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Wie entwickelt sich Sexualität unter der Lebensbedingung von Behinderungen? Welchen Einfluss haben verschiedene körperlich/motorische oder kognitive Beeinträchtigungen oder Formen von Autismus in Kindheit und Jugend? Wie kann sexuelle Entwicklung auch nach traumatischen Erfahrungen gelingen? Die Autorin gibt in diesem Buch einen umfassenden Überblick über aktuelle Erkenntnisse und fachliche Diskussionen (z.B. Einfluss Neuer Medien, die Queer-Debatte) sowie entsprechende sexualpädagogische Konsequenzen. Dafür wird ihr Konzept einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik praxisnah erläutert. Individuelle Erkenntnisse, Anregungen für den pädagogischen Alltag sowie Entwicklungsmöglichkeiten für die Organisation erwarten den /die pädagogisch interessierte/n Leser/in.
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Seitenzahl: 474
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Dr. Barbara Ortland ist Professorin für Heilpädagogische Methodik und Intervention an der Katholischen Hochschule NRW in Münster
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2., überarbeitete und erweiterte Auflage 2020
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-031991-2
E-Book-Formate:
pdf: ISBN 978-3-17-031992-9
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mobi: ISBN 978-3-17-031994-3
Vorwort zur zweiten Auflage
1 Hinführung zu komplexen Zusammenhängen
1.1 Eine Annäherung an Sexualität
1.2 Eine relationale Sichtweise von Behinderung
1.3 Eine relationale Perspektive auf Sexualität, Behinderung und sexuelle Entwicklung
1.4 Verstehensansätze aus (Auto-)Biografien von Menschen mit Behinderung
2 Verstehenszugänge zu Sexualität
2.1 Definition von Sexualität
2.2 Sexualität als interdisziplinärer Forschungsgegenstand
2.3 Verstehenszugänge der Sexualmedizin
2.4 Verstehenszugänge der Psychologie
2.5 Verstehenszugänge der Soziologie
3 Sexuelle Entwicklung als Teil der Persönlichkeitsentwicklung
3.1 Sexuelle Entwicklung unter dem Identitätsaspekt
3.2 Sexuelle Entwicklung unter dem Beziehungsaspekt
3.3 Sexuelle Entwicklung unter dem Lustaspekt
3.4 Sexuelle Entwicklung unter dem Fruchtbarkeitsaspekt
3.5 Sexuelle Selbstbestimmung als Entwicklungsziel
3.6 Behindernde gesellschaftliche Einflüsse
3.7 Behindernde Faktoren der sexuellen Entwicklung
4 Sexuelle Entwicklung bei Kindern mit und ohne Behinderungen bis zur Pubertät
4.1 Erstes Lebensjahr
4.2 Zweites Lebensjahr
4.3 Drittes Lebensjahr
4.4 Viertes Lebensjahr
4.5 Fünftes Lebensjahr
4.6 Sechstes Lebensjahr
4.7 Die Latenzphase: Siebtes Lebensjahr bis Beginn der Pubertät
5 Sexuelle Entwicklung bei Jugendlichen mit und ohne Behinderungen
5.1 Sexuelle Entwicklung bei Jugendlichen allgemein
5.1.1 Entwicklungsaufgabe »Den Körper bewohnen lernen«
5.1.2 Entwicklungsaufgabe »Umgang mit Sexualität lernen«
5.1.3 Diversitätsmerkmal ›queer‹
5.1.4 Aktuelle Forschungsergebnisse
5.2 Sexuelle Entwicklung unter der Lebensbedingung (Körper-) Behinderung
5.2.1 Entwicklungsaufgabe »Den Körper bewohnen lernen«
5.2.2 Entwicklungsaufgabe »Umgang mit Sexualität lernen«
5.2.3 Die Bedeutung der Peers im sexuellen Erfahrungs- und Lernprozess
5.3 Sexuelle Entwicklung bei kognitiver Beeinträchtigung
5.4 Sexuelle Entwicklung unter der Perspektive Autismus
6 Sexuelle Entwicklung unter der Perspektive traumatischer Erfahrungen
6.1 Vielfältigkeit traumatischer Erfahrungen – Entwurf einer Typologie
6.1.1 Definition traumatischer Erfahrungen
6.1.2 Entwicklungstraumata – eine besondere Form der »Man-made-Traumata«
6.1.3 Traumata durch Behinderungserfahrungen
6.2 Mögliche Folgen traumatischer Lebenserfahrungen
6.2.1 Überblick über typische Traumafolgesymptome
6.2.2 Spezifische Folgen von Entwicklungstraumata
6.2.3 Komplexe Traumafolgesymptome als Folge chronischer Traumatisierung
6.2.4 Relevanz für die sexuelle Entwicklung
7 Zusammenfassende Begründung einer behinderungsspezifischen Sexualerziehung
7.1 Mögliche Einflüsse verschiedener Beeinträchtigungen
7.1.1 Körperlich-motorische Beeinträchtigungen
7.1.2 Kognitive Beeinträchtigungen
7.1.3 Beeinträchtigungen durch Autismus
7.1.4 Beeinträchtigungen durch Angewiesensein auf Pflege
7.2 Einflüsse durch Erwachsene in der Sexualerziehung
7.3. Einflüsse durch schulische Bedingungen für Sexualerziehung
7.4. Ausgewählte Forschungsergebnisse zur Situation an Förderschulen
7.4.1 Potentielle Besonderheiten der sexuellen Entwicklung
7.4.2 Realisierung von Pflege und körpernaher Förderung
7.4.3 Konzepte zur Intensivierung der sozialen Kontakte der Schülerinnen und Schüler
7.4.4 Inhalte der intentionalen Sexualerziehung
8 Sexualpädagogisches Konzept einer behinderungsspezifischen Sexualerziehung
8.1 Auseinandersetzung mit der eigenen sexuellen Biografie
8.2 Die Rolle der Eltern in der Sexualerziehung
8.3 Sexualpädagogische Grundlegung
8.4 Kompetente, integrierende Sexualpädagogik: ein Gesamtkonzept für die (schulische) Sexualerziehung
8.4.1 Kompetenzerweiterung auf Seiten der Mitarbeitenden
8.4.2 Fortbildungskonzept für ›unterstützendes Personal‹
8.4.3 Kompetenzerweiterung auf Seiten der Väter und Mütter
8.4.4 Behinderungsspezifisches Spiralcurriculum, Themenwahl und Unterrichtsgestaltung
8.4.5 Erkenntnisse der Erprobung des KiS-Konzeptes an zwei Förderschulen
9 Übergreifende Aspekte einer behinderungsspezifischen Sexualerziehung
9.1 Gestaltung einer traumasensiblen Sexualpädagogik
9.1.1 Grundlegende Aspekte einer traumasensiblen Pädagogik
9.1.2 Traumasensible Themen- und Methodenwahl
9.2 Sexualerziehung als Gestaltungsprinzip in körpernahen (Pflege-) Situationen
9.3 Sexualerziehung bei Menschen mit Komplexen Behinderungen
9.4 Sexualerziehung als Auseinandersetzung mit Behinderungserfahrungen
10 Schlusswort
Literaturverzeichnis
Auf der Grundlage meiner mittlerweile über zwei Jahrzehnte andauernden wissenschaftlichen Beschäftigung mit sexueller Entwicklung bei Menschen mit und ohne Behinderungen sowie den daraus resultierenden sexualpädagogischen und -andragogischen Konsequenzen ist diese Überarbeitung des Buches »Behinderung und Sexualität« entstanden.
Die Basis der Relationalität von Behinderungen und Sexualität ist mittlerweile unbestritten. Wie ich schon im Vorwort der ersten Auflage geschrieben habe, kann dies recht ›einfach‹ formuliert bedeuten: Müssten viele Menschen mit Behinderungen nicht mit der Negierung ihrer Sexualität, der Tabuisierung sexueller Themen, mangelnder Sexualerziehung, segregierenden gesellschaftlichen Tendenzen sowie Stigmatisierungen im alltäglichen Lebenskontext und noch vielen weiteren Erschwernissen von Aktivität und Teilhabe leben, so bräuchten wir keine ›behinderungsspezifische‹ Sexualpädagogik. Eine Sexualpädagogik der Vielfalt, wie z. B. Sielert (2015) sie fordert, die die Subjekte und deren individuelle Themen nicht nur in den Blick nimmt, sondern in den Mittelpunkt der Überlegungen stellt, würde ausreichen.
Es hat sich Vieles weiterentwickelt und demgemäß ist diese Neuauflage auch inhaltlich anders gestaltet worden.
Der Blick auf Sexualität und sexuelle Entwicklung wurde wissenschaftlich insgesamt breiter angelegt und dementsprechend fundierter erläutert und deutlicher in die Gesamtentwicklung des Menschen (nicht nur mit Behinderung) eingebettet. Grundlegend ist dafür der Blick auf das Spannungsfeld zwischen wissenchaftlichen Erkenntnissen und individuellen Erfahrungen (Kap. 1). Dieses Spannungsfeld ist nicht auflösbar, aber dem sexualpädagogischen Handeln inhärent und deshalb bedeutsam für die Analyse des Themas. Die Erkenntnisse des ersten Kapitels können wie eine Brille genutzt werden, durch die das weitere Buch gelesen wird.
