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Müssen begabte Kinder bereits im Kindergarten besonders gefördert werden? Es ist unumstritten, dass auch hochbegabte Kinder und Jugendliche einen Anspruch auf Förderung haben. Hochbegabung kann im Kindesalter jedoch noch nicht sicher diagnostiziert werden, und eine Etikettierung von Kindern als "hochbegabt" kann sogar eher schaden als nutzen. Die individuelle Förderung von Kindern mit Entwicklungsvorsprüngen oder besonderen Fähigkeiten erfordert daher einen genauen Blick. Das Buch vermittelt dazu Grundlagen zur Entwicklung und Diagnostik von Intelligenz und Begabung und stellt die Förderung von begabten Kindern in den Kontext aktueller pädagogischer Konzeptionen zu Bildung im Kindesalter. Es gibt Antworten auf die Frage, wie begabte Kinder im Alltag von KiTas begleitet und gefördert werden können, und konkretisiert dies für verschiedene Felder pädagogischer Arbeit, für die unterschiedlichen Bildungsbereiche, für besondere Problemlagen und Herausforderungen und für die Zusammenarbeit mit Eltern. Insgesamt zeigt das Buch, dass eine individuelle Förderung begabter Kinder nicht nur in jeder KiTa möglich ist, sondern die pädagogische Arbeit insgesamt bereichern und voranbringen kann.
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Seitenzahl: 387
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Herausgegeben von Manfred Holodynski, Dorothee Gutknecht und Hermann Schöler
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1. Auflage 2017
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-029346-5
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-029347-2
epub: ISBN 978-3-17-029348-9
mobi: ISBN 978-3-17-029349-6
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Die Lehrbuchreihe „Entwicklung und Bildung in der Frühen Kindheit“ will Studierenden und Fachkräften das notwendige Grundlagenwissen vermitteln, wie die Bildungsarbeit im Krippen- und Elementarbereich gestaltet werden kann. Die Lehrbücher schlagen eine Brücke zwischen dem aktuellen Stand der einschlägigen wissenschaftlichen Forschungen zu diesem Bereich und ihrer Anwendung in der pädagogischen Arbeit mit Kindern.
Die einzelnen Bände legen zum einen ihren Fokus auf einen ausgewählten Bildungsbereich, wie Kinder ihre sozio-emotionalen, sprachlichen, kognitiven, mathematischen oder motorischen Kompetenzen entwickeln. Hierbei ist der Leitgedanke darzustellen, wie die einzelnen Entwicklungsniveaus der Kinder und Bildungsimpulse der pädagogischen Einrichtungen ineinandergreifen und welche Bedeutung dabei den pädagogischen Fachkräften zukommt. Die Reihe enthält zum anderen Bände, die zentrale bereichsübergreifende Probleme der Bildungsarbeit behandeln, deren angemessene Bewältigung maßgeblich zum Gelingen beiträgt. Dazu zählen Fragen, wie pädagogische Fachkräfte ihre professionelle Responsivität den Kindern gegenüber entwickeln, wie sie Gruppen von Kindern stressfrei managen oder mit Multikulturalität, Integration und Inklusion umgehen können. Die einzelnen Bände bündeln fachübergreifend aktuelle Erkenntnisse aus den Bildungswissenschaften wie der Entwicklungspsychologie, Diagnostik sowie Früh- und Sonderpädagogik und bereiten für den Einsatz in der Aus- und Weiterbildung, aber ebenso für die pädagogische Arbeit vor Ort vor. Die Lehrbuchreihe richtet sich sowohl an Studierende, die sich in ihrem Studium mit der Entwicklung und institutionellen Erziehung von Kindern befassen, als auch an die pädagogischen Fachkräfte des Elementar- und Krippenbereichs.
Der vorliegende Band widmet sich einem kontrovers diskutierten Thema der Bildungsarbeit im Elementarbereich, der Begabung und Hochbegabung von Kindern. Viele Eltern wünschen sich natürlich ein (hoch)begabtes Kind, aber welche Verhaltensweisen und Leistungen kennzeichnen eine Hochbegabung? Ist jedes Vorschulkind, das seinen Altersgenossen voraus ist, schon hochbegabt? Und umgekehrt: Können sogar verhaltensauffällige Kinder verkannte hochbegabte Kinder sein, weil ihre verborgenen Fähigkeiten nicht angemessen gefördert werden? Und wie soll eine KiTa-Fachkraft diese individualisierte Förderung auch noch leisten? In diesen Dschungel an herausfordernden Fragen der Theoriebildung, Diagnose und Förderung von (hoch)begabten Kindern legen die Buchautorin Dr. Sabine Rohrmann und der Buchautor Dr. Tim Rohrmann aufschlussreiche Orientierungswege an. Sie ist Kinder- und Jugendtherapeutin mit einer eigenen Praxis für Bildungsberatung und Begabtenförderung, er ist Diplompsychologe und Professor für Entwicklung und Bildung im Kindesalter an der Evangelischen Hochschule Dresden – und beide ausgewiesene Expertin und Experte im Bereich der Begabungsdiagnose und -förderung.
In ihrer umfassenden und kritischen Diskussion von Begabungskonzepten und Diagnoseverfahren resümieren Frau und Herr Rohrmann, dass sich zwar Entwicklungsvorsprünge von Kindern verlässlich diagnostizieren und diese Kinder auch angemessen fördern lassen. Ob sich daraus aber eine biographisch stabile Hochbegabung im Sinne eines früh erkannten „Genies“ entwickeln wird, ist im Vorschulalter noch nicht verlässlich diagnostizierbar. Daher kommen sie zu der verblüffenden, aber auch beruhigenden Empfehlung, bei Vorschulkindern noch nicht auf die Suche nach zukünftigen „Hochbegabten“ zu gehen, sondern stattdessen jedes Kind auf seinem Entwicklungsniveau zu fördern – was heißt, begabte Kinder mit besonderen oder vorauseilenden Fähigkeiten auch auf ihrem entwickelten Niveau zu fördern, ohne sie bereits als „hochbegabt“ zu etikettieren. Die Autorin und der Autor stellen wertvolle Hinweise zusammen, wie eine Begabtenförderung in der KiTa gestaltet werden kann, welche Rolle die pädagogischen Fachkräfte dabei spielen, wie erfolgreich mit Eltern kooperiert und mit begabungsrelevanten Problemen von Kindern umgegangen werden kann. Ein lehrreiches Buch mit provokanten Lösungen, die einen gangbaren Weg zur Begabungsförderung von Vorschulkindern weisen.
Münster, Freiburg und Heidelberg
Manfred Holodynski, Dorothee Gutknecht und Hermann Schöler
Vorwort der Herausgeberin und der Herausgeber
Einleitung: Begabte Kinder als Herausforderung
1 Was ist Begabung?
1.1 Zur Geschichte des Begriffs „Begabung“
1.2 Begabung und Intelligenz
1.2.1 Alltagstheorien und Definitionen von Begabung
1.2.2 Was ist Intelligenz?
1.2.3 Klassische Intelligenztheorien
1.2.4 Multiple Intelligenzen?
1.2.5 Die Anlage-Umwelt-Kontroverse
1.3 Modellvorstellungen von Hochbegabung
1.3.1 Klassische Modelle von Hochbegabung
1.3.2 Hochbegabung als developing expertise
1.3.3 Systemische Perspektiven
1.3.4 … oder ist es doch nur die allgemeine Intelligenz?
