback.
Das waren durchaus realistische Möglichkeiten – vor allem, wenn man bedachte, dass ich an diesem Tag zum ersten Mal seit jener Nacht die Max William Hall betreten hatte.
Entschlossen zwang ich mich, die Terrasse genauer in Augenschein zu nehmen. Die Steinfliesen waren ausgetauscht worden, die schmiedeeisernen Tische und Stühle durch bequem wirkende Loungemöbel ersetzt. Es gab sogar neue Pflanzen, die in großen Terrakottakübeln arrangiert waren. In den Boden eingelassene Lampen rundeten das Ganze ab.
Dennoch brauchte ich nur die Augen zu schließen, um erneut die Fotos aus der Polizeiakte vor mir zu sehen. Wie Sarahs Körper dagelegen hatte … die Gliedmaßen in einem unnatürlichen Winkel abgespreizt und die dunklen Haare in Blut getränkt.
Jemand vom Servicepersonal hatte sie gefunden – nicht einmal ich selbst. Trotzdem schlug mir das Herz bis zum Hals, meine Atmung ging flatternd, und meine Hände zitterten, sodass ich meine Arme um den Oberkörper schlingen musste.
Am liebsten wäre ich auf der Stelle nach Hause geflüchtet. Aber wenn mich meine Eltern in diesem Zustand sahen – und das würden sie, egal, wie viel Mühe ich mir gab, unbemerkt an ihnen vorbeizukommen –, würde ich ihnen nur den Abend versauen.
Fest entschlossen, mich nicht von meinen Emotionen in die Knie zwingen zu lassen, begab ich mich in Richtung Garten. Der Country Club besaß eine wunderschöne und weitläufige Grünfläche, die sich hervorragend für einen kleinen Spaziergang eignete. Sicherlich würde ich zwischen Golfanlage, Tennisplätzen und dem kleinen Blumenpark am Ende des Weges den Kopf wieder frei bekommen.
Ich war noch keine fünf Minuten unterwegs, als ich aus der Richtung der Swimming- und Whirlpools Stimmen hörte, die so ausgelassen und fröhlich klangen, dass ich mich nur allzu gern von ihnen anlocken ließ. Was auch immer mich dort erwartete, es würde mich sicherlich von meinen düsteren Gedanken ablenken.
»Im Leben glaube ich nicht, dass sie deinen Schwanz in den Mund genommen hat«, schallte eine männliche Stimme.
»Glaub es oder glaub es nicht«, kam es von einer anderen Stimme zurück. »Aber Shanaya hat auf meinem Liebesknochen geknabbert, als hätte sie noch nie etwas Köstlicheres bekommen.«
Ein helles Kichern erklang, ehe eine weibliche Stimme einsetzte. »Okay, und genau damit hast du dich selbst verraten, Thomsen. Shanaya würde sich eher ihren linken Arm abhacken, als jemandem einen zu blasen, der sein bestes Stück Liebesknochen nennt!«
»Melissa hat recht«, meinte die erste Stimme. »Shanaya ist zwar nicht wählerisch, was ihre Sexpartner angeht. Aber wenn du sie nicht vorher lobotomisiert hast …«
»Lobotomisiert?«, rief die zweite Stimme – Thomsen. »Ich bin mir zu fünfundachtzig Prozent sicher, dass du dir dieses Wort gerade ausgedacht hast, Joseph.«
»Und ich bin mir zu einhundert Prozent sicher, dass du ein verdammter Wichser bist! Wie oft habe ich dir schon gesagt, dass du mich nicht Joseph nennen sollst? Ich hasse diesen Namen.«
»Nur, weil du nach deinem Daddy benannt wurdest, der dich …« Ein Geräusch, das an einen dumpfen Schlag erinnerte, unterbrach Thomsen. Daraufhin folgten verschiedene Reaktionen, die von einem verblüfften »Hast du mich gerade geboxt?« über ein amüsiertes Kichern bis hin zu einem gelangweilten »Nicht schon wieder« reichten.
Vermutlich wäre es klüger gewesen, mich aus dem Staub zu machen. Aber meine Neugier hinderte mich daran. Stattdessen näherte ich mich der Gruppe junger Leute ein paar weitere Schritte.