Weiterhin war es ein besonderes Anliegen zu verdeutlichen, dass der eingenommene (wissenschaftliche) Blickwinkel auf Sexualität die möglichen (oder nicht möglichen) Erkenntnisse bestimmt. So stellt z. B. die Sexualmedizin andere Fragen und bekommt demgemäß andere Antworten als bspw. die Soziologie. Man kann es sich vorstellen wie verschiedene Taschenlampen, mit denen man einen Gegenstand aus verschiedenen Blickwinkeln anleuchtet: Nie ist alles komplett sichtbar. Nur Ausschnitte oder eine bestimmte Seite des Gegenstandes sind beleuchtet und deshalb mit Konturen erkennbar. Jede Disziplin stellt ihre fachspezifischen Fragen und bekommt demgemäß ihre fachspezifischen Antworten. Deshalb braucht es den interdisziplinären Blick. In Kapitel 2 (Kap. 2) werden verschiedene Erkenntniswege ausgewählter Disziplinen benannt und in Kapitel 3 (Kap. 3) in der Struktur der verschiedenen Sinnaspekte von Sexualität inhaltlich breiter ausgeführt. Auf dieser inhaltlichen Grundlage werden dann nachfolgend sexuelle Entwicklung mit verschiedenen Einflussfaktoren (Kap. 4, 5, 6) und sexualpädagogische Konsequenzen (Kap. 7, 8, 9) entfaltet.
In Bezug auf die sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit verschiedenen Behinderungen ist der Blick (im Gegensatz zur ersten Auflage) vielfältiger auf verschiedene mögliche Einflüsse motorischer, kognitiver, sozialer und emotionaler Entwicklungsprozesse geworden. Diese fließen in die Beschreibungen des Kindesalters in die, nach Lebensjahren differenzierten, Ausführungen jeweils ein (Kap. 4). Für das Jugendalter (Kap. 5) werden die allgemeinen Ausführungen zu sexueller Entwicklung unter verschiedenen Perspektiven von Beeinträchtigungen differenzierter erläutert. Es werden jeweils auf der Grundlage allgemeiner sexueller Entwicklung mögliche Veränderungen bei Kindern bzw. Jugendlichen mit verschiedenen Formen von Behinderungen dargestellt.
Alle Ausführungen sind Einladungen, die eigene Sensibilität in Blick auf vielfältige Begleitungsbedarfe der Kinder und Jugendlichen und Ideen für ›passende sexualpädagogische Antworten‹ zu erweitern.
Besonders am Herzen lag mir für diese Neuauflage die Erweiterung um traumaspezifisches Wissen (Kap. 6), denn es müssen für viele Menschen mit Behinderungen – oft unerkannte – traumatische Erfahrungen z. B. durch Gewalt in ihrem Leben angenommen werden. Der Blick für diese Erschwernisse muss bei allen begleitenden Erwachsenen geschärft werden. Das Thema ›Trauma‹ wird deshalb sowohl sehr grundlegend ausgeführt, um bei den Kindern und Jugendlichen mögliche Traumafolgesymptome im Verhalten zu erkennen, als auch spezifisch auf sexuelle Entwicklung und sexualpädagogische Konsequenzen ausdifferenziert. Hier gilt mein großer Dank Frau Ann-Kathrin Scholten, die mich durch die Anfertigung dieser Kapitel sehr fachkompetent unterstützt hat.
Wird die psychische Not der betroffenen Kinder und Jugendlichen nicht erkannt und diese nicht traumasensibel begleitet, haben sie keine Chance, den Folgen des erlebten Traumas zu entkommen.
Das Aufdecken des Ausmaßes sexueller Gewalt, das Kinder und Jugendliche mit und ohne Behinderungen erleben, muss uns als Erwachsene höchst aufmerksam sein lassen, um diese Gefahr zu minimieren, aber vor allem die betroffenen Kinder professionell und gut zu begleiten. Die Prävention sexueller Gewalt in pädagogischen Institutionen ist ein eigenes, sehr komplexes Thema, zu dem mittlerweile viele hilfreiche und differenzierte Publikationen vorliegen. Mitarbeitende in Organisationen sind aufgefordert, anzuerkennen, dass (sexuelle) Gewalt auch bei ihnen vorkommt und sie deswegen zum Schutz der Kinder und Jugendlichen aktiv werden müssen.
Sexualerziehung ist ein kleiner, wenngleich bedeutsamer Baustein der Präventionsarbeit. Prävention gegen (sexuelle) Gewalt muss allerdings viel umfassender und breiter angelegt sein.
Eine gelingende Sexualerziehung beginnt beim erziehenden Erwachsenen und der Fähigkeit, eigene Vorurteile abzubauen, eigenes behinderndes Verhalten zu erkennen und Sexualität zu einem ›alltäglichen‹ Thema zu machen, ohne sie ihrer Individualität, ihrer Intimität oder ihres Zaubers zu berauben.
In den Kapiteln 7 bis 9 (Kap. 7–9) wird es um verschiedene Aspeke einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik gehen. In Kapitel 7 (Kap. 7) werden zusammenfassend zu den Kapiteln 4 und 5 die möglichen Veränderungen sexueller Entwicklung benannt und schulische Bedingungen beschrieben. In Kapitel 8 (Kap. 8) wird das Konzept der behinderungsspezifischen Sexualpädagogik entfaltet (KiS – kompetente, integrierende Sexualpädagogik), um es dann in Kapitel 9 (Kap. 9) auf ausgewählte Aspekte wie z. B. eine traumasensible Sexualpädagogik zu fokussieren.
In diesem Buch, das sich vorrangig an (auch angehende) Lehrkräfte, weitere pädagogische Fachkräfte, aber ebenso an Eltern von Menschen mit Behinderungen richtet, soll auf der Grundlage des genannten relationalen Verständnisses von Behinderung ein möglichst breites Wissen um potentielle andere Erfahrungen in der sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit verschiedenen Behinderungen vermittelt werden.
Gleichzeitig geben die praxisorientierten sexualpädagogischen Überlegungen einen Eindruck von der Komplexität sexualerzieherischen Handelns und fordern eine eigene Positionierung heraus.
Ein sehr herzlicher Dank gilt schließlich noch meinen Kollegen Prof. Dr. Heinrich Greving (KatHO Münster) und Simon Baumann (TU Dortmund), die durch ihren kritisch-konstruktiven Blick dem Buch ›den letzten Schliff‹ gegeben haben, sowie Ann-Kathrin Scholten, die mich bei der Erstellung der vielen Abbildungen sehr kompetent und zuverlässig unterstützt hat.
Münster 2019
Barbara Ortland
Der Begriff der Sexualität weckt bei jedem Menschen sehr unterschiedliche Assoziationen. Je nach Alter, Geschlecht, sexueller Orientierung, subjektiv empfundener Attraktivität, verschiedenen biografischen Erfahrungen und vielen anderen möglichen individuell bedeutsamen Einfluss- und Kontextfaktoren ist Sexualität als Wort und Lebensbereich unterschiedlich konnotiert und mit verschiedensten Bewertungen unterlegt. Bei vielen Menschen handelt es sich bei Sexualität um ein komplexes Lebensthema, das von unterschiedlichster Präsenz und Gewichtung in verschiedenen Lebensphasen ist.
Menschliches Leben scheint untrennbar mit einer (höchst unterschiedlichen) Auseinandersetzung mit Sexualität verbunden und trotzdem ist es nicht leicht, über das Thema der Sexualität in einen Austausch zu kommen. Schon gar nicht scheint es leicht, in einen sprachlichen Austausch zu kommen, den beide/alle Beteiligten als angenehm und förderlich erleben.
Vielleicht kommen hier dem Leser oder der Leserin Assoziationen zu sogenannten Aufklärungsgesprächen in den Kopf, die man entweder selbst als Kind oder Jugendlicher mit Vater oder Mutter erlebt oder mit dem eigenen Sohn oder der eigenen Tochter geführt hat. Wie anders werden in der Regel Gespräche mit den sogenannten Gleichgesinnten (Peers), vor allem im Jugendalter, erlebt.
Unterschiedlichste Kommunikationserfahrungen gibt es sicherlich auch im Bereich der (Un-) Zufriedenheitsäußerungen in einer sexuellen Partnerschaft. Nicht immer ist es leicht, über eigene sexuelle Wünsche und Bedürfnisse Auskunft zu geben und sich verstanden und/oder angenommen zu fühlen.
Vorsorgeuntersuchungen im Bereich der Sexualorgane gehören in der Regel zu eher unbeliebten Arztbesuchen. Schambesetzt scheint auch im ärztlichen Kontext das Gespräch z. B. über Störungen der Sexualfunktion.
Deshalb kann in einem ersten Schritt für den Privatbereich zusammengefasst werden: Der Lebensbereich der Sexualität
• ist schwer zu fassen, da dieser hochindividuell und von biografisch großer Variabilität ist;
• ist schwer in Gesprächen zu beschreiben, da diese oft schambesetzt und eher ›ungeübt‹ sind;
• ist schwer konsensuell in Worte zu kleiden, da Angemessenheit und Eindeutigkeit von Sprache unterschiedlich beurteilt werden;
• und ist somit insgesamt für den Privatbereich als komplex zu bezeichnen.
Während sich die bisherigen Ausführungen auf ein Verständnis von Sexualität in einem (beschränkten) privaten Setting bezogen, in dem es vorrangig darum geht, einen inhaltlichen Konsens oder eine gleichberechtigte Passung mit wenigen (vertrauten) Personen herzustellen, so steht die wissenschaftliche Auseinandersetzung vor ganz anderen Herausforderungen. Zu einem wissenschaftlichen und hier vor allem empirischen Auftrag gehört, Sexualität forschend zu erfassen und dafür zu operationalisieren. Forschungsvorhaben in diesem Bereich bringen die Forscherin schnell an sprachliche Grenzen der Erfassung und Konkretisierung von Erfahrungen und der Eindeutigkeit von Mitteilungen.
Der Anspruch von Wissenschaft an Klarheit in der Benennung und Abgrenzbarkeit des Untersuchungsgegenstandes ist für den Bereich der Sexualität nicht oder nur mit inhaltlich hohen Verlusten einlösbar, wie das Beispiel von Kinsey (1954/1955) noch zeigen wird. Zu individuell ist sexuelles Erleben und zu uneindeutig sind unsere sprachlichen Möglichkeiten, als dass eine differenzierte Erfassung dieses Lebensbereiches möglich wäre. Etliche Autoren/innen, Wissenschaftler/innen verschiedenster Disziplinen haben sich daran versucht, diesen Lebensbereich für die Forschung klar und eindeutig zu erfassen, und bislang liegt kein zufriedenstellendes Ergebnis vor (vgl. Aigner 2013, 24f).
