Begeisterung wecken. Anleitung zu transformativem Lehren und Lernen. Reclam Bildung und Unterricht - Douglas Yacek - E-Book

Begeisterung wecken. Anleitung zu transformativem Lehren und Lernen. Reclam Bildung und Unterricht E-Book

Douglas Yacek

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Beschreibung

Begeisterte Schülerinnen und Schüler im Klassenraum – eine Utopie? Keineswegs: Faszination für den Unterrichtsgegenstand kann gezielt gefördert werden. Transformatives Lernen, ein den eigenen Erfahrungshorizont betreffendes, eigene Werte berührendes und damit die Person veränderndes Lernen lässt sich systematisch anregen und durch geeignete Lehrmethoden dauerhaft erhalten. Viele konkrete Beispiele und die Erörterung von typischen Hürden unterstützen Lehrkräfte bei der praktischen Umsetzung.

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Douglas Yacek

Begeisterung wecken

Anleitung zu transformativem Lehren und Lernen

Reclam

Für Sohail Khan

 

RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK Nr. 962174

2023 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2023

RECLAM, UNIVERSAL-BIBLIOTHEK und RECLAMS UNIVERSAL-BIBLIOTHEK sind eingetragene Marken der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-962174-6

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014410-7

www.reclam.de

Inhalt

1 Einleitung. Was kann Unterricht?

1.1 Ein Gedankenexperiment

1.2 Bildung als Ausstattung versus Bildung als Transformation

1.3 Fächer anders denken

1.4 Überblick über die Kapitel

2 Porträts transformativen Lernens

2.1 »Ihr könnt das wirklich mit dem Herzen begreifen« (Englisch, 12. Klasse)

2.2 »Okay, jetzt haben wir Religion, jetzt müssen wir uns anstrengen« (Religion, 10. Klasse)

2.3 »Vorher war Mathe notwendiges Übel« (Mathematik, 8. Klasse)

2.4 Das transformative Klassenzimmer

3 Transformatives Lernen anregen. Strategien prägender Lehrkräfte

3.1 Die Leidenschaft der Lehrkraft. Eine unabdingbare Voraussetzung transformativen Unterrichts

3.2 »Da war man ganz woanders gelandet«. Diskontinuität als Prinzip des Unterrichts

3.3 Das Irritieren wagen. Formen anregender Irritation

3.4 Von der Irritation zur Transformation

4 Unterricht neu denken. Ein praktischer Orientierungsrahmen für transformativen Unterricht

4.1 Die Irritation

4.2 Der Spannungsbogen

4.3 Der Perspektivenwechsel

4.4 Die Überantwortung

5 Transformativer Unterricht im Kontext. Hürden und Hindernisse des transformativen Lernens

5.1 Apathie, Langeweile und die Psychologie des Lernenden

5.2 Alltagshektik, Notenkult und das Ethos der Schule

5.3 Soziale Medien und die neue digitale Kultur

6 Ausblick

7 Literaturhinweise

Danksagung

Zum Autor

[7]1 Einleitung. Was kann Unterricht?

1.1 Ein Gedankenexperiment

Stellen wir uns zuerst eine Schülerin vor, die so fasziniert von mathematischen Konzepten und Ideen ist, dass sie sich darauf freut, abends ihrem Bruder bei den Hausaufgaben in Mathematik zu helfen. Dann einen normalerweise teilnahmslosen Schüler, der nach einer bewegenden Deutschstunde über die Nachkriegsliteratur die Stadtbibliothek aufsucht, um einen kleinen Band mit Kurzgeschichten aus dieser Zeit auszuleihen. Eine weitere Schülerin, die bisher stark auf gute Noten konzentriert war, aber sich mithilfe eines außergewöhnlichen Philosophieunterrichts nun immer wieder mit der Frage beschäftigt, ob ihr Leben tatsächlich eine Art »finalen« Sinn und Zweck haben könnte. Und schließlich ein eher unsicheres und angepasstes Mädchen, bei dem eine Englischstunde über consumerism und globalization so nachwirkt, dass sie ihren Eltern die Bedeutung und gesellschaftliche Tragweite dieser politischen Schlüsselbegriffe aufgeregt am Mittagstisch vorträgt.

