Beethoven - Kirsten Jüngling - E-Book

Beethoven E-Book

Kirsten Jüngling

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Beschreibung

Er war ein Genie, einer der größten Komponisten der Weltgeschichte. Er hatte Esprit und Humor. Doch er war auch ein Mensch, der dem Leben nicht gewachsen war. Kirsten Jüngling schildert in ihrer Biografie, wer sich wirklich hinter den großartigen Werken verbirgt, die Ludwig van Beethoven der Welt hinterlassen hat: ein überaus widersprüchlicher, launischer und misanthropischer Mann, der mit siebzehn seine Mutter verlor und unter einem herrischen Vater litt. Der sein Privatleben kaum im Griff hatte. Der Nähe suchte, aber ein schwieriges Verhältnis zu Frauen, Freunden und seiner Familie hatte. Der seinen Neffen mit überzogenen Erziehungsmaßnahmen kujonierte. Ein facettenreiches Lebensbild, das uns Beethoven so nah bringt wie kaum eine Biografie zuvor.

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Beethoven

Die Autorin

Kirsten Jüngling, geboren 1949, schrieb hoch gelobte Biografien über Elly Heuss-Knapp, Elizabeth von Arnim, Frieda von Richthofen, Franz und Maria Marc, Katia Mann sowie über Friedrich Schillers Frau Charlotte und deren Schwester Caroline von Lengefeld. 2008 legte sie die erste Biografie von Heinrich Manns Ehefrau Nelly vor. Zuletzt erschien ihr Buch über Emil Nolde mit spektakulären neuen Erkenntnissen. Kirsten Jüngling lebt in Köln.

Das Buch

Er war ein Genie, einer der größten Komponisten der Weltgeschichte. Er hatte Esprit und Humor. Doch er war auch ein Mensch, der dem Leben nicht wirklich gewachsen war.Kirsten Jüngling schildert in ihrer Biografie, wer sich hinter den großartigen Werken verbirgt, die Ludwig van Beethoven der Welt hinterlassen hat: ein überaus widersprüchlicher, launischer und misanthropischer Mann, der mit siebzehn seine Mutter verlor und unter einem herrischen Vater litt. Der sein Privatleben kaum in den Griff bekam. Der Nähe suchte, aber ein schwieriges Verhältnis zu Frauen, Freunden und seiner Familie hatte. Der seinen Neffen mit überzogenen Erziehungsmaßnahmen kujonierte. Ein facettenreiches Lebensbild, das uns Beethoven so nah bringt wie kaum eine Biografie zuvor.

Kirsten Jüngling

Beethoven

Der Mensch hinter dem Mythos

Biographie/Autobiographie

Ullstein

Besuchen Sie uns im Internet:www.ullstein-buchverlage.de

ISBN 978-3-8437-2188-2© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019Alle Rechte vorbehaltenLektorat: Julia NiehausTitelbild: © akg-images/Franz KleinAutorenfoto: © privatGestaltung: Morian & Bayer-Eynck, CoesfeldE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

1. Das glaube, wer will

2. »Mein Vaterland die schöne gegend, in der ich das Licht der Welt erblickte«

3. »Meine Reise hat mich viel gekostet«

4. Zwischenspiel in Mergentheim

5. »Werde ich einst ein grosser Mann«

6. »Meine Kunst erwirbt mir Freunde und Achtung«

7. »Daß ich mehr Bestellungen habe, als es fast möglich ist, daß ich machen kann«

8. »Noch immer mit einer gewissen ­Beklemmung des Herzens«

9. Das Heiligenstädter Testament

10. »Ich lebe nur in meinen Noten«

11. »Mein Engel, mein alles, mein Ich«

12. »Es ist nun Wahr, ich bin nicht so thätig als ich hätte sein sollen«

13. »Ich will sie heute selbst aus der Ferne ansehen und hören, wenigstens wird ­dadurch meine Geduld nicht so auf die probe gesezt, als so nahe bey, meine ­Musieck verhunzen zu hören«

14. »Werde ich aber einmal gereizt zu einer Zeit, wo ich empfänglicher für den Zorn bin, so platze ich auch stärker aus, als jeder Andere«

15. »Nun kannst du mir helfen eine Frau ­suchen«

16. »Manchmal mögte ich bald Toll werden über meinen unverdienten Ruhm, das Glück sucht mich, und ich fürchte mich fast deswegen vor einem neuen Unglück«

17. »Als die M. vorbeifuhr und es schien als blickte sie auf mich«

18. »Verkennen Sie

nicht den Künstler

, ­welcher nach

gewinn

ausgeht«

19. »Da ich nur yrdisch bin«

20. »Allerley

Miserabilitäten

«

21. »Meine Haußhaltung sieht einem ­schiffbruche beynahe ganz ähnlich«

22. »Arbeitete ich e[i]nige wochen hintereinander, daß es schien mehr für

den Tod

als für

die Unsterblichkeit

«

23. »Indem ich mich heute wieder allein in diesen mich Verwirrenden Umständen befand«

24. »Der Tod könnte kommen, ohne ­anzufragen«

25. Comedia finita est

26. Plaudite amici

27. Coda?

Bildteil

Zu den Quellen

Literatur

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1. Das glaube, wer will

Widmung

Für Michael Warnke, meinen Mann

1. Das glaube, wer will

Beethoven verschwindet. Erst am dritten Tag taucht er wieder auf. Er wird in einer Ecke des weitläufigen Gartens gefunden, der zum Landgut seiner Freundin und Gönnerin, der Gräfin Erdödy, gehört, und das ausgerechnet von ihrem Liebhaber, dem Hauslehrer ihrer Kinder, der als solcher später noch in Verruf geraten wird. Soll einem Joseph Brauchle die Rettung des großen Komponisten zu verdanken sein, der sich damals angeblich durch Verhungern das Leben nehmen wollte? Jedenfalls wird Brauchle als Erbe der Erdödy einmal Beethovens Briefe an sie erhalten – und damit ein Vermögen.

