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Die Zerstörung natürlicher Lebensräume, wirtschaftliche Ausbeutung ärmerer Länder und die soziale Ungerechtigkeit bei uns gehen Hand in Hand und beruhen auf denselben strukturellen Problemen. Diese Zusammenhänge werden in "Befreiung" aufgezeigt und die wichtigsten Baustellen benannt. Vor allem aber sollen Lösungsansätze für die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft aufgezeigt werden, für uns, denen oft genug eingeredet und suggeriert wird, an den gegenwärtigen Problemen nichts ändern zu können. "Befreiung" will nachdenklich stimmen, wachrütteln und motivieren zugleich - und ganz konkrete Lösungsansätze liefern. Analysen und Appelle allein gab es schließlich schon mehr als genug...
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Seitenzahl: 202
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Über den Autor
Timon Krause, geboren 1983, arbeitet hauptberuflich als Verkehrsflugzeugführer. Neben seinem Engagement im Vorstand des Asylarbeitskreises Heidelberg schreibt er in seiner Freizeit für ein Musikmagazin, ist Unterstützer eines lokalen Slum-DevelopmentProjektes in Mumbai und Mitglied bei Greenpeace und dem Forum Ziviler Friedensdienst. Er lebt mit seiner Frau und der gemeinsamen Tochter in Heidelberg.
Timon Krause
BEFREIUNG
Von der Notwendigkeit und den Möglichkeiten einer umfassenden Umkehr
© 2020 Timon Krause
Umschlag, Illustration: Julien Lefèvre, Christine Siegel
Lektorat, Korrektorat: Hendrik Stöber, Thomas Heinze
Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback
978-3-347-03833-2
Hardcover
978-3-347-03834-9
e-Book
978-3-347-03835-6
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für unsere Tochterund ihre Generation
Inhalt
Vorwort
Teil I – Hinführung
1. Über dieses Buch
2. Schlaglichter und blinde Flecken
Teil II – Bewusstwerdung und Verantwortung
3. Demaskierung
4. Standortbestimmung
Teil III – Grundsätzliches
5. Die große Frage
6. Kirche und ihre besondere Verantwortung
Teil IV – Befreiendes Handeln
7. Gelebte Utopie
8. Anpacken
Nachwort
Danksagungen
Quellenangaben
„What will you tell your children when they ask you: ,What went wrong?'?“
- ,Dark Days', Parkway Drive
„Pablo: Die Reichen brauchen nicht befreit zu werden, sondern die Armen. Es sollen ja wohl nicht die Ausbeuter befreit werden!
Oscar: Doch, sie sollen von ihrer Ausbeutung befreit werden.“
- ,Das Evangelium der Bauern von Solentiname', Ernesto Cardenal
Vorwort
Die Arbeit an „Befreiung“ begann im März 2019 und dauerte ziemlich genau ein Jahr. Die Fertigstellung fiel also mit dem Beginn der globalen SARS-CoV-2-Pandemie zusammen. Obwohl diese weltumspannende Krise andere Themen vorübergehend in den Hintergrund treten ließ, hat sich in meinen Augen an der Aktualität der hier beschriebenen Probleme nichts geändert – manche werden durch SARS-CoV-2 vielmehr noch verschärft. Die sogenannte Corona-Krise wird mit Sicherheit Spuren in unseren Gesellschaften hinterlassen, doch die großen Baustellen unserer Gegenwart werden bleiben.
Die ersten Zeilen dieses Buches schrieb ich, während meine Frau und ich auf unser erstes Kind warteten. Für dieses neue und anfangs so schutzlose kleine Leben tragen wir zunächst die vollständige Verantwortung, was für mich zwei Fragen neu aufwirft: Was möchte ich diesem heranwachsenden Menschen vermitteln, an Werten, an Wesentlichem? Und: In welcher Welt soll dieses Kind aufwachsen? Was für eine Welt wollen wir der nächsten Generation hinterlassen?