So ist eher kritisch zu hinterfragen, ob nicht Kinsey (1955) mit seiner Engführung von Sexualität auf Verhalten, das im Orgasmus mündet, der weiteren Diskussion um Sexualität die (nur schwer im Diskurs aufzulösende oder abzuschwächende) genitale Fixierung brachte. Lautmann (2002) erläutert dies als für den forschenden Kinsey durchaus nachvollziehbar:
»Für den Biologen war das ein ordentliches Kriterium und für seine quantitativen Erhebungen allemal praktisch, weil sehr eindeutig. (…) Kontakte, die nicht zum Orgasmus führen, vernachlässigt Kinsey: ›Diese emotionalen Situationen sind aber von solch unterschiedlicher und veränderter Intensität, dass es schwer ist, sie abzuschätzen und zu vergleichen.‹ Dahinter steht offensichtlich ein viel weiterer Sexualbegriff, der aber nicht expliziert wird und aus forschungsökonomischen Gründen unbeachtet bleibt« (ebd. 23).
Verstärkt wurde diese große Beachtung genitaler Orgasmen sicherlich auch durch die dann nachfolgenden umfangreichen Forschungsvorhaben von Master und Johnson (1967): »Am bekanntesten dürfte wohl die Erforschung des sexuellen Reaktionszyklus sein, den sie in ein Vier-Stufen-Modell von Erregungs-, Plateau-, Orgasmus- und Rückbildungsphase unterteilten« (Aigner, 2013, 22).
So kann an dieser Stelle ergänzend zusammengefasst werden:
• Es wird im weiteren Fortlauf der wissenschaftlichen Auseinandersetzung noch eine differenzierte Begriffsdiskussion bzw. eine Explikation des (in diesem Buch leitenden) Verständnisses von Sexualität benötigt.
• Dies muss unweigerlich in interdisziplinärer Form geschehen, da nur eine wissenschaftliche Disziplin allein nicht genügend Erkenntnisgewinn für das Phänomen der Sexualität bereithält.
• Sexualität ist ein komplexes multidisziplinäres Spannungsfeld, in dem jeder Versuch, dieses Spannungsfeld allgemein und übergreifend zu fassen, zu konkretisieren oder zu beschreiben mit dem Verlust an Vielfältigkeit und Komplexität einhergeht.
Aigner (2013) formuliert diesen Versuch, die Komplexität von Sexualität in seinem Buch im Blick zu behalten, folgendermaßen:
»Es (das Buch, Anm. B.O.) soll deutlich machen, dass Sexualität so vielfältig in unser Leben verstrickt ist, dass wir bei ihrer Erforschung immer ein breites Spektrum von Äußerungsformen im Auge haben müssen, um nicht der Gefahr zu erliegen, Sexualität tatsächlich in entfremdeter Form aus den bekannten Lebenszusammenhängen herauszureißen und zu isolieren« (ebd. 11).
Ein Bild soll helfen, das Beschriebene noch einmal mit anderen Worten zu verdeutlichen, um daran zu explizieren, wie mit der Mehrdeutigkeit und Vielfältigkeit von Sexualität in den weiteren Ausführungen umgegangen wird.
Man stelle sich vor: zwei Berge, dazwischen ein Tal mit einem Weg. Die Berge sind jeweils scheinbar sichere/eindeutige Erkenntnisorte. Durch das Tal führt ein Weg mit jeweils der Möglichkeit nach rechts oder links auf die jeweiligen Berge zu gehen.
Der eine Berg symbolisiert die fassbar gemachte Sexualität – beschreibbar, forschungsmethodisch klar benenn- und zählbar. So wie es Kinsey vorgenommen hat: Sexualität ist für ihn genitale Sexualität gewesen, die in einem Orgasmus mündet. So war Sexualität quantitativ fassbar. Der Preis auf diesem Berg: Nur ein kleiner Teil der Vielfältigkeit von Sexualität kann betrachtet werden. Über diesen sind aber verallgemeinerbare, forschungsbasiert legitimierte Aussagen möglich.
Der andere Berg symbolisiert etwas anderes: Steht man hier, sieht man die enorme Vielfältigkeit sexuellen Erlebens, dessen hohe Individualität und Variabilität, die biographische Veränderbarkeit sowie kulturelle Einflüsse. Man ist überwältigt und weiß, dass all diese hier deutlich werdenden vielfältigen Aspekte nicht erfassbar und dennoch alle wichtig sind und im Blick behalten werden sollen. Der Preis ist die Unmöglichkeit verallgemeinerbarer Aussagen. Der Blick bleibt eng und nah beim individuellen Erleben.
Das Besteigen jeweils nur eines Berges ist mit Einseitigkeit verbunden. Beide Wegentscheidungen haben ihre Schwächen.
Also befindet man sich bzw. befinde ich mich als Autorin dieses Buches bei der wissenschaftlichen Betrachtung von Sexualität in einem unauflösbaren Spannungsfeld. Ich werde dieses Spannungsfeld zu halten versuchen, indem ich den Weg im Tal zwischen den Bergen wähle und mal den einen und mal den anderen Berg ein Stück besteige, um so Erkenntnisse zu generieren. So wird beispielsweise durch den Blick auf Sexualität aus verschiedenen Disziplinen (Medizin, Soziologie, Psychologie, Pädagogik) versucht, den notwendigen Anspruch der Interdisziplinarität teilweise einzulösen. Der Einbezug verschiedenster autobiografischer Texte bringt wiederum individuelles Erleben in den Fokus. Die Verbindung allgemeiner Aussagen zur sexuellen Entwicklung reduziert die Komplexität individueller Entwicklungsverläufe, um dem Leser und der Leserin aber trotzdem eine Idee von möglichen Entwicklungsschritten und Zonen der jeweils nächsten Entwicklung zu geben. Forschungsergebnisse ergänzen das zu zeichnende Bild und müssen natürlich immer in der Begrenztheit ihrer Aussagekraft gesehen werden.
An keiner Stelle soll es im Folgenden um Normierungen von Entwicklungsverläufen gehen oder um Aussagen über richtige oder falsche Sexualität. Dies wird an späterer Stelle noch einmal differenzierter erläutert.
Abb. 1: Spannungsfeld zwischen wissenschaftlich erfassbarer und subjektiv erzählbarer Sexualität
Ein vergleichbares Spannungsfeld und komplexes Themenfeld findet sich bei der Betrachtung von Behinderungen. Auch hier gibt es auf der einen Seite die rein subjektiven Behinderungserfahrungen in einer gelebten einmaligen und unverwechselbaren Biografie. Gleichzeitig gibt es auf der anderen Seite die wissenschaftlichen Versuche der Operationalisierung und Erhebung vergleichbar erscheinender Erfahrungen und Situationen, um daraus abgeleitet erklärende Theorien zu generieren und (pädagogisches) Handeln zu begründen. Auch hier hat jede Seite in ihrer alleinigen Perspektive Verluste und es gilt, sich im Folgenden in diesem Spannungsfeld zu bewegen. Den Ausführungen in diesem Buch liegt ein bestimmtes Verständnis von Behinderungen zugrunde, das nun erläutert werden soll.
Behinderung wird aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive als eine Relation verstanden, und zwar als eine Relation zwischen der als behindert bezeichneten Person und ihrer Umwelt (vgl. Walthes 2003, Leyendecker 2005, Ortland 2005a, 2006a, 2007a). Diese relationale Auffassung von Behinderung hat Walthes in folgender Definition zum Ausdruck gebracht: »Behinderung ist der nicht gelungene Umgang mit Verschiedenheit« (Walthes 2003, 49).
Beeinträchtigungen der Körperfunktionen oder -strukturen durch Gesundheitsprobleme z. B. in Form von Infantiler Cerebralparese, Spina bifida, Muskeldystrophie o. Ä., sind demnach Bedingungen, die ein Mensch in eine Situation einbringt. Ob der Umgang mit diesen Bedingungen (z. B. veränderter Muskeltonus, sensible Ausfälle) positiv verläuft, ist abhängig von den an der Situation Beteiligten und den Kontextfaktoren. Alle Akteure und Akteurinnen sind für das Gelingen oder Misslingen der Kommunikations- und Interaktionsprozesse verantwortlich.
Beispielsweise ist das Merkmal stark eingeschränkter und schwer/kaum verständlicher Lautsprache (hier: Dsyarthrie), das häufig in Verbindung mit einer Infantilen Cerebralparese auftritt und eine zentral bedingte Störung der Koordination des Sprechvollzugs bedeutet, an sich noch keine Behinderung. Diese Beeinträchtigung der Verbalsprache wird dann zu einer Behinderung, wenn sich die beteiligten Gesprächspartner – trotz eines gut auf den Nutzer und seine Bedarfe abgestimmten multimodalen Kommunikationssystems im Bereich der Unterstützten Kommunikation – auf diese Form der Kommunikation nicht einlassen (Anpassungsleistungen) und nur Lautsprache als ›richtig‹ bewerten (Bewertungsprozesse). Das ›Problem‹ der nicht gelingenden Kommunikation haben in diesem Fall alle Beteiligten (es kann kein gemeinsames Gespräch stattfinden), wenngleich es sicherlich für den Menschen mit Dysarthrie wesentlich gravierendere Auswirkungen hat (da er immer auf die Anpassungsleistungen der Gesprächspartnerinnen und deren Offenheit für Unterstützte Kommunikation angewiesen ist). Eine Änderung des ›Problems‹ und damit die Eröffnung von Teilhabemöglichkeiten kann allerdings im Fall von Menschen ohne verständliche Lautsprache vorrangig von den Menschen ohne Behinderung, aufgrund deren variableren Kommunikationsmöglichkeiten, vorgenommen werden.
