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Eine Woche bis zur Hochzeit ihrer Tochter und Agnes beschleicht ein ungutes Gefühl: So viele Therapeut:innen unter den Gästen, wenn das mal gutgeht. Sie ahnt nicht, wie recht sie hat! Da wäre zum Beispiel ihr Onkel Malcolm, der Agnes nach dem Tod ihrer Eltern aufzog und nie den Mut aufbrachte, ihr zu erzählen, wessen Kind sie wirklich ist. Joseph wiederum ist heimlich in Agnes verliebt, seit sie vor Ewigkeiten bei ihm in Therapie war. Beide Männer haben sich vorgenommen, ihre Geheimnisse endlich zu lüften. Der größte Risikofaktor für die Hochzeit ist jedoch Agnes selbst, die sich gerade von einer intensiven Affäre erholt, von der niemand wissen soll.
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Seitenzahl: 267
Jane Campbell
Bei aller Liebe
Roman
Aus dem Englischen von Bettina Abarbanell
Für meinen Vater, natürlich
LIEBE Psychoanalytiker haben genauso große Mühe wieandere, ein derart vielgestaltiges Konzept zu definieren.
Charles Rycroft, Ein kritisches Wörterbuch der Psychoanalyse
ERSTES KAPITEL
PROFESSOR MALCOLM MILLER
Der Tag vor dem Hochzeitsempfang
Es würde zu lange dauern, das enge Bündnisder Widersprüche in der Natur des Menschenzu erklären, das der Liebe gelegentlich das Aussehendes zum Letzten entschlossenen Verrates gibt. Vielleicht gibt es auch keine brauchbare Erklärung.
Joseph Conrad, Über mich selbst: Einige Erinnerungen
Ich bin inzwischen ein alter Mann, älter als die Anzahl meiner Jahre. Ich trinke zu viel und finde Gründe, mich nicht zu bewegen und keinen gesellschaftlichen Verkehr zu pflegen (scheußlicher Ausdruck, ich entschuldige mich). Ich liebe niemanden oder so gut wie niemanden, nicht mehr. Ich existiere in einer Art lauwarmer Plörre der Unzufriedenheit mit mir selbst und meinem Leben. Dann und wann keimt kurz das Verlangen nach einem konkreten Vergnügen in mir auf; nach Sex vielleicht, einer neuen Idee, ein paar aufwühlenden Akkorden auf dem Klavier. Aber nichts hält vor. Ich kann mich schon bald wieder abwenden und in mein vertrautes, krötengleiches Dasein zurückziehen. Auch das, ich bin inzwischen recht unansehnlich. Um meinen Hals herum liegt schichtenweise überschüssige gefleckte Haut, und meine Augen, hinter der dicken Brille, sind todgeweiht. Ich sitze hier in meinem komfortablen Apartment, das im ersten Stock des ziemlich vornehmen kleinen, für uns alte Oxford-Akademiker gebauten Wohnheims liegt, und blicke auf St. Ethelburga, diese charmante Kirche aus dem 12. Jahrhundert, und ihre Ansammlung uralter Grabsteine. Ständig so an die ewigen Wahrheiten erinnert zu werden kann einen leicht aus der zäh verteidigten Seelenruhe bringen, und wie so oft dieser Tage denke ich über einige bedeutsame Entscheidungen nach, die ich in der Vergangenheit getroffen habe.