Obwohl ich nur vier Stimmen gehört hatte, entdeckte ich sechs Personen. Zwei hatten sich von der Gruppe distanziert, um in aller Seelenruhe miteinander rumzumachen.
Die anderen jedoch …
Einer von ihnen saß auf einer Sonnenliege und rieb sich das Kinn, während ein weiterer Kerl vor ihm aufragte und sich mit vor Zorn verzerrter Miene die Fingerknöchel rieb. Ein umgeworfener Plastiktisch lag zwischen ihnen und Spielkarten auf dem Boden. Eine der zwei Frauen tanzte im Takt einer Musik, die nur sie zu hören schien. Die andere rekelte sich auf einer der Liegen, als posierte sie für ein Playboy-Shooting.
Thomsen, der den Kiefer hin und her bewegte, als wollte er sicherstellen, dass Joseph ihm nichts gebrochen hatte, schwenkte den Kopf in meine Richtung, und seine Augen weiteten sich. Sofort breitete sich auf seinen Lippen ein Grinsen aus.
»Na, wen haben wir denn da? Wenn das mal nicht … halt, Moment! Wer bist du, und was machst du auf dieser Party?« Seine Miene hatte sich gewandelt. Irritation stand ihm so deutlich ins Gesicht geschrieben, dass ich mir ein Augenrollen nicht verkneifen konnte.
Eric Thomsen war schon immer eine Knalltüte gewesen. Wie es schien, hatte sich daran nichts geändert.
»Red keinen Unsinn, Thomsen«, warf Melissa Carlisle von ihrer Liege aus ein, während Suri Michaelson hinter ihr ungestört weitertanzte. »Das ist Olivia Abrams. Wir waren zusammen auf der Rosehill.«
»Aber natürlich! Olivia!« Erics Gesichtszüge erstrahlten. »Ich habe dich überhaupt nicht wiedererkannt, so sehr hast du dich verändert.«
Melissa ließ den Kopf stöhnend zurück auf die Liege sinken. Sie wusste ebenso gut wie ich, dass Eric keine Ahnung hatte, wer ich war. Denn ich hatte mich seit unserem Schulabschluss vor fünf Jahren kaum verändert. Ich besaß noch immer dieselben goldbraunen Haarsträhnen, die mir in weichen Wellen über die Schultern fielen, dieselben blaugrünen Augen, die laut meines Ex-Freundes Todd an einen Waldsee bei Sonnenaufgang erinnerten, und dieselbe sportliche Figur mit dem A-Körbchen-Busen, der es mir ermöglichte, Oberteile – oder dieses Valentino-Kleid – ohne BH zu tragen.
Zu Erics Verteidigung könnte ich lediglich vorbringen, dass meine Lippen ungewohnterweise mit einer leuchtend roten Farbe bedeckt waren und ich meine Augen im Smokey-Eyes-Stil geschminkt hatte.
»Na los! Worauf wartest du? Komm zu uns!« Eric winkte mich zu sich, und ich war versucht, der Einladung zu folgen. Aber war das nicht das Letzte, was ich heute Abend gebrauchen konnte? Eine weitere Zeitreise in die Vergangenheit – und das ausgerechnet mit einer Handvoll Leuten, mit denen ich nie etwas zu tun gehabt hatte?
Aber was wäre die Alternative gewesen? Meinen Spaziergang durch den Garten des Country Clubs fortzusetzen, allein mit meinen Gedanken, die ich an diesem Abend unglaublich schlecht unter Kontrolle hatte? Oder zurück zu meinen Eltern zu gehen und den restlichen Abend so tun zu müssen, als hätte ich einen Riesenspaß?
Nein, das waren keine rosigen Aussichten.
Außerdem hatte ich diese Leute seit Jahren nicht gesehen. Vielleicht würde es ja ganz nett werden, mich mit ihnen zu unterhalten. Sicherlich hatten sie sich alle verändert.
Ich jedenfalls hatte das seit Sarahs Tod.
Ob es mir gefiel oder nicht.
Westin
Der Knast veränderte einen. An diesem Fakt gab es nichts zu rütteln.
Die fehlende Privatsphäre – sogar unter der Dusche oder beim Kacken. Die allgegenwärtige Dominanz der Wärter, die sie den Insassen bei jeder Gelegenheit mit Gewalt unter die Nase rieben. Und die unterschwelligen Aggressionen unter den Gefangenen, die an ein prall gefülltes Pulverfass erinnerten.