Diese große Veränderung in unserem Leben empfand ich als zusätzlichen Anstoß, endlich einen Großteil der Gedanken zu Papier zu bringen, die mich in den Jahren zuvor umgetrieben haben: das Bewusstsein über die massive globale Ungerechtigkeit, die unser dominierendes Wirtschaftssystem zu verantworten hat. Die unrühmliche koloniale Tradition der europäischen Welteroberer, die in besagtem Wirtschaftssystem ihre Fortsetzung findet. Der Raubbau an unserem Planeten, der für jede kommende Generation immer noch größere Hypotheken anhäuft. Die starren, dogmatisch getarnten, nach innen gerichteten Sichtweisen von Vertretern der großen Weltreligionen, die häufig nur die Machtinteressen elitärer und patriarchaler Verbünde bedienen. Oder die häufig demoralisierende, bisweilen auch tendenziöse bis manipulative Berichterstattung unserer Medien, die zudem im Verdacht stehen, in manchen Fällen eher als verlängerter Arm finanzstarker Interessensgruppen denn als neutrale Beobachtungsplattform und Informationsquelle für die breite Bevölkerung zu fungieren. Und, allem voran, die uns von vielen Seiten suggerierte Machtlosigkeit und scheinbare Unmöglichkeit, etwas an diesen ungerechten und bevormundenden Zuständen ändern zu können.
Mir geht es nicht um eine weitere umfassende Analyse der globalen Probleme, wie sie bereits in rauen Mengen in den Buchhandlungen liegen. Ich möchte auch keine rein appellhafte und allgemeine Aufforderung liefern, „etwas zu ändern.“ Die Feststellung, dass es „so nicht weitergeht“, beseitigt weder die lakonische Ignoranz unserer Oberschicht noch löst sie die Mutlosigkeit der Betroffenen. Hier soll es zwar zunächst auch darum gehen, weshalb wir eine echte Umkehr jedes und jeder Einzelnen brauchen, aber dann auch, wie eine solche Umkehr ganz praktisch, pragmatisch und wirkungsvoll aussehen kann. Ich werde also einen Spagat versuchen, zwischen argumentativer Überzeugungsarbeit und positiver, motivierender Ermutigung. Dieses Buch soll ein Wachrüttler, ein Tritt in den Hintern sein für all jene, die in Lethargie und Gleichgültigkeit versunken sind. Es soll eine Mahnung sein an alle, die in vollem Bewusstsein eine Lebensweise verfolgen, die ihrer Umwelt, ihren Mitmenschen und folglich auch sich und ihren Nachkommen langfristig Schaden zufügt. Vor allem aber soll es all jene motivieren und mit Zuversicht füllen, die mit den vorherrschenden Zuständen unzufrieden sind, sich bislang aber als zu klein, zu unbedeutend, machtlos vorkamen – denn das sind sie nicht! Erinnern wir uns daran, wie sich der ehemalige Résistance-Kämpfer Stéphane Hessel eine Dekade nach der Jahrtausendwende noch einmal mit seiner Streitschrift „Empört euch!“ an die junge Generation wandte, zum Widerstand gegen die vorherrschenden Verhältnisse aufrief und zu einem mutigen, kreativen Veränderungsprozess aufforderte. Seine Worte hallen nach. Die Verantwortung tragen nun wir, die Generationen nach ihm.
Im Vorfeld dieser Arbeit beschäftigte mich immer wieder die Frage, was ein weiteres Buch überhaupt bewirken kann und soll. Ist ein solches, im Prinzip ja rein theoretisches Projekt nicht Verschwendung der eigenen – zeitlichen – Ressourcen? Sollte man nicht besser losziehen, sich ein praktisches Betätigungsfeld suchen, um konkret und handfest etwas zu verändern? Sicherlich erfüllt ein Buch für seinen Autor zunächst den Selbstzweck, die eigenen Gedanken zu bündeln und sie zwischen zwei Deckeln komprimieren zu können. Doch im Vordergrund steht für mich etwas anderes: Sollte ich in dieser kleinen Streitschrift meine Überzeugungen (mit denen ich ja glücklicherweise nicht alleine bin) glaubwürdig und überzeugend vermitteln können, und sollte dadurch vielleicht nur eine Handvoll Menschen zum Handeln ermutigt werden, aufs Neue Hoffnung finden, oder gar ihre bisherige Sichtweise überdenken, dann hat sich die Arbeit der vergangenen Monate bereits gelohnt.