Von all den Erkenntnissen, die ich meinem langen und eher unbefriedigenden Leben abgewinnen konnte, ist die unverwüstlichste und beunruhigendste wohl die Promiskuität unserer Wahrnehmungen. Treulose Eleven sind unsere Augen, doch mehr noch als die Augen selbst sind es unsere Folgerungen aus dem, was wir mit ihnen wahrzunehmen glauben, unsere weitschweifenden Schlüsse und festen Überzeugungen, die bereitwillig mit jedem ins Bett gehen, jedem Gedanken, jedem Bild, nur um am Morgen zu schwören, das, was wir wahrgenommen hätten, sei wirklich so passiert, oder nein, es sei nicht so passiert. Die Dinge um uns herum sind, wie sie sind; was wir brauchen, sind neue Augen. Wir glauben, was wir sehen, doch noch bevor wir unsere Blicke auf etwas lenken, entscheiden wir, was genau wir sehen werden. Nicht bewusst natürlich; vielmehr geschieht es heimlich, hinter unserem Rücken, alle Spuren werden verwischt. Der Motor all dieser Täuschungen? Unsere Gelüste. Unser unstillbarer Hunger. Unsere schauerlichen Ängste. An dieser Sichtweise ist nichts neu. Wie Miniatur-Tantalusse (oder heißt es Tantali?) sind wir von köstlichen, begehrenswerten Delikatessen umgeben, ohne jede Hoffnung, sie jemals zu erreichen. Könnten wir in ihnen die wertlosen Nichtigkeiten sehen, die sie sind, wären wir vielleicht imstande, dem Verlangen zu widerstehen und ein friedliches, sattes, glückliches Leben zu führen. Aber wie fad, wie unendlich langweilig wäre das. Finden Sie nicht?
Ich merke, dass ich etwas klarstellen muss: Ich spreche hier über Menschen, nicht über Dinge. Über Gefühle, über Liebe und Hass, über unsere emotionalen Reaktionen auf die schier unüberschaubare Menge an Menschen, denen wir im Laufe eines durchschnittlichen Lebens begegnen. Ich habe versucht, auf dieser langen Reise zur Gleichgültigkeit zu finden. Ich habe mein Bestes gegeben, gelungen ist es mir nicht. Aber ich habe noch nicht aufgegeben. Mein Alter hilft.
Wer bin ich oder vielleicht auch was? Ich würde mich als einen emeritierten Oxford-Professor beschreiben, einen Experten fürs Alte Testament und einen bärbeißigen alten Junggesellen mit schwachem Herzen. Es gibt andere Varianten von mir auf demselben Flur und eine passable Weinkarte unten im Gemeinschaftsspeisesaal. Sally, die Neuste und Goldigste vom Pflegepersonal, scheint mich zu ihrem Liebling erkoren zu haben, und ich erhebe keinen Einspruch.
Warum in Gottes Namen also sollten Sie sich für die Geschichte interessieren, die ich Ihnen gleich erzählen werde? Die Antwort ist kurz und bündig: Sie handelt letzten Endes, zumindest glaube ich das, nicht von mir. Ich spreche als der Bote, der Beobachter, der Souffleur, und obwohl ich diese alte Gabe von mir inzwischen mehr oder weniger in den Staub getreten habe, kann ich doch immer noch einen Satz bilden, ein Verb finden und jenes eine schillernde Adjektiv, das eine trübe Matschpfütze in Gold verwandelt. Also los.
Die Geschichte handelt von einem Brief. Der Brief, der hier vor mir auf dem Fenstersims liegt, wurde mir vor ungefähr fünfzig Jahren von meiner Schwester Sophy anvertraut. Auf dem Umschlag steht in ihrer eleganten Handschrift Dr Joseph Bradshaw persönlich. Geschrieben im Sommer 1946. Ich war noch keine zwanzig, und Sophy hatte gerade herausgefunden, dass Joe den Krieg überlebt hatte. Sie und Kurt, ihr Ehemann, wollten zu einem kleinen, gleich südlich von Merebridge praktisch am Strand gelegenen Ferienhäuschen aufbrechen, um dort mit ihrer vierjährigen Tochter Agnes ein paar unbeschwerte Tage zu verbringen. Wie mühelos wir damals noch unsere Pläne machten. Wie zuversichtlich.
Dann sollte ich mit meinem alten Morris Eight zu ihnen kommen, das kurze Stück die Wirral-Küste hinunter, und ihnen den Wagen übergeben. Sie wollten damit nach Chester weiterfahren, während ich mit Agnes in den Zug setzen und zu ihnen zurückkehren würde. Unterwegs zu ihnen zog das Mündungsgebiet des Dee an mir vorbei, und ich erinnerte mich wieder daran, wie beruhigend karg und wild dieser ganze Küstenabschnitt war.