Vergleichbar für den Bereich der Sexualität ergibt sich aus einer Schädigung der Körperfunktionen und -strukturen (Ebene 1 der ICF; vgl. Grampp 2018), z. B. in Form einer Querschnittlähmung, nicht automatisch eine ›behinderte Sexualität‹. Sicherlich haben ein Mann oder eine Frau durch eine Querschnittlähmung – je nach Höhe der Läsion – durch die motorischen oder sensiblen Ausfallerscheinungen im Genitalbereich andere Voraussetzungen, um Genitalsexualität zu leben. Sie können aber mit diesen körperlichen Voraussetzungen zu einer individuellen und subjektiv höchst befriedigenden und für eine Partnerschaft erfüllenden Sexualität finden (Ebenen der Aktivität und Teilhabe der ICF). Das Gelingen oder Misslingen von (genitaler) Sexualität bestimmen die Beteiligten. Es ist in erster Linie ihre Fähigkeit, mit Verschiedenheit in den Aktivitätsmöglichkeiten umzugehen und diese für alle gelingend in die eigene gelebte Sexualität zu integrieren.
Gerade in Bezug auf die oft angenommene hohe Relevanz der Intaktheit der Sexualorgane für eine befriedigende und gelingende Sexualität und damit eine glückliche Partnerschaft lohnt sich in Bezug auf das oben genannte Beispiel ein umgekehrter und überspitzt formulierter Blick: Nähme man an, dass das Unvermögen in Bezug auf genitale Sexualität (hier durch eine Querschnittlähmung) ein Hindernis für befriedigende Sexualität und damit glückliche Partnerschaft sei, so müssten doch im Umkehrschluss alle Paare, die intakte Sexualorgane haben, genital befriedigende Sexualität und damit eine glückliche Partnerschaft leben können…!
Nicht zu unterschätzen in deren (oft negativer) Wirkung sind die Bewertungsprozesse, die Menschen mit Behinderung durch andere Menschen erleben (Ebene der Umweltfaktoren der ICF). So können auch unbekannte Menschen – eine anonyme Öffentlichkeit – für Beziehungen, z. B. zwischen Menschen mit und ohne Behinderung, eine starke Herausforderung darstellen. Aguayo-Krauthausen (2014), ein Mann mit Glasknochen, beschreibt dies für seine Beziehung zu einer Frau ohne Behinderung und deutlich größerer Körperlänge als die seine:
»Wir nahmen einen dritten Anlauf (für die Beziehung, Anm. B.O.). Vergeblich. Fünf Wochen später war es wieder so weit. Yvonne machte abermals Schluss. So schwer es mir fiel, doch ich bat darum, diesmal bei dieser Entscheidung zu bleiben, Ich sah keine Lösung für uns beide. Weder die bewusste Provokation (in der Öffentlichkeit, Anm. B.O.) noch uns als ›Freunde‹ auszugeben hatte uns weitergebracht. Gut angefühlt hatte es sich für mich nur, wenn wir uns auch in der Öffentlichkeit als Paar zeigten. Dann aber waren wir am verwundbarsten, und genau das hatte vor allem Yvonne überfordert. So wenig sie das Angestarrtwerden aushalten konnte, so wenig konnte ich mich verbiegen. Ich hatte es versucht, doch sehr darunter gelitten, uns zu verleugnen. Das war nicht mehr ich, und am Ende hatte mich das emotionale Auf und Ab wahnsinnig viel Kraft gekostet. (…)
Ich hatte Yvonne geliebt, liebte sie immer noch – doch es gab da auch diese Fragen: Wie weit kann ich auf den Partner zugehen, wo verläuft die Grenze zur Selbstaufgabe? Wann ist der Moment da, die Reißleine zu ziehen? Aus heutiger Perspektive würde ich sagen: Jeder muss dies für sich beantworten. Ich glaube nicht, dass es falsch war, Yvonne gehen zu lassen. Bedauert habe ich, dass wir nicht mehr Zeit hatten, wobei ich ihr auch nicht hätte sagen können, ob sie sich an die Blicke gewöhnt hätte. Mich auf sie einzulassen, habe ich keine Sekunde bereut und möchte die gut fünf Monate, die wir zusammen waren, nicht missen. Sie hatten mir gezeigt, dass meine Behinderung nicht, wie damals bei Pia befürchtet, eine Beziehung unmöglich macht. Durch Yvonne habe ich erfahren, dass ich geliebt werden kann« (ebd. 236).
Ob also ein Merkmal einer Person als Behinderung erfahren wird oder nicht, hängt von den Bewertungsprozessen und Anpassungsleistungen aller sozialen Partnerinnen und Partner in der Situation sowie den entsprechenden Kontextfaktoren ab. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass je ungewohnter ein solches Merkmal ist, wie z. B. bei einer schwersten, mehrfachen Schädigung, die Anpassungsleistungen umso größer sein müssen. Damit ist auch die Gefahr potenziert, dass die ›veränderten‹ Körperfunktionen und -strukturen in der Interaktion als Behinderung erlebt wird.
Diese relationale Auffassung von Behinderung findet sich ebenso in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF, Grampp 2018), in der drei Ebenen unterschieden werden. Entsprechende Hinweise sind bereits in den Text aufgenommen worden.
Mittlerweile liegt die ICF in einer Version für Kinder und Jugendliche vor: die ICF-CY (Hollenweger/Kraus de Camargo 2013). Sie ist von der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit abgeleitet und »wurde entworfen, um die Besonderheiten des sich entwickelnden Kindes und den Einfluss seiner Umwelt aufzuzeichnen« (Hollenweger/Kraus de Camargo 2013, 9). Hier finden die Kontextfaktoren für die Entwicklung von Kindern und Jugendlichen eine besondere Berücksichtigung. Für diese Zielgruppe ist ein gelingender Umgang mit Verschiedenheit als positive Entwicklungsbedingung zentral.
Sexualität und Behinderung sind zwei Themen, denen – wie aufgezeigt wurde – Spannungsfelder inhärent sind. Für beide Themen gilt, dass Mythen eine offene Diskussion und fachliche Auseinandersetzung erschweren. Unrealistische Mythen in Bezug auf Sexualität beeinflussen nach Kossat (2018, 9) »Lust und Erregung vieler Menschen negativ«. Die nachfolgende Abbildung gibt einen Überblick über die Vielfältigkeit dieser Mythen, die sich auch zum Teil mit den Mythen in Verbindung bringen lassen, die den Bereich der Sexualität von Menschen mit (vorrangig kognitiver) Beeinträchtigung immer noch beeinflussen. Dies trifft auf die unterstellte Triebhaftigkeit und die enge Verbindung von Körperkontakt und nachfolgendem Sex zu.
Abb. 2: Sexualmythen (Kossat 2018, 9)
Ebenso lassen sich für Menschen mit Behinderung – und hier vor allem kognitiver Beeinträchtigung – etliche hinderliche Mythen benennen. Zunächst von Walter (2002) benannt, dann von Mattke (2004) erneut in ihrer Wirkmächtigkeit dargelegt, wurden zentrale (überdauernde) Mythen gegenüber Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen als immer noch wirkmächtig in Strafverfahren zu sexueller Gewalt durch eine qualitative Analyse der Strafprozessakten identifiziert (vgl. Krüger et al. 2014). In den analysierten 57 Akten aus zwei Schweizer Kantonen ließen sich alle überprüften Mythen finden: sowohl die Annahme, dass Unattraktivität vor sexueller Gewalt schütze, Menschen mit geistiger Behinderung triebhaft seien und ihr sexuelles Verhalten triebgesteuert. Ebenso galt auch der Mythos der Asexualität und dass die betroffenen Menschen den Missbrauch aufgrund der Behinderung gar nicht wahrnähmen. Schließlich wurde unterstellt, dass Menschen mit kognitiver Beeinträchtigung durch ihr distanzloses Verhalten die sexuelle Gewalt praktisch produziert hätten.
Die Autorinnen stellen weiterhin in der Analyse fest:
»Wichtig erscheint zudem der Befund, dass nicht allein Personen diese Mythen bedienen, die keine oder wenig Erfahrung im Umgang mit intellektuell beeinträchtigten Menschen haben, sondern auch solche, die privat oder beruflich häufig mit ihnen Kontakt haben. Auch dies spricht für die Stärke und Hartnäckigkeit jener falschen Überzeugungen« (ebd. 134).
In den Ausführungen dieses Buches soll (ohne Reproduktion der hinderlichen Mythen) versucht werden, die gegenseitigen Einflüsse der Themenfelder Behinderung und Sexualität aufeinander in den Blick zu nehmen. Dies wird nur in Teilen möglich sein, da an vielen Stellen Begrenzungen liegen bzw. Begrenzungen vorgenommen werden müssen. Begrenzungen liegen vorrangig in der sprachlich genauen Fassbarkeit der beiden Themenfelder. Begrenzungen mussten für einen akzeptablen Buchumfang in der Entscheidung für bzw. gegen bestimmte fachliche Diskussionen und Ergebnisse vorgenommen werden.
Doch es stellt sich zunächst folgende Frage: Gibt es etwas Verbindendes zwischen den Themenfeldern der Behinderungen und der Sexualitäten, das dieses Buch rechtfertigt? Und wenn ja: Worin liegt das Verbindende der beiden Themenfelder? Oder anders formuliert: Muss bei Menschen mit Behinderungen zwangsläufig die Frage nach deren (als durch die Behinderung besonders bzw. behindert angenommenen) Sexualität gestellt werden? Wer stellt diese Frage aus welcher Perspektive? Fragen Menschen mit Behinderungen nach Wissenswertem zu ihrer Sexualität? Oder fragen Menschen ohne Behinderungen zur Sexualität dieser so anders scheinenden ›Gruppe‹? Sind Menschen mit Behinderungen überhaupt eine Gruppe? Gibt es hier einen Kausalzusammenhang, der eine zwingende Auswirkung von Behinderungen (ab welchem ›Schweregrad‹?) auf den Lebensbereich der Sexualität postuliert? Oder ist dies ein konstruierter Zusammenhang, der eher an den mangelnden Vorstellungsfähigkeiten sogenannter Menschen ohne Behinderungen liegt (wenn sie die Fragenden sind) oder sogar an deren voyeuristischen Tendenzen, sich mit Fragen von Sexualität bei Behinderungen (wie geht das denn?) zu beschäftigen?