Was treibt diese Schülerinnen und Schüler an? Warum haben sie beschlossen, sich nach dem Unterricht weiterhin mit diesen schulischen Inhalten zu beschäftigen, anstatt sich von Social-Media-Plattformen, Computerspielen oder einem sonstigen Zeitvertreib ablenken zu lassen? Was ist mit ihnen passiert? Bevor wir diese Fragen beantworten können, benötigen wir ein paar weitere Details zu den Erfahrungen dieser Schülerinnen und Schüler. Denn ihre Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsstoff hört nicht mit der Nachhilfe in Mathematik, dem Bibliotheksbesuch, [8]einer eingehenden geistigen Reflexion oder einem Tischgespräch mit den Eltern auf. Ihre Begeisterung und Faszination für die Fächer tragen sie am nächsten Tag im Unterricht mit sich. Sie freuen sich regelrecht auf die nächsten Stunden in Mathematik, Deutsch, Philosophie oder Englisch. Sie versuchen zu erraten, was »heute dran« sei und wie ihre Lehrerinnen oder Lehrer den Stoff dieses Mal behandeln würden. Wenn es so weit ist, hören sie gespannt und konzentriert zu, versuchen produktive Diskussionsbeiträge zu leisten und erledigen die dazugehörigen Aufgaben mit spürbarem Elan.

Wenn diese Beispiele nach dem ersten Teil des Gedankenexperiments unwahrscheinlich erschienen sind, werden sie nun nahezu utopisch wirken. Wie oft entwickeln Kinder und Jugendliche eine solche Beziehung zum Unterrichtsstoff? Werden sie nicht viel zu sehr von ihrem Smartphone oder Instagram-Feed abgelenkt? Kann es ein realistisches Ziel für Lehrkräfte sein, ein solch anhaltendes und grundlegendes Interesse bei ihren Schülerinnen und Schülern zu schaffen? Oder ist das eher ein Ereignis, das nur in besonderen Fällen, mit besonderen Persönlichkeiten und zu besonderen Zeiten zutage tritt?

In diesem Band wird aufgezeigt, dass die Art von Interesse und Engagement, welche diese Schülerinnen und Schüler an den Tag legen, weder ein utopisches Idealbild noch eine bloße Bildungsfantasie darstellen. Ganz im Gegenteil: jedes Detail des oben geschilderten Gedankenexperiments basiert auf realen Fallstudien, die in Form von qualitativen Interviews durchgeführt wurden und als Grundlage für den vorliegenden Band dienen. Das Verhalten dieser Schülerinnen und Schüler mag zwar [9]ungewöhnlich sein, es ist aber nicht unerklärlich. Denn ihre Faszination für die Fächer ergibt sich aus einer besonderen Form der Auseinandersetzung mit dem Unterrichtsstoff, indem sie von dessen Wert – dessen intrinsischem Wert – überzeugt werden. Diese jungen Menschen sind zur Erkenntnis gekommen, dass die fachlichen Inhalte, mit denen sie sich tagtäglich im Unterricht beschäftigen, an und für sich spannend, faszinierend und förderlich sind und dass sie ihr Selbst- und Weltverständnis maßgeblich bereichern können. So verwandelt sich ihre Beschäftigung mit den Unterrichtsinhalten in transformatives Lernen: das gezielte Streben nach der Erweiterung und Vertiefung des eigenen Erfahrungshorizonts durch die intensive Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten.

Transformatives Lernen zeichnet sich insofern gegenüber anderen Praxisformen des Lernens aus, als es eine Brücke zwischen den akademisch-fachlichen Bemühungen der Lernenden und der je eigenen Aufgabe schlägt, ein sinnvolles, selbstbestimmtes und erfülltes Leben zu führen.1 Transformatives Lernen ist nicht nur »nützliches«, »zukunftsträchtiges«, »kompetenzorientiertes« oder [10]»selbstreguliertes« Lernen. Transformatives Lernen geht aus der Überzeugung hervor, dass die eigene Perspektive reichhaltiger und differenzierter, das eigene Selbstkonzept aufnahmefähiger und der eigene Umgang mit Anderen gerechter wird, wenn man sich ausführlich mit den Unterrichtsinhalten auseinandersetzt. Wie ich in den folgenden Kapiteln des Bandes darlegen werde, belegen Beispiele und Fallstudien wie die obigen nicht nur, dass die Entstehung solcher tiefgehenden, dauerhaften und sogar lebensverändernden Beziehungen zum Unterrichtsstoff im Klassenzimmer möglich ist. Sie zeigen außerdem, dass Lehrkräfte konkrete und nachvollziehbare Lehrmethoden einsetzen können, um transformatives Lernen systematisch zu ermöglichen.

