20,99 €
Mit der Forderung nach mehr Selbstbestimmung, Autonomie und Teilhabe für Menschen mit Behinderung hat das Thema "Sexualität und Behinderung" besondere Aktualität gewonnen. Das Buch beschäftigt sich zunächst mit Erkenntnissen zur sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und zeigt potentielle Entwicklungserschwernisse bei Menschen mit Behinderung auf. Daran schließen sich ausführliche Überlegungen zu einer notwendigerweise behinderungsspezifischen Sexualerziehung an, die neben den individuellen Lebensbedingungen die restriktiven gesellschaftlichen, schulischen und familiären Bedingungen als Entwicklungs-"Behinderungen? mit einbezieht. Vor allem Lehrer/innen, Erzieher/innen, aber auch Eltern finden in diesem Buch sehr konkrete Ratschläge für sexualerzieherisches Handeln in der Praxis.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 281
Mit der Forderung nach mehr Selbstbestimmung, Autonomie und Teilhabe für Menschen mit Behinderung hat das Thema 'Sexualität und Behinderung' besondere Aktualität gewonnen. Das Buch beschäftigt sich zunächst mit Erkenntnissen zur sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und zeigt potentielle Entwicklungserschwernisse bei Menschen mit Behinderung auf. Daran schließen sich ausführliche Überlegungen zu einer notwendigerweise behinderungsspezifischen Sexualerziehung an, die neben den individuellen Lebensbedingungen die restriktiven gesellschaftlichen, schulischen und familiären Bedingungen als Entwicklungs-'Behinderungen? mit einbezieht. Vor allem Lehrer/innen, Erzieher/innen, aber auch Eltern finden in diesem Buch sehr konkrete Ratschläge für sexualerzieherisches Handeln in der Praxis.
Dr. Barbara Ortland ist Professesorin an der Katholischen Hochschule Nordrhein-Westfalen in Münster.
Barbara Ortland
Behinderung und Sexualität
Grundlagen einer behinderungs- spezifischen Sexualpädagogik
Verlag W. Kohlhammer
Alle Rechte vorbehalten © 2008 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart Gesamtherstellung: W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart Printed in Germany
Print: 978-3-17-020373-0
E-Book-Formate
pdf:
epub:
978-3-17-027760-1
mobi:
978-3-17-027761-8
Vorwort
1 Einleitende Ausführungen
1.1 Eine relationale Sichtweise von Behinderung
1.2 Eine relationale Perspektive auf Sexualität und sexuelle Entwicklung
2 Sexualität
2.1 Definition von Sexualität
2.2 Sexualität als interdisziplinärer Forschungsgegenstand
2.2.1 Sexualität aus medizinischer Sicht
2.2.2 Sexualität aus psychoanalytischer Sicht
2.2.3 Sexualität aus soziologischer Sicht
3 Einflüsse auf sexuelles Erleben bei Menschen mit Behinderung
3.1 Sexuelle Funktionsstörungen
3.1.1 Schädigung von Gehirn und Rückenmark
3.1.2 Schädigungen von Muskulatur und Knochengerüst
3.1.3 Schädigung durch chronische Krankheit oder Fehlfunktion von Organen
3.2 Gesellschaftliche Einflüsse
3.3 Behindernde Faktoren der sexuellen Entwicklung
4 Die sexuelle Entwicklung bei Kindern mit und ohne Behinderung
4.1 Erstes Lebensjahr
4.2 Zweites Lebensjahr
4.3 Drittes Lebensjahr
4.4 Viertes Lebensjahr
4.5 Fünftes Lebensjahr
4.6 Sechstes Lebensjahr
4.7 Die Latenzphase: Siebtes Lebensjahr bis Beginn der Pubertät
5 Die sexuelle Entwicklung bei Jugendlichen mit und ohne Behinderung
5.1 Die sexuelle Entwicklung bei Jugendlichen ohne Behinderung
5.1.1 Entwicklungsaufgabe „Den Körper bewohnen lernen“
5.1.2 Entwicklungsaufgabe „Umgang mit Sexualität lernen“
5.1.3 Aktuelle Forschungsergebnisse
5.1.4 Die Bedeutung der Peers im sexuellen Erfahrungs- und Lernprozess
5.2 Die sexuelle Entwicklung bei Jugendlichen mit Körperbehinderung
5.2.1 Entwicklungsaufgabe „Den Körper bewohnen lernen“
5.2.2 Entwicklungsaufgabe „Umgang mit Sexualität lernen“
5.2.3 Die Bedeutung der Peers im sexuellen Erfahrungs- und Lernprozess
5.3 Die sexuelle Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung
6 Zusammenfassende Begründung einer behinderungsspezifischen Sexualerziehung
6.1 Kinder mit Körperbehinderung
6.2 Jugendliche mit Körperbehinderung
6.3 Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung
6.4 Die Erwachsenen in der Sexualerziehung
6.5 Schulische Bedingungen der Sexualerziehung
7 Sexualerziehung bei Menschen mit Behinderung
7.1 Auseinandersetzung mit der eigenen sexuellen Biografie
7.2 Die Eltern in der Sexualerziehung
7.3 Sexualfreundliche Sexualerziehung
7.4 Kompetente, integrierende Sexualpädagogik: ein Gesamtkonzept für eine behinderungsspezifische schulische Sexualerziehung
7.4.1 Kompetenzerweiterung auf Seiten der Lehrerinnen
7.4.2 Kompetenzerweiterung auf Seiten der Erziehungsberechtigten
7.4.3 Entwurf für ein Spiralcurriculum
7.5 Ausgewählte Forschungsergebnisse zur aktuellen Situation an der Förderschule
7.5.1 Potentielle Besonderheiten der sexuellen Entwicklung aus Sicht der Lehrer
7.5.2 Pflege/körpernahe Förderung
7.5.3 Konzepte zur Intensivierung der sozialen Kontakte der Schülerinnen
7.5.4 Inhalte der intentionalen Sexualerziehung
8 Übergreifende Aspekte der Sexualerziehung bei Menschen mit Behinderung
8.1 Sexualerziehung als Gestaltungsprinzip in körpernahen (Pflege-)Situationen
8.2 Schutz vor sexualisierter Gewalt als durchgängiges Prinzip der Sexualerziehung
8.2.1 Sexualisierte Gewalt durch erwachsene Täter
8.2.2 Sexualisierte Übergriffe zwischen Kindern
8.2.3 Sexualisierte Gewalt im Internet
8.2.4 Prävention und Intervention
8.3 Sexualerziehung als Auseinandersetzung mit Behinderungserfahrungen
9 Ausgewählte Adressatengruppen der Sexualerziehung
9.1 Geschlechtshomogene Angebote für Mädchen mit Behinderung
9.1.1 Ziele und Organisation
9.1.2 Inhaltliche Gestaltung
9.2 Homosexuelle Schüler mit Behinderung
9.3 Sexualerziehung bei Schülerinnen mit schwerster Behinderung
10 Schlusswort
11 Literaturverzeichnis
12 Anhang
12.1 Reflexion der eigenen sexuellen Biografie „Erinnerst du dich?“
12.2 Reflexion der eigenen Erfahrungen in Bezug auf Sexualerziehung
12.3 Vorschlag zur Abfrage von Workshopinhalten für eine schulinterne Fortbildung
12.4 Hilfreiche Adressen
Mit diesem Buch zur sexuellen Entwicklung bei Menschen mit Behinderung und der ausführlichen Darlegung einer behinderungsspezifischen Sexualpädagogik soll auf die Forschungsergebnisse meiner Lehrerinnenbefragung an Förderschulen mit dem Förderschwerpunkt körperliche und motorische Entwicklung reagiert werden (Ortland 2005 b). Hier zeigte sich großer Bedarf bei den Lehrerinnen und Lehrern in der Vermittlung von Grundlagenwissen in den Bereichen Sexualität, sexuelle Entwicklung und sexualpädagogische Konsequenzen bei Kindern und Jugendlichen mit Körper- und/oder geistiger Behinderung.