Heidelberg, im März 2020
Teil I – Hinführung
1. Über dieses Buch
„Wenn wir uns der Gerechtigkeit zwischen den Generationen nicht bewusst sind, werden wir als eine der egoistischsten Generationen in die Geschichte eingehen, die es je gab.“
- Ramesh Sharma
„Was hast du, was dir nicht gegeben wurde? Und was rühmst du dich dessen, was du hast, als wäre es dir nicht gegeben worden?“
- 1.Korinther 4, 7
Zunächst: Wie komme ich zu einem so hochtrabenden und zugleich abgegriffenen Titel wie „Befreiung“? Wer oder was bedarf denn der Befreiung? Dazu nur einige wenige Worte:
In erster Linie wird in diesem Buch von Befreiung auf gesellschaftspolitischer Ebene die Rede sein. Auf der Hand liegen dürfte, dass viele Menschen außerhalb der Machtzentren und Metropolen dieser Welt in Unfreiheit leben – jener Teil der Weltbevölkerung, der in der Peripherie der großen Weltpolitik, im Schatten der auf knackige Schlagzeilen zielenden Berichterstattung seinen Lebensunterhalt bestreitet. Das Leben dieser Menschen, oder besser gesagt: ihr Überleben hängt ab von Machtfaktoren, auf die sie keinerlei Einfluss haben. Auch klimatische Verwerfungen treffen sie härter als die Bürgerinnen und Bürger wohlhabender Industrienationen. Diese Menschen haben Anspruch auf Befreiung aus dem Abhängigkeitskomplex, der ihnen von anderen, nämlich den einflussreicheren Mitgliedern der Weltgemeinschaft über Jahrhunderte hinweg aufgebürdet wurde.
Befreit werden muss im erweiterten Sinne auch unsere natürliche Umwelt, die Pflanzen- und Tierwelt unseres Planeten, die vom kapitalistischen Wachstumsexzess als reiner Rohstoff- und Nahrungslieferant versklavt wurde, und deren Zerstörung letztlich auch das Leben der Sklavenhalter immer stärker beeinträchtigen wird.
Am wenigsten einsichtig ob ihrer Unfreiheit und der daher notwendigen Befreiung dürften die Verantwortlichen und Nutznießer dieser Machtkomplexe sein, also wir, die Bevölkerung der Industrienationen, die faktisch allen Regionen unseres Planeten durch unsere Art zu wirtschaften, zu konsumieren und Einfluss auszuüben einen unbarmherzigen Stempel aufgedrückt haben – bewusst oder unbewusst. Auch wir müssen aus diesem System befreit werden: zu unserem Wohle, zum Wohle von Millionen von Menschen, denen wir nie persönlich begegnet sind, deren Leben wir aber durch unsere Lebensweise beeinflussen, und zum Wohle unseres einzigartigen, wunderbaren Planeten, unserer Heimat, für die es auf absehbare Zeit keinen Ersatz geben wird. Wir müssen befreit werden aus dem Hamsterrad des Dauerkonsums, der unsere ökonomischen sowie mentalen Ressourcen in Anspruch nimmt, ohne Widerspruch zu dulden. Gelenkt von Werbeindustrie und eingebunden in ein scheinbar alternativloses politisch-wirtschaftliches System, werden wir uns unsere Unfreiheit nur ungern eingestehen. Befreiung kann also nicht nur gesellschaftspolitisch und ökologisch, sondern gewissermaßen auch auf geistlich-persönlicher Ebene stattfinden. Obwohl es in diesem Buch weniger um philosophisch-geistliche Kategorien geht – wie die Befreiung des menschlichen Potentials aus seiner konsumorientierten Versklavung, oder die geistliche Befreiung des Menschen aus der Unfreiheit eines entartet-entfremdeten Daseins – , zielt die äußere Befreiung von Mensch und Natur letztlich auch auf eine innere, spirituelle Ebene. Das dürfte aber eher Thema eines anderen Buches werden.1