Sophy und ich waren in Merebridge aufgewachsen, am äußersten Rand dieser weitläufigen, gewellten braunen Sandstrände mit allenfalls flüchtigen Blicken auf die Irische See dahinter und den Schatten der Walisischen Berge am Horizont. Wenn ich jetzt zurückschaue, erinnere ich mich an den tiefen Frieden all dessen, und im Fahren glitten meine Augen liebevoll über die vertrauten, wie alte Haut gerunzelten Felsen und die von Gras gesäumten Dünen, während ich dem Wind lauschte, der erfüllt war von Möwengeschrei. Sophy war so glücklich, als ich bei ihnen ankam, so sprühend und indiskret. »Im Ernst, Mally, ich glaube, wir haben uns DIE GANZE NACHT geliebt!« Und sie grinste und war ganz zappelig, und ich meinte, sie noch nie so voller Leben und Freude gesehen zu haben. Ich überließ ihnen den Wagen, »die Todesmaschine«, wie ich ihn später etwas dramatisch bei mir nannte, und fuhr dann mit Klein-Agnes im Zug nach Hause zurück. »Hast du den Brief abgegeben, Mally?«, hatte Sophy mir noch zugeflüstert, und ich hatte irgendwie halb genickt und halb den Kopf geschüttelt, denn natürlich hatte ich es, routiniert im Aufschieben von Dingen, nicht getan. Da ich aber wusste, dass ich es noch tun würde, sagte ich: »Keine Sorge.« Ich wollte es gleich am nächsten Tag tun; doch da war nichts mehr wie zuvor.
Der Abschied von ihren Eltern fiel Agnes schwer. Sie saß auf den Felsen und beobachtete Sophy, die in Sonntagskleidung am Strand entlanglief. Kurt wartete oben an der Straße auf sie. Plötzlich rannte Agnes weinend hinter ihrer Mutter her und rief: »Geh nicht, Mummy. Du kannst doch ertrinken.« Sie muss gedacht haben, Sophy laufe ins Meer, und vielleicht war Sophy nicht ganz unschuldig daran. Wieder und wieder hatte sie Agnes gewarnt, bei Ebbe ja nicht zu weit hinauszugehen. Pass auf, sagte sie dann immer, die Flut kommt so plötzlich und schnell herein wie ein galoppierendes Pferd. Ein Detail, das wie dafür gemacht war, Agnes für immer im Gedächtnis zu bleiben. »Lass mich nicht allein«, rief Agnes also an jenem Tag, dabei war sie nicht allein; ich war ja da. Sophy küsste sie zum Abschied. »Ich komme bald wieder. Onkel Mally kümmert sich so lange um dich.«
Und so nahm ich Agnes im Zug mit nach Hause. Ich hatte vorher noch nie viel Zeit mit ihr verbracht, und doch erlaubte sie mir mit absolutem Vertrauen, die Rolle ihres einzigen Beschützers auszufüllen. Sie setzte sich auf mein Knie, und wir blickten gemeinsam in die Gärten der kleinen Häuser, an denen wir vorbeifuhren, und hielten Ausschau nach dem Meer, das wir manchmal ganz kurz dazwischen aufschimmern sahen. Sie lächelte fast die ganze Zeit. Wenn wir unterwegs an einem der kleinen Bahnhöfe anhielten, öffnete ich das Fenster, damit sie sich auf dem Sitz stehend hinauslehnen konnte, und legte den Arm um ihren kleinen, zarten Körper. Sobald der Zug wieder anfuhr, ließ sie sich auf mein Knie zurückfallen. »Hast du gesehen, wie er mit seiner Fahne gewinkt und in seine Pfeife gepfiffen hat, Onkel Mally?« Wie lebhaft das Gesicht eines Kindes Freude ausstrahlen kann, dachte ich; das hatte ich vorher nicht gewusst. Und auf eine seltsame Weise war ich stolz und ungeheuer berührt von ihrer Gegenwart. »Mummy und Daddy kommen bald wieder«, vertraute sie mir an.