Die Rede von Transformation in unterrichtlichen Belangen dürfte erst einmal ungewohnt erscheinen. Vielleicht wirkt der Begriff »transformatives Lernen« wie eine Art pädagogischer Sonderwunsch: schön, wenn es mal zustande kommt, aber für einen pflichtgemäßen Unterricht letztlich nicht notwendig. Die Situation sieht jedoch ganz anders aus. Transformatives Lernen betrifft nämlich eine grundlegende, sogar dringliche Zielsetzung pädagogischer Praxis, welche nur auf Kosten des gesamtgesellschaftlichen Bildungsauftrags der Schule ignoriert werden kann. Dies wird besonders deutlich, wenn Themen von erheblicher gesellschafts- und bildungspolitischer Relevanz im Unterricht behandelt werden müssen. Wenn es etwa im Biologieunterricht um den Klimawandel, im Geschichtsunterricht um das NS-Regime oder in Sozialkunde um Fremdenfeindlichkeit geht, gilt es diese Themen nicht nur zu »diskutieren« oder bloß als prüfungsrelevante Ereignisse und Fakten im Unterricht zu vermitteln. Es obliegt uns [11]vielmehr dazu beizutragen, dass junge Menschen durch den Unterricht anders werden: dass sie zu Menschen werden, die die Dringlichkeit der Klimakrise erfassen, die Gefahren des Autoritarismus begreifen und sich zum Schutz der Menschenwürde und einer lebenswerten Demokratie aufgefordert fühlen. Finden solche persönlichen Veränderungen und Transformationen aber überhaupt nicht statt, bleibt die nächste Generation gegenüber diesen sozialen und politischen Zielsetzungen oftmals unvorbereitet oder gar gleichgültig statt wach, interessiert und engagiert.2

Es ist eine Hauptthese des vorliegenden Bandes, dass transformatives Lernen nicht nur in idealisierten Lehr- und Lernarrangements möglich ist. Transformatives Lernen kommt nicht nur in Montessori- oder Waldorf-Schulen, nicht nur in exklusiven Privatschulen oder Akademien zustande. Transformatives Lernen lässt sich selbstverständlich auch an öffentlichen Schulen aller Schultypen sowie in [12]den gängigen Schulfächern und Lernkontexten ausbilden, in denen sich die überwiegende Mehrheit von Lehrerinnen und Lehrern und jungen Menschen im Schulalter bewegt. Unterricht, der zu Transformation anspornt, ist also kein ausschließendes Gut der Privilegierten. Möglicherweise haben vielmehr Kinder aus wohlhabenden Elternhäusern, die in exklusiven Bildungssettings beschult werden, den größeren Bedarf an dieser Art von pädagogischer Intervention. Denn sofern ihre Motivation verstärkt um die Suche nach Wohlstand, Status, Einfluss oder bloßem »Weiterkommen« kreist, werden sie progressiv unempfindlicher und unempfänglicher gegenüber den transformativen Möglichkeiten des Unterrichtsstoffs. Oft sind es gerade die Schülerinnen und Schüler, die zuvor kaum Zugang zu solchen Bildungsprivilegien hatten oder eher enttäuschende Lernerfahrungen in ihrer bisherigen Schulkarriere sammeln mussten, die am empfänglichsten für transformativen Unterricht sind.

Gewiss, transformative Lernerfahrungen sind keineswegs die Norm in heutigen Schulen. Häufiger sind passive Folgsamkeit, Notenjagd, Desinteresse, bisweilen sogar Entfremdung. Man denke an die eigene Schulzeit – wie sie so oft von der Erledigung banaler Aufgaben, vom Erwerb lebensfernen Wissens und von einfallslosem Unterricht geprägt war. Hinzu kommen auch noch die unzähligen gesellschaftlichen, schulpraktischen und persönlichen Hürden, die einer solchen Beziehung zum Unterrichtsstoff im Wege stehen: Leistungsdruck, fehlende Unterstützung von Zu Hause, mangelndes Selbstvertrauen, geistige Überlastung der Schülerinnen und Schüler wie auch der Lehrkräfte oder einfach die hartnäckige Haltung, dass die [13]Themen, Theorien und Begrifflichkeiten im Unterricht bloße »Lerninhalte« seien, die mit dem Leben außerhalb der Schule schlechterdings nichts zu tun haben. Und doch möchte ich in diesem Band dafür plädieren, dass transformative Methoden und Unterrichtskonzepte eine Möglichkeit bieten, um diesen Herausforderungen konstruktiv und effektiv entgegenzuwirken.

