Seven Sins 6: Maßlose Macht - Lana Rotaru - E-Book
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Seven Sins 6: Maßlose Macht E-Book

Lana Rotaru

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Beschreibung

»Du hast keine Wahl, Avery.« Avery könnte der Schlüssel zum Umbruch der Unterwelt sein. Aber sie ist noch immer von den intensiven Gefühlen überwältigt, die auf einen Schlag auf sie eingeströmt sind und sie buchstäblich außer Gefecht gesetzt haben. Doch die fünfte Sündenprüfung wartet bereits auf sie. Dass der temperamentvolle Seeleneintreiber Nox, der ihr in den letzten Monaten immer wieder aufs Neue das Herz gebrochen hat, dabei einfach nicht von ihrer Seite weichen will, ist alles andere als hilfreich … Sieben Sünden. Sieben Prüfungen. Und ein höllischer Vertrag … Lass dich von Lana Rotarus neuester Urban-Fantasy-Serie in eine faszinierende Welt entführen, in der die Sünde und die Freiheit deiner Seele unausweichlich miteinander verbunden sind. Ein absolutes Must-Read für Fans von Fantasy-Liebesromanen der besonderen Art! Leserstimmen zu »Seven Sins« auf Amazon: »Wow, Wow, Wow!!!« »Perfekt, um aus der Realität zu verschwinden, sich zu verlieren und mitzufühlen.« »Einfach großartig.« »Unerwartet und fesselnd.« »DEFINITIV IST DIESES BUCH JEDE SEITE WERT ...« //Dies ist der sechste Band der romantischen Urban-Fantasy-Reihe »Seven Sins«. Alle Bände der Buchserie bei Impress: -- Seven Sins 1: Hochmütiges Herz -- Seven Sins 2: Stolze Seele -- Seven Sins 3: Bittersüßes Begehren -- Seven Sins 4: Neidvolle Nähe -- Seven Sins 5: Zerstörerischer Zorn -- Seven Sins 6: Maßlose Macht -- Seven Sins 7: Grauenhafte Gier//

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Lana Rotaru

Seven Sins 6: Maßlose Macht

»Du hast keine Wahl, Avery.«

Avery könnte der Schlüssel zum Umbruch der Unterwelt sein. Aber sie ist noch immer von den intensiven Gefühlen überwältigt, die auf einen Schlag auf sie eingeströmt sind und sie buchstäblich außer Gefecht gesetzt haben. Doch die fünfte Sündenprüfung wartet bereits auf sie. Dass der temperamentvolle Seeleneintreiber Nox, der ihr in den letzten Monaten immer wieder aufs Neue das Herz gebrochen hat, dabei einfach nicht von ihrer Seite weichen will, ist alles andere als hilfreich …

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Vita

Danksagung

© Photo Home Studio

Lana Rotaru lebt zur Zeit mit ihrem Ehemann in Aachen. Der Lesewahnsinn begann bei ihr bereits in früher Jugend, die sie Stunde um Stunde in einer öffentlichen Leihbibliothek verbrachte. Nun füllen Hunderte von Büchern und E-Books ihre Wohnzimmer- und E-Reader-Regale und ein Ende ist nicht in Sicht. Eine Lesepause legt sie nur ein, wenn sie gerade selbst an einem neuen Roman schreibt.

Liebe und Hass haben kein Maß.

Deutsches Sprichwort

WAS BISHER GESCHAH …

Mein Name ist Avery Marie Harper und dem Teufel gehört meine Seele. James Goose, der Ex-Mann meiner Mom, der uns vor zwölf Jahren verlassen hat, verkaufte sie, um seine Schauspielkarriere anzutreiben.

Zumindest haben wir – Adam, mein bester Freund und waschechter Schutzengel, sowie Nox, verstoßener Engel, der für die Hölle als Seelenjäger arbeitet – das bisher angenommen. Doch die Wahrheit ist sehr viel beängstigender. James ist weder mein leiblicher Vater, noch hat er meine Seele für seine Schauspielkarriere verkauft.

Er wurde manipuliert.

Und zwar – so gehen wir bisher zumindest davon aus – von Luzifer selbst.

Warum der Herrscher der Unterwelt ein derart großes Interesse an mir und meiner Seele hat, wissen wir nicht. Aber diese Frage ist im Moment nicht unser größtes Problem. Im Zuge der vierten von insgesamt acht Prüfungen, die wir absolvieren müssen, um unsere drei Seelen vor der Hölle zu bewahren, sind Dinge geschehen und offenbart worden, die uns sehr viel größere Kopfschmerzen bereiten.

Während Nox und ich endlich zueinandergefunden haben, hat sich Adam immer weiter von uns distanziert. Diesen Umstand hat Satan, der aufgrund eines geplatzten Deals mit Nox einen persönlichen Rachefeldzug gegen den Höllendiener verfolgte, für seine Zwecke ausgenutzt und meinen besten Freund an die Grenzen des Moralischen getrieben. Da Nox und ich zur selben Zeit von Satans dämonischem Rabenspäher Malekeit abgelenkt wurden, bekamen wir all dies viel zu spät mit. Erst nachdem der Engel mit einer vermeintlich harmlosen Tat eine Kettenreaktion des Grauens ausgelöst hatte, wurde uns das wahre Ausmaß von Satans perfidem Plan bewusst. Doch zu dem Zeitpunkt war es bereits zu spät. James sowie Mr und Mrs Jaramango, die Eltern meiner einstigen Freunde Harmony und Killian, sind tot.

Allerdings war dieser Schock nicht das Negativ-Highlight der letzten Wochen. Satan hatte zur Krönung den Körper meiner Mom besetzt und damit gedroht, ihre Seele zu zerstören und sie in die Hölle zu befördern, wenn Adam sie nicht zuvor erlöste, indem er sie tötete.

Nox, der seinen Bruder vor einem Schicksal als Mörder und dem damit verbundenen Rauswurf aus dem Himmel bewahren wollte, kam Adam zuvor und riss meiner Mom das Herz aus der Brust – und zwar buchstäblich.

Diese Tat mit ansehen zu müssen, zerbrach mein Herz im wahrsten Sinne des Wortes.

Eigentlich hätte ich an dem damit verbundenen Schmerz zugrunde gehen müssen, doch Gabriel und Kegan, von denen wir zu diesem Zeitpunkt annahmen, dass sie meine leibhaftige Engelsfamilie waren, retteten mich, indem sie einen Schutzzauber um meine Seele legten, der all meine Gefühle und Emotionen unterdrückte.

Im Laufe der darauffolgenden Wochen fanden wir jedoch heraus, dass die beiden uns die ganze Zeit belogen hatten. Kegan ist kein Seraph, sondern einer der sieben Höllenfürsten. Auch Gabriel ist nicht der, der er vorgibt zu sein. Selbst ihr Schutzzauber war nur ein Trick, um mich lange genug am Leben zu halten, damit wir es bis zu Kegans Prüfung schaffen konnten. Denn laut fachmännischer Meinung der Hexenzirkelanführerin Cassandra Sisay drohte mir – und damit auch Adam und Nox – der Tod, sollte der Zauber brechen.

Zum Glück konnten wir dem Gespinst aus Lügen auch etwas Gutes abgewinnen. Immerhin bestand mit einem Mal die Möglichkeit, dass all das, was man uns über meine vermeintlich wahre Identität und Adams Sanprada Hope erzählt hatte, ebenfalls falsch war.

Leider würde ich wohl nicht in den Genuss kommen, diese Theorie zu verfolgen. Denn unser gemeinsamer Kampf mit Dämonenblütlern verschiedener Rassen auf dem Petersplatz im Vatikan, als wir gegen eine Horde Dämonen angetreten waren, hatte seinen Tribut gefordert. Während die anderen mit Schwertern in die Schlacht zogen, musste ich mich im Zuge der Zornprüfung meinen unterdrückten Gefühlen stellen. Dabei brach Gabriels Schutzzauber und mein Bewusstsein wurde in ein bodenloses Nichts gerissen, in dem ich nun feststecke, ohne dass sich mir bisher die Chance geboten hat, Adam und Nox mitzuteilen, dass ich ihnen ihre Taten aus der Vergangenheit verzeihe.

TEIL 1

EINS

Nox

»Hope? Bist du es?«

Adam diese Frage – und insbesondere diesen Namen – aussprechen zu hören, war, als würde man mir das Rückgrat durch die Nase hindurch herausreißen. Der unüberhörbare Unglaube, gepaart mit diesem leisen, törichten Anflug von Hoffnung, traf mich wie ein Hieb mit einer Abrissbirne. Dabei hätten wir Grund zur Freude gehabt. Wir befanden uns auf dem Petersplatz in Rom und hatten vor weniger als zehn Sekunden die vierte Prüfung bestanden. Satanas, dem Höllenfürsten, der für den Irrsinn der vergangenen Wochen verantwortlich war, war das Ende zuteilgeworden, das er verdiente, und er stand, zur lebendigen Höllenfeuerfackel mutiert, auf den Stufen zum Petersdom. Seine Shark-Dämonen-Armee, gegen die wir zuvor erbittert gekämpft hatten, sowie seine Späher in Rabenform begannen sich in Luft aufzulösen, und der bis vor wenigen Sekunden noch in Flammen stehende Obelisk im Zentrum des Petersplatzes war erloschen. Der Grund dafür war Regina – oder besser gesagt, ihr sterblicher Überrest. Satanas’ Hexensklavin lag tot am Obeliskensockel und hatte mit ihrem Ableben sämtliche Zauber, die sie zuvor gewirkt hatte, schlagartig beendet. Infolgedessen wandelte sich nicht nur der Endzeit-Szenario-Himmel in ein sternenübersätes Halloween-Nachtfirmament, auch der Gestank nach Feuer, Rauch, Blut und Tod, der die Luft verpestet hatte, verzog sich.

