Behindert und stolz - Luisa L'Audace - E-Book

Behindert und stolz E-Book

Luisa L'Audace

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Beschreibung

Luisa L'Audace wächst als einziges behindertes Kind in ihrem Heimatdorf auf. Warum sie im Sportunterricht immer als Letzte gewählt wird, in der Pause nicht mitspielen soll und ihre Freundinnen plötzlich nicht mehr neben ihr sitzen wollen, versteht sie lange Zeit nicht. Während andere Kinder Freizeitbeschäftigungen nachgehen, verbringt Luisa viel Zeit in Krankenhäusern, bei Therapien und Spezialist*innen. Als sie mit 14 einen Rollstuhl bekommt, fühlt sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben frei. Doch mit der neu gewonnenen Mobilität nehmen auch die Anfeindungen zu. Die Ursache dafür kann sie erst viele Jahre später klar benennen: Ableismus, also die strukturelle Diskriminierung behinderter und chronisch kranker Menschen. Wir alle leben in einem ableistischen System, das aktiv Teilhabe verhindert. Auch im 21. Jahrhundert müssen behinderte Menschen noch um ihre Rechte kämpfen und sind Gewalt ausgesetzt. Luisa L'Audace erklärt, warum Ableismus uns alle etwas angeht, wie wir ihn aktiv verlernen und zu einer inklusiven Gesellschaft werden können. Denn eins ist klar: Die Verantwortung liegt bei uns allen.

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Seitenzahl: 298

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I wanna see a feisty group of disabled people around the world … If you don’t respect yourself and if you don’t demand what you believe in for yourself, you’re not gonna get it.

 

Ich möchte eine kämpferische Gruppe behinderter Menschen auf der ganzen Welt sehen … Wenn du dich selbst nicht respektierst und einforderst, woran du für dich glaubst, wirst du es nicht bekommen.

 

Judith Heumann

The world doesn’t want us around and wants us dead. We live with that reality, so there’s always gonna be, uh, ›Am I gonna survive? Am I gonna push back? Am I gonna fight to be here?‹ That’s always true. So, if you wanna call that anger, I call it kind of drive. You know, you have to be willing to thrive or you’re not going to make it.

 

Die Welt will uns hier nicht, sie möchte uns tot sehen. Wir leben mit dieser Realität, deshalb müssen wir uns immer fragen: ›Werde ich überleben? Werde ich mich wehren? Werde ich kämpfen, um hier zu sein?‹ Du kannst das Wut nennen, aber ich nenne es eine Art Antrieb. Weißt du, du musst es schaffen wollen, sonst wirst du es nicht schaffen.

 

Corbett O’Toole

Inhaltsverzeichnis

Ein paar Worte vorweg

Born this way

Was ist Ableismus?

What doesn’t kill you doesn’t always make you stronger

Narrative und Vorurteile

Tabula rasa

Internalisierter Ableismus und Sozialisation

Einmal genug sein

Privilegien und Identität

Phönix aus der Asche

Disability Pride und Barrierefreiheit

Sexualisierte Gewalt und Selbstbestimmung

Nothing about us without us

Sprache ist Macht

Wie inklusiv ist unsere Gesellschaft wirklich?

Gemeinsam gegen Ableismus

Von Herzen danke

Quellennachweise

Ein paar Worte vorweg

Dieses Buch ist für all diejenigen, die anerkennen, dass diese Welt nicht gerecht ist. Für all diejenigen, die die Strukturen und Systeme besser verstehen wollen, die unseren Alltag bestimmen. Für all diejenigen, die den Mut haben zuzugeben, dass sie längst nicht alle Lebensrealitäten mitdenken – und die dies ändern wollen. Inklusion geht uns schließlich alle etwas an.

Dieses Buch ist aber vor allem den Menschen gewidmet, die sonst nicht mitgedacht werden. Es ist für all diejenigen, die vom System diskriminiert und unterdrückt werden. Ihr tollen Menschen da draußen, die ihr täglich in einer Welt klarkommen müsst, die nicht für euch gemacht ist. Ihr da, die jeden Tag mit Mikroaggressionen* und Vorurteilen konfrontiert werdet. Ihr da, die nicht ins System passt.

Dieses Buch soll einen Teil des Loches füllen, das sicherlich viele behinderte Menschen im Herzen tragen. Vielleicht findest du dich in der ein oder anderen meiner Erfahrungen wieder, und vielleicht trägt es auch dazu bei, dass du verstehst, warum dir gewisse Dinge passieren. Genauso wie ich erst verstehen musste, dass ich nicht die Einzige bin, die solche Erfahrungen macht – dass ich nicht allein bin. Dass ich nicht schuld bin. Ich schreibe dieses Buch in der Hoffnung, dazu beitragen zu können, dass sich nie wieder eine behinderte Person so allein und missverstanden fühlen muss, wie ich mich lang gefühlt habe.

Dies ist der Versuch, ein Buch zu schreiben, das ich selbst gut hätte gebrauchen können. Um früher von all den Dingen zu erfahren, um die es hier gehen wird. Aber auch, um es anderen Menschen an die Hand zu geben, von denen ich mir damals gewünscht hätte – und noch immer wünsche –, dass sie mich besser verstehen. Denn auch wenn behinderte Menschen eine der größten marginalisierten Gruppen weltweit darstellen, leugnet unsere Gesellschaft nach wie vor unsere Existenz, gibt sich alle Mühe, uns kleinzuhalten und unsichtbar zu machen.