Die nachfolgenden Ausführungen zur sexuellen Entwicklung bei Menschen mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung basieren auf den allgemeinen Erkenntnissen zur sexuellen Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen ohne Behinderung und werden um einschlägige Forschungsergebnisse und Erkenntnisse über potentielle Entwicklungserschwernisse bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung ergänzt. Für die Lebensbereiche, in denen keine Forschungsergebnisse vorliegen, werden mögliche Zusammenhänge aufgezeigt, so dass potentielle Entwicklungserschwernisse sensibel erkannt werden können, um angemessen darauf zu reagieren. Für alle Überlegungen gilt, dass sie nicht als Kausalzusammenhang zu sehen sind. Kinder und Jugendliche mit Behinderung können potentiellen Entwicklungserschwernissen vielfältigster Art ausgesetzt sein und diese können sich auf ihre sexuelle Entwicklung sowie ihr Erleben von subjektiv befriedigender Sexualität auch als Erwachsene auswirken. Dies muss aber nicht so sein! Es ist aber förderlich für die Entwicklung der Kinder und Jugendlichen mit Behinderung, wenn die begleitenden Erwachsenen um diese potentiellen Besonderheiten wissen und angemessen auf eventuelle Entwicklungserschwernisse reagieren können.
Deshalb schließen sich der Darstellung zur sexuellen Entwicklung sehr ausführliche Überlegungen zu einer notwendigerweise behinderungsspezifischen Sexualerziehung an. Die Behinderungsspezifität, d. h. also die Besonderung dieses sexualpädagogischen Ansatzes, dem ich den Namen „Kompetente, integrierende Sexualpädagogik (KiS)“ gegeben habe, liegt in einem relationalen Verständnis von Behinderung begründet.
Sehr einfach formuliert bedeutet diese Relationalität: Müssten viele Menschen mit Behinderung nicht mit der Negierung ihrer Sexualität, der Tabuisierung sexueller Themen, mangelnder Sexualerziehung, segregierenden gesellschaftlichen Tendenzen sowie Stigmatisierungen im alltäglichen Lebenskontext und noch vielen weiteren Erschwernissen leben, so bräuchten wir keine behinderungsspezifische Sexualpädagogik. Es liegt also an allen Beteiligten, diese hemmenden Entwicklungsbedingungen zu verändern.
Die Ausführungen zu den medizinischen Grundlagen und schädigungsspezifischen Funktionsstörungen zeigen, dass diese körperlichen Aspekte eigentlich eine marginale Rolle für die Menschen mit Behinderung spielen. Wir bräuchten allerdings eine Sexualpädagogik, die auch diese schädigungsspezifischen Themen, wenn gewünscht, aufgreift. Der Schwerpunkt muss jedoch in der Thematisierung der gesellschaftlichen, schulischen und familiären restriktiven sexualpädagogischen Bedingungen liegen sowie in der adressatenbezogenen Unterstützung der Menschen mit Behinderung bei der Entwicklung einer subjektiv befriedigenden Sexualität.
Eine gelingende Sexualerziehung beginnt beim erziehenden Erwachsenen und der Fähigkeit, eigene Vorurteile abzubauen, behinderndes Verhalten zu erkennen und Sexualität zu einem ‚alltäglichen‘ Thema zu machen, ohne sie ihrer Individualität, ihrer Intimität oder ihres Zaubers zu berauben. In diesem Buch, das sich vorrangig an Studierende, Lehramtsanwärter und Lehramtsanwärterinnen, Lehrerinnen und Lehrer, aber ebenso an interessierte Eltern von Menschen mit Behinderung richtet, soll auf der Grundlage des genannten relationalen Verständnisses von Behinderung ein möglichst breites Wissen um potentielle Entwicklungsbesonderheiten in der sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit körperlicher und/oder geistiger Behinderung vermittelt werden.
Gleichzeitig geben die sehr praxisorientierten sexualpädagogischen Überlegungen einen Eindruck von der Komplexität sexualerzieherischen Handelns und fordern eine eigene Positionierung heraus.
Eine abschließende Anmerkung: Männliche und weibliche Bezeichnungen für die verschiedenen Personengruppen werden in unsystematischer Folge wechselnd benutzt. An den Stellen, wo eindeutig eine Geschlechtergruppe gemeint ist, ist dies kenntlich gemacht.
Dortmund 2008
Barbara Ortland
Wie bereits im Vorwort dargelegt, wird den folgenden Ausführungen eine relationale Perspektive auf Behinderung und Sexualität zugrunde gelegt. Diese soll zunächst eine knappe theoretische Verortung und weitere Explikation erfahren.
Aus systemisch-konstruktivistischer Perspektive wird Behinderung nicht mehr als ein Kennzeichen einer Person gesehen, sondern als eine Relation verstanden, und zwar als eine Relation zwischen der als behindert bezeichneten Person und ihrer Umwelt (vgl. Walthes 2003, Leyendecker 2005, Ortland 2005 a, 2006 a, 2007 a).
Diese relationale Auffassung von Behinderung hat Walthes in folgender Definition zum Ausdruck gebracht: „Behinderung ist der nicht gelungene Umgang mit Verschiedenheit“ (2003, 49).