Ja, es gab definitiv Grund für Freudensprünge.

Doch anstatt laut jubelnd meinem Bruder in die Arme zu fallen – nicht dass ich so etwas jemals getan hätte –, raubten mir Furcht und Sorge weiterhin den Atem. Denn obwohl Adam und ich uns den Dämonenblütlern hätten anschließen müssen, die von der Vampirclananführerin Gräfin Annabelle de LaCroix dazu aufgefordert worden waren, das gestohlene Grimoire meiner verstorbenen Hexenfreundin Cassandra zu finden und es ihr zurückzubringen, konnte ich in dieser Sekunde an nichts und niemand anderen als an Avery denken. Das Mädchen, das ich mehr liebte, als sämtliche Worte dieser Welt beschreiben konnten, war zu Beginn unseres Kampfes gegen die Dämonen wie vom Erdboden verschluckt worden und ich hatte keinen blassen Schimmer, wo ich meine Suche nach ihr beginnen sollte.

Doch wie es schien, war meine Problem-Hitliste mit diesem Punkt noch nicht ausreichend gefüllt. Soeben steuerte nämlich eine weitere Schwierigkeit auf uns zu, und zwar ausgerechnet in der Gestalt von Hope, Adams himmlischer Ehefrau.

Heilige Hölle, was soll dieser Mist?

Mit mahlendem Kiefer beobachtete ich jede Bewegung des Wesens. Der weiße, ärmellose Jumpsuit, den es trug, sowie der silberblonde Flechtzopf, der ihm weit bis über den Rücken reichte, waren mit Blut, Dreck und Shark-Dämonen-Sekret überzogen. Dennoch war das Gesicht von Adams vermeintlicher Sanprada unverkennbar auszumachen.

»Was in Luzifers Namen ist das für ein krankes Spiel?«, sprach ich meine Gedanken laut aus, um deutlich zu machen, dass ich mit keinem Funken, keiner einzelnen Hirnzelle auch nur daran dachte, auf diesen Trick hereinzufallen. Mit unumstößlicher Sicherheit wusste ich, dass es sich bei unserem Gegenüber unmöglich um die echte Hope handeln konnte. Diese hatte Adam auf den Tag genau vor neunzehn Jahren ohne jegliche Erklärung in einer Nacht-und-Nebel-Aktion verlassen, als hätte es die gemeinsamen achthundert Jahre voller Glück und Liebe zwischen ihnen niemals gegeben. Es wäre schon ein überaus großer Zufall, sollte sie ausgerechnet hier und jetzt auftauchen.

Nein, viel wahrscheinlicher war es, dass der Höllenfürst, der sich in den vergangenen Wochen für Averys beziehungsweise Hopes Bruder Kegan ausgegeben hatte, nach Aufdeckung seiner gefälschten Identität einen neuen Plan ausgeheckt hatte, um sich ein weiteres Mal in unsere Mitte einzuschleusen.

»Du siehst sie auch?« Adams blecherner Tonfall, der nur ein billiger Abklatsch seiner für gewöhnlich klangvollen Stimme war, lenkte meine Aufmerksamkeit auf ihn. »Gut. Ich dachte schon, wir wären gestorben und das wäre eine abartige Form von Höllenfolter.«

Anstatt auf seine Worte einzugehen – dieser Gedanke war gar nicht so abwegig –, musterte ich Adams kreidebleiches Gesicht. Seine Augen waren schreckgeweitet und die Lippen manisch zusammengepresst. Schnell wandte ich meinen Fokus zurück auf das Wesen uns gegenüber. Dieses war mit einer Distanz von knapp zwei Metern vor uns zum Stehen gekommen, und auch wenn ich es nur ungern zugab, sah es der echten Hope zum Verwechseln ähnlich. Die zarte, elfenhafte Figur, die saphirblauen Iriden mit dem hauchfeinen Violettstich, ja selbst die Sommersprossen auf dem Nasenrücken waren vorhanden. Wer auch immer hinter dieser Show steckte, hatte seine Hausaufgaben gemacht.

»Ich wette hundert Dollar, dass Kegan für diese Performance verantwortlich ist«, verlieh ich meinen Gedanken erneut verbal Ausdruck.

»Mag sein«, quälte Adam vernehmbar mühselig hervor. »Aber das ist keine Performance. Es ist wirklich Hope. Sie ist zurück.«

Meine Aufmerksamkeit galt ein weiteres Mal Adam. Dass sein Teint kalkweiß geworden und seine Mimik Zeugnis eines blanken Systemabsturzes war, überraschte in Anbetracht seiner Worte kaum. Immerhin behauptete er, dass das hier vor uns tatsächlich seine durch eine himmlische Vereinigung mit ihm verbundene Frau war.

»Was?« Mit der Geschwindigkeit eines Raketenjets auf der Überholspur richtete ich meine Aufmerksamkeit wieder nach vorn, während sich meine Gedanken dermaßen überschlugen, dass ich keinen von ihnen greifen konnte. Dabei hatten wir – Adam, Avery und ich – in den Wochen, seit wir wussten, dass Kegan nicht der war, für den er sich ausgegeben hatte, mehr als einmal die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass Hopes Seele in Wahrheit gar nicht in Averys Körper steckte und ich mich dementsprechend auch nicht in die Frau meines Bruders verliebt hatte. Doch das waren Spekulationen und Wunschträume gewesen. Niemals hätten wir es für möglich gehalten, dass sich diese eines Tages bewahrheiten würden.

Hart schluckend fokussierte ich Adams Sanprada. Es war schwer abzuschätzen, ob sie uns mit ihrem bisherigen Schweigen nur ausreichend Raum und Zeit geben wollte, damit wir das Ausmaß dieses Moments vollends begriffen, oder ob ihr der Anblick ihres Sanprados die Sprache verschlagen hatte. Denn ebenso wie Adams Hirn vermutlich gerade von einer ganzen Reihe Detonationen lahmgelegt wurde, war anzunehmen, dass es Hope ähnlich erging. Das brachte der heilige Seelenbund, den die beiden eingegangen waren und dessen Zeremonie von einem Erzengel durchgeführt worden war, so mit sich. Neben der Fähigkeit, den Seelenkern des jeweils anderen durch jeden noch so mächtigen Zauber hindurch zu erkennen – was der einzige und gleichzeitig ultimative Beweis dafür war, dass Hope wahrhaftig sie selbst und keine Täuschung war –, verspürten die beiden miteinander verbundenen Seraphe auch jede Emotion ihres Partners. Das lag daran, dass bei dieser Art von himmlischer Vereinigung anstelle des obligatorischen Ringtausches als Zeichen der Verbundenheit die Seelen der beiden Engel miteinander verwoben wurden. Auf diese Weise wurden sie buchstäblich Teil des jeweils anderen, was im Umkehrschluss bedeutete, dass ein Bruch des Bundes – der im Übrigen nur durch den Tod eines der beiden Seraphe möglich war – mit unermesslichen Schmerzen und Qualen einherging, da gleichzeitig auch der eigene Seelenteil mit verstarb.

»Ich weiß, dass euch mein Erscheinen überrascht«, ergriff Hope schließlich das Wort. Der Klang ihres hellen und klaren Timbres, der so bezeichnend für sie war, dass ich sie früher immer mit dem Spitznamen »Birdy« aufgezogen hatte, verwandelte meinen Magen in brennenden Stacheldraht. »Aber ich hoffe, ihr freut euch wenigstens annähernd so sehr, wie ich es tue.« Das zaghafte Lächeln auf ihren Lippen verstärkte sich und wurde von Nuance zu Nuance wärmer und liebevoller. Gleichzeitig strahlte ihre goldschimmernde Seraphenaura wie eine Reklametafel zur Adventszeit. Diesem Fakt allein hätte ich ohne Adams Bestätigung, dass es tatsächlich Hope war, die hier vor uns stand, keine Beachtung geschenkt. Seit den Fallakten »Asmodis, der Höllenfürst der Wollust, der sich als Inkubus ausgegeben hatte« und »Gabriel und Kegan, die uns monatelang getäuscht hatten« traute ich den Seelenfarben anderer Wesen nicht mehr.

Adams blassgraue Lippen klafften beim Klang von Hopes Stimme auseinander, als wäre ihm jegliche Körperspannung abhandengekommen. Es wäre kaum verwunderlich, wenn mein Bruder in Ohnmacht fiel.