1.3.5 Begabung: Nur noch ein Persönlichkeitsfaktor von vielen?
1.3.6 Auf dem Weg zum autonomen Lerner
1.4 Weiterführende Literatur
2 Begabte Kinder erkennen
2.1 ‚Checklisten‘ für Hochbegabung
2.2 Psychologische Diagnostik
2.2.1 Die Anamnese
2.2.2 Intelligenzdiagnostik
2.2.3 Weitere Bestandteile psychologischer Diagnostik
2.3 Begabung und Intelligenz im Kindesalter
2.3.1 Identifizierung von begabten Kindern so früh wie möglich?
2.3.2 Begabung oder Entwicklungsvorsprung?
2.3.3 Konsequenzen für Diagnostik und frühe Förderung
2.4 Verfahren zur Messung der Intelligenz im Vor- und Grundschulalter
2.4.1 Probleme der Identifikation
2.4.2 Nonverbale bzw. kulturfaire Intelligenztests
2.4.3 Mehrdimensionale Intelligenztests
2.4.4 Entwicklungsdiagnostik
2.4.5 Das Gutachten
2.5 Fazit: Müssen begabte Kinder erkannt werden?
2.6 Weiterführende Literatur
3 Entwicklung begabter Kinder
3.1 Sind begabte Kinder anders als andere?
3.2 Entwicklungsprobleme und psychosoziale Auffälligkeiten
3.2.1 Asynchrone Entwicklung
3.2.2 Verhaltensauffälligkeiten
3.2.3 Perfektionismus
3.2.4 Anstrengungsvermeidung
3.2.5 Underachievement
3.2.6 Hochsensible Kinder
3.2.7 Entwicklungsauffälligkeiten als Etikettierungsproblem
3.2.8 Hochbegabung und psychische Störungen
3.3 Dimensionen von Heterogenität
3.3.1 Geschlecht
3.3.2 Migration und Sprache
3.3.3 Soziale Lage
3.4 Weiterführende Literatur
4 Zwischenruf: Warum Begabtenförderung?
5 Kindliche Bildung als aktiver Konstruktionsprozess
5.1 Bildung als Selbst-Bildung
5.2 Die Zone der nächsten Entwicklung
5.3 Gemeinsam denken – Kommunikation als Schlüssel
5.4 Scaffolding – Beschleunigung von Entwicklung?
5.5 Zur Bedeutung des Spiels
5.6 Fazit: Auf den Spuren der Kinder
5.7 Weiterführende Literatur
6 Begabtenförderung in der KiTa
6.1 Begabte Kinder im KiTa-Alltag
6.2 Begabung in Bildungsplänen und -programmen
6.3 Strategien der Begabtenförderung
6.4 Weiterführende Literatur
7 Schritte in die Praxis
7.1 Bei sich selbst anfangen
7.2 Förderung begabter Kinder: Eine Herausforderung für das gesamte Team
7.3 Beobachtung und pädagogische Diagnostik
7.4 Raumgestaltung und Materialien
7.5 Partizipation
7.6 Weiterführende Literatur
8 Förderung in den Bildungsbereichen
8.1 Körper und Bewegung
8.2 Soziale Kompetenz
8.3 Sprache und Kommunikation
8.4 Ästhetische Bildung
8.5 Musik
8.6 Mathematik, Naturwissenschaften und Technik
8.7 Neue Medien
8.8 Philosophieren mit Kindern
8.9 Bücher über und Spiele für kluge Köpfe
8.9.1 Bücher – einige Anregungen
8.9.2 Regelspiele – einige Anregungen
9 Übergänge
9.1 Von der Familie in die KiTa
9.2 Vom Kindergarten in die Schule
9.3 Integrative Begabtenförderung in Grundschule und Hort
9.4 Weiterführende Literatur
10 Umgang mit spezifischen Problemen
10.1 Begabt und respektlos?
10.2 Begabte Underachiever
10.3 Selbstüberforderung und Perfektionismus
10.4 Hochbegabte Kinder unter Erfolgsdruck?
10.5 Weiterführende Literatur
11 Zusammenarbeit mit Eltern
Literatur
Verzeichnis der psychologischen Tests
Ich hatte nie die Absicht gehabt, lesen zu lernen, aber irgendwie war es eben passiert. (…) Wenn ich’s mir recht überlegte, war mir das Lesen einfach zugeflogen, genauso wie die Fähigkeit, meine Hosenklappe zuzuknöpfen, ohne den Kopf zu wenden, oder die Schnürsenkel zur Schleife zu binden. Ich wußte nicht mehr, wann sich die Zeilen über Vaters wanderndem Zeigefinger in Wörter getrennt hatten, aber ich erinnerte mich an keinen Abend, an dem ich nicht daraufgestarrt und zugehört hatte: Tagesnachrichten, Gesetze, die in Kraft traten, die Memoiren von Lorenzo Dow – alles, was Vater gerade las, wenn ich abends auf seinen Schoß geklettert war. Bis mich die Angst befiel, darauf verzichten zu müssen, hatte ich nie gern gelesen. Man atmet ja auch nicht gern. (Lee, 1962, S. 28 f.)
Dies erzählt Harper Lee aus einer Kindheit in den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Dass Scout, die Heldin des Buches, mit sechs Jahren schon lesen und schreiben kann, wird an ihrem ersten Schultag allerdings zum Problem, denn ihre Lehrerin ist der festen Überzeugung, dass Kinder erst in der Schule lesen lernen sollten: „Das Lesen lernt man am besten mit unbelastetem Verstand“ (ebd., S. 28), und Schreiben sogar erst in der dritten Klasse.
Heute ist es nichts Ungewöhnliches mehr, wenn Kinder bereits lesen können, wenn sie in die Schule kommen. Und während es vor ein, zwei Jahrzehnten noch passieren konnte, dass einem solchen Kind im Kindergarten Bücher mit der Begründung aus der Hand genommen wurden, dass es sich später in der Schule nicht langweilen soll, ist heute eher damit zu rechnen, dass engagierte Fachkräfte den Eltern das Aufsuchen eines Psychologen empfehlen, um das Kind auf eine mögliche Hochbegabung testen zu lassen.
Wir haben dieses Beispiel für den Einstieg in unser Buch gewählt, weil es eindrücklich beschreibt, dass für das Kind selbst seine bemerkenswerten Fähigkeiten gar nichts Besonderes darstellen. Andererseits hätte Scout wohl kaum lesen gelernt, wenn sie nicht immer auf dem Schoß ihres Vaters gesessen hätte, der als Anwalt nicht nur regelmäßig die Zeitung, sondern auch Gesetzestexte las. Dieser hatte keineswegs die Absicht, sein Kind damit besonders zu fördern – das Lernen geschah vielmehr nebenbei, so selbstverständlich wie das Atmen. Damit ist Hochbegabung einerseits „die normalste Sache der Welt“, wie es Feger und Prado (1998) schon vor zwei Jahrzehnten in einem der Klassiker der Hochbegabungsliteratur formuliert haben. Andererseits ist klar, dass Kinder ihre Begabungen nur entwickeln können, wenn ihr Umfeld dafür passende Anregungen bereithält und die Menschen, mit denen sie zu tun haben, ihr Lernen herausfordern. Und so wird in einer aktuellen Initiative von Bund und Ländern gefordert: „Die Potenziale aller Kinder und Jugendlichen müssen möglichst frühzeitig erkannt werden“ (KMK, 2016, S. 2).
Damit sind wir beim Thema dieses Buches. Es hat das Ziel, Fachkräfte und Studierende über die komplexen Zusammenhänge von Bildung und Begabung zu informieren und sie neugierig auf die vielfältigen Begabungen von Kindern zu machen. Gleichzeitig möchten wir Tendenzen zur Dramatisierung entgegenwirken und (angehende) Fachkräfte dazu befähigen, gelassen mit dem Thema Hochbegabung umzugehen.
Das Buch richtet sich in erster Linie an Studierende und Fachkräfte in der institutionellen Bildung, Erziehung und Betreuung von Kindern von 0–10 Jahren. Daneben ist es für alle Fachkräfte und Studierende interessant, die mit Kindern in dieser Altersgruppe – insbesondere mit Kindern bis zu sechs Jahren – arbeiten. Als Lehrbuch steckt das vorliegende Buch den Rahmen des Themas eher weit und geht auch auf grundlegende Theorien von Entwicklung und Bildung im Kindesalter ein. Gleichzeitig ist es als Lesebuch angelegt, so dass es nicht von vorn bis hinten durchgearbeitet werden muss. Wer eher an Fragen der Praxis interessiert ist, kann daher auch in der Mitte des Buches zu lesen beginnen. Etliche Querverweise stellen Verbindungen zu anderen Teilen des Buches her.
Die ersten drei Kapitel des Buches sind psychologischen Grundlagen gewidmet. Ausgehend von einem historischen Überblick befasst sich Kapitel 1 mit grundlegenden Fragen der Entwicklung von Begabung und Intelligenz im Kindesalter und führt in verschiedene Modellvorstellungen von Hochbegabung ein. In Kapitel 2 wird diskutiert, wie sich begabte Kinder erkennen lassen und inwieweit dies in den ersten Lebensjahren überhaupt sinnvoll ist. In diesem Zusammenhang wird auch ein Überblick über psychologische Verfahren zur Messung der Intelligenz gegeben. Thema von Kapitel 3 ist die Entwicklung begabter Kinder, wobei insbesondere auf mögliche Entwicklungsprobleme und Verhaltensauffälligkeiten sowie auf verschiedene Dimensionen von Heterogenität eingegangen wird.
