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Überfordert, orientierungslos, verunsichert? Der Mentalist und Philosoph Timon Krause bietet Navigationshilfe durch turbulente Zeiten: Mit einer erfrischenden, praxisnahen Mischung aus Psychologie, Soziologie und Philosophie stellt er dreizehn Denkweisen vor, die uns helfen, gewappnet den Herausforderungen der Gegenwart und Zukunft entgegenzutreten. Wie fördern wir die Kraft des Dialogs, lernen, Paradoxe zu akzeptieren und mit Ambivalenz umzugehen? Wie können wir trotz aller Tragödien optimistisch bleiben? Timons aufschlussreicher, inspirierender und visionärer Text ermutigt, neues Denken auszuprobieren.
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Seitenzahl: 298
Timon Krause
13 Denkprinzipien für die Welt von morgen
Die immer schneller voranschreitenden Veränderungen in unserer Gesellschaft fordern uns nicht nur heraus, sondern überfordern uns häufig: Politische Gewissheiten bröckeln, familiäre Strukturen lösen sich auf, Krisen erschüttern uns, Religion verliert als Haltgeberin an Bedeutung. Oft genug kommen wir mit den erlernten (post-)modernen Denk- und Betrachtungsweisen nicht weiter, um ihnen begegnen zu können. Timon Krause, studierter Philosoph, Spiegel-Bestsellerautor und preisgekrönter Mentalist, beschäftigt sich deshalb mit der Frage, welche Denkmodelle uns stattdessen Orientierung in einer zunehmend verwirrenden Welt geben. Mit einem zugänglichen, lebenspraktischen Mix aus Psychologie, Soziologie und Philosophie beschreibt er Denkweisen, die uns helfen werden, die Zukunft besser zu bewältigen. Dazu gehört es, Dialog statt Dialektik zu etablieren, Paradoxe zu akzeptieren und Ambivalenzen aushalten zu lernen ebenso wie trotz Tragödien optimistisch zu denken. Eine anregende, hilfreiche Lektüre!
Timon Krause, geb. 1994, ist ein deutscher Mentalist und Autor. 2016 wurde er als bester europäischer Mentalist ausgezeichnet. Er studierte in Amsterdam Philosophie und lebt in Berlin. Auf seinen Social-Media-Kanälen @timonkrause begeistert er eine große Community mit praktischen Tipps zu Psychologie, Mentalismus und Hypnose.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, September 2024
Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Covergestaltung Hauptmann & Kompanie Werbeagentur, Zürich
Coverabbildung Murat Aslan
ISBN 978-3-644-01968-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Ich schreibe dieses Vorwort und stehe auf der Kippe: zwischen zwei Jahren (es ist Silvester 2023), zwischen zwei Städten (morgen ziehe ich aus dem Ruhrgebiet in meine neue Berliner Wohnung), zwischen zwei Projekten (meine letzte Tour als Bühnenkünstler ist zu Ende gegangen, meine nächste ist in der Entwicklung), sogar zwischen zwei Lebensphasen (mit 29 bin ich gefühlt nicht mehr ganz Zwanziger, noch nicht ganz Dreißiger).
Um genau dieses Auf-der-Kippe-Stehen, um die ständige Veränderung, soll es sich in diesem Buch auf verschiedene Arten drehen. Die Welt wandelt sich schneller, als unsere geistige Entwicklung Schritt halten kann. Mehr und mehr Menschen meiner Generation, aber auch jener davor und danach, fühlen sich verwirrt, deplatziert oder gänzlich verloren. Die zur Zeit meiner Großeltern vorherrschende Weltanschauung einer absoluten Wahrheit (Fakt ist Fakt) wird heute mitunter belächelt oder gar als falsch und veraltet abgetan (wie kann Fakt noch Fakt sein, wenn alles relativ ist und jede individuelle Perspektive ihre subjektive Wahrheit mit sich bringt?).
Die zur Zeit meiner Eltern und bis heute anhaltende Weltanschauung eines relativistischen Weltbilds (alles ist relativ, «Wahrheit» ist flexibel) bringt allerdings ebenfalls ihre eigenen Probleme und Schwierigkeiten mit sich: Wie vermeiden wir, feststehende Fakten infrage zu stellen, und worauf können wir noch bauen, wenn wir als Gesellschaft keine gemeinsame Basis in Form eines geteilten Weltverständnisses mehr haben?
Wie sollen wir uns in der Welt zurechtfinden, wenn in einem Moment Wahrheit verlangt, ihr Wert aber im selben Atemzug entkräftet wird? (Denk nur an etwaige Klimaleugner:innen oder Impfgegner:innen, die meinen, große Verschwörungen aufzudecken, und dabei eher auf ihr Bauchgefühl hören, als wissenschaftlich untermauerte Fakten in Erwägung zu ziehen.)
Wir scheinen angesichts der vielen gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen und Krisen mit den herkömmlichen Denkmodellen nicht mehr weiterzukommen.
An diesem Punkt möchte ich dir eine dritte Möglichkeit zeigen: das bewusste Hin- und Herpendeln zwischen modernen und postmodernen Denkstrukturen (sowie zwei weiteren, mehr dazu später). Diese Idee – der sogenannte Metamodernismus – hat in künstlerischen wie akademischen Kreisen schon länger Fahrt aufgenommen; ich glaube aber, dass sie auch im individuellen Bereich großes Potenzial birgt.
Das Thema Metamodernismus ist relativ neu, sowohl in der Welt als auch in meinem Leben. Vieles von dem, was du auf den nächsten Seiten lesen wirst, wird also anekdotischer Natur sein (auch wenn ich mich, wie immer, selbstverständlich bemühe, das Ganze vernünftig und, wo möglich, mit entsprechenden Studien zu untermauern). Was ich dir vorstelle, sind jene Ideen, die mir und den Menschen in meinem Umfeld den meisten Fortschritt gebracht und den meisten Halt gegeben haben.