1.2 Bildung als Ausstattung versus Bildung als Transformation

Bevor die praktischen Implikationen eines transformativen Unterrichtsansatzes ausbuchstabiert werden können, müssen wir uns um ein Anliegen kümmern, das den Kern des zeitgenössischen Schul- und Lehrbetriebs betrifft. Denn es herrscht im heutigen Bildungsdenken ein schwerwiegendes und nahezu allgegenwärtiges Missverständnis über den Begriff und das Handlungsfeld des »Fachs« – also über das, was ein Unterrichtsfach im Wesentlichen ausmacht. Dieses Missverständnis (sowie die ihm zugrundeliegende Bildungsideologie) stellt aus meiner Sicht das derzeit gewaltigste Hindernis für die Möglichkeit transformativen Lernens dar.

Der üblichen Auffassung fachlicher Bildung zufolge sind die verschiedenen Unterrichtsfächer im Grunde als Aufbewahrungsorte und Lagerstätten des Wissens zu verstehen. Demnach soll der Schultag mit verschiedenen Lerngelegenheiten innerhalb der Unterrichtsfächer ausgefüllt werden, da sie Erkenntnisse bieten, die wertvolle Fähigkeiten, Eigenschaften und Dispositionen bei Schülerinnen und [14]Schülern aktivieren können. Diese verschiedenen Qualitäten – heute ubiquitär als »Kompetenzen« bezeichnet – sollen einen klaren Nutzen für den Erfolg der Lernenden im beruflichen, persönlichen und sozialen Leben vorweisen können. Um diesen Nutzen zu gewährleisten, werden die empfohlenen Kompetenzkataloge für gewöhnlich aus einer Beschreibung der An- und Herausforderungen abgeleitet, die die »moderne Welt« oder die »zukünftige Gesellschaft« an junge Menschen stellt. Es werden die zunehmende Digitalisierung menschlicher Interaktionen, die wachsende Komplexität moderner Gesellschaften, die steigende Flexibilität zeitgenössischer Arbeitsverhältnisse oder die Entstehung neuartiger soziopolitischer Probleme aufgerufen, um die Orientierung und Inhalte dieser Kataloge zu bestimmen und ihre Rolle im Lehrplan zu begründen.3 So entwickelt sich das Lehren und Lernen in den [15]Fächern zu einer Art der Ausstattung, während die Fächer selbst als Instrumente oder Technologien betrachtet werden, die diese Ausstattung ermöglichen.

Bildung als Ausstattung mündet nicht zwangsläufig in jenes klassische Bild des formelhaften und lebensfernen Unterrichts, das immer wieder, z. B. in Filmen und Büchern über die Schule, satirisch an den Pranger gestellt wird.4 Ausstattender Unterricht kann angenehm, unterhaltsam, technologisch fortschrittlich und durch neueste didaktische Forschung fundiert sein. Er kann Fakten und fachliche Inhalte zielsicher vermitteln und die Schülerinnen und Schüler auf Leistungsevaluationen sowie auf wichtige Lebensaufgaben effektiv vorbereiten. Und doch: wenn es dabei bliebe, bestünde im Herzen des Unterrichts eine beunruhigende Leere. Ausstattender Unterricht verkennt den tieferen, intrinsischen Wert fachlicher Inhalte, die nicht nur eine Basis für die Entwicklung von funktional-nützlichen Kompetenzen oder Wissensgrundlagen bereitstellen, sondern auch zu einer erheblichen Erweiterung, Vertiefung und Transformation des jeweiligen Horizonts beitragen können. Austattender Unterricht sieht Schülerinnen und Schüler in erster Linie als »Vorzubereitende«, die komplexe Problemstellungen im späteren Leben und Beruf souverän [16]und zielsicher lösen können. Transformativer Unterricht hingegen sieht Schülerinnen und Schüler vornehmlich als »Sinnsuchende« und »Sinnerschaffende«, deren persönliche Bestrebungen auf maßgebliche Weise durch die Erfahrungswelt der Fächer gefördert werden können.