Vom Bahnhof in Merebridge war es nur ein kurzer Fußweg über den Stanley Drive bis zum Pfarrhaus. Ich konnte sehen, dass sie müde war, und nahm sie an die Hand, doch sie blieb stehen, hob die Arme und sagte: »Trägst du mich, Onkel Mally?« Also nahm ich sie hoch, so leicht, so klein, und sie legte die Arme um meinen Hals und ihre Wange an meine. »Ich hab dich lieb, Onkel Mally«, sagte sie, und natürlich antwortete ich ihr: »Und ich hab dich auch lieb, Agnes.«
Ich merkte, mit welcher Vorsicht ich weiterging. Jeder Schritt auf dem Weg durch die Lindenbaumschatten war plötzlich bedeutungsschwer, weil ich diesen Inbegriff der Unschuld auf dem Arm hatte. Mir wurde bewusst, dass ihr ganzes Leben mitsamt seiner Schrecken und Aufregungen noch vor ihr lag, und ich beschloss, für immer auf sie aufzupassen. Als wir zu Hause ankamen, übergab ich Agnes etwas widerwillig meiner Mutter. Es war Teezeit. Danach badete sie Agnes, während mein Vater und ich eine Partie Schach begannen. Fast unmittelbar nach der Eröffnung klingelte das Telefon, und mein Vater erfuhr, dass es einen Autounfall gegeben habe, Kurt sei tot und meine Schwester liege schwer verletzt im Chester Memorial Hospital.
Mein Vater und ich fuhren nach Chester. Sophy lag im Sterben, und er versah sie mit den Sterbesakramenten. Ich wusste nicht, was ich tun, wohin ich meinen Blick wenden sollte. Hauptsächlich erinnere ich mich an das Gefühl, nicht dort sein zu wollen. Sophy wusste, soweit sie noch etwas wissen konnte, dass Kurt tot war, und redete unzusammenhängend von Joe und Agnes, und ich bin mir nicht sicher, ob für meinen Vater irgendetwas davon Sinn ergab, aber für mich schon. »Du hast ihn abgegeben«, fragte sie mich plötzlich, und natürlich nickte ich.
»Ja, Sophy.«
»Dann hat er ihn wohl jetzt.«
Kurz darauf starb sie. Auf dem Rückweg fuhr ich, und mein am Boden zerstörter Vater saß neben mir, den Kopf in die Hände gestützt. Vielleicht betete er, während ich die Straße im Scheinwerferlicht im Blick behielt und an den Brief dachte, der noch zu Hause in meinem Zimmer lag.
Als wir zurückkamen, war Agnes schon zu Bett gebracht worden und wusste nichts von alledem, während meine Eltern und ich flüsternd, gedämpft, weinend darüber sprachen, was jetzt zu tun sei. Irgendwann sagte ich: »Ich muss wieder ans College zurück«, und weder meine Mutter noch mein Vater zog das in Zweifel.
Am nächsten Morgen war es unnatürlich still im Haus. Ich ging ins Wohnzimmer, wo Agnes und meine Mutter Seite an Seite auf dem Sofa saßen. Agnes hatte die Beine angezogen und fummelte an den Bündchen ihrer Socken herum, während meine Mutter sinnlose Bewegungen mit den Händen machte und sagte: »Zappel doch nicht so, Agnes.« Agnes’ Gesicht war weiß, ihre Augen groß, ihr Mund so verzogen, als hätte sie gerade etwas Ekelhaftes zu essen bekommen. »Onkel Mally«, sagte sie, »ich will zu Mummy.« Sie rutschte vom Sofa herunter und kam zu mir gelaufen, und ich konnte sehen, dass ihre Augen auf einmal voller Hoffnung waren: Ich war der Mensch, dem ihre Mutter sie erst gestern anvertraut hatte, wir hatten auf unserer Zugfahrt so viel Spaß zusammen gehabt, ich hatte sie nach Hause getragen, als sie müde war, ich war groß und stark und würde wissen, wie verzweifelt sie ihre Mutter brauchte. All das war ihr deutlich an den Augen abzulesen.
Ich wandte mich von ihr ab und ging ins Arbeitszimmer meines Vaters, der vornübergebeugt an seinem Schreibtisch saß, den Kopf in den Armen vergraben.