Ein Zwischenruf stellt die Frage, ob und inwiefern Begabtenförderung im Kindesalter überhaupt notwendig ist, bevor es im zweiten Teil des Buches um die pädagogische Praxis geht. Dazu wird in Kapitel 5 zunächst in aktuelle Ansätze zum Verständnis kindlicher Bildung eingeführt, bevor in Kapitel 6 die Berücksichtigung der Begabungsthematik in Bildungsplänen im Elementarbereich diskutiert und Strategien der Begabtenförderung dargestellt werden. Kapitel 7 bis 9 sind dann der konkreten Umsetzung in die Praxis gewidmet, wobei Kapitel 7 allgemeine Bereiche pädagogischen Handelns in den Blick nimmt, Kapitel 8 die spezifischen Bildungsbereiche. In Kapitel 9 wird auf einige typische Probleme eingegangen, die in der Arbeit mit begabten Kindern zu Herausforderungen werden können. Gegenstand von Kapitel 10 sind die verschiedenen Übergänge im Bildungssystem, wobei auch auf Ansätze der Begabtenförderung in der Grundschule eingegangen wird. Im abschließenden Kapitel 11 werden schließlich Ansatzpunkte für die Zusammenarbeit mit Eltern beschrieben.
Grundlegend für die Arbeit mit begabten Kindern – wie für pädagogische Arbeit überhaupt – ist eine Reflexion eigener Erfahrungen und Einstellungen. Durch das gesamte Buch ziehen sich daher Übungen mit Anregungen zur Reflexion, die sowohl eigenständig bearbeitet als auch als Methoden zur Gruppenarbeit im Kontext von Ausbildung und Studium verwendet werden können. Insbesondere die Auseinandersetzung mit der eigenen Begabungsgeschichte kann dabei eine persönliche Herausforderung darstellen, die einen sicheren und geschützten Rahmen erfordert.
Insgesamt möchten wir mit diesem Buch das Denken über Bildung und Begabung in der Kindheit anregen und erweitern. Es greift viele Aspekte aktueller Diskussionen über Bildung im Kindesalter auf und steht damit im Kontext der Professionalisierung der Kindheitspädagogik. Gleichzeitig möchten wir etwas Gelassenheit in diese Diskussion bringen. Kinder haben unendlich vielfältige Potenziale, und es macht großen Spaß, sie bei der Entwicklung dieser Potenziale zu begleiten. Dafür braucht es vor allem Neugier und die Lust, mit Kindern gemeinsam auf Entdeckungsreise zu gehen.
Wir danken allen Menschen, die uns im Laufe unserer Auseinandersetzung mit dem Thema Hochbegabung angeregt und unterstützt und unser Denken immer wieder in neue Richtungen gelenkt haben. Herausgeber und Verlag haben uns durch ihr Vertrauen ermöglicht, dieses Lehrbuch zu veröffentlichen. Wir danken weiter André Jacob, der den Entstehungsprozess dieses Buches begleitet und wichtige Impulse dazu beigetragen hat. Tim Rohrmann dankt den Kolleginnen und Kollegen an der Evangelischen Hochschule Dresden, die ihm in den letzten Jahren vielfältige Anregungen für ein besseres Verständnis kindlicher Bildungsprozesse vermittelt haben; ein besonderer Dank geht dabei an Holger Brandes. Schließlich dankt Sabine Rohrmann den vielen Kindern und Eltern aus ihrer Beratungspraxis, die ihr Denken über Begabung und Begabtenförderung stets aufs Neue herausfordern.
Denkte, im Mai 2017
Sabine und Tim Rohrmann
Lehnen Sie sich einmal zurück und überlegen kurz, was für ein Bild vor Ihren Augen entsteht, wenn Sie hören, ein Mensch sei besonders begabt oder sogar hochbegabt. Wahrscheinlich denken Sie an den außergewöhnlichen Musiker, der in den Konzertsälen der Welt die Menschen mit seiner Musik verzaubert oder auch an den begnadeten Wissenschaftler, der für seine bahnbrechenden Forschungen oder Erfindungen den Nobelpreis erhält. Vielleicht denken Sie auch an die herausragenden Sportler, die bei internationalen Wettkämpfen viele Auszeichnungen und Preise erhalten. Alle diese Menschen zeigen in der Tat herausragende Leistungen in ganz unterschiedlichen Bereichen.
Kinder mit besonderen Begabungen sind keine Wesen vom anderen Stern, die grundsätzlich anders sind als andere Kinder. Sie sind auch keine Problemkinder, die eine Spezialbehandlung in einer Spezialeinrichtung benötigen. Kinder, die hochbegabt sind oder besondere Begabungen haben, sind zunächst einmal einfach Kinder. Sie sind in jeder KiTa zu entdecken und können dort auch angemessen begleitet und gefördert werden. Was (Hoch-)Begabung eigentlich ist und wie man sich Hochbegabung vorstellt – darum geht es in dieser ersten Einführung.
begabt (…) ‚talentiert, mit guten Anlagen, Geistesgaben ausgestattet‘; Partizip zu begaben ‚mit Gaben ausstatten, beschenken‘. (Pfeifer, 2016, o. S.)
Das Wort Begabung kommt von mittelhochdeutsch gābe, welches das Ergebnis des Schenkens, das ‚Geschenk‘ bezeichnet, aber auch die Eigenschaften, mit denen jemand ausgestattet ist. Begabt im Sinne von ‚talentiert, mit guten Anlagen, Geistesgaben ausgestattet‘ stammt vom heute unüblichen Verb begaben ab, das im 13. Jahrhundert zuerst in der Rechtssprache auftrat. Ab dem 14. Jahrhundert wurde es im religiösen Verständnis auf die Gaben Gottes an den Menschen bezogen. Von dort aus entwickelte es sich zu einem allgemeinen Ausdruck zur Bezeichnung von Menschen, die in besonderer Weise mit Geistesgaben oder anderen guten Anlagen ausgestattet waren (ebd.).
Legenden über besonders begabte Menschen gab es bereits in der Antike. So berichtet Plinius der Ältere vom griechischen König Mithridates VI., dass er alle 22 Sprachen beherrschte, die in seinem Reich gesprochen wurden. Vom Perserkönig Kyros wird erzählt, dass er alle Namen seiner 3000 Soldaten auswendig kannte (vgl. Hoyer, Weigand & Müller-Oppliger, 2013, S. 16). Allerdings lässt sich aus heutiger Sicht nicht feststellen, inwiefern es sich hierbei vielleicht nur um Legendenbildung handelt, mit der absolutistische Herrscher idealisiert werden sollten.
Auch aus dem Mittelalter gibt es Erzählungen über besonders begabte Menschen. Populär ist heute insbesondere der Rückblick auf herausragende Frauen wie z. B. die Äbtissin Hildegard von Bingen, die nicht nur über ein umfangreiches und vielfältiges Wissen verfügten, sondern auch in einer männerdominierten Gesellschaft machtvolle Positionen behaupten konnten. Hildegard selbst berichtet in ihrer Autobiographie, dass ihre geistigen Fähigkeiten schon im Kindesalter Verwunderung auslösten: „In meinem achten Jahr aber wurde ich zu geistlichem Leben Gott dargebracht (oblata) und bis zu meinem fünfzehnten Jahr war ich jemand, der vieles sah und mehr noch einfältig aussprach, so daß auch die, welche diese Dinge hörten, verwundert fragten, woher sie kämen und von wem sie stammten“ (nach Klaes, 1998, S. 125).
Den meisten Menschen war im Mittelalter jedoch der Zugang zu umfassender Bildung versperrt. „Das ent-individualisierte Weltbild dieser Zeit verhinderte die soziale Anerkennung von besonderen persönlichen Fähigkeiten und Leistungen. Zudem öffnete es einer nicht selten ideologisch-religiös motivierten Willkür beim Umgang mit begabten Menschen Tür und Tor, was die ‚Fälle‘ Giordano Bruno (1548–1600) und Galileo Galilei (1564–1641) selbst noch im Übergang zur Renaissance anschaulich untermauern“ (Jacob, 2016, S. 17).