Warum kennt man diese Geschichte? Wann soll das gewesen sein? Beethovens frühe Biografen sind uneins: Anton Schindler ist für 1803, Alexander Wheelock Thayer meint, abwägend, nach 1806. Unsicherheiten in der zeitlichen Bestimmung von Ereignissen im Leben Ludwig van Beethovens gibt es einige. Und eben auch Anekdoten wie diese, die so gut, so treffend sind, dass niemand, der sich mit Beethovens Leben beschäftigt, an ihnen vorbeikommt.

Die ungarische Gräfin Anna Maria von Erdödy lebt seit 1805 – da ist sie 26 und nach neun Ehejahren von ihrem Mann getrennt – zumindest zeitweise auf ihrem Landgut in Jedlesee im Marchfeld. Ihr Besitz zieht sich bis zur Schwarzen Lacke, einem Seitenarm der Donau, der die benachbarten Ländereien im Winter häufig mit Eisstößen, im Frühjahr mit Überschwemmungen heimsucht. Als Sommerfrische ist die Gegend unter den Wienern, die sich so etwas leisten können, sehr beliebt. Auch Beethoven wird wohl in der warmen Jahreszeit dort gewesen sein, wenn überhaupt. Schindlers 1803 kann also kaum stimmen, der Zeitraum nach 1806 eher. Sogar 1813 wird diskutiert. Aber was heißt das schon? So viele Quellen, so viele Interpretationen dieses Verhältnisses, so viele Motive für Interpretationen der Quellen, an deren Echtheit oder Korrektheit gezweifelt werden darf – die Beethoven-Literatur ist voll von alldem. Die vielen Beethoven-Biografien also auch. Das ist typisch. Und ein Problem.

Schön ist sie freilich, die Vorstellung: Beethoven, als begnadeter Improvisateur, elegant gekleidet, am Klavier in adligen Kreisen bisher gut herumgekommen, als Komponist gefeiert, mit dem Leonoren-Stoff – vielleicht noch – beschäftigt, ein Künstler romantischer Prägung, ein Mann Mitte dreißig, der immer mal wieder das turbulente Wien flieht. Und seine Verpflichtungen dort, seine ebenfalls turbulenten Geschäfts-, Haushalts- und Liebesverhältnisse. Vielleicht mit der Kutsche nach Baden, Oberdöbling, Unterdöbling. Oder mit der Fähre über die Donau. Den Rest des Weges bis zum Anwesen der Gräfin mag er zu Fuß gegangen sein. Zu Fuß ist er gut, angeblich schafft er etwa dreißig Kilometer am Tag.

Er strebt in eine geordnete Häuslichkeit mit frischer Wäsche und passablem Essen. Und einem Flügel zu seiner Verfügung. Gespräche mit dem ebenfalls komponierenden Brauchle, mit einem Cellisten, mit dem Oberamtmann, der die Runde vollständig macht. Mehr ist nicht. Doch: Marie von Erdödy, natürlich. Klug, angesehen, mit neunzehn – vielleicht etwas voreilig – in den Sternkreuzorden aufgenommen, der für »Frauenzimmer« mit einer langen Reihe adliger Vorfahren gedacht ist, die einen Mann mit ebensolcher Ahnenreihe geheiratet haben. Sie sollen sich laut Statut in geistlichen und leiblichen Werken christlicher Liebe üben, Kranke in Spitälern besuchen und pflegen, die Jungfräulichkeit beschützen und Almosen an arme Leute verteilen.

Marie von Erdödy, früh von Schwangerschaften und Geburten gezeichnet, das heißt kränklich, ist anmutig und zugleich jenseits von allem, was zu starke fleischliche Begierden auslösen könnte. Beethoven ist gern mit Frauen dieser unbedrohlichen Art zusammen, erst recht, wenn sie trotzdem die Kraft aufbringen, mit Ehrgeiz Klavier zu spielen, wie auch die Geduld, ihm zuzuhören. »Beichtvater« nennt er die Erdödy. Und so könnte er sich in einer warmen, besternten Sommernacht in eine Stimmung hineingeredet, hineingefühlt haben, die ihn hinaus bis in die letzte Ecke des ausgedehnten Gartens treibt, weg von dem anspruchsvollen Getue drinnen, wo sich das Sausen und Brausen in seinen kranken Ohren ins kaum noch Erträgliche steigert – und die Gedanken an ganz andere, vergangene Lieben eben auch. Das Salettl, die Bank darin, niedersitzen, alles vergessen, bis im Kopf die Musik wieder da ist und sich ausbreiten kann. Essen und trinken muss man da erst einmal nicht. Und wenn dann so ein Brauchle angerumpelt kommt, kann man sich durchaus gestört fühlen und reagiert gerade so, als hätte man am liebsten der Welt Servus gesagt.

Hätte. Es gibt keinen Beweis für diese Geschichte, die sich so hartnäckig hält. Aber sie sagt etwas über das Bild, das seine Mitwelt und die Nachwelt sich von Beethoven machte und noch macht. Nicht zuletzt führte die Annahme, das Ganze habe sich 1806 zugetragen, zu Spekulationen, Josephine Brunsvik, verwitete Deym, müsse die Unsterbliche Geliebte und der Grund für derartige Verzweiflung gewesen sein. Mehr dazu später, wie auch zu den anderen Kandidatinnen für diesen Titel.