Es ist hier nicht der Ort, die historischen Wurzeln, theoretischen Annahmen und diversen pädagogischen Nachwirkungen dieser gängigen Bildungsideologie eingehend zu kritisieren. Die Auffassung von Bildung als Ausstattung verfügt über eine unleugbare Überzeugungskraft. Es ist nicht falsch anzunehmen, dass das Lernen in den üblichen Unterrichtsfächern auf die Förderung von Erkenntnisgewinn abzielen soll, dass fachliche Erkenntnisse wichtige – ja sogar lebenswichtige – Eigenschaften und Fähigkeiten ins Leben rufen können (und sollen) und dass der Fachunterricht auch eine gewisse ausstattende Funktion erfüllen soll. Mit Skepsis zu betrachten ist jedoch die Reduktion fachlicher Bildung auf diese Art von Praktiken und Zielsetzungen im Unterricht. Der erste Schritt, sich einer Auffassung von Bildung als Transformation anzunähern, ist, diese reduktionistische Einengung fachlichen Lernens auf Ausstattung abzulehnen.

1.3 Fächer anders denken

Was sind denn Unterrichtsfächer überhaupt, wenn nicht Lagerstätten des Wissens und Übungsplätze zur Ausbildung funktional-nützlicher Kompetenzen? Unterrichtsfächer umfassen reichhaltige, geschichtsträchtige und komplexe Formen gemeinsamen Lebens und Strebens, deren [17]Sinn und Wert in erster Linie darin besteht, den Erfahrungshorizont der Lernenden in mannigfaltiger Weise zu bereichern. Anhand eines transformativen Unterrichtsansatzes, beispielsweise in der Mathematik, lernen Schülerinnen und Schüler nicht nur mathematische Operationen durchzuführen, diese bei entsprechenden Problemstellungen anzuwenden und dadurch analytische Kenntnisse zu erwerben. Sie lernen auch solche Operationen als faszinierend, lebensbereichernd, sogar inspirierend wahrzunehmen. Sie lernen Gleichungen, Integrale, griechische Buchstaben und eine klug gelöste Problemstellung ebenso sehr wegen ihrer Eleganz zu schätzen wie als Beitrag zur persönlichen Kompetenzentwicklung. Sie beginnen, sich für Menschen in der Geschichte der Mathematik zu interessieren, von denen sie noch nie zuvor gehört haben, oder sich für abstruse mathematische Formen und Strukturen zu begeistern, die sie nun in der Natur entdecken können. Anhand einer transformativen Beziehung zum Fach Mathematik nähern sich die Schülerinnen und Schüler einer zunehmend erweiterten Sichtweise auf die Welt, die sowohl aus den besonderen Formen mathematischer Erkenntnisse als auch aus dem neu gewonnenen Zugang zur Erfahrungswelt der Mathematik hervorgeht.

Fächer umfassen also viel mehr als bloßes Wissen, viel mehr als Problemstellungen zur Förderung von nützlichen Kompetenzen, Kenntnissen und Dispositionen. Sie verfügen über fesselnde disziplinäre Geschichten und Kulturen; einzigartige Formen der Verständigung und der zwischenmenschlichen Beziehung; gemeinsame Werte, Tugenden und Ideale sowie neue Möglichkeiten der ästhetischen Wertschätzung und Würdigung, die bisher übersehenen [18]oder missverstandenen Domänen der Erfahrung Farbe und Leben verleihen. Es sind ebendiese Quellen intrinsischen Wertes – d. h. die lebensweltlichen, zwischenmenschlichen, ethischen und ästhetischen Aspekte der Unterrichtsfächer –, die transformatives Lernen auf besondere Weise ermöglichen.

Definition Transformatives Lernen

• Transformatives Lernen bezeichnet das gezielte Streben nach der Erweiterung und Vertiefung des eigenen Erfahrungshorizonts durch die intensive Auseinandersetzung mit fachlichen Inhalten.

• Transformatives Lernen geht aus der Überzeugung hervor, dass die Unterrichtsfächer ein breites Spektrum an Perspektiven und Praktiken bieten, die zur Gestaltung eines erfüllten und selbstbestimmten Lebens fruchtbar sind.

• Transformatives Lernen wird durch Lehrmethoden gefördert, die darauf abzielen, Lernende an die Quellen intrinsischen Wertes innerhalb der Fächer heranzuführen.