»Dad«, sagte ich. »Jemand muss sich um Agnes kümmern. Mutter schafft das nicht.«
Er stand auf und ging mir voraus ins Wohnzimmer, wo er Agnes auf den Arm nahm, und als ihr Kopf auf seine Schulter fiel, begann sie zu weinen, und ihre Stimme hallte im ganzen Haus wider und steigerte sich zu einem unendlich kummervollen Wehklagen. Ich sah noch, wie mein Vater sie hielt und am Rücken streichelte, bevor ich mich umdrehte und nach oben ging, um meine Sachen und den Brief zu holen. »Tschüss«, rief ich von der Diele aus, »bis bald.«
Habe ich mich wirklich so grausam und herzlos benommen? Vielleicht geht meine Erinnerung zu hart mit mir ins Gericht. Hauptsächlich, das weiß ich noch, hatte ich Angst. Die Scham kam später. Zunächst war da die Angst vor den Abgründen der Trauer, die sich um mich herum auftaten. Die Angst vor dem Strudel, der mich hinabziehen würde. Ich sagte mir, die Umstände werden helfen. Sie ist noch ein Kind, sie wird darüber hinwegkommen. Und ich, ich bin ja selbst noch ein junger Mann, oder sogar eher noch ein Junge. Aber die Umstände halfen nicht: Jungen meines Alters starben seit Jahren im Krieg. Ich ging rasch zum Bahnhof und versuchte, über einen Essay nachzudenken, den ich schreiben musste. Im Kopf schob ich die Sätze hin und her, kaufte mir am Bahnhof eine Zeitung und vergrub mich in ihren Seiten und Kreuzworträtseln, und als ich schließlich im Zug nach Oxford saß, begann ich die Fachzeitschrift zu redigieren, die ich herausgab. Agnes und ihr Entsetzen verschwanden langsam hinter einem Nebel aus Wörtern. Mein verlässlichstes Hausmittel. Als ich in Oxford ankam, fühlte ich mich fast normal.
Was für ein Mann würde sich in Agnes’ Stunde der Not so benehmen, frage ich mich jetzt, während ich den Brief aus dem Umschlag nehme. Früher am Morgen hatte ich Band II (P – Z) des Oxford English Dictionary aus dem Regal neben meinem Schreibtisch genommen. Einst, als ich als Fellow für die Bibliothek in Pembroke zuständig gewesen war, hatte ich uneingeschränkten Zugang zur gesamten College-Bibliothek gehabt, doch jetzt musste ich mit drei Bänden Vorlieb nehmen, wobei auch das keine kleine Sache war, denn jeder Band wog einige Pfund. Recht bald, nach einigem ungeschickten Blättern und Herumhantieren mit dem Vergrößerungsglas (das man zu den Bänden dazubekam), fand ich das Wort, das ich brauchte. Remorse – Zerknirschung.
Nun, sagte ich zu der vor mir aufgeschlagenen Seite, du magst »Zerknirschung« für obsolet halten, aber für mich ist es ein sehr reales, gegenwärtiges und unmittelbares Problem. Zärtlich betrachtete ich den Text. Um möglichst viel Wissen auf möglichst engem Raum zu verdichten, hatte man eine extrem kleine Schrift verwendet, und während ich das Vergrößerungsglas über die winzigen, nahezu unlesbaren Buchstaben hielt, ruhte meine Hand auf der Seite. Das Gefühl des feinen weißen Papiers unter meiner Handfläche war angenehm. Eine vertraute sinnliche Begleitung meiner Jahre als Gelehrter. Inzwischen konnte ich mir die Aufregung über ein bislang unentdecktes Wort, das womöglich schon bald gut geschützt in meinem Gedächtnis liegen würde, allenfalls noch vorstellen.
Erneut hob ich das Vergrößerungsglas. 1605 (Temple) Hist. Eng. (1699) 578 ›Either the Fame of his Forces, or Remorse of his Duty, prevailed with Duke Robert to offer again his submission.‹ Remorse of his Duty. Zerknirschung ob seiner Pflichtverletzung. Wie furchtbar passend. ›Her conscience remorsed her and she fyl doun to hir feet requyryng pardon.‹ Verblüffend, wie wenig sich verändert hatte, dachte ich, als ich die alte Schreibweise betrachtete. Und an dem Gefühl der Zerknirschung, dem Wunsch nach Vergebung, hatte sich auch nichts geändert.