Beethoven scheint in diesem Jahr auf den Besitztümern seiner Förderer gut herumgekommen zu sein. Besonders interessant ist da auch Grätz. Auf mittelalterlichen Grundmauern frisch um- und aufgebaut zu einem Anwesen, so imposant wie die Musiker, die der Schlossherr Karl Alois Fürst Lichnowsky an sich zog: nach Mozart nun also Beethoven. Sehr vorzeigbar, das Ganze. 1806 sollen französische Offiziere beeindruckt werden, und Beethoven wird aufgefordert, vor ihnen zu spielen. Warum auch immer – ist es ihre Nationalität, ihr Berufsstand, die Order des Fürsten? Beethoven verweigert seinem Mäzen diesen Gehorsam. 600 Gulden jährlich und eine Freundschaft stehen auf der Kippe. Mehr noch: Er rebelliert ganz gewaltig, verbarrikadiert sich in ­einem Zimmer. Der Fürst, auch nicht ohne, tritt die Tür ein. Beethoven erwartet ihn mit einem Stuhl, hoch genug erhoben, um ihn auf dem Kopf seines Gönners zu zertrümmern. Daran kann man ihn hindern, Franz von Oppersdorf soll ihm in den Arm gefallen sein, aber nicht am Davonlaufen bei Nacht und Nebel ins gut fünf Kilometer entfernte Troppau und von dort mit der Extrapost nach Wien, wo er unverzüglich eine Büste Lichnowskys zerschmettert haben soll. Davonlaufen, sich verbergen, sich drücken vor zu viel Nähe und immer auch das Gegenteil – diese Verhaltensmuster durchziehen sein Leben. Wie seine Zornesausbrüche. Beethovens Raptus: legendär. Wie Anekdoten und Berichte, die dem jeweiligen Zeitgeist entsprechen, von tatsächlichen oder angeblichen Zeugen. »Fürst, was Sie sind, sind Sie durch Zufall und Geburt, was ich bin, bin ich durch mich; Fürsten hat es und wird es noch Tausende geben; Beethoven gibt’s nur einen«, soll er nach seinem Furor auf Schloss Grätz Ende Oktober 1806 Karl Lichnowsky mitgeteilt haben. Auch das ist nicht gesichert, aber es passt in die Legendenbildung um Beethoven.

2. »Mein Vaterland die schöne gegend, in der ich das Licht der Welt erblickte«

Beethoven an Franz Gerhard Wegeler in Bonn, Wien, 29. Juni 1801

Beethovens Geburtshaus steht in Bonn. Nicht im niederländischen Städtchen Zutphen, wie immer mal wieder behauptet wird. Da müsste man tatsächlich weit gehen, nicht nur in Kilometern. Man müsste das Geburtsdatum ändern, sicher sein, dass seine Eltern 1772 dort waren und dass Ludwig in einem Gasthof namens »De Fransche tuin« zur Welt kam.

Das wahre, das Bonner Geburtshaus ist längst Wallfahrts-, Gedenk- und Forschungsstätte. Bis vor Kurzem konnte man dort noch einen Blick in ein Zimmer werfen, das sein Geburtszimmer gewesen sein sollte: eine ruhige Ecke unter dem Dachgiebel im Hinterhaus, damals sogar noch kleiner als heute, zu erreichen über eine schmale Stiege. Zum Geburtstermin im Dezember 1770 muss es dort oben sehr kalt gewesen sein. Ganz ausgeschlossen ist dieser Ort nicht, denn die Familien der Hof­angestellten, zu denen auch Beethovens Vater gehörte, wurden von den Hofärzten versorgt, und die waren es gewohnt, ihre Patienten in deren privaten Räumen, im Schlafzimmer also, zu behandeln. Maria Magdalena könnte ihren Ludwig aber auch in der warmen Küche unten im Haus zur Welt gebracht haben, nicht im Bett liegend, sondern hockend oder kniend. Nur sein Taufdatum ist belegt, wie bei seinen Geschwistern auch. Es war der 17. Dezember. Sollte er am 16. geboren worden sein, wäre er ein Sonntagskind gewesen. Das kann sein, aber auch, dass er bereits an seinem Geburtstag getauft wurde, was wegen der hohen Säuglingssterblichkeitsrate damals oft so gehandhabt wurde.

Ludwig war Maria Magdalenas drittes Kind und der zweite Sohn, den sie mit ihrem zweiten Ehemann Johann (oder Jean) van Beethoven hatte, aber das erste Kind, das sie aufwachsen sah. Danach kamen noch fünf, von denen nur zwei am Leben blieben: Kaspar Anton Carl (getauft am 2. Oktober 1774) und Nikolaus Johann (getauft am 2. Oktober 1776). Anna Maria Franziska (getauft am 23. Februar 1779) lebte nur ein paar Tage. Franz Georg (getauft am 17. Januar 1781) starb am 16. August 1783, Maria Margaretha Josepha (getauft am 5. Mai 1786) am 26. November 1787. Katholisch war die Familie, wie üblich in Bonn, aber nicht besonders fromm. Daran wird sich auch Ludwig van Beethoven halten.

Erinnerungen von Zeitzeugen entnimmt man, dass Frau van Beethoven ihren Kindern gegenüber keine große Fürsorglichkeit an den Tag legte. Die Kleinen seien in Schmutz und auch schon mal in der Kälte den Dienstboten anvertraut worden, die sich nicht besonders um sie scherten. Kann es sein, dass die Mutter ihr Herz nicht an die Kleinen hängen wollte? Wäre das verwunderlich?