So sind beispielsweise körperliche Schädigungen in Form von Infantiler Cerebralparese, Spina bifida, Muskeldystrophie o. Ä. in diesem Verständnis Bedingungen, die ein Mensch in eine Situation einbringt. Ob der Umgang mit diesen Bedingungen positiv verläuft, ist abhängig von den an der Situation Beteiligten. Alle sind für das Gelingen oder Misslingen der Kommunikations- und Interaktionsprozesse verantwortlich.
An einem Beispiel sei dies verdeutlicht: Eine Dysarthrie, die häufig in Verbindung mit einer Infantilen Cerebralparese auftritt, ist eine zentral bedingte Störung der Koordination des Sprechvollzugs. Sie realisiert sich für den Betroffenen in kaum vorhandener Lautsprache. Dies ist an sich noch keine Behinderung. Eine Dysarthrie wird dann zu einer Behinderung, wenn sich die beteiligten Gesprächspartner – trotz eines ‚perfekten‘ multimodalen Kommunikationssystems im Bereich der Unterstützten Kommunikation – auf diese Form der Kommunikation nicht einlassen (Anpassungsleistungen) und nur Lautsprache als ‚richtig‘ bewerten (Bewertungsprozesse). Das ‚Problem‘ der nicht gelingenden Kommunikation haben in diesem Fall alle Beteiligten, wenngleich es sicherlich für den Menschen mit Dysarthrie wesentlich gravierendere Auswirkungen hat. Eine Änderung des ‚Problems‘ kann allerdings vorrangig von den Menschen ohne Behinderung aufgrund deren variableren Kommunikationsmöglichkeiten vorgenommen werden.
Ob also ein Merkmal als Behinderung erfahren wird oder nicht, hängt von den Bewertungsprozessen und Anpassungsleistungen aller sozialen Partner in den verschiedenen Situationen ab. Dabei kann davon ausgegangen werden, dass je ungewohnter ein solches Merkmal ist, wie z.B. bei einer schwersten, mehrfachen Schädigung, die Anpassungsleistungen umso größer sein müssen. Damit ist auch die Gefahr potenziert, dass die Schädigung in der Interaktion als Behinderung erlebt wird.
Bezogen auf den Bereich der Sexualität könnte das Beispiel auch folgendermaßen aussehen: Ein Mann mit einer Querschnittlähmung ist z.B. je nach Höhe und Ausmaß der Läsion nicht in der Lage, eine stabile Erektion zu erlangen. Damit bringt er auf der körperlichen Ebene eine zunächst von der überwiegenden Allgemeinheit abweichende Ausgangssituation für Genitalsexualität in eine Partnerschaft ein. Ob diese mangelnde Fähigkeit zur Erektion nun als Behinderung erlebt wird, hängt von den Bewertungsprozessen und Anpassungsleistungen der beteiligten Personen ab. Hier könnte man sich verschiedene Szenarien ausmalen: Unser Beispiel-Mann ist schwul und hat einen Partner mit einer Querschnittlähmung, so dass beide dieselben Voraussetzungen haben und dies als wenig einschränkend erleben. Oder: Er hat eine Partnerin, für die Genitalsexualität eine sehr bedeutende Rolle spielt und nur dies ‚richtige‘ Sexualität ist – sie wird die mangelnde Erektionsfähigkeit als eine Behinderung werten und ihn wahrscheinlich verlassen. Oder: Er hat eine Partnerin, die mit ihm gemeinsam die vielen anderen sexuellen Möglichkeiten erprobt und beide ein befriedigendes Sexualleben genießen. Oder: Er fühlt sich als minderwertiger Mann und beschließt, aufgrund der erlebten Behinderungen keine Partnerschaft mehr einzugehen. Fazit: Viele Bewertungsprozesse und Anpassungsleistungen sind möglich und denkbar und machen deutlich, dass Behinderung ein Konstrukt der beteiligten Personen ist.
Diese relationale Auffassung von Behinderung findet sich auch in der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation (WHO).
Allerdings wird mit dem Begriff der Behinderung in der ICF jede Beeinträchtigung der Funktionsfähigkeit eines Menschen erfasst. Die Funktionsfähigkeit des Menschen wird dabei unter den drei folgenden Aspekten betrachtet (nach Dimdi 2002):
Körperfunktionen und -strukturen auf der Ebene des Körpers und der Körpersysteme: Unter Körperfunktionen werden die physiologischen oder psychischen Funktionen von Körpersystemen verstanden, unter Körperstrukturen die anatomischen Teile des Körpers, wie Organe, Gliedmaßen und ihre Bestandteile. Störungen auf dieser Ebene heißen „Schäden“ (impairments). Die Schäden werden in Funktionsstörungen und Strukturschäden gegliedert.
Aktivitäten auf der Ebene des Menschen als selbständig handelndes Subjekt: Aktivität meint die Durchführung einer Aufgabe oder Tätigkeit durch eine Person. Störungen auf dieser Ebene werden Aktivitäts- oder Leistungsstörungen genannt (activity limitation). Das Konzept der Aktivität wird damit begründet, „daß zu handeln, aktiv zu sein, zu arbeiten, zu spielen, die Aufgaben und Arbeiten des täglichen Lebens zu erfüllen zu den zentralen Eigenschaften menschlichen Daseins gehören“ (Schuntermann 1999, 346).
Partizipation an Lebensbereichen auf der Ebene des Menschen als Subjekt in Gesellschaft und Umwelt: Partizipation bezeichnet die Teilnahme oder Teilhabe einer Person in einem Lebensbereich bzw. einer Lebenssituation in Bezug auf ihre körperliche und geistig/seelische Verfassung, ihre Körperfunktion und -strukturen, ihre Aktivitäten und ihre Kontextfaktoren, also in Bezug auf ihre personbezogenen Faktoren und Umweltfaktoren. Eine Störung auf dieser Ebene wird als Partizipationsstörung bezeichnet. Begründet wird das Partizipationskonzept dadurch, „daß sich die Daseinsentfaltung einer Person stets im Kontext seiner sozialen und physikalischen Umwelt (kurz: Umweltfaktoren) vollzieht und von diesen mitbestimmt wird“ (Schuntermann 1999, 347). Inwieweit eine Person mit einem bestimmten Gesundheits- und Aktivitätsstatus Partizipation erlangen kann, steht im Wesentlichen in Verbindung mit den Umweltfaktoren.
Die ICF als Weiterentwicklung der ICIDH-2 wird als „Konzept der funktionalen Gesundheit“ bewertet, dem ein „bio-psycho-soziales Modell der Komponenten von Gesundheit“ (Dimdi 2002, 5) zu Grunde liegt. Damit kann sie zwar nach wie vor als defizitorientiert bewertet werden, jedoch liegt eine eindeutige Ressourcenorientierung vor.