In ein Buch allein passen nicht Hunderte Jahre der Unterdrückung. Ich werde hier längst nicht alle Strukturen beleuchten können, durch die behinderte Menschen in unserer Gesellschaft diskriminiert werden – denn das sind einfach zu viele. Auch repräsentiere ich allein nicht die gesamte marginalisierte Gruppe behinderter Menschen. Wir brauchen viele verschiedene Stimmen und Perspektiven, und ich hoffe, dass mein Buch dazu beitragen kann, dass die Gesellschaft das endlich versteht. Ich könnte noch so viel mehr zu diesem Thema sagen. Mein Anspruch ist es jedoch, mit diesem Buch überhaupt erst mal ein Grundverständnis für Ableismus zu schaffen und dafür, wie vielschichtig er ist. Ich möchte dich dazu motivieren, die Strukturen, von denen du in diesem Buch erfährst, auch in deinem eigenen Alltag zu erkennen und auf andere Situationen zu übertragen, wachsam zu sein, dich selbst weiterzubilden und zu recherchieren.

Während du dieses Buch liest, wirst du, gerade wenn du selbst nicht-behindert** bist, höchstwahrscheinlich früher oder später ein unangenehmes Gefühl tief in deinem Bauch verspüren. Ein Gefühl von Scham, gefolgt von einer Art Abwehrhaltung. Dieses Gefühl kenne auch ich sehr gut. Es tritt immer dann auf, wenn wir hören, dass wir uns diskriminierend verhalten oder zumindest diskriminierende Denkmuster reproduzieren. Wir möchten daraufhin sofort alles von uns weisen und rufen: »Halt, nein! Ich bin doch eine*r von den Guten!« Dabei geht es hier gar nicht um die Unterscheidung zwischen »gut« und »böse«. Auch wenn die Annahme, dass nur »böse« Menschen diskriminieren und dass Diskriminierung immer etwas mit Intention zu tun hat, weitverbreitet ist. Doch hier kommt die bittere Wahrheit: Wir alle haben uns schon mal diskriminierend verhalten, und schätzungsweise werden wir auch nicht heute schlagartig damit aufhören. Schließlich reicht es nicht, sich einfach verbal von jeglichen -ismen zu distanzieren und zu sagen, man sei gegen Diskriminierung. Das wäre nicht mehr als ein performativer Akt und würde die wahre Problematik nur weiter unsichtbar machen.

Wahre Antidiskriminierung tut weh, denn wir müssen uns mit unseren eigenen Denkmustern auseinandersetzen, sie reflektieren und anschließend aktiv verlernen. Doch dieser Schmerz ist nicht ansatzweise mit jenem zu vergleichen, den strukturelle Diskriminierung bei marginalisierten Gruppen verursacht. Und deshalb bitte ich dich: Solltest du an einen Punkt in diesem Buch kommen, wo du diese Gefühle empfindest – versuche, sie einfach mal einen Moment lang auszuhalten, und mach dir bewusst, dass anzuerkennen, dass wir alle Teil von diskriminierenden Strukturen sind, ein unverzichtbares Fragment dieses Prozesses darstellt.

Um die in unserer Gesellschaft wirkenden Strukturen und Mechanismen anschaulicher zu erklären, habe ich mich dazu entschieden, in dieses Buch auch autobiografische Teile mit einfließen zu lassen. Dabei lege ich jedoch keinen Wert auf Vollständigkeit, sondern konzentriere mich stattdessen gezielt auf Momente, die greifbar machen, wie komplex die ableistischen Strukturen innerhalb unserer Gesellschaft sind. Diese kleinen Ausschnitte und teilweise intimen Details aus meinem Leben preiszugeben, war meine eigene Entscheidung. Das heißt jedoch nicht, dass behinderte Menschen im Allgemeinen irgendjemandem Rechenschaft über ihre Geschichte, ihre Diskriminierungserfahrung oder ihre Behinderung schuldig sind. Behinderte Menschen sollten nicht immer und immer wieder anhand von Beispielen beweisen müssen, dass sie strukturelle Diskriminierung erfahren – denn auch das ist Teil ihrer Unterdrückung. Ableismus ist eine Tatsache, und wir sollten als Gesellschaft längst über den Punkt hinaus sein, dass wir diese Tatsache anzweifeln.

Zu dem Zeitpunkt, an dem ich dieses Buch schreibe, gibt es kein vergleichbares Werk in deutscher Sprache. Dementsprechend ist der Druck hoch, gerade weil es kaum Studien gibt, und die wenigen, die existieren, leider selten für Nichtakademiker*innen wie mich zugänglich sind. Gerade deshalb stelle ich den Anspruch an dieses Buch, Ableismus*** für alle begreifbarer zu machen. Schließlich betrifft er überdurchschnittlich oft insbesondere die Menschen negativ, die keine faire Chance auf Bildung hatten. »Wie bitte? Sie hat nicht mal Abitur und spielt sich als Expertin auf?«, höre ich schon die ersten Kritiker*innen schimpfen. Als behinderte, queere Frau ohne Abitur, ohne abgeschlossene Ausbildung oder Studium bin ich es gewohnt, dass mir meine Kompetenz und meine Expertise abgesprochen werden. Jedoch gibt es Dinge, die kann man nicht studieren. Die muss man erlebt haben. Damit sage ich nicht, dass jede Person, die Ableismus erlebt, automatisch Expert*in für Inklusion und Antidiskriminierung ist. Allerdings ist es eine Grundvoraussetzung dafür, um Expert*in zu werden. Und sollten nicht gerade Menschen wie ich wissen, wovon sie reden, wenn es um fehlende Zugänge in Bezug auf Bildung und den ersten Arbeitsmarkt geht? Ich bin quasi der wandelnde Beweis dafür, dass unser Bildungssystem nicht inklusiv ist. Wer sollte also besser wissen, wo es hakt, als Menschen, die selbst auf genau jene Barrieren gestoßen sind?