Wir sprechen hier also in erster Linie über äußere Formen von Freiheit und Unfreiheit. Wenn es um die Personengruppen geht, die dabei im Mittelpunkt stehen, greife ich der Einfachheit halber oft verallgemeinernd auf übergeordnete Begriffe wie Arme, Marginalisierte, Bürgerinnen des globalen Südens auf der einen Seite und (Einfluss-)Reiche, Bewohner der Industrienationen oder auch des Westens bzw. globalen Nordens auf der anderen zurück. Dabei ist mir bewusst, dass eine unreflektierte Schwarz-Weiß-Einteilung problematisch ist und dass die Grenze zwischen „gut“ und „böse“ selten scharf gezogen werden kann. Selbstredend gibt es unendlich viele Schattierungen und Gegenbeispiele, die sich diesen Kategorien entziehen: Es gibt den verantwortungsbewussten Vorstandsvorsitzenden, der sich bemüht, eine an ethischen Maßstäben orientierte Unternehmenspolitik zu betreiben. Es gibt die vielen mitteleuropäischen Angestellten in mehr oder weniger prekärer Lohnsituation, die sich als Verlierer der Globalisierung primär um persönlich-existenzielle Probleme kümmern müssen und deren globaler Einfluss auf den ersten Blick nichtig erscheinen mag, die aber in ihrer großen Zahl durch ihr Konsumverhalten eben doch negativen Einfluss auf die Menschenrechts- und Umweltsituation in den Ländern des globalen Südens ausüben. Es gibt den armen südostasiatischen Kleinbauern, der trotz des Bewusstseins für die Folgen von konventioneller Einmalbewirtschaftung an der Erosion von Boden und Landschaft in der Region seines Heimatlandes mitwirkt. Und so weiter. Eine pauschale Einteilung der Weltgesellschaft in Verantwortliche und Geschädigte kann einer differenzierten Problemanalyse zwar nicht vollständig gerecht werden, dennoch lässt sich nicht abstreiten, dass globale Probleme Ursachen haben, die zunächst in recht groben Rahmen zusammengefasst werden müssen, um als solche identifiziert und – hoffentlich – gelöst werden zu können. Und auch um aufzuzeigen, wie vielfältig die Möglichkeiten der Einzelnen sind, um die angesprochene Befreiung zu erreichen, komme ich um die eine oder andere etwas allgemeine Kategorisierung nicht umhin. Ich hoffe, der wesentliche Inhalt dieses Buches rechtfertigt ein solches Vorgehen.
Außerdem liegen meiner Argumentation zwei Tatsachen zugrunde, die ich als unbestreitbar ansehe: den negativen Einfluss unserer auf ungebremstem Wachstum basierenden Wirtschaftsweise auf das Ökosystem unseres Planeten sowie den Zusammenhang von konzentriertem Reichtum in den Händen weniger Individuen und Massenarmut in vielen Ländern.
Die Frage, wie groß der Einfluss des Menschen auf den sich bereits vollziehenden Klimawandel ist, führt seit Jahrzehnten zu kontroversen Debatten. Doch an der Tatsache, dass unsere Lebensweise einen negativen Einfluss sowohl auf das Weltklima als auch das Ökosystem Erde generell hat, rüttelt mittlerweile kaum noch jemand, der nicht gerade aus geschäftlichen Interessen oder anderen persönlichen Egoismen einen Umbau unseres Wirtschaftssystems ablehnt.2 Speziell die Frage, wie groß der Einfluss des vom Menschen (direkt wie indirekt) produzierten CO2s auf die Erderwärmung ist, mag noch nicht im letzten Detail geklärt sein, doch niemand kann heute noch leugnen, dass unser gedankenloser Konsum seit der Industrialisierung weltweit die Lebensräume zahlreicher Tierarten zerstört hat und die Artenvielfalt reduziert, dass die Meere in vielen Teilen überfischt und zugemüllt sind (und wir – bittere Ironie – längst unseren eigenen Dreck fressen)3, dass in städtischen Ballungsgebieten häufig (vermeidbare!) gesundheitsschädliche Luftverhältnisse herrschen, und dass sich das Klima verändert, mit je nach Sichtweise größerem oder kleinerem Einfluss des Menschen (der Grad und das Ausmaß der Veränderung des Weltklimas seit der Industrialisierung im Gegensatz zu den Schwankungen in den verschiedenen früheren Epochen unseres Planeten ist auf alle Fälle nicht zu leugnen).4 Die allermeisten kritischen, weil langfristig unumkehrbaren Umweltschäden unserer Zeit haben ihre Ursache in menschlichem Wirken. Diese Tatsache darf als gegeben vorausgesetzt werden angesichts der seit der Industrialisierung sich immer stärker beschleunigenden negativen Parameter; sie weiterhin in jeder Diskussion verteidigen zu müssen käme mir vor, als diskutierten wir auch heute noch darüber, ob nicht doch die Sonne sich um die Erde dreht. Ja, sie zu leugnen, ist in meinen Augen in höchstem Maße gefährlich und verantwortungslos. Zeit für diese fruchtlosen Debatten bleibt uns nicht mehr. Wer der überwältigenden