Hinderlich scheint die negative Bewertung von Behinderungen als Abweichung von der Norm zu sein. Trescher und Börner (2014) sehen das »Diktat eines medizinisch-naturwissenschaftlichen dominierten Begriffs von Behinderung« (ebd., o. S.) als den entscheidenden Faktor für diese negative Bewertung von Behinderungen, die den Ausschluss der Menschen legitimiert. Sie problematisieren weiterhin:
»Praxiskonzepte, die eine explizite oder implizite Aufrechterhaltung der Differenzkategorie ›geistige Behinderung‹ und damit eine Unterscheidung zwischen ›Sexualität‹ einerseits und ›Sexualität bei geistiger Behinderung‹ andererseits beinhalten, tragen insofern dazu bei, dass ›geistige Behinderung‹ und die damit einhergehende ›Behinderung der Sexualität‹ reproduziert wird« (ebd., o. S.).
Oder sollte man der Argumentation von Zinsmeister und Vogel (2018, 18) folgen, die schreiben:
»Bestätigung findet der Vorwurf der Individualisierung und Pathologisierung (der Sexualität von Menschen mit Behinderung, Anm. B.O.) auch im Diskurs zur sexuellen Selbstbestimmung in Hinblick auf die verflochtenen Kategorien Behinderung und Sexualität. Das Narrativ einer abweichenden psychosexuellen Entwicklung wird genutzt, um die Sexualität von Menschen mit Behinderung als besonders und andersartig zu markieren und zu reglementieren. Die medizinisch feststellbare intellektuelle Beeinträchtigung bietet hier den Begründungszusammenhang« (ebd.).
Zinsmeister und Vogel argumentieren weiterhin, dass auf Grundlage der als sexuell besonders angenommenen Entwicklung dann sexualpädagogische Konsequenzen formuliert werden. Diese bezeichnen sie als »gesonderte Behandlung in Form einer konzeptionell auf geistig behinderte Menschen ausgerichteten Sexualpädagogik« und postulieren, dass damit die »Anormalität von Behinderung fortgeschrieben« würde (ebd. 18).
Um noch einmal das Bild der Berge aufzugreifen: Sind die Fragen nach Zusammenhängen von Behinderung und Sexualität und Ausmaßen bzw. Formen der gegenseitigen Beeinflussungen Fragen, die nur auf den ›Berg‹ mit den individuellen Perspektiven gehören bzw. nur dort angemessen sind (da sie höchst subjektiv sind)? Und aus wissenschaftlicher Perspektive ist es unangemessen, da es vielleicht gar nicht nachvollziehbar und allgemein begründbar ist, diesen Zusammenhang zu postulieren und aus der wissenschaftlichen Außenperspektive zu prüfen?
Und muss nicht weiterhin genau überlegt werden, wer berechtigt erscheint, Fragen nach Zusammenhängen von Sexualität und Behinderung zu stellen? Sind es die Forscherinnen und Forscher mit Behinderung, die als Vertreter und Vertreterinnen der Disability Studies hier eine notwendige und besondere Expertise haben (vgl. Waldschmidt/Schneider 2007)? Oder sollte eine andere Differenzkategorie leitend sein? Nach Jennessen (2016a) gehören sowohl Behinderung und Alter als auch Gender zu den Diversity-Dimensionen der Diversity Studies. Welche Differenzkategorie ist bei dem Spannungsverhältnis Behinderung und Sexualität leitend oder vorrangig in den Blick zu nehmen? Oder sollten es mehrere sein?
Der in diesem Buch vorgenommene Versuch, die Komplexität des gewählten Themenbereiches möglichst wissenschaftlich differenziert zu erfassen, ist ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Zu sehr ist Sexualität in individuelle Biografien vor dem Hintergrund kultureller Gegebenheiten und gesellschaftlicher Konstruktionen verflochten. Es begegnen sich gesellschaftliche Konstruktionen von Behinderung, Geschlecht, Sexualitäten und der Versuch, Grundlagen für sexualpädagogische Begleitung von Kindern und Jugendlichen zu schaffen. Es widersprechen sich die notwendigerweise, aus wissenschaftlicher Perspektive vorzunehmende, Dekonstruktion von Behinderung, Geschlecht und Sexualitäten bzw. die anzustrebende differenzierte Analyse von Konstruktionsprozessen und der Versuch, handlungsleitende Hinweise zur Sexualerziehung zu geben. Alle Engführungen und Fokussierungen vernachlässigen dann wiederum andere Aspekte und werden den Menschen, um die es geht, in ihren je spezifischen Situationen nicht gerecht.
Vielleicht liegt hier eine Antwort: Hartmann (2017) formuliert in ihren Ausführungen zu sexueller Diversität: »Der Umgang mit Differenz erweist sich als Aporie« (ebd. 71) – also als eine Unmöglichkeit, in Bezug auf das aufgezeigte Spannungsfeld Sexualität und Behinderungen eine ›richtige Entscheidung‹ zu treffen oder auch die passenden Begriffe, Ausführungen etc. zu finden. Sie formuliert weiter:
»Es gilt ebenso, Differenzen in ihrer für Individuen wie Gesellschaft relevanter Funktion wahrzunehmen und sich für deren Anerkennung einzusetzen, wie zu versuchen, sie als sozio-kulturelle Effekte zu dekonstruieren« (ebd. 71).
Nimmt man den Gedanken von Hartmann auf, so hat dieses aufgemachte Spannungsfeld zunächst eine relvante Funktion. Für dieses Buch könnte es die Funktion haben, eindeutige Antworten auf den Zusammenhang von Sexualität und Behinderung zu verhindern. Denn: Eindeutige oder klare Antworten zur gegenseitigen Beeinflussung von Sexualität und Behinderungen würden möglicherweise zu ›klaren Handlungsideen‹ in Bezug auf Sexualerziehung führen. Sie würden wahrscheinlich zu eher ›negativen Zuschreibungen‹ einer ›besonderen Sexualität‹ führen. Damit wäre die Gefahr vorhanden, dass Kinder und Jugendliche nicht mehr in ihren sehr individuellen sexualpädagogischen Bedarfen gesehen werden und Zuschreibungsprozessen, gegen die sie sich nicht ›wehren‹ können, ausgesetzt sind.
So konnte z. B. Langner (2009) in Bezug auf das Leben mit Behinderungen in ihren Fallrekonstruktionen bei Jugendlichen mit geistiger Behinderung herausarbeiten, »dass das Behindertwerden ein Ergebnis des Vergleichs mit anderen, durch andere und von Differenzierungspraktiken durch andere – Nicht-Behinderte – ist« (ebd. 244). Daraus ergibt sich die kritische Anfrage, ob die hier im Buch vorgelegten Ausführungen zu Sexualität und Behinderungen nicht als eine ebensolche Differenzierungspraktik verstanden werden, die zu mehr »Behindert-Werden« führt. Dies wäre vor allem vor dem Hintergrund der weiteren Ausführungen von Langner der Intention dieses Buches nicht entsprechend:
»Diese erschwerte Situation (durch einen einseitigen Zuschreibungsprozess Anm. B.O.) besteht u. a. darin, dass dem Individuum über die leibliche Erfahrung eine Naturhaftigkeit seiner ›Behinderung‹ vermittelt wird. Die Strukturen des Behindertwerdens werden verleiblicht und am Leib erfahren« (ebd. 244).
Die nachfolgenden Ausführungen zu Sexualität und Behinderungen sollen, wenn man der Argumentation von Hartmann (2017) folgt, die Funktion haben, Menschen in der sexualerzieherischen Begleitung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung zu einem individuell möglichst passgenauen Angebot zu befähigen. Es gibt nicht den einen richtigen Weg der Sexualerziehung, sondern jeweils für alle Beteiligten (Erwachsene und Kinder/Jugendliche) die fortwährende und reflektierte Suche nach gelingender sexualerzieherischer Begegnung. Für diesen Weg bringen sowohl die Erwachsenen als auch die Kinder/Jugendlichen unterschiedliche, individuell biografisch geprägte Kompetenzen und Erfahrungen ein. Die Vielfalt möglicher Erfahrungen von Kindern und Jugendlichen mit verschiedenen Formen von Behinderungen soll durch die nachfolgenden Textausschnitte angedeutet werden.
Ausschnitte aus (Auto-)Biografien sollen als Blick von dem Berg der Individualität ermöglichen, von Erfahrungen von Menschen mit verschiedenen Behinderungen zu lernen und für die Vielfältigkeit des Erlebens sensibilisiert zu werden. Vor diesem Hintergrund der durchgehend notwendigen Beachtung der Subjektivität des Einzelnen und der Reflexion eigener und gesellschaftlicher Zuschreibungsprozesse sollen alle Ausführungen gelesen und verstanden werden.
Im Folgenden sollen Textausschnitte von Menschen mit verschiedenen Behinderungserfahrungen die Vielfalt von sexuellen Erfahrungen und deren verschiedene Bewertungsmöglichkeiten aufzeigen. Dass es sich dabei um eine eingeschränkte, nur heterosexuelle Vielfalt handelt, ist dem vorliegenden, der Autorin bekannten und somit subjektiv ausgewählten Textmaterial geschuldet. Leitend für die Auswahl waren vor allem differenzierte Auseinandersetzungsprozesse mit eigenen Behinderungserfahrungen, um diese in ihrer Bedeutung für die sexuelle Biografie darzustellen (vgl. hierzu die Zusammenstellung von Autobiografien von Mürner 2018).