All diese Punkte hatten auch mich verändert.
Scheißegal, wer ich früher gewesen war. Es zählte nur noch, für wen mich die anderen jetzt hielten.
Doch obwohl ich inzwischen seit zwei Jahren einsaß, wusste ich noch immer nicht, zu welcher Kategorie ich gehörte. War ich ein Alphatier, ein Anführer, vor dem die anderen Respekt hatten, oder ein Mitläufer, ein leichtes Opfer, das sich Schutz suchend im Schatten der anderen verbarg?
Vielleicht stellte ich eine neue, eine dritte Sparte dar. Die des Chamäleons.
Bisher hatte ich mich schließlich unparteiisch – und vor allem unsichtbar – durch den Knastalltag bewegt. Jegliches Andocken an vorhandene Gruppen hatte ich vermieden. Ich wäre ja nicht einmal mit Mad Eye und Fuzzy in Kontakt gekommen, wenn der eine nicht mein Zellengenosse wäre, der den anderen adoptiert hatte.
Rückblickend betrachtet war es ganz nett, wenigstens die zwei um mich zu haben. Denn wenn du glaubtest, du hättest endlich deinen Platz in der Gefängnishierarchie gefunden, lag es durchaus im Bereich des Möglichen, dass sich am nächsten Tag alles veränderte. Zum Beispiel dadurch, dass dein Knastkumpel fort war. Im besten Fall war er entlassen worden, im schlimmsten Fall tot.
Ganz zu schweigen von den Momenten, wenn neue Insassen dazustießen und sich entweder durch Informationen von außen oder durch ihre Fäuste zu profilieren versuchten.
Daher konnte ich den Gong beim Abendessen kaum erwarten, der das Ende der Mahlzeit verkündete.
Dann musste der Großteil der Gefangenen zurück in die Zellen, während ich mit einer Handvoll anderer Insassen für eine halbe Stunde raus in den Hof durfte. Dieser war ein rund einhundert Quadratmeter großer, asphaltierter und von Betonmauern umgebener Platz, mit einem kaputten Basketballkorb, einer Reckstange und einer rostigen Metallbank.
Trotzdem war er für mich zu einem kleinen Paradies geworden.
Zum einen bekam ich dort meinen wohlverdienten Ausgleich zu meinem Job in der Gefängniswäscherei, wo ich an sechs Tagen in der Woche in einem unbelüfteten Raum mit niedriger Decke und lärmenden Industriewaschmaschinen schuftete.
Zum anderen war dieser Hof der einzige Ort, an dem ich für einen Moment vergessen konnte, wo ich war, warum ich einsaß und dass ich nie wieder lebend herauskommen würde.
Dort konnte ich durchatmen.
Dort war ich einfach nur Westin.
Nicht Vermont, wie mich meine Knastfreunde nannten.
Nicht Gefangener sechs-vier-drei-acht, wie die Wärter mich riefen.
Nicht das Beast, wie mich die ganze Welt betitelte.
»Das soll Beast sein?« Ein polterndes Lachen schallte an mein Ohr, und ich wusste sofort, wer soeben hinter mich getreten war. Unweigerlich schlossen sich meine Finger fester um das pissgelbe Plastiktablett in meinen Händen. »Diesen Hänfling benutze ich als Zahnstocher, nachdem ich drei seiner Sorte zum Frühstück verspeist habe.«
Mehrstimmiges Gelächter war die Antwort, was ich mit einem Augenrollen quittierte.
Der Witz war lahmer als eine hinkende Schildkröte.
Eine Hand landete auf meiner Schulter. Die dazugehörigen Wurstfinger bohrten sich in meine Haut und trafen den Punkt zwischen Schulterblatt und Oberarmknochen.
Ungewollt zuckte ich zusammen.
»Was ist los, Beast? Schlottern dir bereits die Knie, nur weil ich mich mit dir unterhalten will?« Die Reibeisenstimme ging in ein dunkles Lachen über. »Keine Sorge, mein Junge. Ich werde dir schon nichts tun – vorausgesetzt natürlich, du befolgst brav meine Anweisungen.« Warnend bohrten sich die Finger noch tiefer in meine Muskeln.