»Adelus.« Hope startete einen erneuten Versuch, eine Verbindung zu uns, vor allem aber zu Adam, aufzunehmen. Dafür nutzte sie sogar diesen bescheuerten Kosenamen, den sie eigens für ihren Sanprado kreiert hatte – eine Mischung aus seinem Namen und dem lateinischen Begriff »Angelus«. Während sie sprach, trat sie einen zögerlichen Schritt auf uns zu, was Adam dazu veranlasste zurückzuweichen, als zwänge ihn eine unsichtbare Macht den Abstand zwischen ihm und seiner Frau konstant zu halten.

Als Schmerz in Hopes Miene aufblitzte, versetzte es mir einen Stich. Obwohl ich mich Adam bis in die Haarspitzen loyal verbunden fühlte, konnte ich nicht leugnen, dass mir Hope in der Vergangenheit ebenfalls viel bedeutet hatte. So wie ich in Adam immer einen Bruder gesehen hatte, war sie wie eine nervige große Schwester gewesen, die mir stets den Kopf zurechtgerückt hatte, wenn ich mal wieder Mist gebaut hatte – was ihrer Meinung nach viel zu häufig der Fall gewesen war.

Meine Lippen teilten sich, da ich das Bedürfnis verspürte, irgendetwas zu sagen. Doch bevor ich auch nur einen Ton herausbrachte, begann es auf Höhe von Hopes Körpermitte zu flackern. Laien hätten diesen Umstand vermutlich als Zeichen dafür gewertet, dass es sich bei Hope womöglich doch um einen Trick in Form einer Illusion oder eines Hologramms handelte. Doch ich kannte Adams Sanprada und ihre Engelsfähigkeiten und wusste, dass die Abweisung durch ihren Geliebten ihre Konzentration im Zuge der Anwendung einer ihrer magischen Fähigkeiten gestört hatte.

Aber welche Kraft wendet Hope gerade an?

Die Antwort auf diese Frage war ebenso offenkundig wie unheilversprechend. Da Adams Sanprada neben der Kunst der Heilung über die Kraft der Wandlung und der bedingten Manipulation aller vier Elemente verfügte, ich jedoch weder eine Auffälligkeit im Luft-, Feuer-, Wasser- oder Erdgefüge erkennen konnte und Hope auch nicht den Eindruck erweckte, als würde sie in dieser Sekunde ein anderes Wesen heilen, konnte es sich nur um ihre Wandlungsfähigkeit handeln.

Sie verbirgt etwas vor uns!

Dass es sich bei diesem Etwas um ein zartes und unfassbar zerbrechlich wirkendes Bündel handelte, das Hope auf ihren Armen trug, wie sich herausstellte, als ihre Tarnung einen Wimpernschlag später vollends in sich zusammenfiel, hätte ich jedoch nicht für möglich gehalten.

»Was zur Hölle …?!« Mein Ausruf war selbst für mein übernatürliches Gehör kaum auszumachen. Dennoch vollführte mein Herz eine merkwürdig akrobatische Übung. Als könnte es sich nicht entscheiden, ob es seinen Dienst einstellen oder sein Tempo auf die dreifache Geschwindigkeit steigern sollte, verfiel es in einen unruhigen und holprigen Rhythmus. Avery – ebenso sicher, wie Adam seine Sanprada immer und überall wiedererkennen würde, wusste ich mit unerschütterlicher Sicherheit, dass es sich bei dem am Rande des Todes wandelnden Mädchens um mein Mädchen und nicht um eine Täuschung oder einen Trick handelte – erweckte den Anschein, als würde sie jeden Moment ihren letzten Atemzug tätigen. Ihre Lungen füllten sich gerade so weit mit Sauerstoff, dass ihre Brust den Anflug eines Hebens und Senkens erahnen ließ, und ihre für gewöhnlich strahlende Aura war nicht mehr als ein blasser Schein, der im Takt ihres unregelmäßigen Herzschlages beängstigend flimmerte.

Noch bevor ich wusste, was ich da tat, war ich bereits auf Hope zugegangen und hatte ihr Averys federleichten Körper von den Armen geklaubt. In der Sekunde, als ich die Kleine wieder in den Armen hielt, sie fest an meine Brust drückte und meine Nase in ihrem Haar vergrub, flutete eine Tsunamiwelle an Emotionen mein Innerstes und spülte sämtliche Vorsicht, die in Anbetracht dieser Situation womöglich angemessen gewesen wäre, über die Klippe der Vernunft. Mein Herz – machtlos gegen die Intensität dieser Situation – zerbarst in abertausend winzige Splitter und verwandelte mein Innerstes in eine krude Mischung aus strahlendem Vierter-Juli-Nachthimmel und blutigem Serienmörder-Tatort.

»Wo hast du sie gefunden?«, hörte ich Adam fragen. Seine Stimme hatte sich verändert, doch anstatt an Kraft dazuzugewinnen, brachte er inzwischen nicht einmal mehr diesen blechernen Ton zustande, sondern klang wie ein fiepsendes Katzenbaby, das schlaftrunken nach seiner Mutter miaute. »Und warum in aller Herren Namen hast du versucht, sie vor uns zu verbergen?«

Scham huschte über Hopes Miene, doch sie sah nicht weg. »Ich verstehe, dass ihr Fragen habt. Und ich verspreche, ihr werdet eure Antworten bekommen. Aber …« Sie hielt kurz inne und ihr Blick glitt immer wieder zur Seite, als befürchtete sie einen Angriff. »Aber zuvor müssen wir uns in Sicherheit bringen. Denn ich habe Avery nicht vor euch verborgen, sondern …« Erneut schaute sie zur Seite und dieses Mal folgte ich ihrem Beispiel. Doch bis auf die Dämonenblütler, die noch immer mit der Suche nach dem Grimoire beschäftigt waren – sogar der klägliche Rest aus Reeds Vampirarmee hatte sich gemeinsam mit Emilia dem Versteckspiel angeschlossen, anstatt die eigenen Bemühungen darauf zu verwenden, ihren Anführer und meinen Freund ausfindig zu machen –, konnte ich nichts entdecken, was Hopes Unrast rechtfertigte. »Hier ist es einfach nicht sicher«, schloss sie ihre Ausführungen und sah Adam wieder ins Gesicht. »Ich weiß, es ist viel verlangt, aber ihr müsst mir vertrauen. An der Grenze zur Vatikanstadt befindet sich ein Portal, das uns von hier wegbri–«

»Das meinst du hoffentlich nicht ernst!« Adam stieß ein bellendes Lachen aus, woraufhin ich ihn verblüfft ansah. Dass ihm die gesamte Situation gehörig zusetzte, stand außer Frage. Dennoch hatte ich Goldlöckchen noch nie einen derartigen Laut von sich geben hören. Sein Versuch, auf diese Weise seine Verbitterung zu verbergen, die vermutlich nur die Spitze seines persönlichen Gefühlsvulkans darstellte, war ebenso offensichtlich, wie zum Scheitern verurteilt. »Weshalb sollten wir dir vertrauen? Glaubst du wirklich, du musst hier nur auftauchen, und schon sind die letzten zwanzig Jahre vergeben und vergessen?« Adam schüttelte den Kopf – eine Geste, die Hopes Miene zu Eis gefrieren ließ. Nur der Ausdruck in ihren Augen, der von Schmerz, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit zeugte, loderte leidenschaftlich.

»Natürlich glaube ich das nicht!«, erwiderte sie energisch. »Aber du kannst nicht behaupten, dass es dir egal ist, dass ich wieder da bin! Dass ich leibhaftig vor dir stehe!« Tränen fluteten ihre Sicht und veränderten ihre Stimme, die jetzt belegt klang. »Ich habe ein großes Risiko auf mich genommen, um hierherzukommen – um zu dir zu kommen, Adelus! Und das nur, weil ich es nicht länger ertragen habe, von dir getrennt zu sein.« In Windeseile überbrückte Hope die Distanz zwischen sich und Adam und kam unmittelbar vor ihm zum Stehen. Ohne ihrem Sanprado die Chance auf eine Reaktion zu geben, nahm sie seine Hände, die noch immer sein Schwert festhielten, zwischen ihre Finger und suchte seinen Blick. »Ich liebe dich, Adam, und ich weiß, dass du dasselbe für mich empfindest. Deshalb flehe ich dich an: Hör auf dein Herz! Sagt es dir wirklich, dass du mir nicht vertrauen kannst?«

»Du willst, dass ich auf mein Herz höre?« Ein subtiles Knurren schwang in Adams Frage mit und er entriss Hope so kraftvoll seine Hände, dass sie unweigerlich einen Schritt zurückwich. »Mein Herz spricht nicht mehr, Hope. Dafür hast du gesorgt, indem du es während der letzten zwei Jahrzehnte jeden Tag aufs Neue brachst. Deswegen kannst du es dir auch sparen, von Sicherheit zu reden. Du hast mir mit deinem Verschwinden überdeutlich bewiesen, dass Sicherheit nichts weiter als eine Illusion ist.« Die Härte und die Kälte, die in jeder von Adams Silben mitschwangen, trafen wie ein Kübel Eiswasser auf Hopes flammende Hoffnung, die sich zuvor deutlich in ihrer Miene widergespiegelt hatte. Nun war da nichts mehr als Leere, Verzweiflung und Hilflosigkeit.