In diesem Buch geht es um verschiedene Diskriminierungsformen und deren Auswirkungen. Um darauf hinzuweisen, wie schädlich diese sind, werde ich ableistische Sprache und diskriminierende Denkmuster reproduzieren müssen. Ich hoffe, dass eine solche explizite Nennung in der Zukunft irgendwann nicht mehr nötig sein wird, weil ein allgemeines Bewusstsein über ableistische Strukturen besteht. Im Moment lässt sich dies jedoch leider noch nicht umgehen. Wenn du also selbst von einer oder mehreren Diskriminierungsformen betroffen bist, gib beim Lesen bitte acht auf dich.

Alle hier vorkommenden Begriffe und Bezeichnungen habe ich nach bestem Willen und Wissen gewählt und hatte dabei stets die Absicht, alle Menschen in meiner Sprache mitzudenken und zu inkludieren. Sollte mir dies einmal nicht gelungen sein, oder sollten Begrifflichkeiten, die ich hier verwende, mittlerweile überholt sein, bitte ich dich, dich sprachlich nicht an dem vorliegenden Text zu orientieren, sondern dich stattdessen bei Betroffenen über aktuellere antidiskriminierende Begriffe zu informieren.

*Der Begriff »Mikroaggressionen« wurde von dem afroamerikanischen Psychiater Chester Pierce in den 1970er-Jahren geprägt. Dabei handelt es sich um alltägliche Äußerungen oder subtile Verhaltensweisen, die ein Mitglied einer marginalisierten Gruppe herabsetzen, ausschließen oder bevormunden.

**In diesem Buch habe ich bewusst die Schreibweise »nicht-behindert« mit Bindestrich gewählt, weil sie in meinen Augen besser lesbar ist. Im Gegensatz zu »nicht behindert« betont »nicht-behindert« außerdem, dass es sich dabei um eine eigene, komplexe Kategorie handelt und nicht einfach nur um eine Gruppe von Menschen, die nicht über das Merkmal Behinderung verfügt. »Nicht-behindert« zu sein, ist eine Eigenschaft, die das Leben der betreffenden Menschen maßgeblich prägt und ihnen viele Privilegien verschafft – auch wenn sie selbst sich dessen nur in den seltensten Fällen bewusst sind.

***Ableismus bezeichnet die strukturelle Diskriminierung behinderter und chronisch kranker Menschen. Im Kapitel »Was ist Ableismus?« gehe ich ausführlicher auf diesen Begriff ein.

Born this way

Als ich noch klein war, dauerte es eine ganze Weile, bis ich verstand, dass ich mich durch gewisse Dinge von den Kindern in meinem Umfeld abhob. Und noch viel länger dauerte es, bis ich verstand, dass ich weder Einfluss auf diese Unterschiede hatte noch, dass sie meinen Wert als Menschen ausmachen.

Ich wuchs in einem kleinen Dorf in Hessen auf, in dem ich das einzige behinderte Kind war. Ich wusste nicht, woran es lag, aber von klein auf war da so ein Gefühl, als hätten alle Menschen um mich herum eine Bedienungsanleitung für ihr Leben erhalten und als wäre nur meine irgendwo verloren gegangen, bevor ich sie hatte lesen können. Doch obwohl sich mein Leben in einigen Bereichen von dem der anderen Kinder unterschied, konnte ich einfach nicht benennen, was der Grund dafür war, und vergrub dieses Gefühl tief in mir drin. Ich kann mich noch sehr genau an den Tag erinnern, an dem ich in meinem Kinderzimmer vor dem Hochbett mit der Rutsche stand, während meine Mama vor mir kniete und sagte: »Morgen bekommst du dein erstes Korsett angepasst.«

Ich war damals vier Jahre alt, und man hätte mir wahrscheinlich genauso gut erklären können, dass ich morgen einen Porsche bekommen würde. Das hätte ich vermutlich genauso wenig verstanden. Also fragte ich einfach nur neugierig: »Ein Korsett?«

»Ja, das soll dir helfen, damit dein Rücken wieder gerade wird«, erwiderte sie. Ich spüre ihre Hände heute noch auf meinen Rippen, wie sie – auf meine Frage, wie sich das wohl anfühlen würde – meinen Oberkörper vorsichtig in eine aufrechtere Position schob. Doch im Gegensatz zu ihren warmen Händen erwartete mich ein paar Wochen später eine kalte Plastikschale, die mich vom Schlüsselbein bis zur Hüfte einengte und die ich von nun an acht Jahre lang 23 Stunden am Tag tragen würde. Zugegeben, manchmal waren es nur um die 15 Stunden, denn im Alter von acht oder neun Jahren hatte ich den Dreh raus, wie ich mich nachts heimlich aus dem unbequemen und unnachgiebigen Negativabdruck meines Oberkörpers herausschälen konnte. Kurz bevor der Wecker klingelte, zwängte ich mich dann wieder zurück in dieses ungeliebte Objekt. Ich hatte nicht genug Kraft in meinen kleinen Händen, um die unnachgiebigen Plastikschnallen zu verschließen, die die Gurte mit Klettverschluss festhielten und sicherstellten, dass sie sich um keinen Zentimeter lockerten. Um dennoch nicht aufzufliegen, entwickelte ich eine Taktik. Ich nahm zwei oder drei Schritte Anlauf und warf mich mitsamt dem Korsett leicht, aber gezielt gegen die Wand, sodass die Schnallen beim Aufprall zwischen dem harten Plastik des Korsetts und der Raufasertapete meines Kinderzimmers zusammengedrückt wurden und gar keine andere Chance mehr hatten, als endlich nachzugeben und einzurasten.

Es waren besonders jene Schnallen sowie die obere Kante des Korsetts, die mich bereits früh störten, standen sie doch immer etwas hervor und zeichneten sich durch so gut wie jedes T-Shirt deutlich ab. Was mir aber noch deutlich mehr zu schaffen machte, waren die Kinder im Kindergarten sowie der Grundschule, die manchmal sanft, manchmal weniger sanft auf meinem Bauch herumtrommelten und fragten: »Na? Trägst du wieder deinen Panzer?« Oder: »Bist du etwa eine Schildkröte?« Für manche Kinder in meiner Schule gehörte der Knuff in meinen Bauch regelrecht zur Begrüßung dazu. In den seltenen Fällen, in denen ich das Korsett wegen Druckstellen oder besonderen Anlässen zu Hause lassen durfte, landeten ihre Fäuste ungebremst in meiner Magengrube.