In diesem Buch findest du meine Auslegung des Metamodernismus: einen Mix aus Philosophie (als studierter Philosoph liegt hier mein akademischer Hintergrund), Psychologie (als Mentalist findet sich hier vorwiegend meine Expertise) und Selbsthilfe (Techniken aus meiner Zeit als Hypnosecoach zeigen dir, wie du den bisweilen abstrakt und trocken anmutenden Metamodernismus in dein Leben integrieren kannst).
Sei deiner Zeit voraus ist dabei in zwei Teile gegliedert: Theorie und Praxis.
Wer allerdings einfache Lösungen erwartet, der wird enttäuscht sein. In vielen Fällen biete ich dir sogar gar keine Lösungen, sondern eher Ansätze und Fragen. Denn eine gute Frage ist meiner Erfahrung nach auf lange Sicht häufig hilfreicher als eine gute Antwort. Ziel dieses Buches ist es, dir zu zeigen, wie du dich in einer zunehmend komplexen und oft verwirrenden Welt wieder zurechtfindest. Es geht mir dabei vor allem um die mentalen und emotionalen Aspekte. Ich bin mir sicher: Viele unserer inneren und persönlichen, aber auch gesellschaftlichen Konflikte entstehen dadurch, dass wir händeringend nach einfachen Lösungen und Erklärungen suchen, sowie durch unsere Unfähigkeit, diese Vereinfachung als das, was sie ist, zu erkennen: Wunschdenken. In Sei deiner Zeit voraus möchte ich dich also einladen, die Komplexität der Welt zu umarmen, und dir zeigen, wie du dein Denken so ausrichten kannst, dass diese Komplexität und der stete Wandel zu einer Stärke statt zu Stolpersteinen werden.
Im Bestfall bleibst du deiner Zeit so zumindest immer einen kleinen Schritt voraus.
Timon Krause
31.12.2023
PS: Jetzt, wo das Buch fast fertig ist, ist mir klar: Mir ging es beim Schreiben von Sei deiner Zeit voraus in allererster Linie darum, dass es dir besser geht – oder nie so schlecht, wie’s mir mal ging.
Viel Spaß, nur Liebe,
Timon
01.05.2024
Woher du kommst, wohin du gehst
Um zu verstehen, wo wir sind und wohin wir gehen, werfen wir im Theorieteil den Blick in die Richtung, aus der wir kommen. Vorher müssen wir ein paar Begriffe klären: Was ist überhaupt dieser Metamodernismus, den ich dir hier näherbringen will (Kapitel 1)? Und was verbirgt sich hinter dem Begriff «Denkkulturen» (Kapitel 2)?
Dann gebe ich dir einen Einblick in die Entwicklung des menschlichen Geistes, vom indigenen Denken (Kapitel 3) über das prämoderne Denken (Kapitel 4) hin zum modernen und postmodernen Denken (Kapitel 5 & 6). Da das metamoderne Denken (Kapitel 7) eine Synthese all dieser vorangegangenen Denkformen ist, ist es für uns notwendig, sie zu verstehen. Außerdem ist es einfach superinteressant: Spätestens beim modernen und postmodernen Denken bekommst du im Bestfall Einsichten in die unbewusst ablaufenden Denkstrukturen deiner Großeltern, deiner Eltern und deiner selbst.
Versetzen wir uns ein paar Jahre zurück. Es ist der 19. Dezember 2013, Amsterdam.
Ich studiere Philosophie, will sagen: Ich chille ziemlich viel auf meinem Balkon. Du weißt schon, was ich meine. Als ich eines Tages doch mal zur Uni gehe, sagt einer meiner Philosophieprofessoren zu mir: «Weet je wat voor jou interessant zou zijn? Metamodernisme.» Auf Deutsch: «Weißt du, was dich interessieren könnte? Metamodernismus.» Metamodernismus? Nie gehört. Und so ist die Empfehlung des guten Herrn Professor schnell vergessen.
Bis ich dann wirklich anfing, mich mit dem Thema auseinanderzusetzen, vergingen acht weitere Jahre. Doch was ich seitdem gelernt habe, will ich dir jetzt näherbringen.
Als Erstes schauen wir uns den Hintergrund des Metamodernismus an. Danach stelle ich dir die vier Denkarten vor, auf denen dieses Buch fußt und die du nach und nach bewusst einzusetzen lernen wirst. Bei diesen Denkarten handelt es sich um indigenes (oder magisches) Denken, prämodernes (oder religiöses) Denken, modernes (oder wissenschaftliches) Denken und postmodernes (oder künstlerisches) Denken. Jede Denkart hat Vorteile, die du dir zunutze machen kannst, und Nachteile, die es zu umschiffen gilt.
Hätte ich auf meinen Prof gehört, hätte ich mehr oder weniger an der Speerspitze einer neuen akademischen Idee sein können – vor allem, weil der Metamodernismus in akademischer Hinsicht seine Anfänge in den Niederlanden findet. Wie bei vielen bedeutenden Paradigmenwechseln hat sich nämlich auch der Metamodernismus zuallererst im Bereich der Kunsttheorie hervorgetan. Einer der Gründe dafür wird wohl sein, dass Kunstschaffende stets auf der Suche nach Möglichkeiten sind, aus aktuellen Denkstrukturen auszubrechen; ein weiterer Grund liegt womöglich darin, dass Kunstschaffen an sich einen Übersetzungsprozess darstellt: Externe Eindrücke werden intern durch ein individuelles Referenzfeld verarbeitet, um dann wieder in ein neues Medium übersetzt zu werden. Was das konkret bedeutet, lässt sich an einem einfachen Beispiel zeigen: Beobachte ich ein altes Ehepaar dabei, wie es sich auf der Straße gegenseitig neckt, kann ich daraus einen Text für meine Show schreiben. Die Beobachtungen, die ich dabei mache, werden von mir individuell verarbeitet, verdichtet, zugespitzt, eingefärbt, persifliert und dann wieder in meinem Kunstmedium (in diesem Fall Live-Entertainment, es könnte sich aber genauso gut um Malerei, Bildhauerei, Musik oder etwas völlig anderes handeln) nach außen gekehrt. Es ist dieser Übersetzungsprozess in Kombination mit den häufig bewusst gegensätzlich zum Mainstream denkenden Menschen, der dazu führt, dass neue Paradigmen in der Kunst oft zuerst sichtbar werden – eben in Form von Kunstwerken. Wir werden uns in Kapitel 13 noch eingehender mit Kreativität befassen, wie du sie trainieren kannst und warum das ziemlich wichtig ist.