Vermutlich – nein, sogar mit absoluter Gewissheit – war es eine grandios dumme Idee, mich in diesen Streit einzumischen. Nicht nur, dass Adam mein Bruder war, ich konnte seine Verbitterung, seinen Schmerz und seine Trauer auch bestens nachempfinden. Aber wie sollte ich mich raushalten, wenn Averys Gesundheitszustand mit jeder Minute, die wir hier standen und in der Adam und Hope miteinander stritten, fragiler wurde?

»Du weißt, dass wir keine Wahl haben«, wandte ich mich an Adam. Dieser umklammerte den Griff seines Schwertes inzwischen so stark, dass die Knöchel seiner Hand in der nächtlichen Dunkelheit gespenstisch weiß leuchteten. »Abgesehen davon, dass es tatsächlich interessant sein könnte zu erfahren, was Hope zu erzählen hat, wird Avery ohne ihre Hilfe die Nacht nicht überstehen. Das weißt du selbst.« Mir war bewusst, dass ich nicht mit fairen Mitteln spielte. Aber da ich die Kleine nicht einfach in ein menschliches Krankenhaus bringen konnte und die Reihen jener Personen, denen ich traute, inzwischen gefährlich dünn geworden waren, war Hope mit ihren Engelskräften wahrhaftig Averys beste Chance auf ein Überleben.

In Adams Blick, der sich auf das zarte Bündel in meinen Armen ausrichtete, spiegelten sich die unterschiedlichsten Emotionen. Und obwohl ich über eine beneidenswerte Beobachtungs- und Auffassungsgabe verfügte, vermochte selbst ich nicht jede einzelne davon wahrzunehmen.

»Nur damit eines klar ist:« Adam richtete das Wort an Hope. »Meine Liebe zu dir mag in den letzten zwanzig Jahren nicht an Intensität eingebüßt haben. Aber das bedeutet nicht, dass sich nichts verändert hat. Denn alles hat sich verändert. Solltest du also die törichte Hoffnung hegen, dass du meine Zustimmung, dir heute Nacht zu folgen, als einen dir gereichten Olivenzweig werten kannst, solltest du diesen Gedanken gleich wieder vergessen. Der einzige Grund, weshalb ich dich nicht hier und jetzt einfach zurücklasse, so wie du es damals mit mir in Paris getan hast, ist mein Pflichtgefühl meiner Familie gegenüber. Und diese beschränkt sich einzig und allein auf Avery und Nox.«

ZWEI

Nox

Schweigsam folgten wir Hope über den Petersplatz bis zu den Grenzen der Vatikanstadt. Dank des herrschenden Treibens konnten wir uns unbemerkt davonstehlen und in der schmalen Gasse verschwinden, in der sich das von Hope angekündigte Portal befand. Vermutlich war es dumm, Adams Sanprada wer weiß wohin zu folgen, aber in Anbetracht unserer Alternativen – nämlich Averys sicherer Tod – erschien mir ein gewisses Risiko als durchaus lohnenswert.

Kaum hatte Adam nach Hope die wabernde Oberfläche des Portals durchschritten, trat auch ich mit Avery auf meinen Armen hindurch. Umgehend überzog ein unangenehmes Kribbeln meine Haut und raubte mir den Atem. Das geschah jedes Mal, wenn ich mit fremder Magie in Berührung kam – was unter anderem einer der Gründe war, weshalb ich mich lieber auf meine eigenen Teleportationskräfte verließ, auch wenn ich diese zurzeit nur eingeschränkt nutzen konnte.

Das Portal spuckte Avery und mich in einer kleinen, in Dunkelheit getauchten Kirche aus, wie ich an dem puristisch eingerichteten Altarbereich sowie den durch einen schmalen Gang geteilten Holzbankreihen erkannte. Adam stand zwei Schritte vor mir und sondierte fachmännisch die Lage, was mich dazu veranlasste, es ihm gleichzutun. Ich zählte sechs Fenster im Kirchenschiff, die uns einen freien Blick auf einen sternenübersäten Nachthimmel boten. Wo auch immer wir gelandet waren, wir mussten uns zumindest in einer ähnlichen Zeitzone wie in Italien befinden – was ich von dem Klima nicht sagen konnte. Gefühlt war es hier mindestens zwanzig Grad kälter.

»Wo sind wir?«, fragte Adam und seine Stimme hallte von den holzvertäfelten Wänden wider.

»In Ittoqqortoormiit.« Zielsicher schritt Hope zwischen den Gebetsbänken hindurch. Ebenso wie Adam und mir machte ihr die uns umgebende Finsternis nichts aus. »Das liegt in …«

»… Grönland«, kam ich ihr zuvor und verstärkte meinen Griff um Averys Körper. Auch wenn es vermutlich nichts brachte, wollte ich zumindest versuchen, die Kleine vor der beißenden Kälte zu schützen. Gleichzeitig war ich darum bemüht, Hope zu verdeutlichen, dass sie in mir keinen Verbündeten sehen sollte, nur weil ich Adam davon überzeugt hatte, sie anzuhören. Mein Handeln war, so wie in den meisten Fällen, rein egoistischer Natur gewesen. »Spar dir den Geografieunterricht und erzähl uns lieber, warum du uns in ein Dorf geführt hast, dessen Einwohnerzahl niedriger ist als das Durchschnittsjahreseinkommen in der Demokratischen Republik Kongo.« In schneeweißen, wattedichten Wölkchen drang mir mein Atem über die Lippen, während meine Sinne in erhöhter Alarmbereitschaft blieben. Nur weil wir nicht direkt nach Durchschreiten des Portals angegriffen wurden, bedeutete das nicht, dass wir in Sicherheit waren.

»Auch diese Frage werde ich euch beantworten, sobald wir im Warmen sind.« Begleitet von einem leisen Knarzen stieß Hope die Kirchentür auf und trat hinaus in die Nacht. Eine eisige Windböe wehte ins Kircheninnere und ließ die ohnehin frostige Temperatur weiter sinken. Aus eigener Erfahrung wusste ich, dass eine Auspeitschung mit einer neunschwänzigen Katze nicht unangenehmer war als diese schneidende Kälte.

Hope begann ihren Marsch durch die kniehohe Schneelandschaft und Adam und ich folgten ihr. Obwohl alles auf den ersten Blick ruhig und sicher schien, hielt ich meinen siebten Sinn, mit dem ich andere magische Wesen und übernatürliche Kräfte bis auf zehn Meilen Entfernung wahrnahm, konstant aktiv. Gleichzeitig saugte ich jedes Detail der eisigen Hölle, die uns umgab, in mich auf. Das tat ich nicht aus Neugier oder Hingabe an die Landschaft – das Dreihundert-Seelen-Dörfchen versank in einem malerischen Meer aus unschuldigem Weiß, wodurch die Häuser, die in Farben wie Blutrot, Kürbisorange oder Kobaltblau gestrichen waren, wie wahllos hingespritzte Farbkleckse hervorstachen –, sondern weil mir dieser Tick während der Ausbildung zum Genius eingetrichtert worden war und ich ihn seitdem nicht mehr loswurde. Damals hatte man uns beigebracht, dass an jedem noch so harmlos wirkenden Ort potenzielle Gefahren lauern konnten, sodass ich mich selbst in Averys Zimmer, wenn ich sie früher besucht hatte, zunächst akribisch umgesehen hatte, ehe ich mich auf die Kleine hatte fokussieren können.

Nachdem wir beinahe die gesamte Nachbarschaft durchquert hatten, steuerte Hope ein burgunderrotes Haus an, dessen Fenster als Einzige von Licht erfüllt waren. Die Eingangstür befand sich wie bei allen anderen Gebäuden aus Schutz vor den Schneemassen mehrere Meter oberhalb des Erdbodens, sodass wir, um sie zu erreichen, einige Betonstufen erklimmen mussten.

Hope öffnete die Tür und trat über die Schwelle. Adam und ich wechselten einen Blick. Bisher hatte Hope uns keinen Grund gegeben, an ihrer Ehrlichkeit zu zweifeln, doch das Haus, zu dem sie uns geführt hatte, war von einem deutlich spürbaren Zauber umgeben, sodass wir uns fragen mussten, ob es nicht doch ein Fehler gewesen war hierherzukommen. Da uns aber auch weiterhin keine Alternative blieb, wenn wir Avery retten wollten, passierten wir ebenfalls die Grenze ins Hausinnere.

Der winzige Raum, in den wir traten, entpuppte sich als altmodisches Wohnzimmer. Ein dicker, in die Jahre gekommener Flokati-Teppich lag zu unseren Füßen und wurde beinahe komplett von einem verschlissenen Sofa bedeckt, das die eine Hälfte des Raumes füllte. Die andere Hälfte bestand aus einer kleinen Kochnische, einem Schaukelstuhl und einem brennenden Kamin. Obwohl die Möbelstücke ebenso wie die Decke, die Wände und der Boden ihre besten Jahre bereits hinter sich hatten, wirkte alles sauber und ordentlich.