Vermutlich gehörten diese kleinen, aber doch so gewaltvollen Gesten zu den frühesten Diskriminierungserfahrungen, an die ich mich aktiv erinnern kann. Dabei waren es sicherlich nicht die ersten. Ich hatte die abfälligen und bewertenden Blicke schließlich auch schon gespürt, als meine Mutter mich im Kinderwagen durch die Stadt geschoben hatte, während andere Kinder in meinem Alter bereits ausgelassen neben ihren Eltern herumhüpften und sie am Arm zogen, weil es ihnen nicht schnell genug gehen konnte. Ich hatte diese Blicke damals nur nie deuten können. In den Neunzigern und frühen Zweitausendern war es einfach noch nicht so üblich gewesen, Kleinkindern einen Rollstuhl anzupassen, wenn diese in ihrer Mobilität eingeschränkt waren. Es gab diese Möglichkeit zwar, jedoch war dabei vermutlich ein entscheidender Faktor, dass ich nicht dem klassischen Bild einer Rollstuhlfahrerin entsprach, so wie die Mehrheitsgesellschaft sich diese nun mal vorstellt. Dabei haben viele Rollstuhlfahrer*innen eine sogenannte Restgehfähigkeit. So wie auch ich. Zwar machte ich erst sehr spät meine ersten Schritte, und es waren mehrere Operationen dafür nötig gewesen, aber als ich dann eigenständig gehen konnte, hätten mich die wenigsten Menschen als behindert gelesen. Allerdings konnte ich eben weder lange Strecken noch besonders schnell laufen, musste mich dabei sehr konzentrieren und fiel regelmäßig hin. Doch die Tatsache, dass ich mich dennoch irgendwie, wenn auch eingeschränkt, fortbewegen konnte, hatte Ärzt*innen scheinbar davon abgehalten, darüber nachzudenken, ob ein Rollstuhl meine Mobilität verbessern könnte. Auch die fehlende Diagnose, die ich schließlich erst im Alter von 22 Jahren und infolge einer schier endlos langen Suche erhalten würde, war dabei vermutlich ein entscheidender Faktor. Dabei ist es gerade für Kleinkinder so wichtig, sich frei im Raum bewegen zu können, um Selbstständigkeit zu erlernen. So sind es doch insbesondere die ersten drei Lebensjahre, in denen ich nicht hatte laufen können, die entscheidend für die Entwicklung eines Kindes sind. Doch während ein Rollstuhl genau dafür gesorgt hätte, mir mehr Selbstständigkeit und Teilhabe zu ermöglichen, verbinden die meisten Menschen ihn bis heute noch mit etwas Negativem. Etwas, was einem Aufgeben oder einem Schritt zurück gleichkommt. Selbst viele Ärzt*innen scheinen die positive Wirkung von Hilfsmitteln bis heute oft nicht auf dem Schirm zu haben, und so schob mich meine Mutter also bis zu meinem fünften Lebensjahr im Kinderwagen herum. Es war ein faltbares Modell, das sie neben uns herschleppte oder -schob, während ich lief, und das sie auseinanderklappen konnte, wenn ich mit meinen Kräften am Ende war oder wir schneller gehen mussten.

Doch auch wenn ich Schwierigkeiten bei der Fortbewegung hatte, so stellte dies in meiner kindlichen Wahrnehmung erst mal nichts Auffälliges dar. Ich stürzte ständig, jedoch nahm ich die Veilchen unter meinem Auge, die aufgeschürften Knie, die blauen Flecken und die blutige Unterlippe, wie sie eben kamen. Auch mehrere fast schon akrobatische Stürze von den obersten Stufen der steilen Treppen unseres alten Fachwerkhauses erachtete ich nicht wirklich als etwas Außergewöhnliches, wobei ich aus heutiger Perspektive wirklich riesiges Glück hatte, dass ich nie schwerere Verletzungen davontrug. Doch die Logik einer Sechsjährigen lautete nun mal: Kinder fallen eben hin, Erwachsene nicht mehr.

Ich kann mich noch genau an einen warmen Sommertag erinnern, an dem diese Annahme bis in ihre Grundfesten erschüttert wurde. An jenem Tag besuchte ich mit meiner Mutter und einer Nachbarin einen Flohmarkt. Er befand sich in der Nähe von einer Art Acker, jedenfalls war der Boden, auf dem wir liefen, nicht befestigt. Ich hielt die Hand meiner Mama fest und hatte alle Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen, ohne dass sie sich in einer Wurzel verkeilten oder über einen Erdklumpen stolperten. Dazu schien die Sonne erbarmungslos hell in unsere Gesichter, was das Vorankommen nicht leichter machte. Konzentriert auf meine Füße, zuckte ich plötzlich zusammen, als rechts von mir ein kurzer, aber durchdringender Schrei ertönte. Unsere Nachbarin, die bis eben noch rechts von meiner Mutter gelaufen war, war gestürzt und hockte nun etwas verdattert neben uns auf dem erdigen Boden. Die Situation löste sich beinahe genauso schnell auf, wie sie gekommen war. Die Nachbarin rappelte sich wieder auf, murmelte ein paar Worte und klopfte sich den Schmutz von der Hose. Ihr war nichts passiert, aber dieses Erlebnis erschütterte meine kindliche Welt zutiefst. Wahrscheinlich bestand in diesem Moment sogar kurz Verwechslungsgefahr zwischen mir und diesem Emoji, dem vor lauter Verblüffung der Kopf explodiert. Erwachsene Menschen konnten also auch hinfallen? Was, wenn ich, entgegen meiner Annahme, das Hinfallen also doch nie verlernen würde?