Kommen wir zurück zum Metamodernismus: Erstmalig konkret ausformuliert wurde er also von zwei niederländischen Kunsttheoretikern, Timotheus Vermeulen und Robin van den Akker. Sie beide meinten einen neuartigen Trend in der Kunst zu sehen, der sich durch eine Oszillation zwischen postmodernem Sarkasmus und Ironie und moderner Verletzlichkeit und Ernsthaftigkeit auszuzeichnen schien.
Vermeulen und van den Akker benennen eine Reihe weiterer, im Metamodernismus vereinter Pole wie Hoffnung und Melancholie, Naivität und Realismus, Empathie und Apathie, Einheit und Vielfalt, Totalität und Fragmentierung, Klarheit und Zweideutigkeit.
Dieser Metamodernismus von Vermeulen und van den Akker wurde von zahlreichen weiteren Denkenden tiefer ausgebaut; eine entsprechende Liste findest du im Literaturverzeichnis hinten im Buch. Darunter ist auch ein gewisser «Hanzi Freinacht». Hinter diesem extravaganten Pseudonym verstecken sich gleich zwei Denker: der schweizerische Philosoph Daniel P. Görtz und der dänische Denker Emil Ejner Friis. Ihre Herangehensweise an den Metamodernismus bezieht sich vor allem auf gesellschaftliche Entwicklungspsychologie (ein Thema, mit dem auch wir uns befassen werden – zum Beispiel in Kapitel 8) und eine politische Neustrukturierung (ein Thema, von dem ich meine politisch ungebildeten Fingerchen weitgehend fernhalten werde). Seit 2011 erhält metamodernes Denken Einzug in verschiedenste akademische und nicht akademische Bereiche.
Die Vorsilbe «meta» bezieht sich hier im Übrigen potenziell auf dreierlei: zum einen auf den selbstreflexiven Charakter des Metamodernismus (ein als «meta» gehandelter Text ist, zum Beispiel, ein Text über den Text), zum anderen auf die Bedeutung von «meta» im Griechischen als «nach» (also Metamodernismus als zeitlich nach Postmodernismus gelegen) und zu guter Letzt auf die oft in der Philosophie benutzte Bedeutung als «dazwischen»: Platon hat den Begriff der «Methexis» geprägt, welcher zum Beispiel auf die Existenz des Menschen zwischen materieller und geistiger Welt verweist. Das meta in Metamodernismus kann hier also auf den Zustand der Theorie zwischen Modernismus und Postmodernismus verweisen. Unsere Freunde Vermeulen und van den Akker beziehen sich in ihrer Begriffswahl auch auf die Metamorphose: Metamodernismus als gesellschaftlicher Wandel. Freu dich also: Aus uns fetten Raupen werden bald im Kokon der Metamoderne wunderschöne Schmetterlinge!
In den allermeisten Diskussionen über Metamodernismus wird er als Wechsel zwischen modernem und postmodernem Denken interpretiert. Mir fehlen dabei zwei weitere Denkparadigmen, die dem modernen und postmodernen Denken vorausgegangen sind: das indigene Denken und das prämoderne Denken.
«Indigen» ist in diesem Buch übrigens als sozialwissenschaftlicher Begriff zu verstehen und bezieht sich in erster Linie auf den Entwicklungszeitraum dieser spezifischen Denkart vor rund 200000 Jahren – die politische Bedeutung des Begriffs mit all seinen aktuell diskutierten Facetten ist mir bewusst, soll hier aber außen vor gelassen werden. Es handelt sich schlicht um zwei verschiedene Einsatzbereiche und Definitionsräume desselben Wortes.
Die Gründe, warum sich die bisherige Literatur zum Metamodernismus weitgehend auf diese zwei Denkarten beschränkt, sind zweierlei: Zum einen nehmen wir im Bereich der Kunst (du erinnerst dich – da hat sich der Metamodernismus zuallererst gezeigt) tatsächlich exklusiv einen Wechsel zwischen Moderne und Postmoderne wahr. Das hängt damit zusammen, dass die Überbleibsel des indigenen und prämodernen Denkens so subtil und zugleich so stark integriert sind, dass wir sie gar nicht mehr bemerken. Zum anderen legen die meisten Ansätze zum Metamodernismus ihren Fokus auf politische und gesellschaftsstrukturelle Entwicklung. Hier bieten vor allem modernes und postmodernes Denken Potenzial, während uns indigenes und prämodernes Denken in anderen Krisen – beispielsweise wenn es um das Klima geht – von Vorteil sein können.