»Schick«, kommentierte ich Hopes Inventar mit angehobener Augenbraue und scannte jeden Millimeter der vier Wände nach Zeichen, Symbolen oder anderen Hinweisen ab, die darauf hindeuteten, dass es sich hierbei um eine Falle handelte. Doch bis auf die Magie, die den lodernden Kamin umgab und vermutlich dazu diente, diesen am Brennen zu halten, ohne Gefahr zu laufen, dass er das gesamte Haus niederfackelte, konnte ich nichts Verdächtiges erkennen. Trotzdem speicherte ich jedes Detail der spürbaren Schwingungen ab, die von dem Kamin ausgingen. Diese waren bei jedem Zauber so individuell, dass sie, ähnlich wie handschriftliche Signaturen, der für diese Magie verantwortlichen Hexe beziehungsweise dem Hexer problemlos zugeordnet werden konnten. »Ich wusste gar nicht, dass du ein Zeitschriftenabonnement von ›Asketische Wohnträume für den kleinen Geldbeutel‹ beziehst.«

Anstatt etwas vor Sarkasmus Triefendes zu erwidern, speiste mich Hope mit einem schlichten »Leg Avery auf das Sofa« ab und trat in die Küchennische. Sie griff nach einem verbeulten Teekessel und befüllte ihn mit Wasser.

Ich folgte ihrer Anweisung, nachdem ich mich vergewissert hatte, dass Adam seine Sanprada weiterhin mit Argusaugen beobachtete. Die metallischen Sprungfedern, die sich deutlich unter dem verschlissenen Stoff abzeichneten und die leise quietschten, als ich Avery auf dem alten Sofa platzierte, sorgten wohl kaum für ein bequemes Liegen, doch dieses Lager war allemal besser als der Boden – zumal sich auf den Polstern Kissen und eine ordentlich zusammengefaltete Wolldecke befanden, als würde das Sofa gelegentlich als Schlafplatz dienen.

Kurz verlor ich mich in der Überlegung, ob ich Avery zudecken sollte. Da jedoch der Raum dank des Feuers im Kamin angenehm warm war und die Decke den Eindruck erweckte, als hätte man sie aus Stahlwolle gewebt, entschied ich mich dagegen. Stattdessen widmete ich mich Hope, die den Teekessel gerade auf einer der zwei Kochplatten abstellte und anschließend die darunter befindliche Gaszufuhr entflammte.

»Ist das eins deiner neu gewonnenen Hobbys? Giftgemische?« Ich verfolgte Hopes Bewegungen, während sie damit begann, aus einem Fundus diverser Trockenpflanzen ein paar Blüten und Blätter herauszufischen und diese in eine bereitstehende Tasse zu geben. Da Adam, der sich seit unserem Eintreten keinen Millimeter von der geschlossenen Eingangstür fortbewegt hatte, als probte er für einen Job als Türsteher, nichts zu der Unterhaltung beitrug und auch Hope stur schwieg, ließ ich mich Avery zu Füßen auf der Armlehne des Sofas nieder und führte den Gesprächsfaden in Eigenregie fort. »Bist du deines Jobs als Genius überdrüssig geworden und hast dich während der letzten Jahre als Hexe versucht? Wenn das der Fall ist und es sich um deine Magiesignatur handelt, die ich bei dem Portal und an der Schwelle des Hauses bemerkt habe, dann würde ich vorschlagen, dass du dir deinen Spitzhut und deinen schwarzen Kater schnappst und dich um Avery kümmerst. Es wäre nämlich äußerst unerfreulich, wenn du die kostbare Zeit, die ihr hier auf Erden verbleibt, damit verschwenden würdest, vertrocknete Herbstdeko aufzukochen, anstatt ihr Leben zu retten!«

Seufzend sah Hope zu mir herüber. Ihre Mimik nahm diesen genervt-tadelnden Große-Schwester-Zug an, der mir schon früher stets ein Augenrollen abgerungen hatte.

»Nox! Wenn du nicht endlich die Klappe hältst, werde ich zur Strafe die einhundertachtundfünfzig Strophen des griechischen Gedichtes von Dionysios Solomos singen!« Ohne eine Erwiderung meinerseits abzuwarten, widmete sie sich erneut dem dunkelgrünen Gestrüpp in ihren Händen.

Mit verengten Lidern und widerwillig gekräuselten Lippen bedachte ich Hope mit einem letzten Blick, ehe ich mich wieder Avery zuwandte. Dies war der mit Abstand schlechteste Moment, um mich von meinen Erinnerungen an die Zeit einholen zu lassen, als Hope und ich uns regelmäßig solche Wortgefechte geliefert hatten.

Das laute Pfeifen des Teekessels zerriss die eingekehrte Stille, ehe es von dem Geräusch plätschernden Wassers abgelöst wurde. Gleichzeitig erfüllte ein würzig-aromatischer Duft den Raum, der sich verstärkte, als sich leise Schritte dem Sofa näherten.

»Ich hoffe für dich, dass du weißt, was du da gebraut hast, Bibi Blocksberg.« Ich beobachtete Hope, die mit einer Tasse in der Hand neben das Sofa trat und vor Avery in die Hocke ging. »Denn sollte es sich als Fehler herausstellen, dir diesen Vertrauensvorschuss zu gewähren …«

»… wirst du mich unter Folterqualen töten, ich weiß.« Hope stellte sichtlich unbeeindruckt die Tasse auf dem Boden ab und nahm anschließend Averys Hände zwischen ihre eigenen. Dann schloss sie konzentriert die Augen.

Da ich Adams Sanprada in der Vergangenheit oft genug dabei beobachtet hatte, wie sie ihre Heilkräfte einsetzte, konnte ich dem Prozess mit einer gewissen inneren Ruhe beiwohnen. Dennoch war ich nicht so dumm, auch nur für den Bruchteil einer Sekunde wegzusehen. Selbst das Blinzeln verbot ich mir.

»Ihr misstraut mir«, sagte Hope, ohne die Lider zu heben. »Das verstehe ich. An eurer Stelle würde es mir nicht anders ergehen – insbesondere wenn man bedenkt, was euch in der Vergangenheit widerfahren ist. Aber ihr wisst, dass ich ebenso wenig lügen kann wie ihr, deswegen hört mir jetzt genau zu:« Sie öffnete die Augen und sah mich unumwunden an. »Ich hätte viele Gründe, Averys Leben retten zu wollen. Abgesehen davon, dass sie zu einer ungeheuerlichen Chance für den Frieden auf Erden geworden ist, ist ihr Leben auch mit euren verbunden.« Sie sah über meine Schulter hinweg zu Adam. Obwohl ich das Gesicht meines Bruders nicht sehen konnte, war es ein Leichtes, an Hopes Reaktion abzulesen, dass Adam stur an seiner undurchdringlichen Mauer aus Frust, Wut, Trauer und Enttäuschung festhielt. »Aber selbst wenn das alles nicht der Fall wäre«, fuhr sie fort und richtete ihre Aufmerksamkeit wieder auf mich, »wäre es trotzdem meine oberste Priorität und mein dringendstes Bedürfnis, Avery zu beschützen. Denn jede Seele, die Adams Meinung nach seine Liebe verdient, ist es wert, vor der Hölle bewahrt zu werden.«

Meine Mundwinkel – diese miesen Verräter – zuckten, doch es gelang mir, die Regung zu verbergen. Ich wollte Adam nicht in den Rücken fallen, konnte aber nicht leugnen, dass mich die Zeit mit Avery verändert hatte. Ich hatte ihr versprochen, gegen meine inneren Dämonen anzukämpfen, und da ich meine Versprechen stets hielt, blieb mir nichts anderes übrig, als Hope einen Schritt entgegenzukommen.

»Tja, wenn das so ist«, ich verschränkte lässig die Arme vor der Brust, »dann zeig mal, was du noch so draufhast, Birdy.«

Hope, die deutlich mehr Schwierigkeiten hatte, ihre Mimik unter Kontrolle zu halten, erlaubte sich ein überraschtes, aber aufrichtiges Lächeln, ehe sie sich wieder Avery zuwandte. Mit gesenkten Lidern konzentrierte sie sich auf ihr Vorhaben, woraufhin sich ein goldener Schimmer um ihre und Averys Hände bildete, der sich wie zähflüssiger Honig ausbreitete, bis er zunächst Averys Arme, dann in rascher Folge ihre Brust, ihren Hals und ihre Beine umgab.

Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die Kleine vollkommen in goldene Engelsmagie gehüllt war, doch mir kam es vor wie eine Ewigkeit. Deshalb dachte ich auch erst daran, mich zu entspannen, als Averys sichtbare Wunden zu heilen begannen, ihr Teint Nuance für Nuance zu einer gesunden Farbe zurückfand und sich ihr Brustkorb wieder in angemessenem Umfang hob und senkte.

Leider hielt meine Freude nicht lange an, denn als Hopes konzentrierte Miene einer tiefgehenden Verwirrung wich, erloschen all meine positiven Gefühle mit einem Schlag.

»Was?«, zischte ich ungeduldig und ich musste mich beherrschen, um nicht auszuflippen. Wie hatte ich nur denken können, dass die verfluchte Schicksalsschnepfe Fortuna meinen Sieg gegen meine zynische und vorurteilsbehaftete Dämonenseite einfach so hinnehmen würde? Natürlich musste mir das verdammte Miststück einen rekordverdächtigen Arschtritt verpassen.