Das mit dem Hinfallen wurde zu meiner eigenen sowie der Freude meiner Mutter und der gestressten Ärzt*innen in der Notaufnahme zum Glück irgendwann wirklich weniger. Jedoch lag das wohl kaum an einer tatsächlichen Verbesserung meiner Körperkoordination, sondern an meiner wachsenden Vorsicht, weil sich nach und nach immer mehr Metall zu meinen Knochen gesellte und mir klar wurde, dass Stürze Konsequenzen mit sich bringen konnten. Es änderte sich jedoch nichts daran, dass ich weder besonders schnell noch besonders lang laufen konnte, und auch meine Motorik blieb weiterhin eingeschränkt. Und so stieß ich regelmäßig an meine Grenzen.

Bevor die Gefahr zu stürzen schließlich irgendwann zu groß wurde, durfte ich viele Jahre auf den Pferden einer Bekannten reiten. Ich muss heute noch schmunzeln, wenn ich daran denke, dass ich mit drei Jahren die ersten Schritte machte und mit vier bereits jede Woche auf einem Pferd saß. Nicht das klassische Reiten mit Gerte und Trense, sondern sogenannter Horsemanship, eine Reitweise, bei der es um den fairen Umgang und das Vertrauen zwischen Mensch und Tier geht. Ich liebte das Reiten so sehr, und es gab mir viel Selbstbewusstsein, als so kleiner Mensch ein so großes Pferd mit so wenig Kraftaufwand steuern und lenken zu können. Als meine Freund*innen ein paar Jahre später ebenfalls mit dem Reiten anfingen, überholten sie mich und meine Reitkünste jedoch innerhalb weniger Monate, und mein Selbstbewusstsein verpuffte genauso rasch, wie es gekommen war. Während es mir aus ärztlicher Sicht strengstens verboten war, auch nur ein kleines Hindernis mit dem Pferd zu absolvieren, wechselten meine Freund*innen schnell zu elitäreren Reiterhöfen und räumten Pokale bei Springreitturnieren ab.

Zum Rope-Skipping – ein Sport, bei dem die Teilnehmenden besonders schnell über spezielle Seile springen und Kunststücke machen –, zu dem ebenfalls nahezu alle gingen, wäre ich gar nicht erst zugelassen worden. Nach einem frustrierenden Nachmittag in unserem Hof, an dem es mir auch nach stundenlangem Üben nicht einmal gelungen war, drei Sprünge hintereinander über das giftgrüne Springseil zu machen, gab ich frustriert und gedemütigt auf. »Guck mal, Luisa, wie toll die Stefanie seilspringen kann! Würdest du mehr üben, würdest du das auch können«, bohrten sich die Sätze von Familienmitgliedern in mein Herz und lösten einen noch größeren Schmerz aus als das dünne Gummiseil, das mir bei meinen Versuchen unzählige Male gegen die Schienbeine gepeitscht war. In dem Dorf, in dem ich wohnte, war es üblich, als Kind viele Hobbys zu haben. Manche Eltern schienen sich regelrecht darüber zu definieren, wie gut ihre Kinder in den jeweiligen Sportarten oder beim Spielen eines Instrumentes abschnitten, und konnten es sich leisten, jeden Monat Hunderte von Euros in Unterricht, Ausstattung und Reisen zu Turnieren zu stecken. Vielleicht suchte ich auch deshalb ständig nach neuen Hobbys, in der Hoffnung, endlich etwas zu finden, worin nur ich gut war. Ein Hobby, dem sonst niemand nachging, der*die mich wieder mit Leichtigkeit darin würde überholen können. Auch meine Familie war privilegiert genug, um mir zu ermöglichen, mich in verschiedenen Bereichen auszuprobieren. So versuchte ich mich beispielsweise jahrelang am Klavier und für ein paar wenige Monate sogar im Ballett. Dass ich weder professionelle Ballerina noch virtuose Pianistin geworden bin, muss ich wahrscheinlich nicht erwähnen. Heute kriege ich nicht einmal mehr den Flohwalzer zusammen.

Aber auch der unschuldige, naive Spaß an meinen Hobbys, den ich beim Reiten noch so intensiv empfunden hatte, war mittlerweile längst auf der Strecke geblieben. Es ging um Leistung und darum, besser zu sein als andere, weniger um Spaß und das Abschalten vom sowieso viel zu leistungsorientierten Alltag. Das hatte ich bereits früh gelernt. Die fast schon verbissene Einstellung vieler Eltern übertrug sich natürlich schnell auf ihre Kinder, und so merkten sie schon bald, dass sie mir in körperlicher Hinsicht überlegen waren, und nutzten diese Erkenntnis, um sich über mich zu erheben. Auf dem Schulhof sollte ich irgendwann nicht mehr mitspielen, und bei den Bundesjugendspielen demütigte mich meine Sportlehrerin jedes Jahr aufs Neue, indem sie mich zur Teilnahme am Hundertmeterlauf aufforderte, obwohl wir beide wussten, dass es jedes Mal damit enden würde, dass ich viele quälend lange Sekunden mehr brauchen würde als selbst die langsamsten meiner nicht-behinderten Mitschülerinnen. Solche Momente verliefen für mich wie in Zeitlupe. Ich sehe noch heute die Gesichter der Schulkinder am Rand der Laufstrecke vor mir. Wie sie zuerst irritiert und dann abfällig zu mir herüberschauten. Wie mein Körper brannte und mich anflehte aufzuhören, während ich meinen kompletten Fokus darauf legte, nicht zu stürzen, und noch viel wichtiger: nicht zu weinen. Als ich dann endlich die Ziellinie erreichte, stieß nur meine Sportlehrerin noch ein paar halbherzige Jubelrufe aus. Die Traube der Schulkinder am Rand der Laufstrecke hatte sich längst aufgelöst, sie widmeten sich bereits der nächsten Disziplin.