Erst in der Aufklärung veränderte sich das Verständnis von Begabung hin zu einem Potenzial, das prinzipiell allen Menschen innewohnt. So war der berühmte Pädagoge Johann Amos Comenius (1592–1670) der Ansicht, dass alle Menschen zur Bildung begabt sind (Hoyer et al., 2013, S. 33). Bemerkenswert modern war dabei, dass er dies nicht nur auf alle Jungen unabhängig von ihrer Herkunft, sondern auch auf Mädchen bezog.
Das sich entwickelnde humanistische Bildungsverständnis führte zur Annahme, dass in erster Linie die Erziehung für die Ausbildung der Fähigkeiten des Menschen verantwortlich sei. Damit verbunden ist die am deutlichsten von Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) formulierte Wende im Menschenbild hin zum Kind als einem eigenen Wesen: Ich „will, daß Kinder Kinder seien, ehe sie erwachsene Menschen werden“ (Rousseau, 1988, S. 593). Mit der Annahme einer frühen Bildbarkeit von Kindern erhielten die Erziehungs- und Lehrpersonen eine zunehmend größere Bedeutung, da sie es waren, die für die Ausbildung von Fähigkeiten und Begabungen zuständig waren. Im Kontext von Bildungsreformen wurde dabei früh die Forderung gestellt, begabte Kinder unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund zu fördern. So sprach sich der amerikanische Präsident Thomas Jefferson (1743–1826) im Jahr 1785 dafür aus, „besonders begabte Jungen ärmerer Eltern staatlich fördern zu lassen“ (zit. nach Preckel & Baudson, 2013, S. 101).
Im Zuge der zunehmend wissenschaftlichen Reflexion von Begabung und Intelligenz begann die bis heute anhaltende Debatte über das Verhältnis von Anlage und Umwelt (vgl. Hüther & Hauser, 2012; Stern & Neubauer, 2013, 2016). Die bahnbrechenden Forschungen zur Vererbungs- und Abstammungslehre führten in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dazu, dass in diesen Theorien auch der Schlüssel für das Verständnis von Talent und Genie gesucht wurde. So war Charles Darwin (1809–1882) davon überzeugt, dass Intelligenz vererbt ist und auch „das Genie, welches eine wunderbar komplexe Kombination hoher Fähigkeiten beinhaltet, zur Erblichkeit neigt“ (Darwin, 1871, S. 111, übers. T. R.). Dabei bezog er sich auf Studien seines Cousins Francis Galton (1822–1911) zur Erblichkeit intellektueller Fähigkeiten (Galton, 1865, 1869, 1910). Da Intelligenz und Genie als angeboren galten, wurde von den Autoren angenommen, dass der Weg in eine ideale Gesellschaft eher nicht über Erziehung führe, sondern vor allem über die Zuchtauswahl zur „Rassenveredlung“.
Der Begriff Genie, der seit dem Ende des 18. Jahrhunderts insbesondere für Dichter und Künstler mit überragendem schöpferischen Vermögen verwendet wurde, ist allerdings zwiespältig. In der Kombination Genie und Wahnsinn ist er bis heute dafür verantwortlich, dass mit hoher Begabung oft – und fälschlich – eine Tendenz zu gestörter Persönlichkeit assoziiert wird (vgl. Baudson, 2008).
Seit dem 20. Jahrhundert steht stattdessen der Begriff Begabung im Vordergrund der Fachdiskussion. 1896 veröffentlichte Richard Baerwald eine Theorie der Begabung, in der bereits die Zwiespältigkeit des Begabungsbegriffs deutlich wird. Einerseits sollte Begabung psychologisch untersucht und klassifiziert werden, andererseits wurde weiterhin nach der Bildsamkeit menschlicher Begabungen und der Bedeutung von Erziehung gefragt (vgl. Weigand, 2011). Bis heute bewegt sich die Diskussion um Begabung und Begabtenförderung zwischen diesen beiden Polen. Zum einen sollen Begabte und Begabungen systematisch erkannt werden, was mit einer Unterscheidung von mehr und weniger Begabten einhergeht. Zum anderen wird danach gefragt, wie Kinder bestmöglich gefördert werden können, indem die individuellen Begabungen jedes Kindes aufgegriffen werden.
Von Hochbegabung war vor hundert Jahren allerdings noch nicht die Rede. Dieser Begriff wurde erst in den 1980er Jahren in den deutschsprachigen Raum eingeführt, als Forscherteams begannen, sich intensiver mit der Situation intellektuell besonders begabter Kinder und Jugendlicher auseinanderzusetzen. Seitdem hat die Beschäftigung mit Hochbegabung einen rasanten Aufschwung genommen. Zunächst waren es nur einzelne Spezialeinrichtungen, die sich die Förderung hochbegabter Kinder und Jugendlicher zum Auftrag machten. Im Zuge der öffentlichen Diskussionen über Bildung in den letzten zwei Jahrzehnten sowie nicht zuletzt aufgrund der Initiative von Stiftungen und Elternvereinen wurde das Thema Hochbegabung dann allmählich in die Öffentlichkeit getragen. Staatliche Stellen reagierten, initiierten Programme und Institutionen zur Beratung und Förderung Begabter und nahmen das Ziel der Begabtenförderung in Lehr- und Bildungspläne auf. Während dabei zunächst eher Jugendliche im Vordergrund standen, die im bestehenden Schulsystem ihre herausragenden Fähigkeiten nicht hinreichend entwickeln konnten, geht es inzwischen vermehrt um immer jüngere Kinder. Die Forderung nach einer individuellen Förderung begabter Kinder ist damit auch in der KiTa angekommen.
Was genau ein begabtes Kind ist, ist allerdings nach wie vor nicht unbedingt leicht zu bestimmen, wie der folgende Blick auf Alltagstheorien sowie wissenschaftliche Modellvorstellungen von Begabung und Intelligenz zeigt.
Schaut man sich an, wie Hochbegabte in den Medien heute dargestellt werden, scheint klar zu sein, was Hochbegabte auszeichnet: Es sind merkwürdige Geschöpfe, mit denen der normale Mensch nichts anfangen kann. Die Klischees reichen vom sprichwörtlichen zerstreuten Professor, der zwar komplizierte mathematische Probleme lösen, aber kein Spiegelei braten und seine Brille nicht finden kann, über den ‚Nerd‘, den uncoolen Streber, der sich zwar super mit Computern auskennt, sozial aber völlig unfähig ist, bis hin zur freundlichen und sympathischen Musterschülerin, die neben exzellenten Noten auch noch sozial engagiert ist, Klavier spielt und im Hockey glänzt. Diese Eigenschaften sind nicht unbedingt typische Merkmale hochbegabter Menschen, das haben viele Studien mittlerweile immer wieder bestätigt. Dennoch halten sich diese Überzeugungen hartnäckig. Vielleicht haben Sie mit der Einstiegsübung in dieses Kapitel auch bei sich selbst einige dieser Vorurteile entdeckt?
Diese Alltagstheorien, so genannte implizite Theorien, sind ein Mosaik aus Wissen, Einstellungen, Vorerfahrungen, Überzeugungen und spontanen Einfällen. Sie helfen im Alltag, Situationen, andere Menschen und Dinge zu erfassen und zu beurteilen. Das geschieht meist nicht bewusst, denn in der Regel werden derartige Annahmen nicht daraufhin überprüft, ob sie tatsächlich gültig und richtig sind. Sie sind daher sehr subjektiv und von dem geprägt, was der einzelne erlebt und gelernt hat. Dennoch oder gerade deshalb sind sie aber sehr bedeutsam, weil sie Orientierung und Sicherheit bieten, insbesondere auch dann, wenn sie von mehreren Leuten geteilt werden.
Im Gegensatz dazu sind explizite Theorien schriftlich ausformuliert, durch Fakten abgesichert und empirisch mit wissenschaftlichen Methoden überprüft. Eine allgemein gültige Definition von Hochbegabung gibt es jedoch nicht. Stattdessen gibt es eine Vielzahl von verschiedenen, sich z. T. widersprechenden Definitionen und Modellvorstellungen. Im Kasten auf der folgenden Seite sind einige dieser Definitionen aufgelistet.