In den wenigen, der Autorin bekannten Texten von homosexuellen Menschen mit Behinderungserfahrungen stehen andere Erfahrungen im Vordergrund der Texte.
Ebenso fehlen in der nachfolgenden, vom Umfang zu beschränkenden, Auswahl Texte von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen (vgl. hierzu Ortland 2013 mit einer Auswahl von Texten von Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen). Deshalb sei hier exemplarisch auf das Themenheft »Frau und Mann« bei der Zeitschrift »ohrenkuss – da rein, da raus« aus dem Jahr 2002 verwiesen sowie auf die Ausgabe der Zeitschrift »Fritz und Frida« des Bundesverbandes für körper- und mehrfachbehinderte Menschen zum gleichen Thema aus dem Jahr 2012. In beiden Zeitschriften schreiben Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen die Beiträge.
Die Lektüre aller Texte bietet die Möglichkeit, Offenheit für die Vielfältigkeit sexuellen Lernens und Erlebens zu erkennen und zu sehen, dass die individuellen Lebensvoraussetzungen durch Behinderungen nur ein beeinflussender Aspekt unter vielen für diesen Lernprozess sind. Die Bewertungs- und Anpassungsprozesse der Umwelt (Kap. 1.2) sind allerdings zwei entscheidende und vor allem in pädagogischen Zusammenhängen grundsätzlich reflektierbare und damit veränderbare Einflussfaktoren.
Bewusst werden in diesem Kapitel vorrangig die Menschen mit Behinderungen durch ihre (auch längeren) Texte selbst zu Wort kommen. Kurze Überleitungen helfen den inhaltlichen Faden aufrecht zu erhalten.
Die autobiografischen Texte vieler Menschen mit Körperbehinderung zeigen auf, dass sie die körperlichen Voraussetzungen ihres Lebens selbst durchaus nicht als Behinderung bewerten (z. B. Saal 1994, Schlüter/Faßbender 2006, Lapper 2005). So schreibt Saal:
»Da ich ›so geboren‹ (mit einer körperlichen Schädigung, Anm. B.O.) wurde, wie andere vielleicht mit roten Haaren oder mit blauen Augen geboren wurden, habe ich mich niemals anders gefühlt als andere Leute; als ganz und gar ›normal‹« (1994, 28).
Allerdings zeigen seine weiteren Ausführungen, dass diese Selbstbewertung von anderen Menschen nicht geteilt wurde und die Fremdbewertungen erst den Prozess der negativen Bewertung seiner eigenen Lebenssituation auslösten.
»Doch diese anderen Leute erzählten mir immer wieder, ich sei ›behindert‹, darum nicht normal – und das sei schlimm! und als sie es mir lange genug erzählt hatten, glaubte ich es ihnen. Schließlich waren sie in der Mehrzahl« (1994, 28f).
Martina Schlüter, die eine frühkindliche Hirnschädigung in Form einer Ataxie mit Spastik hat, beschreibt in ihren autobiografischen Reflexionen über ihre Schulzeit:
»Ich habe mich zum Zeitpunkt meiner Schulzeit nie als behindert gefühlt. Es gab zwar Dinge, die ich gar nicht oder langsamer konnte, aber für die in meinem System bedeutsamen Fakten wurden immer Lösungen gefunden, die mich und mein Umfeld zufrieden stellten« (2005, 69).
Aus der Retrospektive betont sie:
»Mir war und ist dabei wichtig zu betonen, dass mein Leben nicht von Leid geprägt ist, sondern bei allen Kämpfen, die es durchzustehen gilt, bin ich grundlegend sehr zufrieden und glücklich« (ebd. 70).
Aus diesen Beschreibungen wird zum einen wiederum die Relationalität von Behinderungserfahrungen sehr deutlich, aber zum anderen auch die große Abhängigkeit der Menschen mit Körperbehinderungen von den Unterstützungsleistungen ihrer Umwelt und von gelingenden Sozialkontakten – also von Aktivitäts- und Teilhabemöglichkeiten sowie Umweltfaktoren.
Bezogen auf den Bereich der Sexualität bei Menschen mit Behinderungen können diese Einflüsse durch gesellschaftliche Tabuisierungs- und Negierungsprozesse weitere negative Konsequenzen haben.
»Die Umwelt, die körperlich Geschädigten vermittelt, dass die Körperbehinderung sexuelle Verwirklichung unmöglich macht oder sexuelle positive Erfahrungen in negative ummünzt (…), bewirkt eine Übernahme solcher unangemessener Wahrnehmungstätigkeiten in der Psyche des Betroffenen, die sich in dauerhaften negativen Emotionen bei diesem verfestigen können« (Weinwurm-Krause 1990, 28).
Eine grundlegende Problematik ist damit benannt: Fremdbewertungen werden häufig erlebt und können sich negativ auf die Entwicklung auswirken. Die Ursachen der Fremdbewertungen liegen z. B. in gesellschaftlichen Abwertungen, die von Eltern, anderen Bezugspersonen oder professionellem Personal unbewusst internalisiert werden.
Sie werden an den nachfolgenden Ausschnitten aus verschiedenen Biografien nochmals klarer.
Allison Lapper (2005), eine englische Künstlerin, die mit Phokomelie (Gliedmaßenfehlbildung) geboren wurde und in einem Heim (wie sie es benennt) aufwuchs, beschreibt als einen Teil ihrer (negativ beeinflussenden) Erfahrungen die regelmäßige Untersuchungssituation durch Ärzte, die sie in entkleidetem Zustand musterten:
»Sie sprachen mich nur selten direkt an, und ich spürte, dass ich für sie ein Objekt war, an dem sie ihre Wissbegier befriedigten, nichts weiter. Und selbst mit meinen vier Jahren empfand ich diese Situation als unangenehm und fühlte mich vollkommen ausgeliefert. Zweifellos betrachteten sie mich mit einem distanzierten, rein wissenschaftlichen Interesse, aber etwas Merkwürdiges hatte es doch. Selbstverständlich fragte uns nie jemand um Erlaubnis. Wir waren einfach nicht menschlich genug, um gefragt zu werden, ob es uns vielleicht etwas ausmachte, vor einer Gruppe älterer Männer nackt auf einem Tisch zu liegen« (ebd. 33ff).
In ihrer Jugendzeit sind es Erfahrungen mit anderen nicht behinderten Jugendlichen, die sie als einschneidend und vor allem ausgrenzend und diskriminierend erlebt:
»Erst als ich zwölf Jahre alt war und anfing, mir mehr Gedanken über mich selbst zu machen, begann ich, auf die Reaktionen anderer Leute zu achten. Ich meine damit die Reaktionen nichtbehinderter Leute außerhalb der Einrichtung. Erst da begriff ich, in welcher Situation ich mich befand. Ich war ein Teenager und wollte zu der Welt da draußen gehören, aber nach und nach wurde mir klar, dass es nie so weit kommen würde, weil mich die Welt da draußen nicht wollte. Ich würde nie so sein wie die gleichaltrigen nichtbehinderten Kinder, weil zwischen uns eine hohe Barriere stand. Sie schafften es nicht, sie zu überwinden und mich in ihren Kreis aufzunehmen. Und ich kam ebenfalls nicht durch, so viel Mühe ich mir auch gab und sosehr ich mich auch anpasste. Ich tat alles, wovon ich glaubte, dass andere Mädchen es auch taten. Ich zog die gleichen Sachen an, die ich sie tragen sah, und benutzte das gleiche Make-up, aber all das änderte nicht das Geringste. Das hielt mich allerdings nicht davon ab, es weiterhin zu versuchen – ich nehme an, das ist gemeint, wenn es heißt, jemand unternimmt verzweifelte Anstrengungen« (ebd. 112).
Als Erwachsene und in England anerkannte Künstlerin muss sie sich Grenzüberschreitungen verbaler Art gefallen lassen: »Manchmal fragen mich die Leute, wie ich Sex mache« (ebd. 229). Eine Frage an die Leserin und den Leser: Wann sind Sie das letzte Mal von ihnen unbekannten Personen nach Ihrem Sexualleben gefragt worden?
Man überlege an dieser Stelle, warum Menschen (ohne Behinderungen) meinen, dass andere Menschen (mit Behinderungen) dieses gefragt werden dürften? Ist es legitim, dass in der Begegnung zwischen Menschen mit und ohne Behinderungen allgemein gesellschaftlich anerkannte Konventionen der Wahrung von Intim- und Privatsphäre anscheinend nicht gelten? Hier findet sich wieder das (inhaltlich und wissenschaftlich in keinster Weise haltbare) Konstrukt der Besonderheit der Sexualität von Menschen mit Behinderungen, die als (dadurch legitimierte Folge) entsprechend andere, von Menschen ohne Behinderung gelebte, Regeln wirkmächtig sein lässt und anscheinend gesellschaftliche Konventionen außer Kraft setzt.
Lapper schreibt weiter:
»Dann erkläre ich ihnen, dass sie sich gefälligst um ihren eigenen Kram kümmern sollen, weil das nun wirklich meine Privatsache ist, außerdem empfinde ich diese Frage oft als leicht beleidigend. Dahinter verbirgt sich nämlich die Annahme, ich sei so grundlegend verschieden von allen anderen Frauen, dass mein Sexualleben äußerst merkwürdig und bizarr sein muss. Aber abgesehen von dem Fehlen meiner Hände und Arme und meinen verkümmerten Beinen, bin ich anatomisch vollkommen normal gebaut. Ich habe also Sex wie jede andere Frau, die mit einem Mann schläft« (ebd. 229).
Auch Ursula Eggli (2002) beschreibt vor allem die gesellschaftlichen Reaktionen, aber auch die Erziehungsbemühungen ihrer Mutter, die eine erfüllte Sexualität und Partnerschaft für sie als Frau ausschloss, als häufig erfahrene Diskriminierung.