Ich setzte mein in den letzten zwei Jahren perfektioniertes Pokerface auf und wandte mich herum. Dabei rutschte die Hand von meiner Schulter.
Mein Blick traf auf kleine Schweinsäuglein in einem runden Gesicht mit rasierter Halbglatze. Die Tätowierung einer Kobra schlängelte sich aus dem Halsausschnitt des verdreckten Unterhemdes und endete mit gespreizter Haube und aufgerissenem Maul auf der Wange meines Gegenübers.
»Cobra«, begrüßte ich den Mann mittleren Alters mit unbewegter Miene, obwohl ich wegen dessen Spitznamen gern spöttisch eine Braue in die Höhe gezogen hätte.
Wie der stämmige Typ, der mir gerade einmal bis zur Brust reichte, wohl wirklich hieß? Leider war sein Namensschild vom Stoff seines Knastoveralls gerissen worden. Und bisher hatte ich niemanden getroffen, der seinen echten Namen kannte – nicht, dass ich explizit danach gefragt hätte.
»Du weißt, wer ich bin.« Cobra lächelte breit. Seine zwei oberen Eckzähne, die ungewöhnlich lang und spitz waren, blitzten im Schein der Deckenlampen golden auf. »Das ist gut. Das erspart mir die Vorstellungsrunde, und ich kann gleich zum Geschäft kommen.« Seine Miene wurde ernst. »Ich suche eine zuverlässige Quelle, die mir dabei hilft, regelmäßig ein paar Dinge ins Gefängnis zu schleusen. Da du durch die Arbeit in der Wäscherei Kontakt zu den Lkw-Fahrern hast, ist meine Wahl – Trommelwirbel – auf dich gefallen. Herzlichen Glückwunsch!«
Ich erwiderte Cobras Blick unbewegt. Falls er dachte, mich würde seine Anfrage überraschen oder mir Freudensprünge entlocken, musste ich ihn enttäuschen. In der Vergangenheit waren einige Insassen mit ähnlichen Anliegen an mich herangetreten. Und allen hatte ich dasselbe geantwortet.
Such dir einen anderen Idioten, der für dich seinen Hals riskiert.
Ich würde bestimmt nicht das Wagnis eingehen, den Rest meiner Haftstrafe im Hochsicherheitstrakt absitzen zu müssen, nur damit irgendein Vollpfosten mit Höhenflug seine krummen Geschäfte fortführen konnte.
Dennoch hielt mich etwas davon ab, genau diese Worte Cobra vor die Füße zu spucken. Vermutlich war es die Aura aus kaltblütiger Gewaltbereitschaft, die ihn umgab. Ganz zu schweigen davon, dass er sich binnen der zwei Wochen, die er hier war, eine Gruppe aus willenlosen Schlägern zusammengestellt hatte. Drei von ihnen waren jetzt bei ihm.
»Danke, ich verzichte«, sagte ich und wandte mich zum Gehen.
Leider kam ich nicht annähernd dazu, die Bewegung zu vollenden. Blitzschnell packte Cobra einen meiner Oberarme, und ich blieb an Ort und Stelle stehen.
»Du verzichtest?« Cobras Stimme hatte einen merkwürdigen Klang angenommen. Es war eine Mischung aus Unglaube, Überraschung und widerwilligem Respekt. »Ich weiß ja nicht, was du glaubst, wer du bist, und was dich denken lässt, du hättest hier eine Wahl, Beast. Aber lass dir eins gesagt sein …« Er trat drohend einen Schritt auf mich zu. Das Plastiktablett, das ich auf Höhe meines Bauches hielt, drückte gegen seine Brust und hielt ihn so auf Abstand.
Unweigerlich wanderte mein Blick durch den Raum. Die meisten Insassen, darunter auch Mad Eye und Fuzzy, waren längst auf dem Weg in ihre Zellen. Und der mickrige Rest, der sich noch hier tummelte und darauf wartete, endlich in den Hof entlassen zu werden, war schlau genug, sich aus Cobras Angelegenheiten rauszuhalten.
Ebenso handhabten es die zwei Wärter, die nur wenige Meter von uns entfernt standen und sicherlich jedes unserer Worte hörten.