Die Anerkennung der drei Ebenen der ICF unter Einbezug der Kontextfaktoren ist als Klassifizierungsmodell in der Rehabilitationspädagogik allgemeiner Konsens. Entgegen der ICF werde ich im Folgenden nur die Beeinträchtigungen der Aktivität und der gesellschaftlichen Teilhabe als Behinderungen bezeichnen. Für die Funktionsstörungen auf der Ebene der Körperfunktionen und -strukturen werde ich die Begriffe der Schädigung bzw. der besonderen Lebensvoraussetzungen oder Ausgangsbedingungen des Lebens verwenden. Durch diese Unterscheidung wird deutlich fokussiert, dass Behinderungen durch entsprechend ungünstige bzw. behindernde Personenfaktoren und/oder Umweltfaktoren auf den Ebenen der Aktivität und Teilhabe konstituiert werden.
Wie die Definition von Sexualität zeigen wird (vgl. Kap. zwei), werden sexuelles Verhalten und Motivation in großen Teilen als erlernbar verstanden. Grundlage dieses individuellen sexuellen Lernprozesses sind vielfältige, immer den ganzen Menschen betreffende Erfahrungen. Für Menschen mit z. B. Körperbehinderung können vor allem die körperlichen Erfahrungen (Ebene der Aktivitätsstörungen) und die Erfahrungen in Sozialkontakten (Ebene der Partizipationseinschränkungen) aufgrund der körperlichen Schädigung wesentlich verändert sein und damit Besonderheiten im individuellen sexuellen Lernprozess bewirken. Diese potentiellen Besonderheiten werden in den Kapiteln zur sexuellen Entwicklung von Kindern und Jugendlichen weiter ausgeführt werden.
Die dargestellte relationale Perspektive auf Behinderungen verdeutlicht, dass das Vorliegen einer z. B. körperlichen Schädigung keine Auswirkungen auf die Entwicklung einer individuellen und subjektiv befriedigenden Sexualität bedeuten muss. Gelingt den Kindern und Jugendlichen, ihren Bezugspersonen und den Menschen, denen sie begegnen, der Umgang mit den verschiedenen Ausgangsbedingungen des Lebens zur Zufriedenheit aller Beteiligten, so bedeutet eine körperliche Schädigung allenfalls individuelle körperliche Voraussetzungen für die sexuellen Erfahrungen. Diese können verbunden sein mit negativen, positiven oder keinen Auswirkungen auf die sexuelle Entwicklung. Dies ist höchst individuell – wie jegliche sexuelle Entwicklung und Wahrnehmung sexueller Erlebnisse.
Es bleibt für alle potentiellen Veränderungen der sexuellen Entwicklung bei Kindern und Jugendlichen mit Behinderung festzuhalten, dass sie nicht als Kausalzusammenhang in Bezug auf eine ‚behinderte Sexualität‘ zu verstehen sind. Aus der Perspektive der Menschen ohne Behinderung scheint eine körperliche Schädigung z.B. in Form einer Infantilen Cerebralparese mit demgemäß eingeschränkten bzw. veränderten Bewegungsmöglichkeiten als eine Entwicklungsbesonderheit. Aus dieser resultieren jedoch keinesfalls zwangsläufig sexuelle Besonderheiten, da die Subjektivität der Wahrnehmung von Entwicklungsmöglichkeiten für ein Individuum ausschlaggebend ist. Entwicklungsbedingungen konstituieren sich im Leben und in der Begegnung mit anderen und dem gemeinsam gelingenden oder misslingenden Umgang mit den verschiedenen Lebensbedingungen der Beteiligten.
Die autobiografischen Texte vieler Menschen mit Körperbehinderung zeigen auf, dass sie die körperlichen Voraussetzungen ihres Lebens selbst durchaus nicht als Behinderung bewerten (z. B. Saal 1994, Schlüter/Faßbender 2006, Lapper 2005). So schreibt Saal: „Da ich ‚so geboren‘ (mit einer körperlichen Schädigung, Anm. B.O.) wurde, wie andere vielleicht mit roten Haaren oder mit blauen Augen geboren wurden, habe ich mich niemals anders gefühlt als andere Leute; als ganz und gar ‚normal‘“ (1994, 28). Allerdings zeigen seine weiteren Ausführungen, dass diese Selbstbewertung von anderen Menschen nicht geteilt wurde und die Fremdbewertungen erst den Prozess der negativen Bewertung seiner eigenen Lebenssituation auslösten. „Doch diese anderen Leute erzählten mir immer wieder, ich sei ‚behindert‘, darum nicht normal – und das sei schlimm! und als sie es mir lange genug erzählt hatten, glaubte ich es ihnen. Schließlich waren sie in der Mehrzahl“ (1994, 28 f.).
Martina Schlüter, die eine frühkindliche Hirnschädigung in Form einer Ataxie mit Spastik hat, beschreibt in ihren autobiografischen Reflexionen über ihre Schulzeit: „Ich habe mich zum Zeitpunkt meiner Schulzeit nie als behindert gefühlt. Es gab zwar Dinge, die ich gar nicht oder langsamer konnte, aber für die in meinem System bedeutsamen Fakten wurden immer Lösungen gefunden, die mich und mein Umfeld zufrieden stellten“ (Schlüter/Faßbender 2006, 69). Aus heutiger Perspektive betont sie: „Mir war und ist dabei wichtig zu betonen, dass mein Leben nicht von Leid geprägt ist, sondern bei allen Kämpfen, die es durchzustehen gilt, bin ich grundlegend sehr zufrieden und glücklich“ (ebd. 70). Aus diesen Beschreibungen wird zum einen wiederum die Relationalität von Behinderungserfahrungen sehr deutlich, aber zum anderen auch die große Abhängigkeit der Menschen mit Körperbehinderung von den Unterstützungsleistungen ihrer Umwelt und von gelingenden Sozialkontakten.
Bezogen auf den Bereich der Sexualität bei Menschen mit Behinderung können diese Einflüsse durch gesellschaftliche Tabuisierungs- und Negierungsprozesse weitere negative Konsequenzen haben. „Die Umwelt, die körperlich Geschädigten vermittelt, dass die Körperbehinderung sexuelle Verwirklichung unmöglich macht oder sexuelle positive Erfahrungen in negative ummünzt (...), bewirkt eine Übernahme solcher unangemessener Wahrnehmungstätigkeiten in der Psyche des Betroffenen, die sich in dauerhaften negativen Emotionen bei diesem verfestigen können“ (Weinwurm-Krause 1990, 28). Diese grundlegende Problematik, die schließlich alle Entwicklungsschritte beeinflusst, da sie häufig unbewusst von Eltern sowie anderen Bezugspersonen und professionellem Personal internalisiert wird, wird noch näher erläutert werden.