Mehrheitsmeinung der Wissenschaft dennoch skeptisch gegenüber steht, der dürfte zumindest diesem ironischen Kommentar eines Youtube-Nutzers wenig entgegen zu setzen haben: „Wir könnten jetzt etwas gegen den Klimawandel tun, aber wenn wir dann in 50 Jahren feststellen würden, dass sich alle Wissenschaftler doch vertan haben und es gar keine [menschgemachte] Klimaerwärmung gibt, dann hätten wir völlig ohne Grund dafür gesorgt, dass man selbst in den Städten die Luft wieder atmen kann, dass die Flüsse nicht mehr giftig sind, dass Autos weder Krach machen noch stinken und dass wir nicht mehr abhängig sind von Diktatoren und deren Ölvorkommen. Da würden wir uns schon ärgern.“
Ebenso die zweite Tatsache: Das Wirtschaftswachstum der reichen Länder, das Hand in Hand geht mit immer noch zunehmender Ungleichverteilung des Wohlstandes, hat unmittelbar die Ausbeutung und Verarmung von Menschen in weniger entwickelten Ländern zur Folge (auch in den reichen Ländern, gewiss, doch die extreme Armut in vielen Regionen der südlichen Hemisphäre mit der Armut in Deutschland zu vergleichen, wäre doch unverhältnismäßig – wir kommen aber auch auf die wachsende soziale Ungleichheit in den westlichen Ländern noch zu sprechen!).5 Ja, auch hierlässt sich über Einzelfälle streiten: Hat der Erwerb einer neuen Adidas-Sporthose den gleichen „Impact“ wie der Kauf eines NoName-Produktes bei Primark, durchläuft sie dieselbe ungerechte und womöglich unökologische Wertschöpfungskette? Ist wirklich jedes elektronische Gerät, das ich erwerbe, in irgendeiner chinesischen Fabrik hergestellt worden, unter gesundheitsgefährdenden Arbeitsbedingungen für die Angestellten? Müssen für jedes Elektronikprodukt in Zentralafrika Kinder unter unmenschlichen Bedingungen in einer Kobaltmine schürfen?[3] Wie auch immer solche isolierte Betrachtungen ausfallen mögen: Aus der Makroperspektive gesehen, bereichert sich der globale Norden ohne Rücksicht auf Verluste an den ärmeren Ländern der Welt, wo unwiderlegbar zahllose Menschen an der Produktion unserer Konsumgüter und Lebensmittel schuften. Die dort entstehenden Umweltschäden, die laxen Arbeitsschutzbedingungen, in unmittelbarer Folge sogar die Morde an Arbeitnehmeraktivistinnen und -aktivisten, Umweltschützern und Vertreterinnen indigener Minderheiten, wie sie in vielen südamerikanischen und südostasiatischen Ländern Gang und Gäbe sind: Allzu häufig versuchen internationale Großkonzerne, in Zusammenarbeit mit korrupten lokalen Funktionären ihre Geschäftsfelder auszuweiten, ohne sich um die fatalen Nebenwirkungen ihrer Aktivitäten zu kümmern. Es ist die nüchterne, zweckmäßige Macht des Kapitals. So wurde der faschistische Präsident Brasiliens, Javier Bolsonaro, vor seiner Wahl 2018 von der Deutschen Bank nüchtern als „Wunschkandidat der deutschen Wirtschaft“ bezeichnet – weil Bolsonaro oft genug betont hatte, er würde die Schutzauflagen für Regenwaldgebiete sowie für dort ansässige Ureinwohnergruppen aufheben, um uneingeschränkten Rohstoffabbau sowie die Expansion der industriellen Landwirtschaft zu ermöglichen.[5] Wer kann nun wirklich sicher sein, dass das Futter seines Rindersteaks nicht von einer brasilianischen Sojaplantage stammt, für die hektarweise Regenwald gerodet und im Anbaugebiet ansässige Ureinwohner vertrieben wurden – vom negativen Impact auf die weltweite CO2-Bilanz noch ganz abgesehen? Es bringt also auch hier nichts, sich beschwichtigend an Einzelfällen aufzuhalten: Im Gesamten treibt eine unzureichend kontrollierte, rein am Profit orientierte globale Wirtschaftsweise Blüten, die trotz allem gesellschaftlichen Fortschritt Menschenleben fordert und soziales Elend verursacht. Dass die Akkumulation von Reichtum in den Händen Weniger problematisch ist, weil sie deren Macht nur noch weiter verstärkt, womit wiederum die Möglichkeiten, sich jeder gesellschaftlichen Verantwortung zu entziehen, immer größer und verlockender werden – will das irgendjemand ernsthaft bestreiten?