Aber anstatt ihren Scheißjob zu machen und Cobra allein für den Versuch, sich innerhalb des Gefängnisses kriminell zu organisieren, zur Rechenschaft zu ziehen, starrten sie Löcher in die Luft.
So viel zum Thema Die Polizei, dein Freund und Helfer.
»Wenn ich sage, spring«, sprach Cobra weiter und lenkte damit meine Aufmerksamkeit zurück auf sich, »sind die einzigen Worte, die ich aus deinem verfluchten Kindermördermaul hören will: Wie hoch? Haben wir uns verstanden?«
Unwillkürlich glitt eine meiner Brauen in die Höhe. Hatte er gerade Kindermördermaul gesagt? Offenbar war die Information, dass Sarah in der Nacht ihres Todes einundzwanzig gewesen war und damit in jedem amerikanischen Bundesstaat als erwachsen galt, an Cobra vorbeigegangen.
Aber wozu sich die Mühe machen, ihn aufzuklären?
Hätte Cobra die Wahrheit kennen wollen, wäre es ein Leichtes für ihn gewesen, diese in Erfahrung zu bringen. Schließlich hatte ich mein Gesicht seit meinem Geständnis vor Gericht öfter in den Medien gesehen als im Spiegel.
»Ich habe gefragt, ob wir uns verstanden haben«, wiederholte Cobra, und seine Augen waren zu hauchfeinen Schlitzen verengt. Ein Kiefermuskel zuckte, wodurch die Schlange auf seiner Wange zum Leben erwachte.
»Ich hoffe sehr, dass wir uns richtig verstehen«, äffte ich seinen überheblich-bedrohlichen Ton nach. »Denn ich habe mich mehr als deutlich ausgedrückt. Ich bin nicht daran interessiert, mit dir oder für dich zu arbeiten. Also geh mir endlich aus dem Weg. Diese Unterhaltung nervt mich inzwischen mehr als der Anblick des hässlichen Regenwurms auf deiner Visage.«
Cobras Gesicht nahm eine tiefrote Färbung an.
»Sprich dein Gebet, Beast«, fauchte mein Gegenüber, ehe mir einer seiner Schläger das Tablett aus der Hand stieß. Der klebrige Matschklumpen verteilte sich geräuschvoll auf dem Boden und stellte damit eine wirklich passende Metapher für das dar, was unmittelbar danach geschah.
Eine Faust jagte in meinen Magen, und ein dumpfer Schmerz breitete sich in meinem Körper aus.
Gern würde ich behaupten, dass das meine erste Gefängnisprügelei war. Aber ehrlicherweise kam etwa alle sechs bis acht Wochen irgendein Arschloch auf die Idee, seinen Status aufwerten zu wollen, indem er sich mit mir maß. Als wäre ein Kampf gegen mich eine besonders eindrucksvolle Trophäe.
Für gewöhnlich waren solche Kämpfe fair. Zumindest hatte ich die Chance, mich zu wehren.
Aber natürlich hielt Cobra nichts davon.
Er kämpfte ja nicht einmal selbst.
Er stand einfach da und grinste mich selbstgefällig an, während zwei seiner Gorillas mich festhielten und der dritte mit Fäusten so groß wie Abrissbirnen auf mich eindrosch.
Angetrieben von einer masochistischen Neugier, fiel mein Blick auf die Wanduhr über dem Speisesaalausgang.
Es war achtzehn Uhr dreiundvierzig.
Ich hätte noch siebzehn Minuten auf dem Hof gehabt.
Siebzehn Minuten, um mich daran zu erinnern, wer ich wirklich war.
Aber heute würde ich ohne Hofgang auskommen müssen.
Ohne mein Paradies.
Ohne meinen Zufluchtsort.
So war das im Knast nun mal.
Und mal ehrlich …
Ich war das Biest aus dem Osten.
Ein verurteilter Mörder.
Als solcher hatte ich kein Paradies, keinen Zufluchtsort verdient.
Ich hatte das hier verdient.
Den Schmerz.
Die Erniedrigung.
Schlag für Schlag.
Olivia
»Olivia Abrams …« Eric sprach meinen Namen mit einem seligen Lächeln aus. »Wie geht es dir? Was hast du seit dem Abschluss gemacht?« Er klopfte einladend neben sich auf die Liege.