»Unsere Gesellschaftsformen und Wertvorstellungen sind darauf angelegt, behinderte Frauen, mehr noch als Männer, von der Sexualität auszuschließen. Behinderte Mädchen werden zu behinderten Frauen erzogen. Meine Mutter erklärte mir früh, dass ich nie einen Mann finden werde. Das innere Gefühl des ›Nichtgenügens‹ ist programmiert. Viele Behinderte werden spät oder gar nie aufgeklärt: ›Du hast es doch gar nicht nötig.‹ Weit mehr als Männer sind Frauen äußeren Schönheitszwängen unterworfen. Wenn man weiß, wie schon nichtbehinderte Frauen darunter leiden, kann man sich ungefähr vorstellen, wie schwierig es für behinderte Frauen wird, zu einem einigermaßen vernünftigen Körperbewußtsein (sic!) zu gelangen. Oft wird auch Sexualität mit ›Kinderkriegen‹ gleich gesetzt. Wieder eine Erwartung, die behinderte Frauen nicht erfüllen können oder nicht erfüllen wollen. Wenn aber eine behinderte Frau schwanger wird, wird ihr nahe gelegt, die Schwangerschaft zu unterbrechen oder das Kind wegzugeben: ›Das arme Kind, mit einer behinderten Mutter…‹« (ebd. 101).
Ähnliche Erfahrungen berichtet die Fernsehmoderatorin Zuhal Soyhan (2012), die mit Glasknochen lebt und auf einen Rollstuhl angewiesen ist:
»Ich war klug genug zu wissen, dass Männer ganz sicher nicht von Frauen wie mir träumten. Mir war klar, dass es schwierig – vielleicht sogar unmöglich – sein würde, je einen Mann zu finden, der in mir noch etwas anderes sehen würde als nur eine Rollstuhlfahrerin. Doch mit dem Wissen um diese Schwierigkeit verging nicht automatisch die Sehnsucht nach einer Liebesbeziehung. Dass mir das aber jemand einmal so in aller Deutlichkeit sagen würde, nahm mir fast den Atem. (…) Ich fühlte mich wie ein angeschossenes Tier, das sich am liebsten zum Sterben in die Büsche zurückgezogen hätte. (…) Doch jetzt fühlte ich mich auch zusätzlich noch als Frau in Frage gestellt. Als behinderter Mensch wird man ohnehin als Neutrum wahrgenommen, das wird am Angebot der öffentlichen Toiletten schnell klar. Da wird nicht zwischen Männlein und Weiblein unterschieden, ein Rollizeichen muss reichen, und die Sache ist klar. Anders bei den Toiletten für Nichtbehinderte – da muss strikt getrennt werden. Weiblichkeit? Was war das für mich? Mich als Frau zu begreifen oder zu fühlen, hatte mir niemand beigebracht, und niemand hatte mich aufgeklärt. In meiner ›Erziehung‹ wurde dieser Bereich komplett ausgeblendet und mir wurde vermittelt, dass man als Behinderter ein Bedürfnis nach Nähe einfach nicht zu haben hat. Noch heute wird Behinderten ihr Anrecht auf Sexualität abgesprochen – und oft genug gestehen wir es und ja nicht einmal selbst ein, weil dieses Thema in unserer Kindheit und Jugend absolut tabu war und weder im Heim noch in der Schule je darüber gesprochen wurde« (Soyhan 2012, 102/103).
Kathrin Lemler, Erziehungswissenschaftlerin und Autorin, bringt ihre Erfahrungen und vor allem Wünsche als junge Frau mit schwerster Körperbehinderung und ohne verständliche Lautsprache in dem Text »Über die Liebe in meinem Kopf« (2010) zum Ausdruck:
»Manchmal liege ich in meinem Bett und starre vor mich hin. Ich spüre meine Hände, wie sie zu Fäusten geballt auf der Matratze unruhig hin und her rutschen. Ab und zu stoße ich mit dem linken Arm gegen die Bettkante. Auch meine Beine und Füße nehme ich wahr, genauer gesagt nehme ich die Spannung meiner Beine und Füße wahr. Die Zehen am rechten Fuß wackeln vor sich hin. Der linke Fuß ist total verkrampft.
Oft denke ich dann über ein ganz bestimmtes Thema nach: die Liebe. Ich habe so viele Freunde, darüber bin ich sehr glücklich. Dennoch gibt es Momente, in denen mir etwas fehlt. Ich bin nicht anders als andere Frauen, und welche junge Frau wünscht sich keinen Partner? Ja, ich sehne mich nach Nähe und Geborgenheit. Ich sehne mich nach Liebe, ich sehne mich nach jemandem, der mich so liebt, wie ich bin. Ich sehne mich nach einem Mann, für den ich die einzige Frau auf der Welt bin« (ebd. 148).
Sie stellt im weiteren Fortlauf des Textes eine deutliche Verbindung zur Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung her, die Weinwurm-Krause (1990) auch schon vor circa 30 Jahren in einer quantitativen Erhebung bei jungen Erwachsenen mit Körperbehinderung aus ihren erhobenen Daten generierte. Weinwurm-Krause kam zu dem Ergebnis, dass sich neben dem Mikrosystem Familie, und hier vor allem der Erziehungshaltung der Eltern und deren Einstellung zur Sexualität bei Menschen mit Körperbehinderung, die folgenden Bereiche wesentlich auf die sexuelle Entwicklung und das Erleben von Sexualität als junger Erwachsener auswirken: »die institutionellen Erfahrungen, die gesellschaftlichen Bewertungsmuster, die Bildungsmöglichkeit und die Auseinandersetzung mit der Behinderung« (ebd. 207). Art und Schwere der körperlichen Schädigung spielten nur eine untergeordnete Rolle.
Die autobiografischen Texte zeigen, dass dieses Ergebnis der Befragung von 158 jungen Frauen und Männern mit Körperbehinderung durch Weinwurm-Krause (1990) auch noch heute Hinweise auf relevante Einflussfaktoren für die sexuelle Entwicklung und eine subjektiv befriedigende Sexualität von Menschen mit Behinderungen aufzeigen.
Kathrin Lemler schreibt weiter:
»Schon ganz früh erkannte ich, dass es für alle Beteiligten besser ist, wenn ich über mein Verliebtsein schweige. Ich habe also noch nie einem Mann meine Zuneigung gestanden. Ich habe es für mich behalten. Es ist manchmal verdammt schwer. Aber ich halte es für das Beste. Ich habe Angst, dass es, wenn er davon erführe, Auswirkungen auf unsere Freundschaft hätte. Das will ich auf keinen Fall! Ich bin lieber mit jemandem befreundet, den ich liebe, als keine Beziehung zu ihm zu haben.
Außerdem gibt es noch einen anderen Grund, warum ich meine Liebe geheim halte: meine Behinderung. Ich möchte, dass ein Mann von sich aus Gefühle für mich empfindet. Das klingt jetzt vielleicht arrogant, ist es aber keineswegs! Ich kenne mich. Ich weiß, wie ich aussehe: ein kleines, zappelndes Etwas, dem der Speichel aus dem Mund läuft. Auf Grund meiner Behinderung wirke ich nicht gerade attraktiv! Ganz im Gegenteil: Meine Behinderung hat eine abschreckende Wirkung. Eine Beziehung zu mir wird völlig anders sein als zu Frauen ohne Behinderung. Es wird keine oberflächliche Beziehung sein. Es ist kein Leichtes, sich in jemanden wie mich zu verlieben. Liebe auf den ersten Blick wird es also wahrscheinlich nicht geben. Ein Mann muss mich schon kennen lernen. Damit er sich nicht von mir überrumpelt fühlt, muss ich ihm Zeit geben. Ich muss ihm die Chance geben, mich attraktiv zu finden.
Deshalb werde ich niemals bei einem Mann den ersten Schritt wagen. Ich werde ihm allein diese schwierige Entscheidung überlassen, ich möchte ihn darin nicht beeinflussen. Er allein muss sich darüber klar werden, ob er mich – mit einem solchen Körper – lieben kann, ob er den Mut hat, Neuland zu betreten, und ob er die Kraft dazu hat. Er muss sich quasi fragen, ob er mich und auch meine Behinderung liebt. Als ich mir darüber im Klaren war, wusste ich plötzlich, warum ich noch keinen Freund gehabt hatte. Selbst ich habe lange gebraucht, um meine Behinderung als Teil von mir zu sehen. Wie sollen das dann andere so einfach können?« (Lemler 2010, 150f)
Vergleichbar den Erkenntnissen, die Kathrin Lemler über die Auseinandersetzung mit ihrer Körperbehinderung benennt, beschreibt Gaudard (2013) in seinen Texten seine Beziehungserfahrungen als Mann mit Asperger-Syndrom zu den ›Muggel‹, wie er die Menschen ohne Asperger-Syndrom bezeichnet (Text im Original übernommen):
»Asperger haben aber einen entscheidenden Nachteil. Sie geben sehr wenig oder gar nichts. Das ist es, was die Beziehungen mit der Zeit zerstört. Das Andere will auch was kriegen. Nicht immer nur geben. Asperger geben schon, aber die Muggel wollen nicht, dass man z. B. den Haushalt macht oder einkauft. Das ist nett, aber hat mit Liebe nichts zutun. So die Muggel. Sie wissen meist nicht, dass das unsere Art ist, die Liebe zu zeigen. Muggel wollen Komplimente, wollen berührt werden. Sie wollen geliebt werden.
Ich selber mag Berührungen überhaupt nicht. Das ist etwas sehr komisches, da ich die Umgebung nicht wahrnehmen kann. Die Ausnahme ist meine Frau. Sie darf und soll auch. Was sie auch macht. Sie nimmt keine Rücksicht. Wieso auch? Sie ist meine Frau. Ich sehe nur mit viel Mühe Gesichter, sehe keine Augen. Doch bei ihr sehe ich die Augen und auch ihr Gesicht. Wieso? Keine Ahnung. Vielleicht weil ich sie wirklich liebe.