Man sieht also Ludwig in seinem Kinderkleidchen sich selbst überlassen auf irgendeinem Fußboden, drinnen oder draußen, in der Bonngasse 20 (früher 515) auf dem Fußboden sitzen. Die Eltern hatten eine Wohnung mit vermischtem Hof- und Gartenraum »in zweiter Reihe« gemietet, also im eher dunklen Hinterhaus, wo es im Erdgeschoss eine Küche nebst einem unterkellerten Wirtschaftsraum gab, dazu zwei kleine Stuben und eine etwas größere im ersten Stock und darüber mehrere kleine Kammern unterm Dach, wie die, in der Ludwig van Beethoven geboren worden sein könnte. Im Vorderhaus wohnte die Familie Philipp Salomon. Er war Oboist und wie Jean van Beethoven Mitglied der (übrigens sehr angesehenen) Hofkapelle, die dessen Vater, unseres Ludwigs Großvater, im Zenit seiner Karriere leitete.

Der war auch ein Ludwig oder Louis. 1717, gerade fünf Jahre alt, begann er mit dem Eintritt in die Chorschule in Mecheln eine Sängerlaufbahn. Nachdem er auch Orgel- und Generalbassunterricht erhalten hatte, konnte er in Kirchen Aufgaben übernehmen, will heißen arbeiten, zunächst als Tenorist. 1731 ging er als Chorleiter nach Löwen, 1732 als Bassist nach Lüttich und 1733 als Solobassist und Chorsänger nach Bonn in die Dienste von Clemens August von Bayern, Kurfürst und Erzbischof von Köln.

Der junge Mann sah sich in eine sehr spezielle Welt versetzt. Er wurde Zeuge der Vergnügungen des Adels: prunkvolle Messen, Tafelmusik, Theater, Ballett, Maskenbälle. Nach Clemens Augusts Hinscheiden 1761 – so passend: Er starb während eines Balls in den Armen seiner Geliebten, der Baronin von Waldendorf – wurde Louis’ Aufstieg zum Hofkapellmeister möglich, allerdings bei geringeren Einkünften als zuvor üblich, denn unter Maximilian Friedrich ging es nicht mehr so üppig zu. Aber ein Weinhandel nebenbei brachte ebenfalls Geld. Seine Ehefrau soll zur Trinkerin geworden sein. Die Familie kam schließlich nicht mehr mit ihr zurecht, sie wurde in ein als »Irrenanstalt« genutztes Kloster abgeschoben, wo sie mit etwa sechzig Jahren starb.

Louis gelang eine beachtliche und innerhalb der Familie immer sehr geachtete Karriere als Musiker, zumal wenn man seine Herkunft in Betracht zieht. Vater Michael war ein Bäckermeister, der irgendwann auf den Handel mit allem Möglichen umstieg: Immobilien, Spitzen, Gemälde, Möbel. Sein Sohn entschied sich eben für den Handel mit Wein. Der galt damals als gesundes, nicht verunreinigtes Getränk. Louis van Beethoven besaß zwei Keller voll und verkaufte ihn fassweise von Bonn aus, vor allem in die Niederlande.

Sein Sohn Jean setzte dieses Geschäft fort, wie er auch als Sänger in die Fußstapfen des Vaters trat. Zunächst ohne Entgelt sang der Zwölfjährige als Sopran in der kurfürstlichen Hofkapelle. Später, um sein sechzehntes Lebensjahr herum, wurde er Hofmusikus und bezog ein Gehalt, das Jahr für Jahr erhöht wurde. Begabt und ehrgeizig, aber auch leichtsinnig und von einer gewissen Bindungsschwäche soll er gewesen sein. Im renommierten Jesuiten-Gymnasium kam der Junge nicht über das erste Jahr hinaus, und überhaupt war er wohl nicht immer Willens, auf vorgezeichneten Wegen zu gehen. Vom Vater wurde er »Johannes der Läufer« genannt: »[…] lauf nur, lauf nur, du wirst noch einmal an dein End’ laufen«, soll er ihn laut Thayer verspottet haben. Vielleicht, weil dieser Sohn nach Köln, Deutz, Andernach, Koblenz, Ehrenbreitstein und sonst wohin ging, sobald der Vater ein paar Tage nicht zu Hause war. Auf Brautschau, heißt es, mögliche Bonner Arrangements verschmähte er offenbar. Nun, er wurde fündig – kann gut sein, dass dies durch Vermittlung des Bonner Hofviolonisten Rovantini gelang, der ein Verwandter von Maria Magdalena Leym, geborene Keverich, wohnhaft in Ehrenbreitstein, war. Sie war eine schöne, schlanke, ernsthafte Person mit guter Bildung und Erziehung und einem guten Ruf. Geboren im Dezember 1749 als Tochter des Oberhofkochs und der Köchin des Kurfürsten von Trier, verlor sie ihren Vater im Alter von zwölf, heiratete mit sechzehn den kurfürstlichen Kammerherrn Johann Leym und wurde mit nicht einmal neunzehn Witwe. In ihrer Ahnenreihe finden sich reiche Kaufleute, Hofräte und eine Mutter, die ihr ein beträchtliches Vermögen hinterlassen konnte, keine schlechte Partie also. Eine Kammerzofe oder ein Hausmädchen, so urteilte Luis van Beethoven, als Schwiegertochter? Aber sein Sohn setzte sich durch, und das war nicht typisch für ihn.

Der Trauung am 12. November 1767 in der Kirche Sankt Remigius folgten keine großen Feierlichkeiten, denn Louis war noch immer gegen die Verbindung, und zwar so sehr, dass er aus den bisher gemeinsam mit dem Sohn bewohnten Räumen in der Rheingasse auszog. Er wollte nicht mit dem Paar unter einem Dach leben, blieb aber in der Nähe und ließ es nicht aus den Augen. Sicher hatte er andere Pläne mit Jean.