Ausschnitte aus zwei autobiografischen Berichten sollen die Einleitung abrunden und noch einmal für die besondere Erfahrungssituation von Menschen und hier vor allem Frauen mit Körperbehinderung sensibilisieren. Allison Lapper (2005), eine englische Künstlerin, die mit Phokomelie geboren wurde, schreibt zum Bereich der Sexualität: „Manchmal fragen mich die Leute, wie ich Sex mache. Dann erkläre ich ihnen, dass sie sich gefälligst um ihren eigenen Kram kümmern sollen, weil das nun wirklich meine Privatsache ist, außerdem empfinde ich diese Frage oft als leicht beleidigend. Dahinter verbirgt sich nämlich die Annahme, ich sei so grundlegend verschieden von allen anderen Frauen, dass mein Sexualleben äußerst merkwürdig und bizarr sein muss. Aber abgesehen von dem Fehlen meiner Hände und Arme und meinen verkümmerten Beinen, bin ich anatomisch vollkommen normal gebaut. Ich habe also Sex wie jede andere Frau, die mit einem Mann schläft“ (ebd. 229).
Auch Ursula Eggli (2002) beschreibt vor allem die gesellschaftlichen Reaktionen, aber auch die Erziehungsbemühungen, die eine erfüllte Sexualität und Partnerschaft für Frauen mit Behinderung ausschließen, als häufig erfahrene Diskriminierung.
„Unsere Gesellschaftsformen und Wertvorstellungen sind darauf angelegt, behinderte Frauen, mehr noch als Männer, von der Sexualität auszuschließen. Behinderte Mädchen werden zu behinderten Frauen erzogen. Meine Mutter erklärte mir früh, dass ich nie einen Mann finden werde. Das innere Gefühl des ‚Nichtgenügens‘ ist programmiert. Viele Behinderte werden spät oder gar nie aufgeklärt: ‚Du hast es doch gar nicht nötig.‘ Weit mehr als Männer sind Frauen äußeren Schönheitszwängen unterworfen. Wenn man weiß, wie schon nichtbehinderte Frauen darunter leiden, kann man sich ungefähr vorstellen, wie schwierig es für behinderte Frauen wird, zu einem einigermaßen vernünftigen Körperbewußtsein zu gelangen. Oft wird auch Sexualität mit ‚Kinderkriegen‘ gleich gesetzt. Wieder eine Erwartung, die behinderte Frauen nicht erfüllen können oder nicht erfüllen wollen. Wenn aber eine behinderte Frau schwanger wird, wird ihr nahe gelegt, die Schwangerschaft zu unterbrechen oder das Kind wegzugeben: ‚Das arme Kind, mit einer behinderten Mutter...‘“ (ebd. 101).
Sexualerziehung muss das Spannungsfeld von veränderten Erfahrungen durch die körperliche Schädigung, aber vor allem die erschwerenden Bedingungen durch Tabuisierung, Stigmatisierung und diskriminierende Reaktionen und Verhaltensweisen der Umwelt in ihr Konzept aufnehmen, um der Lebenssituation der Kinder und Jugendlichen gerecht zu werden. Eine solch relationale Betrachtung liegt den folgenden Ausführungen zugrunde.
Das leitende Verständnis von Sexualität, d.h wie eng oder weit dieser Begriff gefasst wird bzw. welche theoretischen Grundannahmen sich in ihm vereinigen oder auch ausschließen, bestimmt sowohl das Verständnis von sexueller Entwicklung als auch die daraus resultierenden Konsequenzen für die Sexualerziehung.
Für Menschen mit Körperbehinderung ist analog zu den drei Ebenen der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) der Weltgesundheitsorganisation von Bedeutung, a) inwiefern die körperliche Schädigung auch die Funktionsfähigkeit der Sexualorgane betrifft und b) diese sich auf ihre sexuellen Handlungsmöglichkeiten auswirkt. Schließlich ist c) noch zu beschreiben, inwiefern und durch welche gesellschaftlichen Faktoren die sexuelle Selbstverwirklichung beeinträchtigt sein könnte.
Bei all diesen Versuchen, Rahmenbedingungen zu beschreiben, darf jedoch nicht vergessen werden, dass sich Sexualität immer nur in einer realen Begegnung (hetero- oder homosexuell) oder Situation (autoerotisch) ereignet. Das Gelingen oder Misslingen bestimmen die Interaktionspartner und in erster Linie ihre Fähigkeit, mit Verschiedenheit umzugehen, und erst in zweiter Linie eine mögliche körperliche Schädigung.
Sehr deutlich möchte ich noch einmal betonen, dass sich aus einer körperlichen Schädigung z.B. in Form einer Querschnittlähmung keine ‚behinderte Sexualität‘ ergibt. Sicherlich haben ein Mann oder eine Frau durch eine Querschnittlähmung – je nach Höhe der Läsion – durch die motorischen oder sensiblen Ausfallerscheinungen im Genitalbereich andere Voraussetzungen, um Genitalsexualität zu leben. Sie können aber mit diesen veränderten körperlichen Voraussetzungen zu einer individuellen und subjektiv höchst befriedigenden und auch für die Partnerschaft erfüllenden Sexualität finden. Förderliche oder hinderliche Faktoren in diesem Prozess sollen in dem vorliegenden Buch aufgezeigt werden. Zunächst ist jedoch das Verständnis von Sexualität ein wichtiger Faktor.
Der Begriff der Sexualität wurde erstmals 1820 von dem Botaniker August Henschel in seinem Buch „Von der Sexualität der Pflanzen“ verwendet und bezeichnete die Aufteilung der Pflanzen in solche mit männlicher und solche mit weiblicher Ausprägung (Behörde für Schule, Jugend und Berufsbildung Hamburg 2000). Aufgrund dieses Ursprungs ist es nicht verwunderlich, dass eine biologisch-medizinische Betonung der Sexualität zunächst vorherrschend war.
In der aktuellen sexualwissenschaftlichen und -pädagogischen Literatur finden sich zahlreiche Versuche, Sexualität zu definieren. Die Autoren sind sich jedoch weitestgehend einig, dass sich die Vielfältigkeit menschlicher Sexualität kaum in einer Definition erfassen lässt (vgl. Lautmann 2002, Sielert 1993).