Muggel wollen, dass man ihnen in die Augen schaut. Wieso weiss ich nicht. Aber es ist scheinbar so. Als ich meine Frau das erste Mal getroffen habe (damals war sie einfach ein Date), habe ich mir vorgenommen, dass ich ihr immer mal wieder in die Augen schaue. Nun, es hat funktioniert. Gut, es war sicher nicht nur der Augenkontakt. Aber für mich war das DIE Herausforderung. Heute ist es für mich normal, wenn ich mit ihr zusammen bin.
Asperger können mit der Liebe leben. sie können genau so Beziehungen haben, wie die Muggel. Jedoch mussen sie dem Partner klarmachen, wie sie funktionieren. Das ist nicht immer einfach. Doch durch viele Gespräche wird es klappen. Auch sollte man sich nicht vom Gedanken leiten lassen, was die Gesellschaft für Richtig hält. Wichtig ist, was man selber für Richtig hält. Was für die Beziehung wichtig ist« (ebd, o. S., Zitat im Original)
Die Forderungen von Gaudard sind eindeutig – sich unabhängig von Fremdbewertungen machen – und geben Hinweise auf später zu diskutierende sexualpädagogische Konsequenzen.
Schon in den Zitaten von Allison Lapper und Zuhal Soyhan wurde deutlich, dass die Jugendzeit, und hier der Vergleich mit Peers und deren Erfahrungen, eine besondere Herausforderung darstellt. Kathrin Lemler formulierte in ihrem Text, den sie mit 16 Jahren schrieb, dass sie, wie alle anderen Mädchen bzw. jungen Frauen auch, den Wunsch nach einer Liebesbeziehung hatte.
Männer mit Körperbehinderung beschreiben dies in ihren Autobiografien vergleichbar. Raúl Auguayo-Krauthausen (2014), Autor und Mann mit Glasknochen, beschreibt seine jugendlichen Erfahrungen so:
»Etwa gegen Ende der siebten Klasse bildeten sich die ersten Pärchen. Jungs und Mädels, die meist nur für kurze Zeit miteinander ›gingen‹. Sie saßen dann bei diesen Anlässen kuschelnd auf Matratzen und Sofas, Kopf an Schulter, oder sie hielten Händchen. Das Tanzen hatte ich für mich abgehakt. Selber ein Mädchen im Arm zu halten, ihre Nähe, ihre Wärme spüren – das hätte ich gern gehabt. Ich stellte es mir aber nie konkret vor, weil es niemanden gab. Der Wunsch, mit den anderen diese Erfahrung zu teilen, wurde hingegen immer größer. Wegen meiner Behinderung entsprach ich jedoch nicht dem Beuteschema. Der Gedanke, dass kein Mädchen mit mir kuscheln wollte, machte mich traurig, und ich fühlte mich von Feier zu Feier einsamer. (…) Hinterher schlief ich mit der Frage ein, ob sich das jemals ändern würde« (ebd. 87).
An späterer Stelle schreibt er, nach der schmerzhaften Erfahrung einer Zurückweisung durch eine Frau, in seiner Autobiografie: »Ich ging davon aus, dass meine Behinderung immer zwischen einer Frau und mir stehen würde« (ebd. 123).
Hans-Joachim Stelzer, Autor und Mann mit Muskeldystrophie, erlebt in seiner Jugend Ähnliches. Auch hier geht es in der Jugendzeit um die divergierenden Erfahrungen der Jungen in seiner Clique und seinen eigenen. Der Vergleich steht im Vordergrund:
»Zu unserer Clique zählten natürlich auch Mädchen. Das war recht aufregend, besonders bei Partys und unbekannt-kribbelig im Bauch – die Hormone halt. Mir ging es da nicht anders als meinen Freunden. Wir wollten etwas ›baggern‹, ein wenig fummeln und heimlich knutschen. Mit wachsendem Neid schaute ich auf den Erfolg meiner Freunde. Sie schafften mit Leichtigkeit wovon ich nur träumte« (Stelzer 2011, 118).
Auch für Stelzer steht, ebenso wie bei Aguayo-Krauthausen und Lemler, die angenommene und befürchtete Ablehnung aufgrund seiner/ihrer Behinderung im Vordergrund der retrospektiven Reflexion:
»Es war nicht die Furcht vor der ganz normalen Ablehnung, mit der man immer rechnen musste, wenn man einen Beziehungsversuch startet. Diese Art von abgelehnt werden kalkulierte ich ein, sie hätte mich nicht umgeworfen. Ich fürchtete mich aber vor einer Ablehnung wegen meiner Behinderung. Mein Selbstbewusstsein war damals noch nicht so stark gefestigt, als dass ich souverän mit einer behinderungsbedingten Ablehnung umzugehen gewusst hätte. In dieser frühen Phase der Anpassung an das Rollstuhlleben fehlte mir noch jegliches Feedback darauf, wie ich als Mann bei den Mädchen und Frauen ankam. Dieses Nichtwissen über meine Attraktivität und Wirkung war für mich als Kopfmensch eine schwer zu tragende Last« (ebd. 119).
Zusammenfassend können folgende Verstehensansätze aus den autobiografischen Texten gezogen werde (vgl. weiterführend die Ambivalenzanalyse von Autobiografien bei Mürner 2018, 187ff): Fremdbewertungsprozesse und Vergleiche mit persönlich relevanten Gruppen (Cliquen) spielen vor allem in der Jugendzeit für die sexuelle Entwicklung eine große Rolle für die Autorinnen und Autoren. Diese Vergleiche können allerdings ihre Wirkung in alle Richtungen entfalten, wie z. B. Stelzer (2011) an anderer Stelle über seine Clique schreibt:
»Unbewusst legte damit unsere Clique den entscheidenden Grundstein für meinen positiven Umgang mit der Behinderung. Ich musste nie deprimierende Erfahrungen sammeln, wegen der Behinderung ausgegrenzt zu sein« (ebd. 82).
Für Aguayo-Krauthausen (2014) ist ebenso ein sehr enger Freund in diesem Prozess von hoher Relevanz:
»Meine Enttäuschung musste ich allein verarbeiten, doch mir war klar, dass ich jederzeit auf Ben zählen konnte« (ebd. 123) »Dass Ben für mich zu dem Freund wurde, wie ich ihn mir immer gewünscht habe, führe ich vor allem darauf zurück, dass er meine Behinderung nie thematisiert hat und da war, als ich erstmals in meinem Leben das Bedürfnis hatte, über sie zu reden. Auch wenn ich bis heute meinen Zweifel von damals nie wirklich habe ablegen können und immer mal wieder denke, dass meine Behinderung eine Beziehung verunmöglicht, hat das Sprechen darüber unglaublich gut getan. Und es war ein Anfang« (ebd. 125).
Neben diesen Bewertungen durch andere – aber auch deren positive Unterstützung – sind es die Selbstbewertungen, die entscheidenden Einfluss haben und zu starken Verunsicherungen in Bezug auf eine eigene sexuelle Attraktivität führen können. Dies entspricht der Schlussfolgerung von Weinwurm-Krause (1990), dass die Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung einen zentralen Prozess in der sexuellen Entwicklung darstellt.
Die später noch zu entfaltenden sexualpädagogischen Überlegungen sollten demgemäß das Spannungsfeld von veränderten Erfahrungen durch die Lebenssituation mit einer Behinderung, aber vor allem die erschwerenden Bedingungen durch Tabuisierung, Stigmatisierung und diskriminierende Reaktionen und Verhaltensweisen der Umwelt in ihr Konzept aufnehmen, um der Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen gerecht zu werden.
An dieser Stelle kann also zusammengefasst werden,
• dass es einen Zusammenhang zwischen dem Leben mit Behinderungserfahrungen und der individuellen sexuellen Entwicklung hin zu einer subjektiv befriedigenden Sexualität geben kann;
• dass in den erlebten Fremdbewertungsprozessen der vorgestellten Menschen eine große Wirkmächtigkeit liegt und diese erlebten Bewertungen Potential in viele Entwicklungsrichtungen haben;
• und dass diese (möglicherweise) erlebten Erfahrungen bei Kindern und Jugendlichen in einen sexualpädagogischen Prozess aufgenommen werden sollten.
Zum Abschluss des Kapitels soll noch einmal das Bild der Berge aufgeriffen werden: Die autobiografischen Texte, d. h. der Blick vom Berg der Individualität, zeigen auf, dass es durchaus für Frauen und Männer mit Behinderungserfahrungen ähnliche Erlebnisse z. B. im Bereich der Beziehungen geben kann. Ablehnungserfahrungen, aber vor allem die Angst vor diesen negativen Erfahrungen verbindet die ausgewählten Autoren/innen. Aus dem Blick vom Berg der Wissenschaft würden
Abb. 3: Auswahl sexualpädagogischer Inhalte über eine Verbindung der Perspektiven
solche oder vergleichbare Erfahrungen bspw. soziologisch als Diskriminierungs- oder Stigmatisierungserfahrungen analysiert und als dem Leben mit Behinderungen inhärent empirisch fundiert werden können.
Warum sollten nun Erkenntnisse beider Bergperspektiven für die begleitenden Erwachsenen von Kindern/Jugendlichen mit Behinderungen im Blick sein? Was ist der Gewinn?
Wissenschaftliche, empirische Erkenntnisse können die Sensibilität der begleitenden Erwachsenen für mögliche Besonderheiten, Erschwernisse oder Unterstützungsbedarfe ausweiten und einen differenzierten Blick schärfen.
Das individuelle Erleben der Situationen, deren Bewertung als positiv, negativ oder neutral, ist höchst unterschiedlich und erfordert eine Offenheit für sehr verschiedene Begleitungsformen. Deshalb sollten für eine förderliche Sexualerziehung Erkenntnisse beider Berge berücksichtigt werden. Die Inhalte des Buches bieten vorrangig den wissenschaftlichen Blick, der in der gelebten Praxis um die Erfahrungen der Akteure/innen erweitert werden muss.