Skeptisch beäugte ich den schmalen Platz. Eric machte sich so breit, dass ich fast auf seinem Schoß sitzen müsste, wenn ich neben ihm Platz nehmen wollte. Leider blieb mir keine andere Wahl. Alle anderen Möglichkeiten waren entweder belegt oder zu weit weg. Und gewiss würde ich nicht zu dem knutschenden Pärchen gehen, das sich gerade die Zungen so tief in den Hals steckte, als wollten sie einander die Mandeln massieren.
»Ich studiere Journalismus an der Annenberg«, antwortete ich auf Erics Frage und ließ mich auf der Kante der Liege nieder. Anschließend drapierte ich den Stoff meines Kleides über meine Beine. »Ich schreibe dieses Semester meine Masterarbeit.«
»Du studierst Journalismus?« Erics Augenbrauen schossen in die Höhe. »Ist ja abgefahren!«
Ach ja?
Es war ja nicht so, als wäre meine Wahl völlig unvorhersehbar gewesen. Bereits in der Schule hatte ich bei der Schülerzeitung mitgewirkt. Und in unserem letzten Jahr an der Rosehill hatte ich neben meiner Beteiligung am Jahrbuch sogar den Posten als Chefredakteurin bei der Rosehill Gazette inne.
Aber wie soll sich Eric daran erinnern, wenn er nicht einmal mehr weiß, wer ich bin?
Erneut konnte ich mich nicht davon abhalten, mit den Augen zu rollen. Dieses Mal jedoch über mich selbst. Was hatte ich mir nur dabei gedacht, Erics Einladung anzunehmen?
»Weißt du, wer noch eine verdammt heiße Journalistin ist? Lois Lane! Und kennst du ihr Erfolgsrezept? Ihre Beziehung zu Superman.« Eric zwinkerte mir vielsagend zu, was meine vorherige Sorge bestärkte. Es war ein Fehler gewesen, mich hierhinzusetzen. »Ich kann dir ebenfalls einen Höhenflug ber–«
»Thomsen! Halt endlich die Klappe!« Melissa, die bisher nicht gewirkt hatte, als hätte sie unserer Unterhaltung viel Aufmerksamkeit geschenkt, stützte sich mit ausgestreckten Armen hinter dem Rücken auf der Liege ab. »Du redest mal wieder nur Unsinn. Niemand von uns kann dein Gelaber noch ertragen.«
Erics Lippen teilten sich für eine Erwiderung, doch ein lauter Fluch kam ihm zuvor. Geschlossen drehten wir uns zur Lärmquelle herum.
»Ich sagte dir doch, dass ich nicht darauf stehe, wenn du mir in die Nippel beißt, Susanna.«
Das knutschende Pärchen hatte sich voneinander gelöst, und der Typ schob seine Partnerin grob von sich. Sein Hemd klaffte zusammen mit seinem Blazer weit auf. Die helle Brust leuchtete im Mondschein, wodurch die roten Striemen auf seiner Haut, die vermutlich von seiner Begleitung herrührten, besonders zur Geltung kamen.
Die Frau – Susanna – warf ihr kupferrotes Haar über die Schulter und erhob sich galant. Obwohl sie offenkundig betrunken war, schaffte sie es unfallfrei zu Melissas Liege, auf dessen Ende sie es sich gemütlich machte. Ein Bein über das andere geschlagen, fuhr sie die Konturen ihres perfekt sitzenden Lippenstifts mit dem Zeigefinger nach.
Sprachlos starrte ich in ihre Richtung – was jedoch weniger an ihr lag. Denn ich kannte sie überhaupt nicht. Aber dafür war mir die andere Person umso vertrauter.
Caleb Sanders.
Bisher waren wir einander nie persönlich begegnet, dennoch kannte ich seinen Lebenslauf besser als meinen.
Er war der Sohn des kürzlich vereidigten Bürgermeisters meiner Heimatstadt und niemand Geringeres als Sarahs große Liebe.
Die beiden hatten sich auf einer Charity-Weihnachtsfeier kennengelernt, und laut Sarahs Instagram-Post zu jener Nacht war es Liebe auf den ersten Blick gewesen.