Das Grundproblem jeglichen Versuches, sich Sexualität definitorisch zu nähern, liegt in dem Spannungsverhältnis zwischen einem Höchstmaß an (wissenschaftlich nur schwer zugänglicher) Individualität und Intimität der verschiedenen „Sexualitäten“ (Sielert 1993) auf der einen Seite und der starken (versuchten) gesellschaftlichen Beeinflussung durch entsprechende Normen und Werte bzw. heute eher der gesellschaftlichen Tendenz der „Entzauberung und Trivialisierung von Sexualität“ (Stange 2001, 8) auf der anderen Seite. Beide Seiten stellen keine unveränderlichen Konstanten dar, sondern unterliegen einem Prozess der stetigen Veränderung und gegenseitigen Beeinflussung. Sexualität ist somit als lebenslange Entwicklungsaufgabe eines jeden Menschen zu verstehen, in der er in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Anforderungen und den eigenen Wünschen, die sich durch sexuelle Erfahrungen ausdifferenzieren, zu einer eigenen sexuellen Identität finden sollte.
Die folgende Definition von Sielert (1993) soll als Grundlage dienen, das Thema der Sexualität und folglich der Sexualerziehung bei Menschen mit Behinderung punktuell detailliert zu betrachten:
„Sexualität kann begriffen werden als allgemeine Lebensenergie, die sich des Körpers bedient, aus vielfältigen Quellen gespeist wird, ganz unterschiedliche Ausdrucksformen kennt und in verschiedenster Hinsicht sinnvoll ist“ (ebd. 43).
Die Einzelaspekte dieser Definition werden im Folgenden auf Menschen mit Behinderung bezogen dargestellt.
Sexualität als allgemeine Lebensenergie, die aus vielfältigen Quellen gespeist wird: Die Triebhaftigkeit der Sexualität im Sinne der Freudschen „Dampfkesseltheorie“ ist überwunden, jedoch ist heute nach wie vor strittig, in welchen Anteilen Sexualität biologisch oder soziologisch determiniert ist (vgl. Sielert 1993, Wrede/Hunfeld 1997, Kluge 1998). „An der Motivation sexuellen Handelns sind stets biogene und soziogene Einflüsse beteiligt“ (Kluge 1998, 64). Von großer Bedeutung ist für die Bezugsgruppe der Kinder und Jugendlichen mit Körperbehinderung der Aspekt, dass es sich bei Sexualität um eine jedem Menschen innewohnende Lebensenergie handelt. Damit sind die Tendenzen, Menschen mit Behinderung und hier vor allem Frauen als asexuelle Wesen zu betrachten (vgl. Geifrig 2003), als behindernd zu bezeichnen, da sie Menschen das Ausleben dieser Energie absprechen wollen. Demzufolge ist in einer Definition zu betonen, dass Sexualität einem jeden Menschen – egal wie die körperlichen und geistigen Ausgangsbedingungen seines Lebens sind – inhärent und für ihn/sie unverzichtbar ist.
Sexualität bedient sich des Körpers: An dieser Stelle muss ergänzt werden, dass sich Sexualität zwar des Körpers bedient, aber immer den gesamten Menschen umfasst und damit ebenso Gefühle, Erleben und Intellekt eingeschlossen sind (vgl. Kluge 1998). Abgelehnt werden muss ein zu enges Verständnis von Sexualität, das nur die Genitalsexualität berücksichtigt (vgl. Schuhrke 1994 mit ihrer Betrachtung von Sexualität im engeren Sinn), da dieses Verständnis wiederum Personen ausschließen würde, die Genitalsexualität z. B. aufgrund ihrer körperlichen Schädigung nicht leben können.
Ausdrucksformen und Sinnkomponenten von Sexualität: Sexualität werden verschiedene Sinnkomponenten und damit auch Ausdrucksformen zugeschrieben, die im Laufe der biografischen Entwicklung in der Regel verschieden gewichtet sind bzw. einzelne Aspekte im Vordergrund stehen lassen. Nach Sielert (1993) lassen sich folgende Aspekte beschreiben:
Der Identitätsaspekt umfasst das Erleben des eigenen Ichs sowie das Geben und Nehmen von Selbstbestätigung.
Der Beziehungsaspekt erfasst die (intime) Begegnung mit dem anderen, das Erleben von Wärme, Geborgenheit, Vertrauen.
Der Lustaspekt beschreibt die kraftspendende Erfahrung von Lust und Leidenschaft bis hin zur Ekstase.
Der Fruchtbarkeitsaspekt bezeichnet sowohl die lebensspendende Kraft von Sexualität sowie die Möglichkeit, ein Kind zu zeugen.
Bedeutsam ist an den genannten Aspekten, dass sie als gleichwertig zu betrachten sind und nicht alle im Sinne einer ‚vollwertigen‘ Sexualität in einem menschlichen Leben verwirklicht werden müssen.
Biografische Aspekte der Sexualität: Sexualität ist eine lebenslange Option, die je nach Alter unterschiedliche Ausprägungen erfahren kann (vgl. Lautmann 2002). Obwohl schon Freud auf die kindliche Sexualität hinwies, ist dieses Alter nur marginal in der Forschung vertreten. Wie die Ausführungen zur sexuellen Entwicklung zeigen werden, ist schon bei Kindern vielfältiges sexuelles Erleben zu beobachten.
Geschlechtsspezifische Sexualität: Geschlechtsspezifische Unterschiede im sexuellen Erleben des Koitus sind 1967 durch Masters und Johnson belegt worden. Ebenso sind die Entwicklung der Psychosexualität und Geschlechtsidentität immer geschlechtsspezifisch ausgerichtet, wobei Mertens (1997) vor allem die unbewusste Weitergabe von geschlechtsrollenspezifischen gesellschaftlichen Anforderungen durch die Eltern beschreibt. Bei Menschen mit Behinderung erfahren Frauen häufiger negative Konnotationen im Bereich der Sexualität als Männer (vgl. Geifrig 2003, Schmetz 2001). Demzufolge sollte der Aspekt der Geschlechtsspezifität in einer Definition berücksichtigt werden.
Ambivalenz der Sexualität: Martin und Niemann (2000) weisen in ihren Ausführungen ergänzend auf die „anderen Gesichter der Sexualität“ hin: „Pornografie, Prostitution, Perversionen, Vergewaltigung oder sexueller Missbrauch“ (ebd. 453). Hier wird deutlich, dass Sexualität auch von Gewalt und Aggressionen bestimmt sein kann. Gerade für Menschen mit Behinderung ist dieses Thema von besonderer Bedeutung, da sie z. B. aufgrund ihrer durch starke Abhängigkeit geprägten Lebenssituation „ein größeres Risiko haben, Opfer sexuellen Missbrauchs zu werden als Kinder und Jugendliche ohne Behinderung“ (von Weiler/Enders 2001, 125).