Schon an diesen wenigen Beispielen wird ersichtlich, dass es nicht so einfach ist, Hochbegabung klar und eindeutig zu definieren. Wie viele psychologische Begriffe ist auch Begabung bzw. Hochbegabung ein Konstrukt, also eine theoretische Konstruktion. Begabungen sind nicht direkt beobachtbar – es kann nur indirekt auf eine Begabung geschlossen werden, wenn eine Person in bestimmten Situationen ein bestimmtes Verhalten zeigt. Es gibt verschiedenste Situationen, in denen Kinder Leistungen zeigen, und es gibt unterschiedliche Auffassungen darüber, welche für die Bestimmung von Hochbegabung entscheidend sind und welche eher nicht. Das Spektrum reicht dabei von Alltagssituationen, in denen Kinder bemerkenswerte Fähigkeiten zeigen, bis hin zu aufwändigen psychologischen Tests.
Der in den 1970er Jahren durchgeführten und bis heute einflussreichen Marland-Studie zur Situation Hochbegabter in den USA wurde die folgende Definition vorangestellt:
„Hochbegabte und talentierte Kinder sind von beruflich qualifizierten Personen identifizierte Kinder, die aufgrund außergewöhnlicher Fähigkeiten hohe Leistungen zu erbringen vermögen. Um ihren Beitrag für sich selbst und für die Gesellschaft zu realisieren, benötigen diese Kinder die Bereitstellung differenzierter pädagogischer Programme und Hilfestellungen, die über die normalen regulären Schulprogramme hinausgehen.
Die Gruppe der Kinder, die zu hohen Leistungen fähig sind, schließt solche mit Leistungen und/oder potentiellen Fähigkeiten in irgendeinem der folgenden Bereiche mit ein:
• Allgemeine intellektuelle Fähigkeit
• Spezifische akademische (schulische) Eignung
• Kreatives oder produktives Denken
• Führungsfähigkeiten
• Bildnerische und darstellende Künste
• Psychomotorische Fähigkeiten“
(Marland, 1971, S. IX, zit. in Anlehnung an Fels, 1999, S. 41, übers. T. R.).
„Begabungen an sich sind immer nur Möglichkeiten der Leistung, unumgängliche Vorbedingungen, sie bedeuten noch nicht die Leistung selbst. Darum muß auch die Psychologie untersuchen, welche anderen seelischen Eigenschaften zur eigentlichen Begabung hinzutreten müssen, um die Leistung zu bestimmen“ (Stern, 1916, S. 110).
„Hochbegabte verfügen über verwirklichte oder potentielle Fähigkeiten, die Ausdruck sind von hohen Leistungsmöglichkeiten auf intellektuellem, kreativem, künstlerischem (musikalisch oder darstellend) oder spezifischem akademischem Gebiet oder von außergewöhnlichen Führungsqualitäten. Es sind Kinder, die ein differenziertes Unterrichtsangebot und Fördermaßnahmen erfordern, die gewöhnlich in der Regelschule nicht geboten werden, damit sie ihren Beitrag für sich und die Gesellschaft verwirklichen können“ (Mönks & Ypenburg, 1998, S. 17).
„Hochbegabt sind jene Schüler, deren potentielle intellektuelle Fähigkeiten sowohl im produktiven als auch im kritisch bewertenden Denken ein derartig hohes Niveau haben, daß begründet zu vermuten ist, daß sie diejenigen sind, die in der Zukunft Probleme lösen, Innovationen einführen und die Kultur kritisch bewerten, wenn sie adäquate Bedingungen der Erziehung erhalten“ (Lucito, 1964, S. 184, zit. nach Feger & Prado, 1998, S. 31).
„ Begabung ist zunächst eine relativ unspezifische individuelle Anlagepotenz, die in ihrer Entwicklung von Anfang an interagiert, also in Wechselwirkung tritt mit der sozialen Lernumwelt, d. h. mit konkreten Erziehungs- und Sozialisationseinflüssen. Begabung, auch Hochbegabung, stellt sich somit zu jedem Zeitpunkt der individuellen Entwicklung … als Interaktionsprodukt dar“ (Heller, 1992b, S. 28).
Fachkräfte in der Praxis bevorzugen oft ein eher breit angelegtes Verständnis von Hochbegabung, damit möglichst viele Kinder erfasst werden können, die in irgendeiner Weise herausragend sind. Spezialbegabungen in Bereichen wie Musik, Kunst und Sport werden im deutschen Sprachraum eher als Sonderbegabungen oder besondere Talente bezeichnet und oft nicht im Zusammenhang mit allgemeiner Hochbegabung betrachtet. Wissenschaftlich wird Hochbegabung dagegen in erster Linie als überragende kognitive Leistungsfähigkeit definiert, wie sie mit Intelligenztests gemessen werden kann.
Damit kommt ein neuer Begriff ins Spiel. Der Intelligenzbegriff ist für das Verständnis von Hochbegabung zentral. In manchen Definitionen wird Hochbegabung mit hoher Intelligenz gleichgesetzt. In komplexeren Modellvorstellungen von Hochbegabung erscheint hohe Intelligenz dagegen nur als ein Aspekt, der mit anderen Faktoren zusammenwirkt. Dennoch spielt die Intelligenz auch in diesen Modellen eine zentrale Rolle. Bevor wir Modelle von Begabung und Hochbegabung darstellen, müssen wir uns daher mit Intelligenztheorien befassen sowie mit der umstrittenen Frage, in welchem Ausmaß Intelligenz angeboren ist oder durch Umwelteinflüsse geformt werden kann.
Intelligenz ist wie Begabung ein vielfältig angewandter und daher uneindeutiger Begriff. Alfred Binet (1857–1911) und Théodore Simon (1872–1961), die zu Anfang des letzten Jahrhunderts den ersten Intelligenztest entwickelten, verstanden unter Intelligenz die Fähigkeit, „gut urteilen, gut verstehen und gut denken“ zu können (zit. nach Holling, Preckel & Vock, 2004, S. 13). Der Begriff des Intelligenzquotienten (IQ) geht ursprünglich auf William Stern (1871–1938) zurück, der die testtheoretischen Grundlagen der Intelligenzmessung weiterentwickelte.
Intelligenz kann definiert werden als allgemeine Fähigkeit zum Denken oder Problemlösen in Situationen, die für das Individuum neu, d. h. nicht durch Lernerfahrungen vertraut sind. Sie ist damit ein Sammelbegriff für einen Teilbereich der kognitiven Fähigkeiten des Menschen, zu denen auch Wahrnehmungsvorgänge sowie Speichervorgänge im Gedächtnis gehören. Oft werden jedoch die Begriffe Intelligenz und kognitive Fähigkeiten mehr oder weniger synonym verwendet.
Differenziertere Definitionen von Intelligenz betonen darüber hinaus, dass intelligentes Verhalten aufgaben- oder bereichsspezifisch betrachtet werden muss:
Intelligenz ist die Fähigkeit des Individuums, anschaulich oder abstrakt in sprachlichen, numerischen und raum-zeitlichen Beziehungen zu denken; sie ermöglicht die erfolgreiche Bewältigung vieler komplexer und mit Hilfe jeweils besonderer Fähigkeitsgruppen auch ganz spezifischer Situationen und Aufgaben. (Groffmann, 1964, S. 190, zit. nach Heller, 1976, S. 7)
Etwas breiter angelegt ist die folgende Definition, auf die sich etliche – wenn auch nicht alle – führende Intelligenzforscher in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verständigten. Sie betont den Bezug der Intelligenz zum alltäglichen Leben – im Sinne einer Fähigkeit, „sich Dinge erklären zu können“:
Intelligence is a very general mental capability that, among other things, involves the ability to reason, plan, solve problems, think abstractly, comprehend complex ideas, learn quickly and learn from experience. It is not merely book learning, a narrow academic skill, ort test-taking smarts. Rather, it reflects a broader and deeper capability for comprehending our surroundings – ‚catching on‘, ‚making sense‘ of things, or ‚figuring out‘ what to do. (Gottfredson, 1997, S. 13)
Inzwischen ist der Begriff Intelligenz so populär geworden, dass er mit verschiedensten Bedeutungen und in immer neuen Zusammenstellungen verwendet wird. War er lange Zeit für kognitive Leistungen reserviert, so wird heute auch von kreativer, sozialer oder praktischer Intelligenz gesprochen. Die Bandbreite reicht dabei von wissenschaftlichen Definitionen bis hin zu alltagssprachlichen Wendungen wie der ‚Intelligenzbestie‘. In den folgenden Abschnitten untersuchen wir genauer, wie Intelligenz erklärt und welche Bedeutung ihr von verschiedenen Theorien für die menschliche Entwicklung gegeben wird.