Seitdem hatte ich Caleb ständig in Sarahs Storys oder auf Fotos gesehen.
Ich persönlich fragte mich zwar, worin der Reiz lag, sein Privatleben derart öffentlich zur Schau zu stellen. Dennoch hatte ich ihre Liebesgeschichte mit einer gewissen Faszination verfolgt. Wirklich jede noch so winzige Kleinigkeit hatte Sarah mit ihrer Community geteilt. Egal, ob es ein überraschender Blumengruß ihres Freundes oder eine süße Botschaft auf ihrem To-go-Kaffeebecher war, die Caleb den Mitarbeitern ihres Lieblingscafés aufgetragen hatte. Sogar bei den endlosen Shoppingtouren war die digitale Welt ständig dabei.
Aber Sarah stand auch zu den dunklen Tagen, als zwischen ihr und Caleb so heftig die Fetzen flogen, dass oftmals sogar Gegenstände durch die Luft geworfen wurden.
Ab dem After-Versöhnungssex-Video war für mich jedoch Schluss gewesen. Ich hatte die beiden erst wieder auf dem Schirm gehabt, als sie ihre einvernehmliche Trennung nach über zwei Jahren Liebes-Auf-und-Ab bekannt gegeben hatten.
Das war etwa ein halbes Jahr vor Sarahs Tod gewesen. Die beiden waren als Freunde auseinandergegangen, weshalb ich Caleb in den Wochen danach verblüffend oft auf Sarahs Fotos entdecken konnte. Erst nach ihrem Ableben war er von der Bildfläche verschwunden. Ihr Tod musste ihn stark aus der Bahn geworfen haben.
Umso mehr verwunderte es mich, dass er ausgerechnet heute Nacht hier war.
Als hätten dem alleinigen Erben eines milliardenschweren Immobilienmoguls die Ohren geklingelt, glitt Calebs Blick in meine Richtung. Sein Gesicht wirkte schmaler und kantiger, als ich es in Erinnerung hatte, und seine Haare fielen ihm lang und wirr in die Stirn. Doch am auffälligsten waren seine Augen. Bisher hatte auf jedem Foto, das ich von ihm gesehen hatte, ein verschmitztes Funkeln in seinen Iriden gelegen. Aber hier und jetzt war da nichts mehr. Kein Licht, kein Leben.
Vielleicht lag es an Drogen.
Aber vielleicht leidet er auch einfach nur unter der Last des heutigen Abends.
Verübeln könnte ich es ihm nicht.
Trotz ihrer Trennung hatte ich stets den Eindruck gehabt, dass Sarah und Caleb einander wichtig gewesen waren. So war Caleb beispielsweise für Sarah da gewesen, als sie ihre Großmutter auf dem Sterbebett begleitet hatte, während sie für ihn eine gigantische Party zum Abschluss seines Masterstudiums geschmissen hatte.
Caleb starrte mich noch einen Augenblick an, dann wandte er sich ab. Als erwachte ich aus einer Art Trance, kehrten meine Gedanken erst nach mehrmaligem Blinzeln ins Hier und Jetzt zurück.
Thomsen stöhnte theatralisch. Als ich mich zu ihm umdrehte, sah ich, wie er mit den Augen rollte.
»Das darf doch nicht wahr sein! Wie macht der Typ das nur? In dem einen Moment fingert er Susanna zum Orgasmus, und keine zehn Sekunden später steht die Nächste bereit, um ihren Platz einzunehmen. Was glaubt ihr Weiber eigentlich, was der Typ hat? Magic Fingers?«
»Es ist die Kohle«, meinte Joseph, während ich Eric mit offenem Mund anstarrte. »Entweder das, oder es liegt an diesem Getretener-Welpe-Vibe, der ihn seit Sarahs Tod umgibt. Jedenfalls kann es unmöglich an seinem Aussehen liegen. Dieser unrasierte Vagabunden-Chic war nicht einmal in den Achtzigern in.«
Eric schnaubte, während ich inständig hoffte, mir diese Konversation nur einzubilden. Die beiden Holzköpfe konnten das doch unmöglich ernst meinen. Als wäre es nicht beschämend genug, dass sie über uns sprachen, als wären wir überhaupt nicht anwesend, wagten sie es auch noch, Sarahs Tod in die Sache hineinzuziehen? Und das ausgerechnet am heutigen Abend?