Aufgrund der genannten, die Definition von Sielert (1993) ergänzenden Aspekte, soll diese nun erweitert werden und als Grundlage für die weiteren Ausführungen dienen:
Sexualität kann begriffen werden als allgemeine, jeden Menschen und die gesamte menschliche Biografie einschließende Lebensenergie, die den gesamten Menschen umfasst und aus vielfältigen Quellen – soziogenen und biogenen Ursprungs – gespeist wird. Sie beinhaltet eine geschlechtsspezifische Ausprägung, kennt ganz unterschiedliche – positiv oder negativ erfahrbare – Ausdrucksformen und ist in verschiedenster Weise sinnvoll.
Sexualität ist ein Forschungsgegenstand, der erst seit gut 100 Jahren im Blick der Wissenschaften ist. Zunächst dominierte der somatisch-biologische Blickwinkel der Medizin, der Anfang des 20. Jahrhunderts durch psychoanalytische Beobachtungen und anthropologisch-hermeneutische Gesichtspunkte ergänzt wurde. Gegen Ende des letzten Jahrhunderts bestimmten empirisch-sozialwissenschaftliche sowie klinisch-psychotherapeutische Fragen den Forschungsgegenstand (vgl. Bräutigam/Clement 1989). „Sexualforschung wird, will sie ihrem Gegenstand, der immer mehr ist als nackte Sexualität, gerecht werden, Perspektiven und Methoden verschiedener wissenschaftlichen Disziplinen in sich vereinigen“ (ebd. 12).
Um dieser Forderung nach Interdisziplinarität gerecht zu werden, soll im Folgenden Sexualität aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Dazu wurden die für das Thema der Sexualerziehung bedeutsamen medizinischen, psychoanalytischen und soziologischen Sichtweisen ausgewählt. Die speziell pädagogische Sichtweise wird im Rahmen der Betrachtung der Sexualerziehung thematisiert.
Die Medizin beschäftigt sich zunächst mit den körperlichen Grundlagen von Sexualität und daraus abgeleitet mit möglichen Funktionsstörungen. Sie nimmt aber ebenso Fragen von Transsexualismus, sexueller Partnerorientierung bzw. psychosomatischen Störungen in den Blick. Für die vorliegenden Ausführungen sind vor allem die körperlichen Grundlagen von Sexualität bedeutsam und analog dazu mögliche schädigungsbedingte Funktionsstörungen, die Menschen mit Körperbehinderung ggf. in ihre individuelle Sexualität als Ausgangsvoraussetzungen integrieren müssen.
Aus biologischer Sicht ist zunächst von Bedeutung, dass der Mensch als Mann oder Frau existiert, was durch die unterschiedlichen Geschlechtsorgane sichtbar ist. Die Unterschiede im äußeren Habitus bestehen im statistischen Durchschnitt in Bezug auf Körpergewicht bei der Geburt, Körpergröße und im Verhältnis von Muskulatur und Fettgewebe (Bräutigam/Clement 1989, 42).
Das Geschlecht manifestiert sich körperlich auf verschiedenen Ebenen (ebd. 43/44):
Chromosomen: Die Heterochromosomen bilden bei der Frau ein XX-Paar, beim Mann ein XY-Paar.
Keimdrüsen (Gonaden): Sechs Wochen nach der Befruchtung erfolgt durch den Einfluss des männlichen Hormons Androgen eine Geschlechtsdifferenzierung der Gonaden, die im weiteren Verlauf für die Keimzellenproduktion und die geschlechtsspezifische Hormonproduktion verantwortlich sind.
Innere und äußere (primäre) Geschlechtsmerkmale: Testosteron führt zur Ausbildung von Penis und Hodensack beim Mann, das Ausbleiben dieses männlichen Hormons zur Ausbildung von Vulva, Klitoris und dem vorderen Teil der Scheide bei der Frau.
Sekundäre Geschlechtsmerkmale: Ebenfalls unter Hormoneinfluss bildet sich der unterschiedliche Körperbau aus (Verhältnis Fettgewebe – Muskelgewebe, Behaarung, Stimmbildung, Brüste usw.).
Zentrales Nervensystem und endokrines System: Unter Einfluss der Androgene bildet sich bereits intrauterin der Hypothalamus in männliche oder weibliche Richtung aus. Dieser wiederum regelt über die Hypophyse die Produktion der Geschlechtshormone, die maßgeblich für die sexuelle Reifung sind. Sie regeln ebenfalls bei der Frau den Menstruationszyklus, Schwangerschaft, Geburt und Stillzeit. Beim Mann werden die entsprechenden Rückenmarksabschnitte für Kopulation, Erektion und Ejakulation durch die Hormonausschüttung sensibilisiert.
In der Physiologie der sexuellen Erregung lassen sich ebenfalls Unterschiede zwischen Mann und Frau feststellen. Masters und Johnson (1967) haben hier mit ihrer breit angelegten Pilotstudie grundlegende Kenntnisse in die Wissenschaft eingebracht. So lassen sich bei beiden Geschlechtern vier Phasen des sexuellen Erregungsablaufs beschreiben: Erregungsphase, Plateauphase, Orgasmus und Refraktärphase. Allerdings ist „die individuelle Varianz des sexuellen Erregungsablaufs bei der Frau im ganzen größer als beim Mann“ (Bräutigam/Clement 1989, 49). Beim Koitus ist die Verlaufskurve bei der Frau insgesamt und in allen einzelnen Phasen länger. Männer sind über visuelle Anregungen stärker ansprechbar als Frauen. Diese bevorzugen zur sexuellen Anregung eher körperliche Berührungen.