Es gibt eine Vielzahl differenzierter und einander widersprechender Modelle von Intelligenz, Begabung und Hochbegabung (vgl. Rost, 2009a, 2013). Im Bereich der Intelligenzforschung dominieren dabei quantitativ orientierte Zugänge: Intelligenz gilt in der wissenschaftlichen Forschung als etwas, das sich testen und messen lässt. Im Laufe des letzten Jahrhunderts wurden dazu zahlreiche Verfahren entwickelt, die auf der Grundlage neuer Rechenverfahren Faktoren zu bestimmen suchten, mit denen die als intelligent bewerteten Leistungen erklärt werden können.
Die bei weitem einflussreichste Intelligenzkonzeption des vergangenen Jahrhunderts ist die von Charles Spearman (1863–1945) entwickelte Vorstellung einer allgemeinen Intelligenz (general intelligence „g“). Danach liegt den vielen spezifischen Leistungen, die als intelligent bewertet werden, ein einziger gemeinsamer Faktor zugrunde, den er als allgemeinen Faktor der Intelligenz bezeichnete („Generalfaktor-Modell“). Diese Vorstellung ist nicht nur Grundlage vieler klassischer Intelligenztests, sondern auch mancher Konzepte von Hochbegabung. Im Gegensatz dazu ging Louis L. Thurstone (1887–1955) von sieben unabhängigen Primärfaktoren (primary mental abilities) aus, aus denen die Intelligenz sich zusammensetze.
Raymond B. Cattell (1905–1998) entwickelte dann die ebenfalls einflussreiche Zweikomponenten-Theorie, in der er die so genannte fluide von der kristallinen Intelligenz unterschied. Mit kristalliner Intelligenz werden kognitive Fertigkeiten bezeichnet, die durch gesellschaftliche und kulturelle Erfahrungen erworben werden. Sie umfasst z. B. Wortschatz und Sprachverständnis und beruht auf Lernerfahrungen. Die fluide Intelligenz bezeichnet grundlegende Denkfähigkeiten, die für die Verarbeitung von neuartigen Informationen erforderlich sind. Dazu gehören logisches Schließen und das Erkennen von Analogien. Cattell nahm an, dass die fluide Intelligenz weitgehend angeboren sei und durch Umwelterfahrungen nicht verändert werden könne. Davon ausgehend entwickelte er sprachfreie, so genannte kulturfaire Intelligenztests, um die fluide Intelligenz möglichst rein erfassen zu können. Diese verwenden komplexe visuelle Figuren und Muster, die von den Testpersonen erkannt und weitergeführt werden müssen.
Man könnte nun meinen, dass die fluide Intelligenz dasselbe sei wie der von Spearmann postulierte Generalfaktor. Welche Bedeutung hätten dann aber erlernte kognitive Fähigkeiten für die Intelligenz? Wenn die allgemeine Intelligenz mit der fluiden Intelligenz gleichzusetzen wäre, würde es ja ausreichen, letztere zu erfassen. So einfach ist es allerdings nicht. Mit Intelligenz wird auch die Fähigkeit bezeichnet, spezifische Aufgaben und Probleme zu lösen, die sich aus dem kulturellen und gesellschaftlichen Kontext ergeben, in dem Kinder aufwachsen. Diese Fähigkeit lässt sich nicht ohne die Berücksichtigung der jeweiligen Kulturtechniken – in unserer Gesellschaft z. B. Lesen, Rechnen und der Erwerb von Sachwissen in spezifischen Themenfeldern – erfassen.
Zudem wird die Annahme, dass die fluide Intelligenz durch Lernerfahrungen nicht mehr verändert werden kann, seit längerem in Frage gestellt (Stern, 2001). Es könnte sein, dass sich die zunehmende Nutzung visueller Medien auf räumlich-visuelle Basiskompetenzen ausgewirkt haben und daher Testergebnisse in kulturfairen Verfahren heute mehr von Lernerfahrungen abhängen und insgesamt besser ausfallen als in vergangenen Jahrzehnten (vgl. Rohrmann & Rohrmann, 2010, S. 34 f.).
Moderne Strukturmodelle der Intelligenz unterscheiden mehrere Bereiche der Intelligenz, die in einer Hierarchie allgemeiner und spezifischer Fähigkeiten angeordnet werden. So postuliert Carroll in seiner Three-Stratum-Theorie drei Ebenen der Intelligenz. Auf der obersten Ebene steht die allgemeine Intelligenz. Auf der zweiten Ebene treten neben die von Cattell benannte fluide und kristalline Intelligenz weitere Faktoren wie Gedächtnis- und Wahrnehmungsqualitäten. Auf der dritten, untersten Ebene sind diesen insgesamt acht bis neun Faktoren zahlreiche spezifische Fähigkeiten zugeordnet (vgl. Rost 2009, S. 59f.). Eine aktuelle Weiterentwicklung dieses Modells ist die Cattell-Horn-Carroll-Theorie (CHC-Modell) der kognitiven Fähigkeiten, in dem die Liste der Faktoren zweiter und dritter Ordnung nochmals erweitert wurde (vgl. Preckel & Vock, 2013, S. 31 f.).
All diese Modelle gehen davon aus, dass der Ausbildung spezifischer Fähigkeiten oder Intelligenzfaktoren ein allgemeiner Generalfaktor der Intelligenz zugrunde liegt. Es könnte aber auch sein, dass sich das, was wir Intelligenz nennen, aus vielen Einzelfähigkeiten zusammensetzt, die sich erst im Laufe eines Entwicklungs- und Lernprozesses zu übergeordneten Fähigkeiten herauskristallisieren (Stern, 2001). Eine allgemeine Intelligenz ist dann nicht die Grundlage, sondern das Ergebnis einzelner kognitiver Fähigkeiten. Neubauer und Stern (2007) betonen in diesem Zusammenhang die große Bedeutung von Lernen und Umweltbedingungen für die Entwicklung von Intelligenz und auch von Begabung.
Die bisher dargestellten Modelle setzen Intelligenz mit kognitiver Leistungsfähigkeit gleich. Gibt es aber nicht auch Menschen, die sehr intelligent sind, ohne Bücherwürmer oder Mathegenies zu sein? Gardner (1991) unterscheidet in seinem populären Konzept der „multiplen Intelligenzen“ mindestens sieben verschiedene Fähigkeitsdimensionen (Intelligenzen), die voneinander weitgehend unabhängig sein sollen: die linguistische, die mathematisch-logische, die räumliche, die körperlich-kinästhetische, die musikalische, die interpersonale und die intrapersonale Intelligenz. Die beiden letzten Bereiche lassen sich auch als soziale Intelligenz zusammenfassen. In späteren Veröffentlichungen findet Gardner (2002) immer weitere Intelligenzen. So stellt er Überlegungen zu „naturkundlicher“, „spiritueller“ bzw. „existentieller“ Intelligenz sowie „Lebensintelligenz“ an. Neuere Konstruktionen wie „disziplinierte“ oder „respektvolle“ Intelligenz (Gardner, 2007) lassen den Begriff Intelligenz zunehmend als Worthülse erscheinen, der mit beliebigen Inhalten angefüllt werden kann. Nichtsdestotrotz erfreut sich der Ansatz der multiplen Intelligenzen großer Beliebtheit nicht zuletzt bei Pädagoginnen und Pädagogen im Bereich der Begabtenförderung, weil sich in ihm die Vielfalt von individuellen Eigenheiten und Stärken widerspiegelt, die Kinder zum Ausdruck bringen.
Seit langem populär ist auch der Begriff emotionale Intelligenz (Goleman, 1995). Obwohl kein Zweifel daran besteht, dass emotionale Kompetenzen für menschliches Zusammenleben und Kommunikation sehr grundlegend sind, ist fraglich, inwieweit der Begriff Intelligenz in diesem Zusammenhang Sinn macht. Noch mehr gilt das für fortwährend neu aufkommende, teils abstruse Konstruktionen wie „moralische Intelligenz“ (Coles, 2001), „Herzintelligenz“ (Childre, 2006) oder „somatische Intelligenz“ (Frankenbach, 2014).