Auch für Maria Magdalenas Wahl fehlte die Begeisterung der Familie der Keverichs. Nicht grundlos, wie sich zeigen würde. Ihre Mutter, die als Köchin nach dem frühen Tod des Vaters als Ernährerin ihrer beiden verbliebenen Kindern – vier waren früh verstorben – ihr Bestes gab, erlitt im Jahr nach der Hochzeit einen Nervenzusammenbruch. Sie hatte in dieser kurzen Zeit die Ehe der Tochter derart alimentiert, dass sie ihr ganzes, gewiss unter schweren Bedingungen erarbeitetes Vermögen abschreiben musste, und soll ihr restliches Leben bei Wind und Wetter als Bittstellerin vor Kirchen verbracht haben. Wenigstens ein schwarzes Schaf gab es auch auf dieser Seite der Familie. Von Unterschlagungen ist die Rede, auch Maria Magdalena soll geschädigt worden sein. Ein Prozess half ihr nicht, das Geld zurückzubekommen. Warum sie überhaupt auf Unterstützung aus der Verwandtschaft zurückgriff? Unklar, denn eigentlich war Jean finanziell durchaus in der Lage, seine Familie zu ernähren. Es wird sogar über einen Zusatzverdienst durch Spionieren für den fabelhaften Caspar Anton von Belderbusch, Premierminister des Erzbischofs von Köln und Kurfürsten des Heiligen Römischen Reiches Maximilian Friedrich, gemunkelt. Jeans Bemühungen, nach dem Tod des Vaters dessen Stelle als Hofkapellmeister zu übernehmen, scheiterten allerdings. Offenbar war auch das ererbte Weindepot als Handelsgut irgendwann ausgeschöpft. Danach muss seine eigene Trinkerei einiges gekostet haben. Die eine Flasche, die ihm seine Frau großzügig genehmigte, wenn er seinen Verdienst nach Hause brachte und ihn ihr, sozusagen als Wirtschaftsgeld, in die Schürze schüttete, genügte ihm sicher nicht. Da waren Schulden in Wirtshäusern unumgänglich.

Zunächst also: Das Ehepaar Jean und Maria Magdalena van Beethoven lebt – nach glanzloser Trauung, um den widerspenstigen Vater des Bräutigams nicht zu brüskieren – in der Bonngasse 20. Im zweiten Ehejahr, im April 1769, wird ihr erstes Kind geboren, ein Sohn: Ludwig Maria, er wird keine Woche alt. Im folgenden Jahr eben der Ludwig, der seinen Geburtstag lange mit dem des ersten Ludwigs verwechseln wollen sollte. Das Genie.

Aber danach sieht es erst einmal nicht aus. In keinem adligen Haus findet sich ein Pate für den zweitgeborenen Ludwig, was zu der Zeit nicht unüblich gewesen wäre. Großvater Beethoven, der jetzt auf der gegenüberliegenden Straßenseite wohnt, sowie die aus dem Nachbarhaus in der Bonngasse 18 stammende Frau Anna Gertrudis Baum, Gattin eines Kellerschreibers, treten schließlich als Paten an. Im Haus von Frau Baum wird das Ereignis auch gefeiert, wie praktisch.

Die gute Nachbarschaft endet allerdings vermutlich 1774. Da zieht die junge Familie van Beethoven nach Auf dem Dreieck 210 oder 227 oder 228 – die Hausnummern stiften noch heute Verwirrung. Der Großvater ist im Jahr zuvor gestorben, aber sein Schatten ist lang, so lang, dass der Enkel ihn für alles verehrt, was er an seinem Vater vermisst, und sich zeitlebens in jeder Beziehung als sein Erbe fühlt. 1776 wieder ein Umzug, jetzt in die Rheingasse 966 (später 934) und noch im gleichen Jahr in die Neugasse 912 (später 992, heute Rathausgasse). 1777, im Februar, ein erneuter Wohnungswechsel: ins Haus der Bäckerfamilie ­Fischer, Rheingasse 24. Hier lebt die Familie mit Unterbrechungen zehn Jahre. Kompliziert und vielleicht nicht immer korrekt zu recherchieren, was die Hausnummern betrifft, aber eines ist sicher: Die Instabilität seiner Umgebung in seinen ersten Lebensjahren prägt Ludwig.

Kinderkram aus dieser Zeit überliefern Fischers. Gegenüber dem, was von den Alten stammt, war schon Thayer skeptisch, nicht aber, was die Erinnerungen der Tochter Cäcilia betrifft. Nach ihr gab es ein nicht benanntes peinliches Problem des Jungen, das irgendwann gelöst wurde oder sich von selbst löste. Vielleicht nicht weiter erwähnenswert, aber immer wieder ein Biografen-Thema, um was auch immer daraus abzuleiten.

Ludwig van Beethoven war übrigens Linkshänder. Das galt damals als Normabweichung, aber es ist nichts dazu bekannt, ob diese für ihn mit Nachteilen verbunden war. Im Hof war eine Schaukel, da trafen sich die Kinder der Nachbarschaft. Ludwig soll das Gewusel genossen haben. Die Vermieter fühlten sich gestört: der Lärm im Haus, der Eierklau im Hühnerstall von Frau Fischer und der aus der Nachbarschaft entlaufene Hahn, den die Brüder Ludwig und Kaspar heimlich fingen und von der Magd braten ließen. Gleichzeitig heißt es, scheu und einsilbig sei der Junge gewesen, nicht sehr lernbegierig. An Schulbubenscherzen habe er sich nie beteiligt.