»Ich weiß es nicht genau.« Hope hielt ihre Lider weiterhin geschlossen. »Irgendetwas hindert mich daran, zu Averys Bewusstsein vorzudringen und sie aus ihrer Ohnmacht zu erwecken.« Sie verstärkte ihre Bemühungen, wie ich deutlich an ihrer gefurchten Stirn erkannte, doch es schien zwecklos zu sein.

Wie ein Schlag in den Magen trafen mich Hopes Worte, während sich Adams Blick wie ein Laser in meinen Rücken bohrte. Ich musste mich nicht zu ihm herumdrehen, um zu wissen, was ich in seiner Miene lesen würde. Ich hatte exakt denselben Gedanken: Gabriels Schutzzauber.

Averys beziehungsweise Hopes vermeintlicher Vater hatte einen schwarzmagischen Zauber in Averys Kopf gepflanzt, um ihre Emotionen zu unterdrücken, damit diese sie nach dem Tod ihrer Mutter nicht umbrachten.

»Es fühlt sich an, als würde mich ein magischer Schutzschild immer wieder abstoßen«, sprach Hope in die Stille hinein und bestätigte damit Adams und meinen Verdacht. Gleichzeitig verstärkte sie ihre Bemühungen auf eine Weise, dass sich, wäre Hope in der Lage gewesen, Schweiß zu produzieren, ein hauchfeiner Film an ihren Schläfen gebildet hätte. »Ich habe einfach keine Möglichkeit durchzukommen.« Sie wagte einen letzten kraftvollen Vorstoß, ehe sie mit einem lauten Seufzen aufgab, die Hände sinken ließ und die Lider hob. Enttäuschung und eine Spur Schuld spiegelten sich in ihren Iriden. »Ich habe so etwas noch nie erlebt. Es ist, als würde mich Averys Unterbewusstsein aussperren.«

»Wieso sollte es das tun?« Adam stieß sich von der Wand ab und näherte sich dem Sofa. »Avery muss doch spüren, dass deine Magie himmlischen Ursprungs ist.«

»Das vermutlich schon.« Hope biss sich nachdenklich auf die Unterlippe. »Aber vielleicht reagiert sie so, weil sie meine Seelensignatur nicht kennt?«

Adam rieb sich nachdenklich das Kinn, während ich mich auf meine Atmung konzentrierte. Hopes Worte hatten einen Verdacht in mir geweckt, der so viel Raum in meinem Verstand einnahm, dass nichts anderes mehr Platz hatte.

Ihr Sieg gegen Satanas muss dafür verantwortlich sein!

Zwar hatte ich keine Ahnung, was genau geschehen war oder ob ich mich nicht vielleicht irrte, aber mein Instinkt sagte mir, dass ich auf der richtigen Spur war. Nun galt es nur noch, die fehlenden Details in Erfahrung zu bringen.

»Vielleicht erzählst du uns endlich, wo du Avery gefunden hast und was mit ihr geschehen ist.« Ich hielt Hope im Fokus meiner Aufmerksamkeit, während sie sich ungelenk aus ihrer Kauerhaltung erhob und sich ausgiebig streckte. Auch an ihr waren die Anstrengungen der vergangenen Stunden nicht spurlos vorübergegangen.

»Das werde ich tun, sobald wir uns frisch gemacht und uns gestärkt haben.« Hope blickte von mir zu Adam und wieder zurück. »Denn das, was ich euch zu erzählen habe, wird sowohl Zeit als auch Energie in Anspruch nehmen.«

»Hast du sie noch alle?« Ich sprang energisch von der Sofalehne, woraufhin das Möbelstück geräuschvoll gegen die Wand stieß. Dann baute ich mich unangebracht dicht vor Hope auf. »Avery liegt hier in einer Art magischem Koma, und du willst eine verdammte Teeparty veranstalten?« Meine Dämonenseite, die ich zuvor mit allen mir verbliebenen Kräften zurückgedrängt hatte, riss sich wie ein tollwütiger Werwolf von seiner Kette und übernahm die Kontrolle über meinen Verstand. Ich spürte, wie meine Iriden in einem neonleuchtenden Weiß erstrahlten und ein tiefes Grollen meiner Kehle entfloh. »Du wirst uns sofort verraten, was du weißt«, forderte ich. »Anderenfalls schwöre ich dir, Hope, dass sich deine Rückkehr als der größte und dümmste Fehler deines gesamten Daseins entpuppen wird.«

»Du kannst mir so viel drohen, wie du willst, Nox.« Hope erwiderte meinen Blick, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken. »Aber das wird nichts an Averys Zustand ändern.« Sie sah an mir vorbei und richtete ihren Blick auf das Sofa, auf dem die Kleine friedlich lag, als würde sie ein Nickerchen halten. Als Hope wieder zu mir schaute, war ihre strenge Miene aufrichtigem Mitgefühl gewichen. »Ich weiß, du machst dir Sorgen. Aber du musst wissen, dass es keine körperlichen Schrammen sind, die Avery in ihrer Ohnmacht gefangen halten. Es ist ihr Geist, der verwundet ist.« Familiäre Zuneigung ließ ihre Züge noch eine Spur weicher werden und ich konnte mein eigenes qualvolles Antlitz in ihren feucht schimmernden Iriden erkennen. »Averys Seele ist gesplittert, Nox. Und keiner von uns wird ihr helfen können. Das muss Avery mit sich selbst ausmachen.«

DREI

Nox

Averys Seele ist gesplittert.

Hopes Worte hallten selbst eine halbe Stunde später, als ich in Boxershorts im Badezimmer stand und mich einer raschen Katzenwäsche unterzog, noch immer in meinen Ohren nach.

Averys Seele ist gesplittert. Und keiner von uns wird ihr helfen können.

Ich starrte mich in dem angelaufenen Spiegel an, der über dem winzigen Waschbecken vor mir hing. Mein Gesicht war blass – ein Umstand, den die Wasserperlen, die meine Haut benetzten, zusätzlich betonten. Meine blonden Haarsträhnen klebten mir entweder nass an den Schläfen oder waren stellenweise von getrocknetem Blut verkrustet. Am liebsten hätte ich mein Spiegelbild mit der Faust zertrümmert. Da ich Hope jedoch zutraute, dass sie meine Wunden versorgte, bevor sie uns endlich die Wahrheit über Averys Schicksal mitteilte, begnügte ich mich damit, mich selbst anzuknurren. Wieso, zum Teufel, musste ich auch immer recht haben? Konnte ich nicht ein einziges Mal mit meinen schlimmsten Befürchtungen danebenliegen? Denn dass Averys Seele gesplittert war, konnte nur bedeuten, dass Gabriels Schutzzauber während der Zornprüfung gebrochen war. Zwar sollte mich der Umstand erfreuen, dass Avery entgegen Cassandras Vorhersage diesen Bruch überlebt hatte, aber da man bei ihrem aktuellen Gesundheitszustand nicht unbedingt von »Leben« reden konnte, war Freude keine Option für mich.

Mit einem letzten, wüst geschimpften »Verflucht!« kehrte ich mir selbst den Rücken zu. Meine Klamotten, die ich auf Hopes Befehl hin auf den Boden geworfen hatte, ließ ich unbeachtet liegen und begab mich, noch immer nur in Boxershorts gehüllt, zurück ins Wohnzimmer.

»Zufrieden?« Ich ließ mich auf meinem ursprünglichen Platz zu Averys Füßen nieder. Adam und seine Frau standen schweigend und mit möglichst viel Abstand zueinander in dem winzigen Raum und erinnerten mit ihren Outfits an Bauernhofbetreiber. Während Hope das nasse Haar über die Schultern fiel und es einen Großteil ihres geblümten Kleides verdeckte, sah Adam in der Bluejeans, dem dunkelgrünen T-Shirt und dem rot-karierten Flanellhemd, das er offen über seiner Brust trug, wie Farmer Bob aus. Fehlten nur noch die gelben Gummistiefel, der Strohhut und die Mistgabel, um seinen Look zu perfektionieren.

»Da liegen ein paar Klamotten für dich.« Hope deutete mit einem Kopfnicken auf den Schaukelstuhl. Auch ohne die Sachen näher zu betrachten, wusste ich, dass sie denen von Goldlöckchen gefährlich ähnelten.

»Nur über meine Leiche!«

»Zieh dich an!«, befahl Adam und warf mir die Klamotten zu.

Dank meiner unübertrefflichen Reflexe fing ich den herannahenden Stoffhaufen ab, ehe er sein von Adam anvisiertes Ziel – meinen Kopf – erreichte. Doch schon beim geringsten Kontakt mit den kratzigen Fetzen verzog ich angewidert den Mund. Ich hatte mich tatsächlich nicht getäuscht. Hope plante, aus Adam und mir die Gebrüder Hässlich und Hässlicher zu machen.

Normalerweise hätte ich die Sachen an den brennenden Kamin weitergeleitet, doch der Blick, den mir mein Bruder zusammen mit der Kleidung zugeworfen hatte, hinderte mich daran. Adams Miene mochte oberflächlich betrachtet einem eiskalten und spiegelglatten Gletscher gleichen, doch seine Augen verrieten deutlich, dass es in ihm brodelte. Und so sehr ich es normalerweise auch genoss, Adam zu provozieren, gab es Dringlicheres zu klären als die Frage, wie wenig es noch bedurfte, bis Goldlöckchen die Nerven verlor.