Und ein letztes: Diese relativ pauschale Kritik an unserer Gesellschaft und ihren Mitgliedern mag viele verärgern, doch in meinen Augen muss sie unbedingt stattfinden, ehe es um die Maßnahmen zur Veränderung gehen kann. Ich kann mich selbst in keiner Weise aus dieser Kritik herausnehmen, als Angehöriger einer schrumpfenden, gut verdienenden Mittelschicht, die mit ihrer Konsumweise, ihrer Passivität und vor allem ihrer kritiklosen Beteiligung an den Mechanismen unseres Finanz- und Wirtschaftssystems einen wesentlichen Anteil an den Missständen auf unserem Planeten hat. Noch viel, viel mehr Menschen aus unseren einflussreichen Kreisen (ja, auch wir Normalbürger haben Einfluss! Darüber wird noch zu reden sein…) müssen sich und der Öffentlichkeit eingestehen, dass wir aktuell auf der falschen Seite der Geschichte stehen, wir aber mit Mut und Entschlossenheit diese Situation fundamental verändern können. Kein resigniertes Achselzucken, kein Verharren bei wichtigen, aber zunächst kosmetischen Korrekturen wie dem Griff ins Bio-Regal oder einer Spende an eine Wohltätigkeitsorganisation. Da geht mehr, viel mehr! Und wir haben es in der Hand – das soll die Message am Ende dieses Buches sein, diese Erkenntnis hoffe ich bei der Leserschaft hervorzurufen, nicht ein schlechtes Gewissen oder neuen Ärger über einen weiteren Nörgler aus der Gutmenschenriege.
Daher soll es im letzten Teil dieses Buches ganz konkret darum gehen, wo wir, die „einfachen“ Bürgerinnen und Bürger einer wohlhabenden Exportnation, Möglichkeiten haben, an den problematischen Strukturen unserer Wirtschaft und Politik etwas zu ändern. Das ist mein Hauptanliegen: aufzuzeigen, dass wir als Einzelne deutlich mehr Macht haben, etwas an den bestehenden Verhältnissen zu ändern, als uns suggeriert wird. Ich will Beispiele geben, an denen wir uns orientieren können, und – in Abgrenzung zu den vielen Büchern, Blogs und Artikeln, in denen allein die Probleme analysiert und Appelle an die unerreichbare Entscheidungselite formuliert werden – ganz konkrete Möglichkeiten auflisten, die ohne Umschweife ergriffen werden können.
1 Inspirierende Gedanken in dieser Richtung, die mir gleichzeitig auch bei diesem Buch eine große Hilfe waren, finden sich bei Albert Nolan in „Radikale Freiheit“, Publik Forum Verlag.
2 Die gemeinnützige Rechercheplattform corrective.org hat im Dezember 2019, unterstützt durch Frontal21, inkognito ein Rechercheteam bei einer Veranstaltung eines Netzwerkes von Klimawandelleugnern eingeschleust. Parallel zur in Madrid stattfindenden Klimaschutzkonferenz wurden bei diesem geschlossenen Treffen, das vom US-amerikanischen Thinktank „Heartland Institute“ geleitet wurde, Strategien besprochen, wie die öffentliche Meinung gegen Klimaschutzmaßnahmen beeinflusst werden kann. Unterstützt wird das Heartland Institute von reichen Unternehmern wie den Koch-Brüdern, die aus geschäftlichen Gründen eine Abkehr von fossilen Energieträgern ablehnen. Teilnehmende des Treffens waren unter anderem Vertreter eines dubiosen Vereins namens EIKE aus Deutschland, der Klimawandelleugner in der Politik mit Argumenten versorgt, AfD- und UKIP-Mitglieder, aber auch Esoteriker und Ultrareligiöse, sowie eine 19-jährige Youtuberin, die als Aushängeschild der Bewegung aufgebaut werden soll, um sich ein modernes, authentisches Bild zu verleihen.