«Aber Timon!», magst du jetzt denken. «Das ist jetzt schon alles so furchtbar kompliziert. Warum musst du noch zwei Denkkulturen hinzufügen?» Gute Frage. Die oben beschriebenen Ansätze verkörpern eine Top-down-Strategie. Hanzi Freinacht setzt beispielsweise darauf, die gesellschaftlichen Strukturen so zu ändern, dass sich eine metamoderne Denkweise in der Gesellschaft durchsetzen kann – etwa durch entsprechende Lehrpläne in den Schulen. Ich möchte in diesem Buch allerdings eine Bottom-up-Strategie verfolgen: Es geht also darum, dich als Individuum in den Bereich des metamodernen Denkens upzudaten, um daraus folgend die Gesellschaft ebenfalls auf die metamoderne Schiene zu bringen. Wenn alles klappt, treffen Hanzi Freinacht und ich uns mit unseren Ansätzen genau in der Mitte – und alle Probleme auf der Welt sind gelöst. Jedenfalls fast. Okay, zumindest ein paar. Yay!
Um aber diesen Ansatz «von unten» umsetzen zu können, ist es sinnvoll, alle genannten vier Denkkulturen in meine Idee vom Metamodernismus einzuarbeiten. Wie du sehen wirst, bietet dir nämlich jede dieser vier Denkarten einen gehörigen Vorteil im Leben, sofern du sie verstehen und nutzen lernst.
Wenn ich hier vom indigenen, prämodernen, modernen, postmodernen oder metamodernen Denken spreche, dann verweise ich damit auf das, was im akademischen Bereich häufig auch kultureller Code genannt wird. Ein kultureller Code verweist auf die grundlegenden Werte und Prinzipien einer Gesellschaft und beinhaltet dabei ein riesiges Set an Symbolen, Verhaltensweisen, Grundannahmen und Glaubenssystemen. Kulturelle Codes finden wir im Großen, etwa gesellschaftsübergreifend: Einige isolierte Stämme nutzen zum Beispiel noch den magischen Code, einige Länder bedienen sich des prämodernen Codes, während hier bei uns in Europa der moderne und postmoderne Code vorherrscht – wobei keiner der Codes «besser» als ein anderer ist; die Abfolge ist zeitlicher und nicht qualitativer Natur.
Außerdem finden wir kulturelle Codes im Mittleren (etwa in einer spezifischen politischen Gesinnung) und im Kleinen (etwa den kulturellen Codes einer Fußball-Community, von Helene-Fischer-Fans oder von World-of-Warcraft-Gamern). Sofern du ungefähr in meinem Alter bist, hast du vermutlich einen postmodernen kulturellen Code auf deine graue Festplatte (aka dein Gehirn) gespielt bekommen. Darauf finden sich wahrscheinlich u.a. ein ausgeprägter Relativismus («Jeder hat seine eigene Wahrheit») sowie der Hang zur Dekonstruktion («Es gibt keine absoluten Fakten und Werte, alles ist kontextabhängig und kann dekonstruiert werden»). Solltest du etwas älter sein, könnte es sich noch um einen modernen kulturellen Code handeln (liebe Grüße an meine Omi). Der würde sich durch einen starken Bezug auf Wissenschaft, den Glauben an harte Fakten und ein deutliches Fortschrittsnarrativ auszeichnen.
Falls du dieses Buch in ferner Zukunft liest, hast du hoffentlich einen metamodernen Code gelernt. Dann wärst du in der Lage, die verschiedenen Denkarten zu erkennen und zwischen ihnen zu wechseln.
Sollte dieses Buch eine Zeitreise in die Vergangenheit machen, dann unterliegt deinem Denken vielleicht ein prämoderner Code (mit starkem Bezug zu Glauben, Dogma und einer höheren Wahrheit) oder, noch weiter zurück, ein indigener Code (gekennzeichnet durch magisches Denken, Zirkularität und einen starken Pragmatismus der Glaubenssätze und Mythologien).
Übrigens: Keine Sorge, falls du dich in meinen obigen Umschreibungen der Codes nicht sofort wiedererkennst. Der kulturelle Code verweist auf die vorherrschende Denkart in einer Gesellschaft. Individuelle Entwicklung sowie kulturelle Codes des sozialen Umfelds nehmen Einfluss darauf, wie offensichtlich (für dich und für andere) sich dein Code dann auch in deinem Denken und Handeln zeigt. Eine stark modern geprägte Schülerin könnte ihren Aufsatz über ein bestimmtes Thema beispielsweise mit einem Fokus auf die objektive Faktenlage verfassen, während eine postmodern geprägte Schülerin die Vorannahmen derselben Aufgabenstellung hinterfragt und multiple Perspektiven mit einbezieht.
Ich bin nicht der Erste (und hoffentlich auch nicht der Letzte), der sich im Detail mit diesen Denkarten beschäftigt – wer mehr wissen will, der schaue in die Literaturtipps im Anhang.
Ganz wichtig schon jetzt fürs Verständnis: Es handelt sich bei den vier Denkarten und ihren kulturellen Codes nicht um eine Kategorisierung von Menschen in vier unterschiedliche «Typen» oder «Persönlichkeiten». Die Einordnung von Menschen in ein Set an Kategorien, wie im 16-Typen-Test, 4-Farben-Test oder ähnlichen Systemen, ist mittlerweile überholt und wissenschaftlich nicht haltbar. Vielmehr geht es hier um vier verschiedene Denkmodi, derer sich jeder Mensch grundsätzlich bedienen kann – wobei wir natürlich abhängig von der Zeit, in der wir leben, meist von dem jeweils vorherrschenden Denkparadigma geprägt werden (in meiner Generation die Postmoderne, in der davor die Moderne und so weiter). Ziel des Ganzen ist also nicht, uns oder unsere Mitmenschen in Grüppchen aufzuteilen («Ich bin ein Denker vom Typ Kunst», «Sie ist Denkerin vom Typ Wissenschaft» – das wäre zu vereinfachend), sondern die Spuren der verschiedenen Denkarten bei uns selber zu entdecken («Ah, da bin ich ungewollt in eine magische Denkstruktur verfallen!» – was je nach Kontext positiv oder negativ sein kann) und sie uns bewusst zunutze zu machen («Ich verstehe jetzt, was mein politischer Gegner meint, weil ich erkenne, dass wir beide aktuell auf die Denkstruktur Religion zurückgreifen», «Bei Vollmond wechsle ich bewusst in die Denkart der Magie, um ein Ritual auszuführen und mein menschliches Verlangen nach Verzauberung zu erfüllen»). Derselbe Mensch kann dieselbe Situation mithilfe unterschiedlicher Denkarten betrachten. Je nach Kontext ist dabei eine Denkart vorteilhafter als eine andere: Ein Mensch, der ein Flugzeug baut, sollte sich zum Beispiel eher im Denkmuster Wissenschaft als im Denkmuster Religion bewegen. Bei jemandem, der spirituelle Erfüllung sucht, wäre das womöglich genau umgekehrt.