Ich kann nicht ewig fliehen. Ich sitze jetzt hier und denke beschämt über meine außerordentliche Feigheit nach. Der Gelehrte, und nichts anderes war ich, kann stets in sein kleines intellektuelles Universum entfliehen. Es war so ein Leichtes für mich, in meinem Arbeitszimmer zu verschwinden, mich in meiner neuerlichen Deutung von Exodus 17:8–16 im Licht der heliopolitanischen Kosmogonie zu verlieren oder hinter einer der vielen drängenden akademischen Erwartungen wie der Revision von H. G. Mays Oxford Bible Atlas zu verstecken. Aber damit ist es nun vorbei. Ich nehme den Brief in die Hand. Ich kenne ihn fast auswendig.
Das Pfarrhaus
23 Stanley Drive
Merebridge
21. Juli 1946
Lieber Joe,
ich habe diesen Brief im Kopf so oft geschrieben und weiß doch nicht, wie ich anfangen soll. Aber voilà … damit ist ja schon ein Anfang gemacht! Es fällt mir nicht leicht, dir zu schreiben, denn ich möchte dir keine Sorgen bereiten, sondern dir nur einen Gruß schicken. Wir hatten im Krieg eine dramatische Begegnung, und manchmal denke ich, es gibt keinen Grund, warum du dich an mich erinnern solltest. Ich aber habe seitdem wahrscheinlich jeden Tag an dich gedacht. Während des Blitzkriegs im Mai 1941 saß ich am Steuer eines Krankenwagens, der auf der St Anne’s Road in Liverpool in eine heftige Bombenexplosion geriet, und du hast mich von der Straße aufgehoben und in ein nahes Gebäude getragen. Wir haben die ganze Nacht beieinander gelegen und uns erst getrennt, als am frühen Morgen die Entwarnung kam. Ich war damals sicher, wir hätten nicht mehr lange zu leben, und bat dich, mit mir zu schlafen. Ich habe eine Tochter, Agnes, ein wunderschönes, kluges Kind, das deins sein könnte, aber du sollst wissen, dass ich einen herzensguten Mann geheiratet habe, der uns beide innig liebt. Wir sind glücklich, wir drei, und er glaubt, dass er ihr Vater ist, was auch durchaus möglich sein kann. Wir haben sie Agnes genannt, nach seiner Mutter, und Josephine, weil ich gesagt habe, dass ich den Namen so sehr mag. Für alle Fälle, Joe. Ich schreibe dir nicht, um dich um irgendetwas zu bitten. Aber ich verspüre ein großes Bedürfnis, mit dir zu sprechen, weil du infolge dieser Nacht auf eine Art und Weise in mein Leben eingewoben bist, die ich nicht leugnen kann, und deshalb möchte ich dir ein wenig von mir erzählen.
Es klopft an der Tür, zweifellos ein Geschäftsreisender aus Porlock.
Nein. Es ist Sally. »Kaffee, Professor?«
Ich habe kardiovaskuläre Probleme, die Diagnose ist offiziell. Ich hoffe, dass ich in diesem Zimmer sterben darf, es hat so viele Annehmlichkeiten, geistiger wie praktischer Natur. Von hier aus kann ich die Glocken von St. Ethelburga läuten hören, die Kirche, genauso alt wie die Universität, ist nur einen Katzensprung entfernt. Nicht dass ich noch viele Sprünge machen könnte, aber immerhin komme ich ohne große Mühe dorthin. Und ich kann Bäume sehen und den Himmel und die Wolken; eine Zeit lang habe ich zur Gesellschaft der Wolkenbewunderer gehört. Der Himmel ist für mich nicht nur ein kleiner Flecken Blau. Und dann die Bücher. Überall an den Wänden. Meine Schätze.
Ich rühre den Kaffee um und trinke einen Schluck. Zum Frühstück bekommen wir Filterkaffee, aber um elf gibt es löslichen. Gar nicht so übel. Ich beiße in den Shortbread-Keks, wische die Krümel auf den Boden. »Zerknirschung ob seiner Pflichtverletzung«. Ja, eine gute Wendung. Und eine passende Bedeutung. Für mich keineswegs obsolet.
Ich habe eine letzte Ruhestätte für mich gewählt. Nicht offiziell, nur heimlich, träumerisch. Doch bevor ich sterben darf, muss ich diese Angelegenheit regeln: Morgen werde ich Agnes den Brief geben, den ihre Mutter mich vor so langer Zeit abzuliefern gebeten hatte.