Mit etwa zwölf Jahren wehrte ich mich zunehmend gegen das Tragen des Korsetts und konnte mit meinen Argumenten schließlich meine Mutter überzeugen, die wiederum meine Ärzt*innen überzeugte, sodass ich die starre Konstruktion aus Plastik von da an nicht mehr länger tragen musste. In diesem Alter spielte das Aussehen eine zunehmend wichtigere Rolle, und ich hatte aufgrund des Korsetts immer mehr direkte Anfeindungen durch meine Mitschüler*innen erfahren. Doch neben diesem Umstand und dem altersgemäßen Wunsch, auch endlich ein Spaghettiträger-Top tragen zu können, ohne dass sich die Schnallen meines Korsetts deutlich abzeichnen und die Kanten unter den Rändern des Kleidungsstücks hervorquellen würden, waren bei dieser Entscheidung auch noch andere Faktoren ausschlaggebend. Davon abgesehen, dass es unfassbar unangenehm war, von der Hüfte bis zu den Schultern in ein starres Plastikgebilde geschnürt zu sein, in dem ich mich jeden Sommer kaputtschwitzte und von dem ich dauernd neue Druckstellen davontrug, stellte das Korsett auch einen riesigen Zeitaufwand dar. Die Klinik, in der ich von klein auf alle paar Monate zu Röntgenkontrollen und Korsettanpassungen vorstellig werden musste, war weit entfernt, und so besteht ein erheblicher Anteil meiner Kindheitserinnerungen aus stundenlangen Autofahrten mit immer neuen Kassetten und CDs, die meine Mutter anschaffte, um mich bei Laune zu halten. Waren wir dann endlich da, hieß es, die schier endlosen Wartezeiten auf den ironischerweise sehr unergonomisch geformten Holzbänken im Wartebereich der orthopädischen Ambulanz totzuschlagen, während wir uns die Zungen an mittelmäßigem Kakao und Kaffee aus dem Automaten verbrannten.

Wenn man einen heranwachsenden Körper in einen starren Plastikabdruck steckt, geht dies immer nur für eine kurze Zeit gut, bevor sich der Körper an dem unnachgiebigen Material stößt und aufreibt, und zwar so lang, bis der Abdruck irgendwann nicht mehr zu dem Körper passt und ein neuer gemacht werden muss. Dafür mussten wir jedes Mal in den Keller der Klinik. In einem kalten Raum, der von oben bis unten gefliest war, wurde mein Oberkörper in die gewünschte Haltung gebracht und schließlich mit endlos langen, vor Feuchtigkeit triefenden Gipsbahnen umwickelt. Und während diese eben noch eisig kalt gewesen waren, wurde es, während der Gips trocknete, beinahe unerträglich heiß darunter. Danach wurde mit viel Kraftaufwand ein breiter Plastikschlauch herausgezogen, der mit eingegipst worden war, um sicherzustellen, dass genug Platz zwischen Haut und Gipsschicht bestehen würde, um diese anschließend mit einer speziellen Schere aufzuschneiden. Das Ratschen dieser riesigen, zangenartigen Schere, die sich durch die dicke weiße Gipsschicht biss, hatte mir schon immer Angst gemacht. Besonders weil sich der Mitarbeiter, der den Abdruck nahm, regelrecht in sie hineinstemmen musste, bis das harte Material endlich zwischen den Schneiden der Schere nachgab. Doch meine Angst stieg ins Unermessliche, als mich das riesige Instrument eines Tages erwischte und mir in den Bauch schnitt. Ich kann mich heute noch daran erinnern, wie ich völlig unter Schock und weinend in der Dusche des gefliesten Raumes stand, während die Menschen um mich herum versuchten, die Gips- und Vaselinereste von meinem Körper zu waschen, ohne dass dabei etwas in die blutende Wunde an meinem Bauch gelangte. Nach diesem Erlebnis hatte ich große Angst vor den Abdrücken.

Wer denkt, dass das Korsett, das ich als Resultat dieser Prozedur einige Wochen später erhielt, dann einwandfrei saß, hat sich übrigens getäuscht. Wir verbrachten endlose Stunden in den winzigen Räumen der Werkstatt, in der mein Korsett und andere Orthesen immer und immer wieder aufgeschnitten sowie erwärmt und verformt wurden, bis sie schließlich den Vorstellungen der Orthopädiemechaniker*innen entsprachen. Es war ein schier endloser Kreislauf aus Anprobieren, Schmerz, Ausziehen, Warten, Anprobieren, Schmerz, Ausziehen, Warten … Die ersten Tage mit neuem Korsett waren meist mühsam, und das Wissen, dass all der damit verbundene Aufwand schon bald wieder von vorn beginnen würde, machte es nicht leichter. Bis zu dem Tag, an dem ich mein Korsett ablegte, verschliss ich auf diese Weise ganze 15 Korsetts innerhalb von acht Jahren.

Ein deutlich geliebteres Hilfsmittel erhielt ich dann im Alter von 14 Jahren. Als ich damals nämlich endlich meinen ersten eigenen Rollstuhl bekam, flitzte ich damit gleich euphorisch durch die Gänge des Krankenhauses, in dem ich zu der Zeit einige Monate lebte. Zum ersten Mal in meinem Leben konnte ich mich fortbewegen, ohne konzentriert auf den Boden oder meine Beine zu schauen und gleichzeitig ständig abzuwägen, wie weit ich es noch schaffen würde, permanent Ausschau haltend nach der nächsten Sitzgelegenheit. Es war, als hätte ich vorher Scheuklappen getragen, die ich mir nun mit einem Mal vom Kopf riss. Zum ersten Mal konnte ich den Himmel sehen, während ich mich fortbewegte, mich auf Gespräche fokussieren, ohne die ständige Angst im Nacken, ich könnte stürzen.