(Kurze Randnotiz: Denkarten sind auch nicht dasselbe wie Weltanschauungen – ein Christ und ein Moslem könnten sich beide der Denkart der Religion bedienen, dabei aber in den Details ihrer Weltanschauung aufgrund ihres jeweiligen Glaubens voneinander abweichen. Randnotiz Ende.)
Wenn dir die Begriffe Indigene, Prämoderne, Moderne und Postmoderne zu akademisch sind, kannst du auch ihre Entsprechungen Magie, Religion, Wissenschaft und Kunst (bzw. magisches, religiöses, wissenschaftliches und künstlerisches Denken) nutzen. Ich verwende sie hier im Buch synonym, wie du vielleicht schon gemerkt hast.
Für mich verweisen diese vier Kulturen auf grundlegende menschliche Erfahrungen, von denen keine vernachlässigt werden sollte, wenn man ein erfülltes Leben führen will. Um dich wirklich sinnerfüllt, ausgeglichen, stabil und nicht länger deplatziert zu fühlen, solltest du den Denkmodi der Magie, Kunst, Religion und Wissenschaft Raum in deinem Leben geben. In meinem eigenen Leben habe ich zirkulär einmal alle Denkarten durchlaufen, von Religion (christlich erzogen, getauft, konfirmiert, dann vom Glauben abgefallen – wir sehen uns also in der Hölle) über Magie (eine lange spirituelle Findungsphase), über Wissenschaft (zum Beispiel in bestimmten Teilen des Philosophiestudiums) und zur Kunst (als Schriftsteller und Bühnenkünstler vermutlich sehr offensichtlich). Jetzt übe ich mich darin, alle Denkmodi je nach Situation und Kontext auszuüben und mir ihrer jeweiligen Funktionsweisen bewusst zu werden, zu sein und zu bleiben.
Mein Ansatz lässt sich also wie folgt zusammenfassen:
Wir Menschen haben uns im Laufe unserer Entwicklung vier unterschiedlicher Denkarten bedient, die uns bis heute erhalten geblieben sind. Jede Denkart hatte einen gesellschaftlichen Vorteil zur Zeit ihrer Entstehung sowie einen persönlichen Vorteil für den individuellen Menschen. Heute ist die Welt so komplex, dass wir uns aller vier Denkarten bedienen sollten, um erfolgreich in ihr zu navigieren.
Bevor wir jede der Kulturen besprechen, noch mal der Reminder: Es geht hier um vier Denkarten, nicht etwa um ein ganzheitliches Bild «der Wissenschaft» oder «der Kunst» – die hier beschriebenen Denkarten tragen diese Namen, weil sie archetypisch für das Denken eines bestimmten Bereichs (zum Beispiel des Bereichs «Wissenschaft») sind, dürfen aber unabhängig davon verstanden werden. Du wirst sogar sehen, dass wir manchmal magisches Denken oder in der Kunst verhaftetes Denken bei einer Wissenschaftlerin entdecken oder dass ein Priester sich vielleicht mit großem Erfolg der wissenschaftlichen Denkart bedient.
Magisches Denken ist die älteste Denkart in unserem System. Der moderne Mensch hat sich vor grob 200000 Jahren in Afrika entwickelt und hat vor ungefähr 70000 Jahren seinen Siegeszug über den Erdball angetreten. Das indigene, magische Denken ist gemeinsam mit unserer Evolution als Spezies entstanden und hat somit die neurologische Entwicklung der ersten Protomenschen maßgeblich beeinflusst. Es ist weiterhin fest in unserer Natur verankert. Sozialwissenschaftlich gesehen ist es ein großes Glück, dass einige isoliert lebende Stämme mit vornehmlich magischem Denksystem überlebt haben, weil wir diese Denksysteme dadurch eingehend studieren können.
Wenn du das Wort «Magie» hörst, denkst du vielleicht an Zauberstäbe, Kelche, Kristalle und Tarotkarten. Ganz unrecht hättest du nicht: Die magische Denkart lässt sich tatsächlich am einfachsten in der New-Age- oder Esoterik-Szene entdecken (und feiert heute ein großes Revival – denk nur an die zahlreichen Astrologie-, Kristall- und Wahrsageseiten auf Instagram, TikTok und Co). Sie beschränkt sich aber nicht darauf. De facto wirst du sehen, dass magisches Denken sich in überraschend viele Lebensbereiche einschleichen kann.
Wissen wird hier, genau wie in der Denkart Wissenschaft, durch Beobachtung erworben: Eine Handlung wird ausgeführt und wiederholt, wenn sie für nützlich oder effektiv befunden wird. Der Unterschied zur wissenschaftlichen Methode liegt allerdings darin, dass nicht nach Falsifikation gesucht wird (es wird also nicht getestet, bis die Theorie fehlschlägt), sondern nach Bestätigung. Anders gesagt geht es hier um ein subjektives Weltverständnis und nicht um objektive Beobachtung.