Schule überhaupt: schwierig – er habe nie richtig rechnen können. Ludwig van Beethoven ging in die Elementarschule in der Neugasse 1091, quasi um die Ecke, später in die Münsterschule. Viel mehr an Allgemeinbildung hat er wohl nicht mitbekommen. Oder vielleicht doch? Die damalige Hohe Schule verweist auf ein Matrikelbuch, nach dem Ludwig van Beethoven ein paar Jahre ihr Schüler gewesen sein soll. Kann sein, dass er dort etwas Latein gelernt hat.

Wozu Schulwissen? Rechnen, werden wir sehen, wäre hilfreich gewesen. Aber das interessierte den jungen Beethoven nicht. Schon früh empfand er eine Sehnsucht danach zu erkunden, ob es andere Orte geben könnte, andere Ziele als die ihm bekannten in Bonn. Gern stieg er auf den Dachboden des Fischerhauses, das eins der höchsten der Stadt war, und schaute durch ein Fernrohr über den Rhein hinweg ins Siebengebirge. Träumend. Eine reiche Tante aus Ehrenbreitstein, woher die Mutter stammte, ist überliefert. Sie soll nie ohne ein Geschenk den Fluss hinabgekommen sein. Das war mal ein halbes Kalb, mal ein Lamm. Höhepunkte im Leben der Beethovens, die genussfreudig waren.

Der Vater, gelegentlich liebenswürdig, oft brutal, war alles andere als stabilisierend. Eher musste sich die Familie auf das Geschick der Mutter verlassen, die sich auf jedermann gut einstellen konnte und beliebt war. Vermutlich sorgte sie dafür, dass die Miete pünktlich bezahlt wurde. Sittsam, mit Nähen und Stricken, soll sie ihre Zeit verbracht haben. Da war es mehr als recht, dass ihr Namenstag groß gefeiert wurde: mit Sang und Klang und Tanz und einer Art Thron mit Baldachin im besten Zimmer der Wohnung, von dem aus sie das Treiben ihr zu Ehren beobachten durfte. Die Nachbarschaft nahm an derartigen Selbstdarstellungsfesten der Familie van Beethoven begeistert teil. Um so verwunderlicher, dass es bisher keinen einzigen belastbaren Hinweis über eine Feier zu Ludwig van Beethovens Namenstag im August gibt.

Aber das Leben unter einem Dach hatte noch andere Facetten. Sowohl Louis als auch Jean wurden der kindlichen Fischer-Tochter Cäcilia gegenüber übergriffig. So war das eben: Männer tranken gern und ihre Frauen tolerierten das und die Zudringlichkeiten obendrein. Cäcilia wurde, wenn sie sich zur Mutter flüchtete, zu den alten Herren zurückgeschickt, um sich für ihre Widerspenstigkeit zu entschuldigen. Frauen hatten ernst und streng zu sein und kühl zu den Kindern. Und die Männer zu begönnern. Da war es auch tolerabel, dass die drei jungen Beethoven-Söhne den betrunkenen Vater aus der Kneipe nach Hause holen und auch mal mit der Polizei verhandeln mussten, um seine Festnahme zu verhindern.

Ludwigs musikalische Ausbildung lenkte zunächst ebendieser Vater. Klavier, Geige, Bratsche, Orgel, erst im Franziskaner-, später im Minoriten-Kloster – ein großes Programm für einen kleinen Jungen. Und ein strenges. Improvisieren, vor sich hin fantasieren? Verboten, mit harschen Worten, da war der Vater unerbittlich. Wie er auch den Fünfjährigen heulend auf einem Schemel vor dem Klavier stehend üben ließ, wann immer es ihm einfiel, auch nachts: Das ging. Ohrfeigen oder Schläge auf die Finger: auch. Und mal in den Keller sperren, wenn es nicht so lief. Ludwig sollte ein Wunderkind werden. Kann sein, das war gut gemeint. Es scheint, als spukte seiner Umgebung das Vorbild Mozart im Kopf herum.

Wie reagiert ein Wunderkind auf diesen Druck? Indem es ein passendes Gedicht findet und vertont. Es heißt »An einen Säugling« und ist von Johann von Döring. Interessant sind die beiden ersten Verse, mit denen er auch seiner Mutter eins auswischt. Da war Ludwig van Beethoven dreizehn Jahre alt.

Noch weißt du nicht, wes Kind du bist, Wer dir die Windeln schenket,Wer um dich wacht, und wer sie ist,Die dich erwärmt und tränket.

Geneus, indes mit frommem Sinn, Geneus: Nach wenig JahrenWird sich in deiner PflegerinDie Mutter offenbaren.

Klingt sehr danach, als sei das Erkennen der Mutter eine Enttäuschung gewesen. Und der Vater? Der wollte sich durch den Sohn als Lehrer profilieren, denn das Unterrichten war für ihn inzwischen ein weiteres finanzielles Standbein geworden. Irgendwann fiel aber auch ihm auf, dass das, was er seinem Sohn beibringen konnte, nicht genügte. Neue Lehrer wurden gesucht. Vermutlich bei vieren hatte Ludwig Orgelunterricht: beim Hoforganisten Ernst Gilles van der Eeden, beim Organisten der Münsterkirche Zensner sowie bei den Patres Koch und Hansmann. Violine lernte er bei Franz Rovantini und Franz Anton Ries, Horn bei Nikolaus Simrock. Ein Herr Santorini und der Sänger Tobias Pfeifer werden noch erwähnt, der im Sommer 1779 mit einer Theatertruppe nach Bonn kam. Beide wohnten bald mit Beethovens unter einem Dach. Santorini begleitete Jean gerne auf Kneipentouren.