Doch mit dem Rollstuhl war nicht von heute auf morgen alles gut, denn durch ihn wuchs auch die Ablehnung, die mir entgegenschlug. Kaum bewegte ich mich abseits des Klinikgeländes, bestimmte von nun an nicht mehr nur ich, welchen Laden, welches Kino oder auch welche Verwandten ich zu Hause besuchen wollte. Es bestimmte ab jetzt immer die Barrierefreiheit mit, oder viel eher gesagt: die fehlende Barrierefreiheit. Das ist auch heute noch so. Denn auch wenn ich zumindest über eine Restgehfähigkeit verfüge, lässt sich diese nicht jederzeit ohne Weiteres abrufen. Doch wie tief der Ableismus in unserer Gesellschaft verankert ist, spürte ich nicht nur durch fehlende Barrierefreiheit, sondern auch durch die Ablehnung von Menschen in meinem direkten Umfeld. »Voll uncool! Wenn du dabei bist, spricht uns nie ein Junge an«, zeterte zum Beispiel einmal eine Freundin, während wir in einem Shoppingcenter vor einem H&M standen und auf meine Mutter warteten. Ich lief knallrot an und verstummte. Doch anstatt mich empört abzuwenden und ihr zu sagen, wie verletzend und diskriminierend diese Aussage war, schaute ich meine Freundin nur entschuldigend und beschämt zugleich an. Es musste stimmen, was sie sagte. Viele dachten so, also musste das doch stimmen, oder nicht?

Und auch wenn ich schon immer behindert gewesen war, schien es so, als hätte erst der Rollstuhl dafür gesorgt, dass mich Menschen einer gewissen Schublade zuordneten, aus der ich nun gefälligst genauso schnell wieder herauskommen sollte, wie ich ihrer Meinung nach dort hineingekommen war. Ganz nach dem Motto: »Was soll das denn jetzt? Mach das gefälligst wieder rückgängig!« Es war für diese Personen scheinbar nicht ersichtlich, warum ich an dem einen Tag noch gelaufen war und ein paar Wochen später plötzlich in einem Rollstuhl vor ihnen stand. Als könnten sie all meine Krankenhausaufenthalte, die Operationen und das jahrelange Tragen eines Korsetts einfach nicht mit dieser Situation verknüpfen. Das zeigt erst mal, wie einseitig und ignorant die Sicht der Gesellschaft auf Behinderung ist. Hätte mein Umfeld damals verstanden, dass Behinderungen genauso unterschiedlich wie Menschen sind, und hätte es verstanden, dass man nicht erst als behindert zählt, wenn dies für Außenstehende unübersehbar ist, dann wäre es vielleicht auch mir leichter gefallen, mich mit meiner Behinderung zu identifizieren.

»Du kannst doch noch laufen. Rollstühle sind nur was für Querschnittsgelähmte«, tönte es stattdessen aus dem Mund eines Familienmitglieds, dessen »Meinung« ich vorher nie infrage gestellt hatte und es auch zu diesem Zeitpunkt noch nicht tat. Ich schreibe hier »Meinung« in Anführungszeichen, da Diskriminierung keine Meinung ist, egal wie vehement dies so manche*r verteidigen mag. Heute würde mir beim Anblick eines 14-jährigen Mädchens, das seit Kurzem einen Rollstuhl nutzt, vieles einfallen, aber nicht, dass sie es dadurch leichter hat. Und dennoch hallen die unreflektierten Worte jenes Familienmitglieds bis heute in meinem Kopf wider. »Du machst es dir zu leicht, indem du dich einfach in dieses Ding setzt«, sagte diese Person mit künstlicher Besorgnis in ihrer Stimme. »Dadurch verlernst du das Laufen doch erst recht.«

Der Irrglaube, dass alles, was unsere Körper können, und wie sie aussehen, beeinflussbar ist und dass wir alles erreichen können, wenn wir nur fest daran glauben und hart dafür arbeiten, ist bis heute weitverbreitet. Und auch ich glaubte nach diesen Aussagen viele Jahre daran. Und so verschwand mein Rollstuhl also vorerst im Keller und mit ihm auch meine neu gewonnene Mobilität. Ab diesem Moment gab ich mir besonders große Mühe, als nicht-behindert durchzugehen. Ich erfand allerlei Ausreden für Dinge, die ich nicht konnte, trug Schals und ließ meine Haare lang wachsen, um meine sich zunehmend verkrümmende Wirbelsäule zu verstecken – eine Entwicklung, die auch das Korsett nicht hätte verhindern können. Meistens gelang mir dieser Kraftakt auch, doch nannte mich doch mal jemand »Quasimodo«, »Missgeburt« oder »Krüppel«, so traf mich das tief und ich ärgerte mich über mich selbst. Ich ging schließlich immer noch davon aus, dass ich nur hartnäckig genug versuchen musste, meine Behinderung »zu überwinden«. Auf dieses unfassbar schädliche Narrativ möchte ich später noch einmal zurückkommen.

Dass all diese Dinge, die mir passierten, zu Unrecht geschahen, war mir zu diesem Zeitpunkt nicht klar. Dass es sich um Diskriminierung beziehungsweise um Ableismus handelte und dass all diese Gedanken und Erlebnisse meiner Identität als behinderte Person zuzuordnen sind, sollte ich erst viel später verstehen. Denn auch wenn ich mich in all diesen Situationen unwohl fühlte, fehlten mir immer die Worte, um dies zu beschreiben und richtig einzuordnen. Stattdessen schob ich alles auf mich und verlor keinen einzigen Gedanken daran, dass auch mein Gegenüber im Unrecht sein könnte.

Was ist Ableismus?