Ein Beispiel: Einer unserer Vorfahren führt ein Ritual für eine besonders erfolgreiche Jagd aus. Die Jagd fällt auch tatsächlich sehr großzügig aus. Daraus schließt unser Vorfahr: Das Ritual hat gewirkt und wird somit bei der nächsten anstehenden Jagd wiederholt. Alternativ: Ein verliebter Junge führt ein Ritual der Anziehung aus. Es klappt tatsächlich, und sein Schwarm und er gehen eine glückliche Beziehung ein. Zack, bestätigt: Das Ritual hat gewirkt. Magisches Denken hat eine Neigung, sich auf das Einzigartige einzuschießen (etwa den Erfolg eines Rituals), während Wissenschaft das Wiederholbare sucht. Was im wissenschaftlichen Denken als unmöglich bewiesen wird, wird beim magischen Denken als möglich, als wahr, erklärt. Der Begriff dafür ist anekdotische Evidenz: Einzelne, möglicherweise unpräzise oder statistisch irrelevante Erfahrungen werden als Beweis für einen Umstand angesehen. Wenn ich beispielsweise krank bin, mir einen «Energiemagneten» auf den Kopf lege (obwohl die Beweislage gegen jegliche Wirksamkeit eines solchen Magneten spricht), mich dann besser fühle und deshalb von nun an von der Heilkraft von Magneten überzeugt bin – dann bediene ich mich der anekdotischen Evidenz zur Beweisführung.
Auch der sogenannte Bestätigungsfehler ist damit explizit magischer Natur: «Seit ich ein rotes Auto habe, haben alle ein rotes Auto» oder «Mein politisches Vorbild hat eine Behauptung aufgestellt, und seitdem sehe ich überall Beweise dafür».
Der Unterschied zwischen den Denkarten Wissenschaft und Magie liegt außerdem in der Analyse des vorhandenen Wissens: Magisches Denken bringt alles mit allem in Bezug und versucht, ein ganzheitliches, vernetztes Bild zu schaffen. Dabei wird nach Bedeutung, nicht nach Wahrheit gesucht. Man könnte sagen, dass wir heute wieder auffallend oft der magischen Denkkultur zum Opfer fallen – etwa im Bereich der modernen und wieder aufkommenden Astrologie, des Manifestierens oder der «Quantenheilung», die fälschlicherweise behauptet, eine Wissenschaft zu sein. Dazu gehört auch die Homöopathie, deren Wirksamkeit ich zu jeder Gelegenheit anfechten werde – wenn’s dir nicht passt, bist du herzlich eingeladen zu versuchen, mich mit Globuli zu vergiften.
In Kapitel 3 widmen wir uns dieser Denkart noch mal im Detail.
Jetzt wird’s etwas tricky. Wenn ich von religiösem Denken oder von der Kultur der Religion spreche, dann geht es – wie bereits erwähnt – nicht um Religion an sich, sondern eben um eine weitere Denkart, derer sich die Menschheit vor allem in der Vergangenheit bedient hat und die auch heute noch eine Rolle spielt – wenngleich sie durch die Säkularisierung bei uns in Deutschland nicht mehr dominant ist. Spezifisch geht es um eine Denkart, die Menschen mittels geteilter Ideen in sozialen Gruppen bindet. (Fußballfans bedienen sich beispielsweise der religiösen Denkart. Wie gesagt: Es geht nicht um Religion, sondern um sozialwissenschaftlich religiöses Denken.)
Das prämoderne (oder religiöse) Denken hat sich in der Jungstein- und Bronzezeit sowie, im Westen, im Mittelalter herausgebildet. Wissen wird in diesem Denkmodus durch den Glauben an eine externe höhere Macht (zum Beispiel Gott – heutzutage aber beispielsweise auch in Form einer Ideologie) vermittelt, der wir Menschen dann Folge leisten. Der wichtige Punkt dabei ist, dass dieses vermeintlich von oben vorgegebene Wissen nicht getestet oder auf die Probe gestellt wird. Es fühlt sich richtig an («Ich glaube an Gott, was er sagt, stimmt» oder die Erweiterung «Ich glaube an Gott, der Priester spricht mit Gott, was der Priester sagt, stimmt») und wird für bare Münze genommen. Ähnlich wie in der Kultur der Wissenschaft wird die Welt hier in der Analyse in Schubladen aufgeteilt: eine Schublade für das Gute, eine Schublade für das Böse und so weiter und so fort.
Eine detaillierte Besprechung dieser Denkart findest du in Kapitel 4.
Die uns wohl geläufigste Denkart ist die der Wissenschaft. Sie hat sich durch die fortschreitende Säkularisierung in unserer Gesellschaft immer mehr durchgesetzt. Das hat rund fünfhundert Jahre gedauert: angefangen mit dem Aufstieg des Kapitalismus um 1400 und bis hin zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte 1948. Der Wissenserwerb in der Wissenschaft findet vornehmlich durch Beobachtung statt. Wissenserwerb durch Beobachtung kann bedeuten, dass eine Theorie so lang getestet wird, bis sie sich entweder bewahrheitet, also im Ergebnis reproduzierbar ist, oder falsifiziert wird – also versagt. Sobald dies eintritt, wird sie durch eine andere, möglichst bessere Theorie ersetzt. Ein ganz brillantes, aber häufig fehlverstandenes Beispiel dafür waren die zahlreichen Pandemie-Ansätze der Politik zu Covid-19. Eine Theorie, also ein Ansatz zur Eindämmung der Pandemie, wird getestet, bis sich herausstellt, dass es sich nicht um den idealen Weg handelt. Sobald das passiert, wird sie durch einen anderen Ansatz ersetzt, und man gesteht ein, einen Fehler gemacht zu haben. Gute Wissenschaft sagt häufig «Ich weiß es nicht» oder «Ich lag falsch» – was ihr aber leider regelmäßig und fälschlicherweise als Unfähigkeit ausgelegt wird.