Eine pädagogische Haltung, die die Möglichkeiten fachlichen Lernens jenseits der Ausstattung vernachlässigt, verkürzt somit das Bildungspotenzial des Klassenzimmers in radikaler Weise. Junge Menschen wollen transformatives Lernen erleben, sie wollen das Gefühl haben, dass ihre Bemühungen in der Schule nicht nur einer vagen Zukunft oder einem vergänglichen Jetzt dienen, sondern dass sie durch den Unterricht mit Perspektiven und Praktiken in Berührung kommen, deren Wert in sich selbst liegt – auch [19]wenn sie es nicht explizit zum Ausdruck bringen können (und selbstverständlich nicht mit dieser Terminologie). Die Anerkennung der Quellen intrinsischen Wertes innerhalb der Unterrichtsfächer bildet deshalb eine wesentliche Voraussetzung zur Gestaltung eines transformativen Unterrichts.5 Um es pointierter auszudrücken: Dieser Band wird demjenigen nur wenig bieten können, der nicht daran glaubt, dass diese weiteren Facetten im eigenen Fach vorhanden sind, dass sie von den Lernenden zumindest prinzipiell aufgenommen werden können und dass sie nicht bloß zur Ausstattung gegenüber den angeblichen Anforderungen der Welt förderlich sind. Es führt kein Weg daran vorbei: man muss den Facettenreichtum seiner Unterrichtsfächer in einer umfassenden Weise begreifen, und noch mehr: man muss sich von den eigenen Fächern begeistern und faszinieren lassen, wenn sie von jungen Menschen als – zumindest mögliche – Gegenstände der Wertschätzung und intensiven Auseinandersetzung erlebt werden sollen.

Dabei ist wichtig zu beachten, dass die gemeinte Beziehung zum Fach noch nicht zustande gekommen ist, wenn die Quellen intrinsischen Wertes innerhalb des Fachs bloß [20]zu einer Effektivitätssteigerung der Wissensvermittlung oder der Kompetenzentwicklung aufgerufen werden – wenn diese also den Unterrichtsstoff nur »unterhaltsam« oder »lustig« machen sollen. Bei einem transformativen Unterrichtsansatz geht es nicht darum, die Schülerinnen und Schüler nur zu amüsieren, damit sie die Unterrichtsinhalte zielsicherer verinnerlichen. Ein solcher Ansatz wäre nicht nur ein weiteres Erzeugnis des Ausstattungsmodells der Bildung. Er liefe auch auf ein weiteres Missverständnis über die Rechtfertigungsbasis fachlichen Lernens hinaus. Denn es sind die lebensweltlichen, zwischenmenschlichen, ethischen und ästhetischen Dimensionen der Fächer, die die Auseinandersetzung und Aneignung fachlicher Erkenntnisse überhaupt erst begründen. Der Schulalltag ist mit dem Lernen in Fächern statt mit dem Auswendiglernen von Werbespots oder dem Lesen von Nachrichten ausgefüllt, weil die Fächer einen besonderen Wert für die Erweiterung, Bereicherung und Vertiefung der Erfahrung in sich bergen.

Die transformative Ausrichtung fachlicher Bildung fördert auf diese Weise auch eine zentrale demokratische Zielsetzung der Schule. Denn es ist ein Grundgedanke demokratischer Gesellschaften, jedem Menschen, unabhängig von seinem sozioökonomischen, ethnischen, religiösen oder persönlichen Hintergrund, die Chance zuteilwerden zu lassen, so weit wie möglich sein Potenzial als Individuum zu verwirklichen. »Das individuelle Potenzial zu verwirklichen« impliziert nicht nur die Mäßigung oder Beseitigung von sozialen Ungleichheiten, die der Formulierung und Realisierung des je eigenen Selbstkonzepts im Wege stehen. Positiv betrachtet, deutet diese Formel auch auf [21]Formen pädagogischer Handlung hin, die – idealerweise – auf eine Bereicherung und Intensivierung der individuellen Erfahrung abzielen.6 Eine solche Erhöhung der Erfahrungsqualität lässt sich als ein entscheidendes Kriterium für als »demokratisch« geltende Bildung verstehen, da sie sowohl an und für sich wertvoll ist als auch einen sinngebenden Endzweck für soziale und politische Bestrebungen abbildet. Demnach setzt man sich etwa für die Gleichbehandlung von Minderheiten, für den Aufbau von lebenswerten und ökologischen Städten oder für humanere Arbeitsbedingungen ein, da das Gelingen dieser Projekte das gemeinsame soziale Leben bereichert – es führe zu einem vertieften Gefühl von Gemeinschaftlichkeit, Naturverbundenheit und persönlichem Wohlergehen. Die Unterrichtsfächer sind Bereiche des Denkens und Handelns, die sich – in einigen Fällen seit Jahrtausenden – als wirksamste Praktiken zur Vertiefung und Bereicherung der Erfahrung erwiesen haben.7 Auch aus diesem Grund sollten Unterrichtsansätze [22]priorisiert werden, die in einem umfassenden Sinne zur Bereicherung der Erfahrung beitragen.