In der wissenschaftlichen Diskussion werden derartige Konzepte multipler Intelligenzen kritisch gesehen (Rohrmann & Rohrmann, 2010, S. 32 f.; vgl. Stern & Grabner, 2013). Es ist schwierig zu definieren, was genau mit den verschiedenen Intelligenzformen gemeint ist, und schon aus diesem Grund lassen sie sich kaum zuverlässig messen. Daher sind Aussagen über Begabung und Hochbegabung in vielen Bereichen sehr subjektiv. Diese Kritik trifft allerdings nicht auf alle Intelligenzbereiche gleichermaßen zu. So handelt es sich bei verbalen sowie bei mathematisch-logischen Fähigkeiten um gut erforschte Bereiche, in denen Begabungen durch klassische Intelligenztests gut abgebildet werden können. Andere Fähigkeiten entziehen sich dagegen hartnäckig einer empirischen Vermessung – nicht zuletzt der Bereich der Kreativität. Ob ein Kind ‚besonders gut malen kann‘ ist manchmal schwer zu beurteilen, so wie auch moderne Kunst von Betrachtern oft sehr unterschiedlich wahrgenommen und bewertet wird.
Wenn Begabung bzw. Hochbegabung als Erklärung für außergewöhnliche Leistungen herangezogen wird, wird gleichzeitig meist davon ausgegangen, dass Intelligenz in erheblichem Ausmaß angeboren ist. Inwieweit Intelligenz erblich bzw. angeboren ist, wird seit langem sehr kontrovers diskutiert. Dies schließt auch die Extrempositionen ein, dass die intellektuelle Leistungsfähigkeit weitgehend genetisch determiniert oder aber im Wesentlichen auf Umweltfaktoren zurückführbar sei. Die Annahme eines hohen erblichen Anteils geht dabei meist mit der Annahme einer unveränderbaren und stabilen Begabung einher. Dies würde bedeuten, dass Lernen und Bildung zwar wichtig sind, damit Kinder Wissen und Fähigkeiten erwerben können. Die Intelligenz im engeren Sinn ließe sich damit aber nur wenig steigern. Wird dagegen mehr von Umweltfaktoren als bestimmenden Variablen ausgegangen, wird der Begriff Begabung oft eher gemieden oder ganz abgelehnt, um deutlich zu machen, dass die intellektuelle Leistungsfähigkeit wesentlich durch Umwelteindrücke und Bildungserfahrungen geprägt wird.
Der Streit darum, ob Intelligenz im Wesentlichen vererbt und angeboren oder von Umweltfaktoren abhängig ist, erfuhr vor einigen Jahren einen (neuen) Höhepunkt. „Deutschland wird immer dümmer“, erklärte Thilo Sarrazin im Jahre 2010 in seinem Bestseller Deutschland schafft sich ab. Die Ursache für diesen bedrohlichen Trend sah er in der hohen Erblichkeit der Intelligenz. Hauptgründe für den Niedergang der Nation der Dichter und Denker sei daher der Kinderreichtum von intellektuell weniger begabten Mitbürgern. Schlaue und gebildete Bürger hätten dagegen deutlich weniger Nachwuchs. Sarrazin schlussfolgert aus seinen Überlegungen, „dass sich das vererbte intellektuelle Potential der Bevölkerung kontinuierlich verdünnt. Dieser qualitative Effekt wirkt sich langfristig entscheidend auf die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft aus“ (ebd., S. 91 f.). Ähnlich hatte bereits Galton im England des 19. Jahrhunderts einen „Rückfall in die Barbarei“ befürchtet, weil „die Fruchtbarkeit der befähigteren Klassen beständigen Hemmungen ausgesetzt (ist), während die Unbedachtsamen und Nichtehrgeizigen am meisten Nachkommenschaft aufziehen“ (Galton, 1910, S. 383). Derartige Befürchtungen, die auf einem irrtümlichen Verständnis von Anlage-Umwelt-Zusammenhängen beruhen, hat die Geschichte längst widerlegt.
Etwas seriöser trug der Journalist Dieter E. Zimmer (2012) zahlreiche Forschungsergebnisse zusammen. Sein Fazit: „Es ist so robust erwiesen, wie etwas in den Naturwissenschaften überhaupt erwiesen sein kann, dass die Unterschiede in der von IQ-Tests gemessenen Intelligenz bei Erwachsenen zu mindestens 60 bis 75 Prozent (…) auf Unterschiede im Genotyp zurückgehen“ (2012, S. 250). Ganz so eindeutig sind die Ergebnisse der Intelligenzforschung allerdings nicht. Rost (2009a, S 238) gibt in seinem Standardwerk Intelligenz als mittlere Werte für die Erblichkeit 50 Prozent bis 60 Prozent an; „die berichteten Werte schwanken je nach Stichprobe, Design und IQ-Operationalisierung zwischen 40 % (…) und 80 %“ (ebd.). Velden stellt sogar fest, dass die Werte veröffentlichter Studien zwischen 10 Prozent und 90 Prozent liegen (Velden, 2013, S. 7) und führt dies auf z. T. fragwürdige Methoden der Datenerhebung zurück. Seiner Ansicht nach besteht „zwischen dem, was sich wissenschaftlich zum Thema sagen lässt, und dem, was in einer breiten Öffentlichkeit aber auch unter vielen Wissenschaftlern angenommen wird, eine erhebliche Diskrepanz“ (ebd., S. 8).
Zwar besteht kaum Zweifel daran, dass individuelle Unterschiede in intellektuellen Fähigkeiten von Anlagefaktoren mitbedingt sind. Dies belegen – trotz verschiedener methodischer Schwächen – nicht zuletzt Studien aus der Zwillingsforschung. Angaben von Prozentanteilen sind jedoch mit großer Vorsicht zu bewerten. Fischbach und Niggeschmidt (2016, S. 13 f.) weisen zudem darauf hin, dass der Begriff Erblichkeit oft missverständlich verwendet werde; besser sei es daher, vom genotypischen Varianzanteil zu sprechen. Aus diesem lassen sich aber keine Erkenntnisse über einzelne Individuen ableiten, denn es handelt sich dabei um Gruppenunterschiede. Auch Zimmer (2012) stellt fest, dass Aussagen über Erblichkeit immer relativ sind: „Ein Satz wie ‚Die Erblichkeit deines IQ beträgt 75 Prozent‘ wäre so unsinnig wie ‚Meine Durchschnittsgröße beträgt 1 Meter 82‘“ (ebd., S. 277).
Zudem gibt es einige Forschungsergebnisse, die auf den ersten Blick nicht unbedingt einleuchten. So scheint der genetische Einfluss auf die Intelligenz im Verlaufe der Entwicklung kontinuierlich zuzunehmen. Bei Kindern hängen Intelligenzunterschiede mehr mit Umweltfaktoren zusammen als bei Erwachsenen. Der genotypische Varianzanteil ist dagegen deutlich geringer, „beginnend mit geringen Prozentsätzen im Säuglingsalter und ca. 20 Prozent im Kleinkindalter“ (Rost, 2009a, S. 235). Neubauer und Stern (2007) formulieren: „(…) was die Intelligenz betrifft, scheinen die Gene sich gleichsam durchzusetzen, je älter wir werden“ (S. 111).
Und es wird noch verwirrender. Studien belegen, dass die Erblichkeit des IQ bei Kindern mit hoch gebildeten Eltern wesentlich höher ist als bei Kindern aus einem weniger gebildeten Elternhaus (Rowe, Jacobson & van den Oord, 1999; Tucker-Drob, Briley & Harden, 2014). In einer Studie mit Familien, die an der Armutsgrenze lebten, war der Anteil der Gene dagegen nahezu null (Turkheimer et al., 2003). Umweltfaktoren – und damit auch Förderbemühungen – scheinen also besonders bei Kindern aus bildungsfernen, benachteiligten Familien bedeutsam zu sein, weniger dagegen für Kinder aus gut gebildeten Elternhäusern (die allerdings viel eher auf die Idee kommen, dass ihr begabtes Kind besondere Förderung benötigt).