Bereits vorhandenes Wissen wird in dieser Denkkultur in separate Kategorien aufgeteilt: Die Welt wird in kleine Teilchen zerlegt, und alles bekommt ganz bequem seine Schublade. Es findet in diesem Denken zwangsweise ein Verlust komplexer Zusammenhänge statt; der Vorteil ist aber, dass uns diese Denkart eine sehr praxisorientierte Übersicht der Welt verschafft und uns erlaubt, schnelle und (meist) nützliche Urteile und Entscheidungen zu fällen.
Mehr zum wissenschaftlichen beziehungsweise modernen Denken findest du in Kapitel 5.
Die Denkart Kunst formt den Gegenpol zur Denkart Wissenschaft und kristallisiert sich ungefähr seit den 1970er-Jahren in unserem Kulturkreis als aktuell vorherrschendes Denkparadigma heraus. Wissenserwerb oder das Formen einer Wahrheit basiert in dieser Denkart oft auf einem Gefühl oder der Intuition für das, «was sich richtig anfühlt». Es geht also nicht um objektive Beobachtung und Verifizierung oder Falsifizierung. Wahrheit wird flexibel.
Statt das gewonnene Wissen in separate Schubladen zu sortieren, wird es mit anderen Wissensständen in Beziehung gesetzt: Es formt sich ein komplexes Netz aus Informationen, in dem Wahrheit nicht nur flexibel, sondern auch relativ wird. Wie oft hört man, vor allem in meiner Generation, Sätze wie «Das ist aber meine Wahrheit», «Das muss man relativ sehen» oder «Aus seiner Erfahrung war das aber anders»! Diese Vernetzung hat den Vorteil, dass sich eine enorme Toleranz gegenüber verschiedenen Sichtweisen und Lebensrealitäten ausbilden kann und diese zahlreichen Sichtweisen in ein übergreifendes Weltbild eingeflochten werden können. Mehr Stimmen werden gehört, und unser gedanklicher Horizont wird erweitert – Eurozentrismuskritik und Patriarchatskritik sind beispielsweise positive Entwicklungen postmodernen Denkens.
Der Nachteil ist, dass oft subjektive Wahrheit über objektive Fakten gestellt oder, noch schlimmer, damit verwechselt wird. Außerdem wird es für Menschen, die der Denkkultur der Kunst verhaftet sind, damit sauschwer, pragmatische Entscheidungen zu treffen, weil sie immer alles abwägen müssen.
Postmoderne und die Denkart Kunst besprechen wir in Kapitel 6 im Detail.
Manchmal gehen unsere vier Denkarten fließend ineinander über, und es ist schwierig festzustellen, welche wir oder unser Gegenüber gerade verwenden. Eine Art, es dennoch herauszufinden, ist, nach der Motivation zu fragen. Also nicht: «Was macht jemand da gerade?», sondern: «Warum macht er das?» Die Frage nach dem Warum ermöglicht uns ein erhöhtes Bewusstsein für unsere eigenen Denkmodi, aber auch eine erhöhte Sensibilität für die Denkmodi unseres Gegenübers.
Lass mich das an einem Beispiel verdeutlichen – es ist nämlich wichtig, dass du verstehst, dass dieselbe Handlung auf der Basis verschiedener Denkarten ausgeführt werden kann. Sagen wir, wir beide gehen campen. Ich bin ein Desaster: Schlafsack vergessen (ich soll einfach auf dem Boden liegen?!), strikter Veganer (deine Bratwürste werden verschmäht), und in den Wald kacken möchte ich auch nicht. Obendrein ist mir kalt, aber Glück im Unglück: Du kannst Feuer machen!
Wenn du jetzt wissenschaftlich denkst, dann sammelst du bestimmtes Holz und entzündest das Feuer auf eine bestimmte Weise, weil objektive Beobachtung und klare Fakten dir das so beigebracht haben. Du weißt zum Beispiel, dass trockenes Holz sich besser eignet als nasses Holz, weil Feuchtigkeit das Holz am Sichentzünden hindert.
Wenn du magisch denkst, dann hast du ebenfalls durch Beobachtung rausgefunden, was funktioniert. Deine Erklärung weicht aber ab – vielleicht wählst du in deiner Weltanschauung deshalb trockenes Holz, weil Feuer und Wasser «einander entgegengesetzte» Elemente sind.
Das religiöse Denken stützt sich auf Glauben, Autorität und weitergegebenes Wissen. Hier wird also vielleicht deshalb trockenes Holz gewählt, weil die Tradition es so verlangt.
Im künstlerischen Denken wird das trockene Holz gewählt, weil es sich aus irgendeinem Grund richtig anfühlt (und spätestens hier hinkt dieses Beispiel dann ein wenig, aber du verstehst hoffentlich den grundsätzlichen Gedanken: ein und dieselbe Handlung kann durch verschiedene Denkarten motiviert sein).
Puh! Ganz schön heftige Ladung für ein erstes Kapitel, was? Und so viel Fachjargon.
Die gute Nachricht: Du hast nun die wichtigsten Begriffe kennengelernt. Ein paar neue kommen zwar im nächsten Kapitel noch auf dich zu, danach sind wir damit aber erst mal fertig.
Die schlechte Nachricht: Metamodernismus ist und bleibt eine komplexe Theorie. Das ist aber genau der Grund, warum sie in einer superkomplexen Welt wie der heutigen tatsächlich praktische Lösungsansätze bieten kann. Ich weiß nicht, wie’s dir geht, aber ich habe die simplifizierenden Angebote der aktuellen Selfhelp-Branche à la Denk-einfach-positiv-und-alles-wird-gut oder Manifestiere-dir-einfach-deine-Wohnung-indem-du’s-dir-nur-fest-genug-wünschst ziemlich satt. Die klingen zwar nett, haben aber ein Problem: Sie funktionieren nicht. Erwiesenermaßen sind solche Ansätze allerhöchstens ein Pflaster für das Problem (dass wir unglücklich sind, uns verloren fühlen oder immer wieder in Konfliktbereiche geraten, aus denen es scheinbar keinen Ausweg gibt), aber keine Behandlung für die darunter liegende Ursache (nämlich dass unser Denken veraltet ist für die heutige Welt). Und spätestens nach dem dritten Duschen wird sich jedes Pflaster lösen. (Ich weiß, der Pflaster-Vergleich ist irgendwie komisch. Lass mich. Ich versuche, dir zu helfen.)