Der Eindruck, dass die Ausbildung des jungen Ludwigs keinem bestimmten Plan folgte, täuscht nicht. Die Wahl der Lehrer? Zufall. Feste Unterrichtszeiten? Nicht wirklich. Aber da war der Ehrgeiz des Vaters und dessen Hoffnung, mit dem Jungen Geld verdienen zu können. Die Kindheit galt damals nicht als eine besonders schützenswerte Entwicklungsphase. So spielte Ludwig schon früh im Elternhaus vor geladenen Gästen – gegen Eintritt. Und dann, am 26. März 1778 um fünf Uhr nachmittags, der erste bekannte öffentliche Auftritt Ludwig van Beethovens. Mit sieben, was dem Vater schon zu alt vorkam, denn er kündigte sein »Söhngen von 6 Jahren« an. Die Kulisse: der Academie-Saal im Domizil der Schuhmachergaffel, Haus Thomberg, Sternengasse 12 in Köln. Der Ort war gut gewählt: Die gut 200 Meter lange Straße säumten seit dem Mittelalter prunkvolle Häuser, die den vielfältigen Ehrgeiz ihrer Eigentümer veranschaulichten.

Wie hatte ein Wunderkind in diesen Zeiten aufzutreten? Als Repräsentant des Glanzes der kurfürstlichen Residenz hatte es Galatracht anzulegen: seegrüner Frack, darunter eine blümchenverzierte weiße Seidenweste mit Goldkordel, darunter ein Hemd mit Spitzenjabot, eine grüne kurze Hose mit Schnallen, dazu Seidenstrümpfe in Weiß oder Schwarz und Schuhe mit schwarzer Schleife. Später, mit fünfzehn, als Zeichen seines Ranges als zweiter Organist, links einen Degen. Mit Klapphut auf künstlichen Locken und Zopf wurde der wilde Haarwuchs kaschiert. Stellen wir uns dazu den Jungen vor: gedrungene, ­vornübergebeugte Gestalt, die Haut pockennarbig und – weshalb man ihn als »Spanier« titulierte – so dunkel, dass mehr oder weniger ernsthaft bis heute schwarze Vorfahren diskutiert werden.

Wie passte Beethoven in die Zeit? Sein maßgeblicher Biograf, Alexander Wheelock Thayer, 1817 geboren, konnte noch mit vielen Männern und Frauen sprechen, die Beethoven erlebt hatten. Der Amerikaner war als Bibliothekar in Harvard mit den Erinnerungen Anton Felix Schindlers an Beethoven in Berührung gekommen. Sein Interesse war geweckt, und als er Ungereimtheiten in den Aufzeichnungen Schindlers bemerkte, trieb ihn das zur weiteren Beschäftigung mit Beethovens Leben an. Das ging so weit, dass er nach Europa zog, um selbst zu recherchieren. Seinen Lebensunterhalt verdiente er zunächst als Journalist, später als Konsul im damals österreichischen Triest. Die selbst gestellte Aufgabe konnte er nicht zu Ende bringen, aber er hinterließ sein Material. Über die Hälfte seines Lebens hatte er der Beethoven-Forschung gewidmet, als er mit achtzig Jahren unverheiratet starb.

Im ersten Band seiner Biografie schildert Thayer das Bonn des jungen Beethoven: »Lassen wir unsere Einbildungskraft uns all das vor Augen stellen, und wir werden eine dem Knaben Beet­hoven bekannte und vertraute Szene vor uns haben; eine Szene, in welcher auch er, als er zum Mannesalter heranwuchs, seine kleine Rolle zu spielen hatte.« Er malt seinen Lesern einen »hübschen Oster- oder Pfingstmorgen in jenen Jahren« aus, zeigt »uns die kleine Stadt in ihrem festtäglichen Schmucke und Geräusche«:

Die Glocken läuten auf den Schloß- und Kirchtürmen; die Landleute in groben, aber kleidsamen Gewändern, die Frauen mit hellen Farben überladen kommen aus den umliegenden Dörfern herein, füllen den Marktplatz und drängen sich in die Kirche zur Frühmesse. Die Adligen und Vornehmen, in breit herabhängenden Röcken, weiten Westen und Kniehosen, die ganze Kleidung aus glänzend farbigen Seidenstoffen, Atlas und Samt, mit großen, weißen, fliegenden Halskragen, Handkrausen über den Händen, Schnallen von Silber oder gar von Gold an den Knien und auf den Schuhen; hohe gekräuselte und gepuderte Perücken auf dem Haupte und bedeckt mit einem aufgekrempten Hute, wenn sie ihn nicht unter dem Arme trugen; ein Schwert an der Seite und gewöhnlich ein Rohr mit goldenem Knopfe in der Hand und, wenn der Morgen kalt war, einen Scharlachmantel über die Schulter geworfen; so richten sie bescheiden ihren Weg zum Schlosse, um Sr. Durchlaucht die Hand zu küssen, oder sie fahren zu den Toren hinein in schwerer Equipage, auf denen man noch weißgepuderte, mit gekrempten Hüten bekleidete Kutscher und Bediente sieht. Ihre Frauen tragen lange und enge Schnürbrüste, aber ihre Kleider fliegen mit mächtigem Schwunge; durch Schuhe mit sehr hohen Absätzen und durch den hohen Wulst, in welchen sie ihre Haare hinaufgekämmt haben, erscheinen sie größer, als sie sind; sie tragen kurze Ärmel, aber lange seidene Handschuhe bedecken ihre Arme. […] Die Kompanie der kurfürstlichen Garde ist ausgeritten, und von Zeit zu Zeit hört man den Donner des Geschützes von den Festungswällen.

Und weiter: »Das ganze Bonn wurde gefüttert aus des Kurfürsten Küche«. Wie angenehm, wie verführerisch.