Menschen, die selbst wenig eigene Diskriminierungserfahrungen gemacht haben, schauen mich häufig völlig entgeistert an, wenn ich ihnen erkläre, dass man auch als marginalisierte Person – also als eine Person, die über ein oder mehrere Merkmale verfügt, aufgrund derer sie strukturelle Diskriminierung erfährt – meistens erst lernen muss, was Diskriminierung überhaupt ist. Und noch viel unglaublicher für mein Gegenüber: Dass marginalisierte Menschen erst lernen müssen, dass sie selbst von Diskriminierung betroffen sind. Denn mal ehrlich: Welche (mehrfach) marginalisierte Person weiß bereits im Kindergarten die verletzenden Bemerkungen der Kinder um sich herum richtig einzuordnen? Welches Schulkind verfügt bereits über das nötige Wissen über gesellschaftliche Strukturen, um zu erkennen, dass seine Lehrer*innen es nicht aus reiner Willkür anders behandeln? Welche*r Jugendliche*r trägt die Stärke und das nötige Selbstvertrauen in sich, um die Menschen um sich herum auf ihr diskriminierendes Verhalten ihr*ihm gegenüber anzusprechen? Wer wird schon mit dem nötigen Weitblick geboren, um zu erkennen, dass nicht sie*er das Problem ist, sondern die Gesellschaft und ihr zwanghafter Drang, alles in Schubladen zu stecken? Nur um direkt im Anschluss die Schubfächer mit Etiketten zu versehen, auf denen geschrieben steht, wie die Person, die in dieser Schublade gefangen gehalten wird, zu sein hat und wie nicht und ob dies gut ist oder nicht, ob dies erstrebenswert ist oder nicht.

Ich muss immer wieder erklären, dass es eben nicht so ist, dass wir sofort einordnen können, was uns passiert und vor allem, warum uns das passiert. Ich muss erklären, dass wir selten von vornherein für uns einstehen, weil wir zuerst einmal selbst verstehen müssen, dass wir im Recht sind und dass bestimmte Erlebnisse uns nicht durch Zufall, nicht aus Pech oder durch reine Willkür widerfahren, sondern weil dahinter ein System steckt. Und was in meinen Augen fast das Wichtigste ist: Wir müssen erst lernen, dass wir aufgrund dieser Erfahrungen verletzt, sauer und enttäuscht sein dürfen, auch wenn die Gesellschaft, in der wir leben, dies nicht so sieht.

Wenn ein Wort in diesem Buch häufig fallen wird, dann ist es »Ableismus« oder »ableistisch«, und ich wünschte, ich könnte hier nun mit einer schnellen, knackigen Definition starten. Doch genau das ist das Problem bei Ableismus, wie bei allen anderen -ismen auch. Er ist nicht so leicht zu erfassen und schon gar nicht leicht zu erklären. Kommt es nun doch dazu, dass ich in wenigen Worten erklären soll, worum es bei diesem Begriff geht (und das kommt sehr häufig vor, denn sind wir mal ehrlich: Wie viele Menschen in deinem Umfeld kennen das Wort »Ableismus«?), dann versuche ich es so: Ableismus ist die strukturelle Diskriminierung von behinderten und chronisch kranken Menschen. Das heißt, Ableismus findet auf allen Ebenen, also zum Beispiel der institutionellen, der wirtschaftlichen oder der kulturellen Ebene, statt. So haben behinderte Menschen beispielsweise nicht die gleiche Chance auf Bildung, sind häufiger von Armut bedroht und erfahren kaum angemessene Repräsentation in Medien und Co. Bei unseren Diskriminierungserfahrungen handelt es sich also nicht um Einzelfälle, denn sie lassen sich durch diskriminierende und unterdrückende Strukturen erklären, die sich in unserer Gesellschaft oft über Jahrhunderte hinweg verfestigt haben und so schon fast automatisch weiter und weiter aufrechterhalten werden.

Ableismus gehört zur sogenannten Behindertenfeindlichkeit, bezieht sich dabei aber vielmehr auf die Strukturen und Denkweisen dahinter, die in ihrer Verbindung ein ganzes System ergeben. Im ableistischen System werden behinderte und chronisch kranke Menschen benachteiligt und unterdrückt, während nicht-behinderte Menschen als einzig wahre »Norm« dargestellt werden und von dieser Kategorisierung profitieren. Aus der Abwertung einer marginalisierten Gruppe resultiert also immer die Aufwertung derer, die ihr nicht angehören. Dabei müssen nicht-behinderte Menschen von dieser ungleichen Machtverteilung nicht einmal etwas merken. -ismen funktionieren in unserer Gesellschaft eben gerade so gut, weil sie von den wenigsten als solche wahrgenommen werden. Dabei ist Ableismus in uns allen, denn wir wachsen alle innerhalb dieser Strukturen auf und kennen einfach nichts anderes. Das heißt, wir sind alle ableistisch sozialisiert – auch ich als behinderte Frau. Daraus folgt schließlich, dass wir ableistische Denk- und Verhaltensweisen gar nicht mehr unbedingt als diese erkennen und somit auch keine Intention vorhanden sein muss, um Ableismus zu reproduzieren. Ich muss demnach nicht ableistisch sein wollen, um ableistisch zu sein.

Es ist also unerlässlich, von »Ableismus« zu sprechen, um das System dahinter deutlich zu machen. Immer nur von »Behindertenfeindlichkeit« zu sprechen, nur weil wir befürchten, dass unser Gegenüber den Begriff »Ableismus« nicht versteht, trägt lediglich dazu bei, dass er weiterhin nicht verstanden wird. Dabei ist es so wichtig, dass dieses Wort, das unsere Lebensrealität so maßgeblich beschreibt, endlich auch im Mainstream ankommt, sodass es irgendwann zum Vokabular eines jeden Menschen gehört. Und dies geschieht nur, wenn wir Ableismus immer und immer wieder benennen.

Der Begriff »Ableismus« leitet sich aus dem Englischen to be able