Fassen wir kurz zusammen, was du bisher weißt: Wir haben vier unterschiedliche Denkarten kennengelernt: das indigene (magische) Denken, das prämoderne (religiöse) Denken, das moderne (wissenschaftliche) Denken und das postmoderne (künstlerische) Denken. Diese Denkarten, Denkparadigmen oder auch Denkkulturen sind die grundlegenden Bausteine, über die unser Denken, unsere Werte und unser Handeln generiert werden. Jede Denkart entstand zu einem spezifischen Zeitpunkt in der menschlichen Geschichte (zu einem Denkzeitalter, wenn du so willst) und hat ganz bestimmte Vorteile mit sich gebracht: das indigene oder magische Denken vor rund 200000 Jahren, das prämoderne oder religiöse Denken vor rund 10000 Jahren, das moderne Denken vor rund 600 Jahren und das postmoderne Denken vor rund 40 Jahren. Mit fortschreitender Technologie und Ausbreitung des Menschen haben sich auch die Denkarten immer schneller entwickelt. Hier im Buch wollen wir uns einer fünften Denkart widmen, dem metamodernen Denken. Es zeichnet sich dadurch aus, dass es (im Bestfall willentlich) zwischen den vier bereits bekannten Denkarten wechselt und sie zugleich updatet.
Das nächste Kapitel zeigt dir, wie eine Denkart aufgebaut ist – du kannst anfangen, deine eigenen Wahrnehmungsfilter sowie die deiner Mitmenschen zu erkennen und zu durchbrechen. Die darauffolgenden vier Kapitel geben dir eine tiefere Einsicht in vier Denkarten (ich gebe mein Bestes, dir ein paar schlaue Sätze und Fakten reinzupacken, mit denen du dann auf der nächsten Party sehr intelligent klingen kannst), Kapitel 7 betrachtet noch einmal den Metamodernismus durch die Lupe deines neu gewonnenen Wissens, danach wenden wir uns den praktischen Anwendungen für den Alltag zu.
Auf geht’s, kleine Raupe!
Na, hast du dich ein bisschen erholt? Hoffentlich – wir machen jetzt nämlich noch einen kleinen Ausflug in die Geschichte des Bewusstseins und der menschlichen Entwicklung. Denn um das metamoderne Denken überhaupt anwenden zu können, müssen wir zunächst ein paar Dinge über unser Denken selbst verstehen: Um denken zu können, brauchen wir erst einmal ein Bewusstsein. Um anders denken zu können, müssen wir verstehen, wie dieses Bewusstsein entstanden ist, wie es funktioniert und was es geprägt hat – in einer Sekunde explodiert das Universum, in der nächsten hast du eine Sinnkrise, weil du auf Netflix nichts Interessantes findest. Was ist in den paar Milliarden Jahren dazwischen passiert?
Erster Satz: Vor grob fünf oder sechs Millionen Jahren (wer zählt das schon?) entwickeln erste Affen aufgrund wechselnder Umstände kleinere Mägen, was ihnen dabei hilft, aufrecht zu laufen, was wiederum Energie spart, welche stattdessen dem Hirn zugeführt werden kann.
Zweiter Satz: Erste Menschen passen sich nicht nur biologisch, sondern auch sozial an, formen Gruppen und schaffen Werkzeuge, welche dank ihrer Effizienz wieder mehr Energie für größere und komplexe Hirne sparen.
Dritter Satz: Vor plus/minus zweieinhalb Millionen Jahren wird’s richtig kalt, und nur die kognitiv am besten ausgestatteten Individuen überleben, was wiederum zu – du hast es erraten – größeren Hirnen führt (spezifisch geht’s um den präfrontalen Kortex, welcher sich während der menschlichen Entwicklung am weitesten entwickelt hat).
Vierter Satz: Siebenhunderttausend Jahre später, also vor 1,8 Millionen Jahren, entwickeln wir vermutlich die Fähigkeit zur Empathie (also die Fähigkeit, uns in andere Individuen und sogar in andere Spezies hineinzuversetzen – etwas, das heute vielerorts weitgehend verloren zu sein scheint) und später die Fähigkeit zur Selbstreflexion, was uns ermöglicht, komplexere soziale Konstrukte zu bauen.
Fünfter Satz: Vor rund zweihunderttausend Jahren taucht der Homo sapiens in Afrika auf – und zwar mit einem Gehirn, das sich bis heute biologisch kaum mehr verändert (die kulturelle Entwicklung hängt die biologische Entwicklung an dieser Stelle in puncto Geschwindigkeit um Längen ab).
Da hast du’s – eine sehr vereinfachte Geschichte der Menschheit in fünf Sätzen (ich gebe zu, dass hier und da vielleicht ein Schachtelsatz dabei war). Schau noch mal auf den letzten Schritt. Möglicherweise denkst du jetzt: «Wenn sich biologisch nicht mehr so viel geändert hat, heißt das dann nicht, dass wir diesen frühen Menschen ziemlich ähnlich sind?» – und in der Tat: Genetisch gesehen sind wir mit dem frühen Homo sapiens mehr oder weniger identisch. Hier und da gibt es ein paar Unterschiede, etwa Hautfarbe, Laktoseintoleranz und die Tatsache, dass wir weniger dagegen haben, wenn Kinder in Filmen