»Willst du etwas trinken?«, fragte Hope, während ich mich widerstrebend in die viel zu engen Klamotten zwängte. »Ich habe Tee gekocht.« Zur Untermalung ihrer Worte hob sie ihre Tasse, die sie zwischen ihren Fingern hielt. »Freya, der das Haus hier gehört, hat auch Gebäck im Schrank, falls das eher –«

»Spar dir dein Giftgemisch für jemanden, der auf aufgekochtes Laub steht«, unterbrach ich sie und warf Adam genervt den Flanellfetzen zu. Nach dem dritten gescheiterten Versuch, meinen Bizeps in die schmalen Ärmel des Hemdes zu quälen, gab ich auf. Wenn es Goldlöckchen nicht genügte, dass ich mich ihm zuliebe in die Hose und das T-Shirt quetschte, sollte er sich gefälligst selbst an die Nähmaschine setzen und mir etwas in Größe »SA« – Sexy Adonis – schneidern. »Das Einzige, was ich will, ist endlich zu erfahren, was mit Avery geschehen ist.« Ich wandte mich Hope zu, die ein wenig verloren in der Küchennische stand und immer wieder verstohlen zu ihrem Sanprado hinüberschielte. Es würde mich wundern, wenn die beiden während meiner kurzen Abwesenheit auch nur ein Wort miteinander gewechselt hatten.

Hope stieß ein leises Seufzen aus, begleitet von einem angedeuteten Schritt auf uns zu. Doch als sie bemerkte, dass sich Adam reflexartig näher an die Wand hinter sich presste, erstarrte sie mitten in der Bewegung, seufzte erneut und zog sich wieder zurück.

»Ich kann euch nicht mit absoluter Sicherheit sagen, was geschehen ist«, begann sie und senkte den Blick auf den Inhalt ihrer Tasse. »Als ich den Petersplatz erreichte, war der Kampf bereits in vollem Gange. Ich versuchte, euch in dem Tumult zu finden, und stieß dabei auf Avery, die von den Dämonen wie ein Spielball hin und her geschubst wurde. Anfangs dachte ich, meine Wahrnehmung würde mir einen Streich spielen, aber je näher ich kam, desto klarer wurde mir, dass dem nicht so war. Widerstandslos ließ sich Avery herumstoßen, schlagen und treten. Nicht einmal, als sie bereits am Boden lag, setzte sie sich zur Wehr.«

Hatte ich mir gerade eben noch gewünscht, die Details über den Hergang der Seelenprüfung zu erfahren, hätte ich mich dafür jetzt am liebsten selbst skalpiert. Mein Körper war derart angespannt, dass ich nicht einmal mit den Zähnen knirschen konnte.

»Als ich mich nah genug an Avery herangekämpft hatte«, sprach Hope weiter, »begann ich zu verstehen, was los war. Sie hatte sich nicht geweigert zu kämpfen, stattdessen schien sie in einer sehr starken Illusion festzustecken.«

»Wie kommst du darauf?« Adam richtete das Wort direkt an seine Sanprada, was diese dazu veranlasste, kurz aufzublicken. Das hoffnungsvolle Glimmen in ihrem Blick war ebenso wenig zu übersehen, wie es mich überraschte.

»Es waren ihre Worte«, erwiderte Hope. »Avery nahm an, dass die Dämonen Menschen seien, die ihr nahestanden.« Auf unsere fragenden Mienen hin fügte sie erklärend hinzu: »Ich kann mich nicht mehr an jede Silbe erinnern, die sie gesagt hat, aber Folgendes ist mir im Kopf geblieben: ›Adam und Nox sind nicht perfekt. Aber das ist keiner von uns. Wir alle haben Fehler und Schwächen. Deshalb verzeihe ich ihnen. Ich verzeihe ihnen alles, was ich ihretwegen durchleiden musste. Jeden Schmerz und jede Qual. Denn sie taten es, weil sie mich ebenso lieben, wie ich sie liebe. Und wie ich dich immer lieben werde, Mom.‹«

Hopes Wiedergabe von Averys angeblichen Worten schlug wie eine Bombe ein. Eine ungläubige, ja regelrecht fassungslose Stille breitete sich im Raum aus. Sprachlos starrte Adam seine Sanprada an, was ich unter anderen Umständen amüsiert zur Kenntnis genommen hätte. In diesem Moment jedoch war ich viel zu sehr mit meinen eigenen Gedanken beschäftigt, als dass ich meinem Bruder Beachtung hätte schenken können.

Avery soll uns verziehen haben?

Nein, das war unmöglich! Ich musste mich verhört haben! Ganz eindeutig!

Womöglich habe ich mir bei dem Kampf gegen die Shark-Dämonen eine so beachtliche Kopfverletzung zugezogen, dass ich mir dieses Gespräch nur einbilde. Vielleicht ist nichts hiervon real.

Dies war eine durchaus nachvollziehbare Erklärung – ganz im Gegensatz zu der Vorstellung, dass Avery …

Nein, ich weigerte mich, diesen Gedanken erneut zu vollenden!

Trotzdem blieb ein Funken Zweifel. Abgesehen davon, dass Hope diese Worte niemals hätte aussprechen können, wenn sie nicht der Wahrheit entsprachen, hatte ich bereits vor Monaten eingesehen, dass Averys Taten und Gedanken jenseits von all dem lagen, was normale Menschen als logisch, vorstellbar oder zumindest nachvollziehbar bezeichnen würden. Das war auch der Grund, weshalb es in der Vergangenheit so viele Situationen gegeben hatte, in denen mich die Kleine – jedoch nicht immer nur im Positiven – überrascht hatte.

Aber das hier? Mir verzeihen, was ich ihr angetan habe?

Nein, das war zu krass – auch wenn es die perfekte Erklärung darstellte, wie der Schutzzauber hatte brechen können. Sollte sich nämlich herausstellen, dass ich mich wider Erwarten täuschte und Avery wahrhaftig die Großmut besessen hatte, Adam und mir zu verzeihen, während sie allein einer Armee Shark-Dämonen gegenübergestanden hatte, hätte sie damit eine völlig neue Liga des Unbegreiflichen eröffnet.

»Bist du dir sicher, dass sie das gesagt hat?« Adams Stimme klang wie eine Heliumversion von Micky Mouse. Gleichzeitig begann sein Körper zu zittern.

Als Hope nickte und sich ein kaum wahrnehmbares Lächeln auf ihren Zügen abzeichnete – vermutlich hatte sie selbst nicht mit der Wirkung ihrer Worte gerechnet –, musste auch ich endlich einsehen, dass es sich hierbei um keinen kranken Witz des Schicksals, sondern um die Realität handelte.

Abermals schoss mein Blick zu Avery. Ihr Puls, der deutlich an ihrer Halsschlagader zu erkennen war, ging ruhig und gleichmäßig. Mein Herz hingegen hämmerte wie ein Presslufthammer und meine Lungen arbeiteten auf Hochtouren. Jedoch fand kein Sauerstoffmolekül seinen Weg in meine Blutbahn, weshalb ich das Gefühl hatte zu ersticken.

Wie konntest du nur, Kleines? Wie, zum Teufel, konntest du mir verzeihen?

Unweigerlich musste ich daran zurückdenken, als ich Joleens Herz in meinen Fingern gehalten hatte und ihr lebloser Körper über mir zusammengebrochen war. In etwa zum gleichen Zeitpunkt war Avery wie von Zauberhand in der Küche erschienen, fast so, als wäre sie niemals weg gewesen – was, wie mir hinterher klar geworden war, vermutlich auch der Fall gewesen sein musste. Denn anstatt dass Satanas, dieser abartige Mistkerl, sie entführt hatte, wie er uns damals hatte glauben lassen, war sie einfach nur unsichtbar gewesen, sodass sie jedes Detail der stattgefundenen Tragödie live miterlebt hatte. Als mir das bewusst geworden war, war es für Erklärungen jedoch bereits zu spät gewesen. Avery hatte mich mit diesem Ausdruck angesehen, den mir alle Menschen entgegenbrachten, wenn ihnen bewusst wurde, dass ich ein wahrhaftiger Dämon war.

Ein kaltherziger und grausamer Dämon, der Seelen hinunter in die Hölle bringt, wo sie für den Rest der Ewigkeit Todesqualen erleiden.

Und trotzdem hatte Avery mir verziehen? Das war einfach …

Mir fielen keine passenden Worte ein, um meine Gedanken und Emotionen zum Ausdruck zu bringen. Aber mir blieb auch keine Zeit, länger darüber nachzudenken.

»Und was ist dann passiert?«, fragte Adam und tat damit sein Bemühen kund, den Rest der Ungeklärtheiten aus der Welt zu schaffen. Dass es ihm mal wieder gelang, seine eigenen Gefühle so ekelerregend schnell unter Kontrolle zu bringen, erweckte in mir den Wunsch, ihn mit irgendetwas zu bewerfen. Einem Amboss zum Beispiel.