3 Hierfür lassen sich zahllose Beispiele aufführen; neben dem Verzehr von mit Antibiotika belastetem Geflügelfleisch, Pestiziden auf Obst und Gemüse oder mit Schwermetallen belastete Fischsorten ist seit einer Studie der Universität Wien aus dem Jahr 2018 auch erwiesen, dass sich bei den Studienteilnehmern quer durch alle sozialen Schichten und über alle Altersgruppen hinweg Mikroplastik im Darm nachweisen lässt.[1]
4 Die Betrachtung verschiedenster Statistiken über den Zeitraum der letzten 200 Jahre hinweg lässt hier keine Zweifel zu: Besonders seit der großen Beschleunigung, also der sich seit dem Ende des 2. Weltkrieges enorm verstärkenden Industrieproduktion, weltweit zunehmenden Bautätigkeiten und massiv gestiegenen Ausbeutung von Rohstoffvorkommen sowie Fischgründen, nehmen unter anderem folgende Indikatoren überproportional stark zu: der weltweite Wasserverbrauch, atmosphärisches Methan, CO2 und Distickstoffmonoxid, die Stickstoffbelastung der Küstengewässer, der Regenwaldverlust, die Meeresversauerung sowie der Verlust der Biodiversität.[2]
5 Hervorragende zusammenfassende Artikel hierzu finden sich im Atlas der Globalisierung – Welt in Bewegung, unter anderem „Zum Freihandel gezwungen“ und „Börsen, Banken, Derivate“ von Ulrike Herrmann oder „Geld auf Knopfdruck“ von Aaron Sahr.[4] Tiefergehende Beschäftigung mit der sogenannten Dependenztheorie, die besagt, dass Unterentwicklung der Staaten der Peripherie einerseits und die Prosperität der reichen Industrieländer andererseits zwei Seiten ein- und desselben Prozesses sind, bieten deren Vertreter, u.a. André Gunder Frank, Enrique Dussel und Dieter Senghaas.
2. Schlaglichter und blinde Flecken
„Ich würde bis ans Ende der Erde gehen, wenn ich könnte, um immer wieder zu sagen, dass ich in die junge Generation Vertrauen habe.“
- Frère Roger Schutz
„Wenn wir nicht unsere volle Verantwortung für die Welt, in der wir leben, anerkennen, haben wir kein Recht, darin zu leben.“
- Mahatma Gandhi
Am 25. November 2018 ließ Alexander Gerst, der damalige Kommandant der internationalen Raumstation ISS, eine Videobotschaft ausstrahlen, mit der er sich an seine Enkelkinder und die kommenden Generationen wandte: „Wenn ich so auf den Planeten runterschaue, dann denke ich, dass ich mich bei euch entschuldigen muss. Im Moment sieht es so aus, als ob wir, meine Generation, euch den Planeten nicht gerade im besten Zustand hinterlassen werden. Im Nachhinein sagen natürlich viele Leute, sie hätten davon nichts gewusst. Aber in Wirklichkeit ist es uns Menschen schon klar, dass wir den Planeten mit Kohlendioxyd verpesten, dass wir das Klima zum Kippen bringen, dass wir Wälder roden, dass wir die Meere mit Müll verschmutzen, dass wir die limitierten Ressourcen viel zu schnell verbrauchen und dass wir zum Großteil sinnlose Kriege führen. Und jeder von uns muss sich an die eigene Nase fassen und überlegen, wohin das gerade führt. Ich hoffe sehr für euch, dass wir noch die Kurve kriegen und ein paar Dinge verbessern können. Und ich würde mir wünschen, dass wir nicht bei euch als die Generation in Erinnerung bleiben, die eure Lebensgrundlage egoistisch und rücksichtlos zerstört hat.“[1]
Unterlegt mit beeindruckenden Bildern der Erde aus vierhundert Kilometern Höhe, gab Gerst mit einfachen Worten ein klares, ehrliches Statement ab, zu dem sich die führenden Persönlichkeiten aus Wirtschaft und Politik bislang nicht durchringen konnten. Ein Schuldeingeständnis. Aufrichtiges Bedauern ob der kollektiven Unfähigkeit unserer Gesellschaft, den fatalen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte entgegenzuwirken und die immer schwerer umkehrbare Zerstörung unseres Lebensraumes zu beenden. Ratloses Bedauern darüber, dass bis zum heutigen Tage erbarmungslose, blutige Konflikte das Leben zahlloser Menschen zur Hölle machen, anstatt dass die Einflussreichen sich gemeinsam den wirklich drängenden Problemen unserer Zeit widmen würden.