Mehr als vom Putz der Gesellschaft dürfte das Kind Beethoven von den Naturgewalten, die es erlebte, beeindruckt gewesen sein. Ein großes Feuer gehört dazu: Am 15. Januar 1777 brannte das Bonner Schloss aus. Das Drama begann in der Frühe mit ein paar Flämmchen im Westflügel. Sie fanden ihren Weg weiter bis zum Dach und zur Pulverkammer, die explodierte. Das Hin und Her der Feuerwehr, die Angst der Bürger, der Brand würde sich immer weiter ausbreiten, die Toten, die zu beklagen waren, die Verluste an Bauwerken, zu denen auch die Schlosskirche zählte, der Aufruhr in der Stadt – all das blieb dem Sechsjährigen so wenig verborgen wie die Befürchtung des Vaters, die Zukunft der Bonner Musikszene sei in Gefahr. Vielleicht entschied der sich auch deshalb dafür, seinen Sohn Ludwig in Köln vorzustellen?

Auch Wasser kann bedrohliche Ausmaße annehmen. Im Februar 1784 erlebte der knapp Vierzehnjährige ein spektakuläres Über-die-Ufer-Treten des Rheins. Die Ursache eines extrem kalten Winters in Europa und also auch dieser Überschwemmungen waren Vulkanausbrüche auf Island. Die Eruptionen der Laki-Krater begannen im Juni 1783 und dauerten bis in den Februar des folgenden Jahres an. Riesige Mengen von Lava wurden ausgestoßen, auf der Insel trockneten in der Hitze Flüsse aus, Aschewolken verdunkelten den Himmel. Später überzog schwefelhaltiger Nebel, den die Sonne kaum durchdringen konnte, Länder und Meere, nicht nur in Europa, sondern auch darüber hinaus.

Bonns gut 12 000 Einwohner sahen zunächst ungewöhnlich starke Eisgänge auf dem Rhein. Nach deren Schmelze durch einen Warmlufteinbruch im Februar stand das Wasser schon im ersten Stock, als Familie Beethoven sich entschloss, auf den Speicher zu schaffen, was beweglich war, und über Leitern und Bohlen das Haus zu verlassen. Sie kamen bei einem Bekannten, einem Musiker, unter, bis der Rhein sich wieder zurückzog. Ganz Bonn war in Aufruhr, von Plünderungen der verlassenen Wohnungen war die Rede.

Und eine Reise blieb dem Jungen in Erinnerung. 1783, in dem Sommer, der dieser Katastrophe vorausging, starb am 16. August mit zweieinhalb Jahren sein Bruder Franz Georg. Vielleicht wollte die Verwandte der Mutter, die aus Rotterdam, wo sie als Kindermädchen arbeitete, nach Bonn gekommen war, um das Grab des 1781 verstorbenen Rovantini zu besuchen, die trauernde Maria Magdalena ablenken und dem Jungen eine Chance bieten. Jedenfalls nahm sie auf der Rückreise Mutter und Sohn mit in die Niederlande. Sie fuhren auf einem Marktschiff, das neben Waren auch Passagiere beförderte. Von Rotterdam ging es nach Den Haag, wo Ludwig in einem Gebäude des Binnenhofs vor Willem V., Fürst von Oranien und Nassau, spielte. Das war im November, und zwar zu einem sehr ordentlichen Honorar für den nicht einmal Dreizehnjährigen. Es war eben auch eine Tour, die ihn als junges Talent vorführen sollte.

Ludwig vergaß nie, wie kalt es auf dem Schiff gewesen war, so kalt, dass er seine Füße auf dem Schoß der Mutter wärmen durfte. Warum erinnert sich ein Mensch an so etwas? Vielleicht, weil er nicht daran gewöhnt war, von der Mutter beschützt zu werden – vor was auch immer. Nichts ist überliefert, was darauf schließen lässt, dass Maria Magdalena sich je vor ihren Sohn und gegen den Vater gestellt hätte, wenn der ihn drangsalierte. So würden wir es jedenfalls heute empfinden, und es gibt Hinweise darauf, dass es dem Kind Beethoven ähnlich ging. Man liest, der kleine Ludwig sei einmal mit der Mutter »in Zwietracht« geraten, fortgelaufen und habe sich so lange verborgen gehalten, bis man ihn für tot hielt. Weglaufen, sich verbergen, vielleicht auch Fantasien wie diese: Man vermisst ihn, macht sich Gedanken, wohin er sich geflüchtet haben könnte, trauert um den Verlorenen, der dann doch wieder auftaucht … Genussvoll mag er sich das ausgemalt oder es erlebt und später – zum Beispiel im Salettl der Erdödy – wiederholt haben. Das »ehrende Andenken« an seine Mutter kann gut Ausdruck einer lebenslangen Bemühung gewesen sein, ihm zugefügte Verletzungen auszumerzen.

Weitere Fahrten, die er von Bonn aus unternahm, wird er sich in Wien vergegenwärtigen, wenn er einmal darüber sinniert, wie es wäre, ins Rheinland zurückzukehren: nach Flammersheim zu Dalwigk, zum Pastor Olef in der Sürst, zum Pastor Deck in Odendorf, nach Oberdrees zu Dick, nach Ahrweiler zum Bürgermeister Schopp und dessen Apothekerbruder, zu Herrn Rheindorf nach Ersdorf, nach Schloss Röttgen zum Oberförster Ostler, nach Poppelsdorf zu Herrn Kloetz in die Porzellanfabrik. Besuche bei von Meinertzhagen in Oberkassel. Auch nach Hennef, nach Bensberg, nach Siegburg reiste er unter anderem. Es galt, die Honoratioren der Umgebung zu besuchen und sich bekannt zu machen.