Am liebsten hätte ich ihnen gehörig den Marsch geblasen. Denn weder zogen mich Calebs Geld noch seine vermeintlich talentierten Finger an. Meine Faszination galt allein seiner Verbindung zu Sarah und war ausschließlich von journalistischem Interesse.
Aber Eric und Joseph waren viel zu high, um einen Protest meinerseits richtig aufzufassen. Wahrscheinlicher würden sie mir vorhalten, ich wäre zu prüde, um zu meiner Schwärmerei für Caleb zu stehen.
»Apropos Sarah«, meinte Eric. Ob ihm vielleicht doch noch klar geworden war, wie pietätlos es war, Calebs verstorbene Ex-Freundin zum Gesprächsthema gemacht zu haben? »Habe ich dir eigentlich erzählt, was mir mein Cousin Henry neulich gesagt hat? Er hat einen Kumpel, dessen Vetter jemanden im Hawthrone kennt. Und der will aufgeschnappt haben, dass gar nicht Sarahs wahrer Mörder im Gefängnis sitzt, sondern jemand, der dafür bezahlt worden ist.«
Joseph, der träge die Spielkarten in seiner Hand mischte – wann auch immer er sie aufgehoben hatte –, zuckte gelangweilt mit den Schultern.
Die anderen hingegen hielten in ihrem Tun inne und spitzten die Ohren. Sogar Suri hatte ihren stillen Tanz unterbrochen.
»Dein Cousin Henry hat dir das erzählt?«, hakte Melissa mit unüberhörbarer Skepsis nach. »Der Henry, der die felsenfeste Überzeugung vertritt, dass er auf seiner letzten Geburtstagsparty von Aliens entführt wurde, aber in Wahrheit einfach total stoned den Avancen dieses einen Footballspielers erlegen ist? Meinst du diesen Henry?« Melissa schnaubte. »Ja, klar, er ist natürlich eine vertrauenswürdige Quelle.«
Eric warf Melissa einen bitterbösen Blick zu. »Glaub es oder glaub es nicht. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass jemand aus den sozialen Brennpunkten für eine Million Dollar freiwillig in den Knast geht. Wieso sonst sollte der Typ plötzlich gestanden haben, obwohl bereits ein anderer als Hauptverdächtiger galt? Wenn er wirklich schuldig ist, hätte er einfach die Hände in den Schoß legen und abwarten können. Jetzt sitzt er lebenslänglich ein.«
»Ganz genau!« Melissa widmete sich wieder ihrem Handy. »Wieso sollte der Typ sein Leben für eine Million verkaufen, wenn er niemals die Gelegenheit erhalten wird, die Kohle auszugeben?«
Eric stöhnte. »Mensch, Mel, hast du noch nie eine Krimiserie gesehen? Es gibt Dutzende Gründe. Entweder er schuldete jemandem die Kohle, der sein Leben oder das seiner Familie bedroht hat. Oder jemand, der ihm wichtig ist, braucht eine lebenswichtige Operation, aber die Versicherung deckt die Kosten nicht, oder …«
»Haltet jetzt endlich die Klappe«, rief Joseph dazwischen. »Wenn ich heute Abend über Verschwörungstheorien hätte reden wollen, hätte ich auch bei meinen Alten bleiben können.«
Erleichtert über Josephs Eingreifen, drehte ich mich zu Caleb herum. Seine Miene wirkte noch lebloser als zuvor. Blass wie eine Wand sah er aus, die Augen vor Schmerz groß. Tiefe Ringe hatten sich unter seinen Wimpern gebildet, und seine Lippen waren so hell, dass sie blutleer wirkten.
Wenn ich nicht bereits zuvor gewusst hätte, dass es eine miserable Idee gewesen war, heute Abend hierherzukommen, wäre es spätestens jetzt klar gewesen.
Denn eine Sache war so sicher wie das Amen in der Kirche: Wenn ich ab sofort an Sarah und ihren Tod dachte, wären da nicht mehr allein sie, ihr Mörder und die eintausend Fragen, die sich mir in diesem Zusammenhang stellten. Jetzt gehörte auch Caleb Sanders zu dem Zubehörset meiner Albträume.