Alexander Gersts Statement ist berührend und stimmt nachdenklich, doch neu sind seine Einsichten selbstverständlich nicht. Stammten sie nicht von einer Art wissenschaftlichem Popstar, hätten sie mit Sicherheit nicht dieselbe Aufmerksamkeit erregt. Doch selbst ein spektakulärer Appell aus dem Weltall lässt unseren Politikbetrieb nicht aus der Alltagsroutine aufschrecken, geschweige denn uns vielbeschäftigte Berufstätige in unserem täglichen Umfeld. Schöne Worte zu schönen Bildern, vorübergehende Nachdenklichkeit, und dann geht es weiter wie gehabt.
Wie wäre es denn, Alexander Gersts Botschaft wörtlich zu nehmen? Haben wir uns schon einmal mit der Frage beschäftigt, was wir unseren Kindern und Enkelkindern antworten würden, wenn sie uns fragten: „Was ist schief gegangen damals? Wo ist das Grün der Wälder und Wiesen hin, das auf euren Fotos zu sehen ist? Wo sind die weißen Gletscher der Alpen?“ Wie würden wir uns fühlen, wenn die folgende Generation uns eindringlich auf den Zahn fühlte: „Wieso gibt es so viele furchtbare Kriege um Wasser und Lebensraum? Habt ihr nichts gelernt aus den Weltkriegen vor 100 Jahren? Wieso habt ihr Öl und Kohle verheizt, obwohl zu eurer Zeit allen klar war, dass damit der Planet aufgeheizt und viele Gegenden der Erde zerstört und verseucht werden? Seid ihr denn vollkommen übergeschnappt gewesen, zu glauben, Wohlstand, Reichtum, Luxus könnten einfach immer noch weiter gesteigert werden? Seid ihr völlig von Sinnen gewesen, auf ewiges Wirtschaftswachstum zu vertrauen und die dabei auftretenden Probleme einfach zu ignorieren? Wo wart ihr seinerzeit, womit habt ihr euch stattdessen beschäftigt, welche Politikerinnen und Politiker habt ihr gewählt, worin euer Geld investiert? Wer hätte eurer Meinung nach die Probleme angehen sollen? Was habt ihr euch nur dabei gedacht? Ging es euch nur um euren Vorteil, habt ihr nur für den Moment gelebt, nach mir die Sintflut, carpe diem, komme was wolle, sündige kräftig?“ Was würden wir antworten? Verärgert abwimmeln? „Ihr macht es euch zu leicht, es ist doch alles viel komplizierter als ihr denkt.“ Beschämt zu Boden blicken, Ausflüchte stammelnd? Es sei ja leichter gesagt als getan, sich den Herrschenden und Einflussreichen entgegen zu stellen, anders zu leben und wirklich etwas zu verändern, im großen Rahmen. Ideen gab es viele, aber kaum jemand ist vorangegangen und konnte sie durchsetzen. Alle haben doch mitgemacht! Hier und da haben wir uns ja bemüht, daneben mussten wir aber doch den Alltag absolvieren, Geld verdienen, in Urlaub fahren… Sollte es tatsächlich soweit kommen, bleibt uns wohl nichts anderes, als uns wie Alexander Gerst bei ihnen zu entschuldigen und einzugestehen: „Seht ihr, wir haben versagt. Und ihr, ihr müsst nun mit den Folgen leben und das Beste daraus machen.“
Doch um Pessimismus und Schwarzmalerei soll es hier nicht gehen.
Drei Monate zuvor, am 20. August 2018, stellte sich eine unscheinbare 15-jährige Schülerin mit einem Plakat vor den schwedischen