Die psychoanalytische Betrachtung des Sexuellen geht auf Sigmund Freud zurück, der Anfang des letzten Jahrhunderts seine damals bahnbrechenden Erkenntnisse veröffentlichte und eine breite Diskussion anstieß. In seiner Trieblehre reduzierte er die im 19. Jahrhundert von den akademischen Psychologen angenommenen nahezu 140 Triebe auf zwei Grundtriebe: den Eros und den Destruktionstrieb (Mertens 1997, 16/17). „Diese klassische Triebtheorie ging von einem intraorganismischen ersten Beweger aus, und nach Lichtenberg muß diese klassisch psychoanalytische Annahme (...) revidiert werden: Auch äußere Gegebenheiten setzen Motivationssysteme in Gang“ (Mertens 1997, 18). Lichtenberg (1989) unterscheidet fünf Motivationssysteme, deren Zweck es ist, Grundbedürfnisse zu befriedigen bzw. zu regulieren. Eines dieser Motivationssysteme besteht aus dem Bedürfnis nach sinnlichem Genuss und sexueller Erregung. Damit wird nach Mertens (1997, 18) „die Bedeutung der psychosexuellen Determination menschlichen Verhaltens“ drastisch eingeschränkt. So reicht es seiner Meinung nach nicht aus, zur Betrachtung des Sexuellen nur dieses Motivationssystem heranzuziehen. Ebenso müssen die vier anderen von Lichtenberg (1989) benannten Motivationssysteme – a) Regulierung physiologischer Erfordernisse, b) Bindung und Zuneigung, c) Exploration und Selbstbehauptung, d) Aversion – eingebunden werden. Die Frage des psychosexuellen Erlebens und der Entwicklung der Geschlechtsidentität „zeigt die Verklammerung an, die das Sexuelle mit Themen wie Selbst, Identität, Affekt und Beziehung in der zeitgenössischen Psychoanalyse aufweist“ (Mertens 1997, 22). In den letzten zwanzig Jahren ist dieses Thema in der Psychoanalyse zunehmend aktuell.
Das Konzept der Geschlechtsidentität als Konglomerat der bewussten Vorstellungen und unbewussten Phantasien einer individuellen Kombination von Männlichkeit und Weiblichkeit setzt sich aus den Komponenten
Kern-Geschlechtsidentität,
Geschlechtsrolle (Geschlechtsrollenidentität) und
Geschlechtspartner-Orientierung
zusammen (Mertens 1997, 23). Die „Idealvorstellung von einem psychisch gesunden und ausgewogenen Menschen ist nach neueren sozialwissenschaftlichen und psychoanalytischen Erkenntnissen und Optionen (...) der Mensch, der männliche und weibliche Anteile integriert hat“ (ebd. 29).
Die genannten drei Komponenten sollen im Folgenden kurz erläutert werden.
Die Kern-Geschlechtsidentität „stellt das primordiale, bewusste und unbewusste Erleben dar, entweder ein Junge oder ein Mädchen bezüglich seines biologischen Geschlechts (...) zu sein“ (ebd. 24). Sie entwickelt sich zum einen auf der Grundlage des biologischen Geschlechts und zum anderen durch die Geschlechtsrollenmuster, die durch die Eltern an das Kind herangetragen werden. Es ist davon auszugehen, dass die Sozialisation eines Kindes von Beginn seines Lebens an geschlechtsspezifisch ist und die geschlechtsrollenkonformen Erwartungen durch das Verhalten der Eltern vom Kind vor allem in den ersten beiden Lebensjahren internalisiert werden.
Die Fortsetzung dieser noch unbewussten Kern-Geschlechtsidentität geschieht nun auf einem höheren symbolisch-sprachlichen Niveau und wird als Geschlechtsrolle bezeichnet. Sie lässt sich „als das Insgesamt der Erwartungen an das eigene Verhalten wie auch an das Verhalten des Interaktionspartners bezüglich des jeweiligen Geschlechts auffassen“ (ebd. 24). Erwünschte männliche oder weibliche Verhaltensweisen in bestimmten Interaktionsprozessen sowie Persönlichkeitsmerkmale erwirbt das Kind im Verlauf des primären Sozialisationsprozesses. Das bewusste Rollenlernen führt in der Entwicklung des Kindes zu der Selbstattribuierung, einem bestimmten Geschlecht anzugehören. Aus psychoanalytischer Sicht entwickelt sich die Geschlechtsrolle „auch aufgrund subtiler Beeinflussungsprozesse in der Interaktion zwischen Eltern und Kind“ (ebd. 25).
Die Geschlechtspartner-Orientierung bezeichnet das bevorzugte Geschlecht bei der Wahl des Geschlechts- oder Liebespartners. Während Kinder noch eher bisexuell ausgerichtet sind, erfahren sie trotzdem im jungen Alter ihre ersten prägenden Eindrücke zur geschlechtlichen Orientierung. Zur Ausgestaltung der Geschlechtspartner-Orientierung kommt es allerdings erst im Rahmen adoleszenter Reorganisationsprozesse. Mertens (1997) nimmt an, dass die heterosexuelle Ausrichtung der Teil der Geschlechtsidentität ist, der am wenigsten im körperlichen Bereich verankert ist.
In seiner Darstellung der psychosexuellen Entwicklung und der Entstehung der Geschlechtsidentität differenziert Mertens (1997, 29) zwischen folgenden fünf Bereichen:
Körperempfindungen und psychosexuelle Erfahrungen,
Interaktion mit Mutter und Vater,
Identifikation mit Mutter und Vater,
Lernen der Geschlechtsrolle,
Selbstkategorisierungsprozesse.
Die Bedeutung der Körpererfahrungen für die psychosexuelle Entwicklung eines Menschen ist von besonderem Interesse für die vorliegenden Ausführungen. Diese zunächst sensomotorischen Erfahrungen sind der „Kristallisationspunkt des geschlechtsspezifischen körperlichen Selbsterlebens (...), bevor es dann mit Einführung sprachlicher Symbolsysteme zur psychischen Repräsentanzenbildung und schließlich zur Konstanz der Selbstrepräsentanz – und damit zu einer andauernden Identitätsvorstellung – kommt“ (ebd. 31). Die differenzierte interdisziplinäre Betrachtung sexueller Entwicklung wird zeigen welche Besonderheiten sich hier für Menschen mit einer körperlichen Schädigung ergeben können.
Sexualität ist immer ein individuelles und zugleich ein gesellschaftliches Interesse, wie sich z.B. aus dem Bemühen der Bundesregierung um Erhöhung der Geburtenrate durch Erhöhung des Kindergeldes bzw. die Einführung des Elterngeldes zeigt. Als gesellschaftliche Sexualität existiert sie nicht nur als Summe der handelnden Individuen, sondern als gesellschaftliches Ganzes, das sich in Form von verschiedenen Strömungen erfassen lässt (vgl. Stange 1989). „Sexualität war und ist gebunden an gesellschaftliche Norm- und Moralvorstellungen“ (ebd. 160). Diese waren im 19. Jahrhundert von der Norm der sexuellen Mäßigung bis hin zur Enthaltsamkeit geprägt. Noch in den 1950er und 1960er Jahren waren z. B. vor- oder außerehelicher Geschlechtsverkehr undenkbar (vgl. Neubauer 2002), die innerhalb der Ehe erlaubten sexuellen Praktiken waren restriktiv geregelt (vgl. Fend 2003), Homosexualität war durch den § 175 StGB verboten und die Vermietung von Räumlichkeiten an Unverheiratete per Kuppeleigesetz untersagt (vgl. Neubauer 2002).