»Dann ist sie in Ohnmacht gefallen.« Hope fixierte erneut die Tasse in ihren Händen. Ihrer Miene war deutlich anzusehen, dass sie sich Vorwürfe machte, weil sie nicht rechtzeitig da gewesen war, um Avery vor ihrem Schicksal zu bewahren.

Als hätte irgendjemand von uns sie davor beschützen können …

»Gut.« Adam nahm einen tiefen Atemzug. »Jetzt wissen wir zwar, was mit Avery geschehen ist, aber du hast noch keine Silbe darüber verloren, weshalb du überhaupt auf dem Petersplatz warst und wo du dich die letzten zwanzig Jahre aufgehalten hast.«

Hope nickte, ohne den Kopf zu heben. Ihre Körperhaltung wirkte erschöpft und abgeschlagen. »Damit ihr das Ausmaß der Situation begreift, muss ich ein wenig ausholen.« Auch sie nahm einen tiefen Atemzug, ehe sie aufsah und gleichzeitig die Tasse neben sich auf einer Ablage in der Küchennische abstellte. Ihre Gesichtsfarbe war wie bei jedem von uns um einige Nuancen heller als gewohnt. »Wie ich dir, Adam, am Abend meines Weggehens mitgeteilt habe, bin ich kein von Gott erschaffener Seraph, sondern wurde von zwei Engeln auf natürliche Weise gezeugt. Diese Besonderheit machte mich für den Himmel zu einer schützenswerten Seltenheit, was mein Dasein für alle Ewigkeit vorbestimmt hatte.« Trauer ließ das angedeutete Lächeln auf ihren Lippen wie eine Karikatur erscheinen. »Kaum war ich geboren, trennte man mich von meiner Familie und gab mich in die Obhut einer Schar Seraphe, die mich in strenger Isolation aufzogen. Man war der Meinung, dass ich – die Tochter zweier Erzengel – die Retterin des himmlischen Reiches war und es meine Bestimmung war, den Heiligen Krieg zu beenden. Jahrzehnte zogen ins Land, doch anders als jegliche Erwartung erfüllte sich mein Schicksal nicht und man begann mich zu vernachlässigen und schließlich zu vergessen. Immer wieder bat ich darum, aus meinem goldenen Käfig entfliehen und eine Lehre als Genius beginnen zu dürfen, doch mein Wunsch wurde nicht erhört.« Mit tränenfeuchten Augen schlang sie die Arme um ihren Oberkörper. »Ich versuchte, mein Schicksal zu akzeptieren, aber ich konnte es nicht. Irgendwann hielt ich dem mir selbst auferlegten Druck nicht länger stand und begann, mich gegen alles und jeden aufzulehnen. Ich rebellierte so lange, bis meinem Gesuch nach einer Anstellung als Schutzengel Gehör geschenkt wurde.« Ihre Lippen kräuselten sich und der Anflug eines trotzigen Lächelns wagte es, gegen ihre Schwermut anzukämpfen. Lange hatte es jedoch nicht Bestand und Hope verlor sich erneut in ihren düsteren Gedanken. »Leider hatten nicht alle Seraphe, die von meinem respektlosen Verhalten gehört hatten, Verständnis für meinen Wunsch nach Freiheit und Entfaltung. So kam es, dass sich meine Familie weigerte, mich zu treffen, nachdem ich mein Leben als Genius begonnen hatte und Kontakt zu ihnen aufnehmen wollte. Sie teilten mir mit, dass ich eine Schande für den Himmel sei und sie sich wünschten, dass ich niemals in ihr Leben getreten wäre.«

»Hast du mir deshalb nichts von deiner wahren Herkunft erzählt?« Die Emotionen in Adams Stimme waren so mannigfaltig, dass ich sie unmöglich alle heraushören konnte. »Weil du dich geschämt hast?«

»Unter anderem.« Hope erwiderte Adams Blick, was einem kleinen Wunder glich. Zum ersten Mal, seit wir dieses Haus betreten hatten, sahen sich die beiden direkt an. »Der Hauptgrund jedoch war, dass damals, als wir uns kennenlernten, dieser Teil meines Lebens bereits so lange zurücklag, dass er sich fremd anfühlte. So als wäre er jemand anderem und nicht mir widerfahren.« Sie zuckte mit den Schultern. »Es erschien mir einfach nicht richtig, dich damit zu behelligen, wo ich mir doch sicher war, nie wieder von meiner Familie zu hören.«

»Wie kam es dann, dass du Adam ihretwegen verlassen hast?«, fragte ich, als die Stille zwischen Adam und Hope immer unerträglicher wurde und das Gespräch abzubrechen drohte.

»Ihretwegen verlassen musste«, korrigierte mich Hope und funkelte mich scharf an. So zart und elfenhaft Adams Sanprada auch wirken mochte, wusste ich aus persönlicher Erfahrung, dass sie zu einer wahren Furie mutieren konnte, wenn man bei ihr nur die richtigen Knöpfe drückte. Und einer davon war definitiv ihre Liebe und die Loyalität Adam gegenüber infrage zu stellen. »Wegzugehen war keine freiwillige Entscheidung«, fügte sie hinzu und wandte sich wieder Adam zu. »Einige Tage bevor ich ging, war mir eine Nachricht zugestellt worden, in der es hieß, dass meine Familie ihre Meinung bezüglich eines Treffens geändert hatte und sie mich nach all der Zeit nun doch kennenlernen wollte. Dafür sollte ich in der Samhain-Nacht in die Goldene Stadt kommen.«

»Warum sagtest du mir dann damals, dass du die Goldene Stadt verlassen musstest?«

»Weil es so war.« Hope schluckte schwer. »Ich war so aufgeregt wegen des Treffens, dass ich viel früher aufbrach, als es nötig gewesen wäre. Ich vertrieb mir die Zeit in der Goldenen Stadt und stieß dabei eher zufällig auf meine Mutter. Sie teilte mir mehr als deutlich mit, dass sie mir weder diese Nachricht geschickt noch ihre Meinung über mich oder ein Treffen geändert hatte. Zudem sollte ich sie oder meinen Vater niemals wieder belästigen.« Tränen benetzten ihre Iriden und ihre Lippen begannen zu beben. »Ich war so verletzt, enttäuscht und durcheinander, dass ich auf direktem Weg zu dir zurückwollte, Adam. Unterwegs wurde ich dann von Dämonen angegriffen. Es gelang mir zu fliehen, aber diese Begegnung hatte mir klargemacht, dass die Nachricht gefälscht war und nur dazu diente, mich in eine Falle zu locken.« Ein Schluchzen entfloh ihren bebenden Lippen und sie senkte den Kopf. »Ich hatte keine andere Wahl, als auf der Stelle abzutauchen.«

Adam, der noch immer neben dem Kamin stand, die Arme wie in Zement gegossen vor der Brust verschränkt und die Zähne so fest in seine Unterlippe gerammt, dass frisches Blut seine schneeweißen Beißerchen umrahmte, schien angesichts der Vorstellung seiner emotional aufgelösten Sanprada ein Stück seiner Abwehrhaltung einzubüßen. Zumindest spiegelte seine Miene jene Verletzlichkeit wider, die mir bereits damals das Herz entzweigerissen hatte, als uns klar geworden war, dass Avery sämtliche Erinnerungen an ihren besten Freund verloren hatte.

»Wieso hast du mir nichts davon erzählt?« Adams Griff um seine Oberarme verstärkte sich und im Schein der lodernden Flammen wirkte sein Antlitz ungewohnt scharfkantig.

»Weil ich Angst hatte.« Hope antwortete so leise, dass selbst ich, der neben ihr saß, Probleme hatte, sie zu verstehen. Frische Tränen benetzten ihre Wangen, doch zumindest schien sie ihre Sprache wiedergefunden zu haben. »Ich hatte schreckliche Angst, Adam. Um mich, aber noch mehr um dich. Ich wusste ja nicht einmal, weshalb man hinter mir her war. Wie hätte ich dir da irgendetwas erklären können?«

Adam erwiderte Hopes gequälten Blick, dann schüttelte er den Kopf und wandte sich ab. Seine undurchdringlichen Mauern aus verletztem Stolz, Trauer und Wut waren von Neuem errichtet worden.

»Was ist dann geschehen?«, bohrte ich nach, da es nicht den Anschein hatte, als würde Hope von sich aus weitererzählen. Mich beschlich ein unschöner Verdacht, was hinter ihrer Geschichte steckte, weshalb ich lieber gleich erfahren wollte, ob ich – wie in den meisten Fällen – recht behielt.

»Die Dämonen, denen ich entkommen war, mussten mir gefolgt sein«, erklärte Hope und widmete mir ihre Aufmerksamkeit. »Denn kurz nach meinem Aufbruch wurde ich erneut angegriffen. Und dieses Mal waren meine Gegner so deutlich in der Überzahl, dass ich keine Chance gegen sie hatte.«

Goldlöckchen stieß einen derart wüsten Fluch aus, dass Hope unmittelbar verstummte und wir uns beide zu ihm herumdrehten. Da Adam keinen von uns ansah, sondern manisch auf seiner Lippe herumbiss, als wäre er besessen, forderte ich Hope mit einem Kopfnicken auf weiterzureden.