Diese Ergebnisse zeigen, dass die Zusammenhänge von Anlage- und Umweltfaktoren komplex sind und sich nicht als einfache Prozentanteile angeben lassen. Zudem ist es falsch anzunehmen, dass angeborene Eigenschaften immer auch stabil sind: „‚vererbt‘ ist nicht gleichzusetzen mit ‚unveränderbar‘, genauso wie ‚erworben‘ nicht bedeutet, dass hier in jedem Fall auf das entsprechende Merkmal Einfluss genommen werden kann“ (Tettenborn, 1996, S. 47). Dies wird von der neueren Gen- und Gehirnforschung zunehmend bestätigt. Aufwändige Untersuchungen des menschlichen Genoms haben kaum Hinweise auf spezifische genetische Determinanten geistiger Fähigkeiten finden können. Singer fasst zusammen: „Es gibt fast keine Eins-zu-Eins-Beziehung zwischen genetischen Instruktionen und bestimmten Eigenschaften, schon gar nicht im Bereich von Begabungsperspektiven und Persönlichkeitsmerkmalen“ (Singer, 2002, S. 44). Penke (2013, S. 66) spricht von der „rätselhaften genetischen Basis“ der Intelligenz. Zwar wurden inzwischen zahlreiche Genabschnitte gefunden, die mit Intelligenz zusammenhängen, aber „die genauen biologischen Grundlagen der Intelligenz liegen noch ziemlich im Dunkeln“ (ebd., S. 69).
Die Einsicht, dass Intelligenz sich in der Wechselwirkung von Anlage und Umwelt entwickelt, wurde dagegen in den letzten zwei Jahrzehnten durch Forschungen zur Plastizität des Gehirns insbesondere in den ersten Lebensjahren bestätigt (vgl. Eliot, 2010). Die neuere Gehirnforschung belegt, „dass die strukturelle Reifung des Gehirns sich in einem erfahrungsbedingten ‚Selektionsprozess‘ entwickelt und schon vor der Geburt durch Sinnessignale und damit Umwelteinflüsse beeinflusst wird. ‚Angeboren‘ ist demnach nicht mit ‚genetisch bedingt‘ gleichzusetzen“ (Brandes, 2011, S. 48). Genetische und Umweltfaktoren stehen von Beginn der Entwicklung an in Wechselwirkung, was die Gegenüberstellung von Anlage und Umwelt obsolet erscheinen lässt. Intelligenz entwickelt sich immer im Kontext sozialer Beziehungen.
Brandes weist davon ausgehend auf den Beitrag des aktiven, lernbereiten Kindes hin, „das Anlage und Umwelt zusammenbringt und ‚etwas daraus macht‘“ (2011, S. 50). Die empirische Säuglingsforschung hat gezeigt, in welch beeindruckender Weise bereits Säuglinge über kognitive Kompetenzen verfügen und soziale Lernprozesse aktiv mitgestalten (vgl. Dornes, 1992, 2006). „Insofern spricht viel dafür, dass Begabung letztlich ein Lernprodukt ist, wobei das Kind selbst die Rolle des aktiven ‚Dritten‘ spielt. Es bildet seine Anlagen aus und erobert zugleich seine Umwelt“ (Brandes, 2011, S. 50). Dies gelingt einem Kind umso besser, je älter es wird – und je mehr Anregungen es in seiner Umwelt vorfindet.
Diese „ aktive Genom-Umwelt-Beziehung“ (Neubauer & Stern, 2007, S. 11) kann nun auch erklären, warum die Bedeutung der Gene mit dem Alter zunimmt. Je älter sie werden, umso mehr suchen sich intelligente Menschen Umwelten, die sie intellektuell anregen und herausfordern. Daraus wird gefolgert, dass eine Förderung durch Schaffung anregungsreicher Umwelten besonders in den ersten Lebensjahren wichtig sei (Rost, 2009a, S. 235). Ein Schulkind kann seine Mutter überreden, mit ihm in die Bücherei zu gehen, um ihm Lesestoff zu besorgen – vorausgesetzt, die Mutter besorgt ihm einen Büchereiausweis. Ein Kindergartenkind, dessen Umfeld davon überzeugt ist, dass Lesen erst in der Schule gelernt werden sollte, kann das in der Regel nicht (ein bemerkenswertes Gegenbeispiel hat Roald Dahl (1997) in seinem Kinderbuch Matilda verewigt).
Fischbach und Niggeschmidt (2016) fassen zusammen:
Je älter Kinder und Jugendliche werden (und je wohlhabender ihr familiäres Umfeld ist), desto eher ist es ihnen möglich, sich aktiv Umwelten auszusuchen, die ihnen Entwicklungschancen bieten – was den durch Umweltwirkungen verursachten Anteil der Unterschiede innerhalb der Gruppe verringert und den auf genotypische Ursachen zurückzuführenden Anteil der Unterschiede vergrößert. (Fischbach & Niggeschmidt, 2016, S. 9)
Begabung entwickelt sich damit in einem komplexen Wirkungszusammenhang von Anlagen und Umwelt, wobei der entscheidende Faktor die Eigenaktivität des individuellen Kindes ist. Genetisch determinierte Fähigkeiten entwickeln sich in der Interaktion mit Umweltfaktoren und können – bei förderlichen Umweltbedingungen und sozialen Beziehungen – zu Hochleistungen führen. Neubauer und Stern (2007) fassen zusammen:
Beim aktuellen Stand der Forschung verbleibt somit als Fazit, dass die Gene für Fragen der Begabung und Intelligenz eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen. Gene setzen offensichtlich Grenzen für das, was ein Mensch in seinem Leben erreichen kann, aber diese Grenzen scheinen nicht extrem eng gesteckt. Ein ‚Weniger‘ an Intelligenz und Begabung kann (…) teilweise durch ein ‚Mehr‘ an Einsatz, Hingabe, Motivation und daraus resultierenden intensiven Wissenserwerb kompensiert werden. (Neubauer & Stern, 2007, S. 117)
Interessanter als die Frage, in welchem Ausmaß die Intelligenz von den Genen bzw. der Umwelt bestimmt ist, ist damit die Frage danach, wie Umweltbedingungen und soziale Beziehungen von Menschen verbessert werden können, damit ihnen eine optimale Entwicklung ihres intellektuellen Potenzials ermöglicht wird.
Nach der Auseinandersetzung mit dem Intelligenzbegriff kommen wir nun zum Thema Begabung und Hochbegabung zurück. Mit Begabung, so wurde in der Einleitung ausgeführt, kann die Ausstattung eines Menschen mit „guten Anlagen, Geistesgaben“ (Pfeifer, 2016, o. S.) bezeichnet werden. Begabung ist aber auch etwas, was gefördert werden muss, damit Kinder und Jugendliche sich gut entwickeln können. Wie das eine mit dem anderen zusammenhängt ist Gegenstand von zahlreichen Modellen zum Verständnis von Begabung und Hochbegabung, die in den letzten Jahrzehnten vorgelegt wurden. Modellvorstellungen von (Hoch-)Begabung sollen erklären, wie es Begabten gelingt, ihre – nicht direkt beobachtbare – Begabung in sichtbare Fähigkeiten und Leistungen umzusetzen.
Hohe Intelligenz im Sinne herausragender kognitiver Fähigkeiten nimmt in Modellen von Begabung und Hochbegabung einen mehr oder weniger wichtigen Platz ein. Dabei wird auf unterschiedliche Intelligenzmodelle zurückgegriffen und/oder das Verhältnis von Intelligenz und Begabung unterschiedlich konzipiert. Darüber hinaus liegen den Modellen unterschiedliche Vorstellungen darüber zugrunde, welche Einflussfaktoren zu beachten sind und in welcher Form diese aufeinander bezogen werden müssen. Zudem stehen manche Modelle ausdrücklich in einem Kontext von Förderung und sind daher geradezu dazu angelegt, Hochbegabte zu entdecken. Andere Modelle versuchen die Entwicklung Hochbegabter eher zu beschreiben. Diese Unterschiede sind zuweilen verwirrend, haben in der Vergangenheit zu großen Kontroversen geführt und lassen sich auch heute nicht gänzlich auflösen.
Die ersten Modellvorstellungen von Hochbegabung wurden Ende der 1970er Jahre entwickelt. Im Gegensatz zu Definitionen von Hochbegabung, die sich lediglich auf eine besondere (intellektuelle) Leistungsfähigkeit von Begabten bezogen, berücksichtigten diese Modelle auch motivationale und Umweltfaktoren. So sah Renzulli (1978) in seinem Drei-Ringe-Modell der Hochbegabung diese in der Schnittmenge von drei jeweils überdurchschnittlich ausgeprägten, aber nicht notwendigerweise herausragenden Persönlichkeitsmerkmalen:
• Allgemeine kognitive Fähigkeiten sowie spezielle Stärken in den verschiedensten Wissensgebieten;
• Kreativität im Sinne eines originellen, produktiven, flexiblen und selbstständigen Vorgehens bei der Lösung von Aufgaben;
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