Die transformative Auffassung fachlicher Bildung besteht somit darauf, dass der Unterricht viel mehr kann als bloß ausstatten oder belehren: Er kann anregen und faszinieren. Er kann die Augen öffnen und neue Motivationsquellen erwecken. Er kann inspirieren. Diese Eigenschaften des Unterrichts sind nicht nur angenehme Zusätze zum Lernprozess, die vor allem nebensächlicher Art sind. Vielmehr sind sie allesamt Zeichen dafür, dass die Fachlichkeit des Fachunterrichts sachgemäß aufgefasst und vollständig eingelöst wird.

Dabei darf man natürlich Zweifel hegen, ob transformative Methoden in einem gegebenen Unterrichtskontext oder im eigenen Klassenzimmer gelingen können. Man mag sich fragen, welche Vorbedingungen geschaffen und Vorkehrungen getroffen werden müssen, damit junge Menschen für die umfassenden Möglichkeiten des Unterrichtsstoffs empfänglich werden. Außerdem wäre es ganz und gar verständlich, wenn sich im Laufe der Jahre ein gewisser Zynismus gegenüber dem Potenzial der Schule und des schulischen Unterrichts eingeschlichen hat, insbesondere wenn man langjährig an einer dysfunktionalen Schule oder mit demotivierten Schülerinnen und Schülern gearbeitet hat. Das transformative Unterrichtsmodell, das in den folgenden Kapiteln dargelegt wird, soll nicht nur Orientierungshilfen für »intakte« Lehr- und Lernumgebungen [23]bieten, sondern auch methodische Hinweise bereitstellen, die spezifisch auf die Bearbeitung häufiger Schwierigkeiten und Herausforderungen im Schulalltag ausgerichtet sind. Anhand des vorgelegten Modells soll es möglich sein, diesen externen Belastungen und den damit einhergehenden pädagogischen Engführungen gegenüber wirksam Widerstand zu leisten, und zwar innerhalb der bestehenden Bedingungen schulischer Bildung. Meine Hoffnung ist, dass sich dadurch neue Wege für den Bezug zu den Unterrichtsfächern – sowohl für Schülerinnen und Schüler als auch für Lehrerinnen und Lehrer – ebnen lassen, insbesondere, wenn das Gefühl für die Bedeutsamkeit und den Sinn der Unterrichtsinhalte fehlt oder beschädigt worden ist.

1.4 Überblick über die Kapitel

Die Kapitel dieses Bandes beschäftigen sich also mit der Frage, wie transformative Begegnungen und Berührungen mit dem Unterrichtsstoff ermöglicht werden können. Wie können Lehrkräfte Bedingungen in ihren Klassenzimmern schaffen, so dass sich die volle Breite und Tiefe ihrer Fächer und damit auch ihr transformatives Potenzial entfalten lassen? Welche Lehrmethoden dienen dieser Zielsetzung? Was kann dabei missglücken? Was muss bei der Konzeption und Planung von transformativen Unterrichtsstunden unbedingt beachtet werden? Und wie lassen sich transformative Methoden einsetzen, um Demotivation, Passivität, Langeweile oder Entfremdung entgegenzuwirken? Basierend auf zahlreichen Beispielen, Fallstudien sowie den jüngsten Ergebnissen der interdisziplinären erziehungs- [24]und bildungswissenschaftlichen Forschung skizziert dieser Band einen praktischen Orientierungsrahmen für transformativen Unterricht, der sich in verschiedenen Lehr- und Lernkontexten umsetzen lässt.

Bevor direkt auf die Lehrmethoden eingegangen wird, die diesem Modell zugehörig sind, werden im 2. Kapitel einige Fallstudien – oder Porträts –