Ist es mehr als fünfzig Jahre her? Fast ein ganzes Leben. Vielleicht hätte ich ihn Agnes längst geben sollen, aber ich habe mich schon immer ängstlich bemüht, den Fluss des Lebens nicht zu stören. Im Sinne der Beständigkeit zu handeln. Und ganz konkret, das Kind zu beschützen. Die Lieblichkeit der kleinen Agnes hatte mir den Boden unter den Füßen weggezogen, und ihre Traurigkeit war mir unerträglich gewesen. Ich rechtfertigte meine Unterlassung damit, dass es zwingend nötig gewesen war, meine schützende Hand über sie zu halten. Verantwortungsbewusstsein zu zeigen. Wie verlockend konnte es sein, sich einen Weg in die Mitte eines Raums zu bahnen, mit den Armen zu fuchteln und ein unerhörtes Ereignis hinauszuposaunen, sodass alle sich umdrehen und einen anschauen und in diversen Stadien der Fassungslosigkeit sagen: Das ist ja unglaublich! Aber ich war immer ein Mauerblümchen. Habe zugeschaut, gewartet, den Frieden bewahrt, so schien es mir. Ein Randgeschöpf, wie ich immer dachte. Jetzt weiß ich, dass ich bloß ein Feigling bin.
An jenem furchtbaren Tag, als ich zu meiner Schwester gefahren war, um Agnes abzuholen, hatte Sophy mir noch mit diesem freudigen Lächeln im Gesicht zugeflüstert: »Ich möchte ihn nur mal treffen, Mally. Ich möchte ihn treffen und ihn sehen. Immerhin ist er jetzt ein Teil meines Lebens.«
Mein vollständiger Name ist Sophy Florence van der Berg, aber als wir uns begegnet sind, hieß ich Sophy Florence Miller. Mein Vater ist Pfarrer in der Church of England, er hätte dich gemocht, da bin ich mir sicher. Gut möglich, dass du ihn auch gemocht hättest. Vielleicht lernt ihr euch ja eines Tages kennen? Er ist sehr klug. Er hat ein edles Gesicht und sieht gütig und weise aus. Mitunter benimmt er sich etwas spröde. Ich denke manchmal, er hätte einen guten Mönch abgegeben, er ist kaum von dieser Welt. Er hätte dir höflich die Hand geschüttelt, sich zu dir vorgelehnt und dich mit sorgsam geschlossenem Mund angelächelt, und dann hätte er dich mit seinem festen Blick geprüft und für unzulänglich befunden. Wie bei Geistlichen üblich, ist er Freimaurer und Eugeniker, und in mir sieht einen Teil der Lösung für das Problem der Weiblichkeit. Auf seinem Schreibtisch steht eine Büste von Platon und eine von Julius Cäsar. Ich denke, er glaubt, dass Jesus Christus die Tugenden dieser beiden Heroen auf sich vereint und wahrscheinlich eine so rhythmische Sprache pflegte wie Shakespeare. Meine Mutter ist für ihn eine notwendige Einrichtung, denn er glaubt ernsthaft, wer nicht heiratet, schmort in der Hölle. Sex ist etwas Garstiges, Schmutziges, das Männer brauchen und Frauen erdulden müssen. Kinder sind ihr Lohn dafür. Es ist also vielleicht schwer zu glauben, dass ich meinen Vater wirklich sehr liebe.
Sophys Tod brach meinem Vater so gründlich das Herz, dass er zwar weiter lebte, arbeitete, predigte und für seine Gemeinde sorgte, aber im Grunde niemanden mehr richtig sah. Er schrumpfte. Seine Seele schrumpfte. Auch meine Mutter litt entsetzlich, und ich wusste kaum, wie ich mit ihnen reden sollte.
Und natürlich liebe ich auch meine Mutter sehr, aber sie macht es mir schwerer, hält mich auf Abstand. Mein Vater umarmt mich oft, meine Mutter nie. Mein jüngerer Bruder Malcolm und ich sind das verwirrte, verwirrende Produkt der Vermählung dieser beiden.
Waren wir verwirrt? Jedenfalls bemühten wir uns eifrig, immerfort das Richtige zu tun. Ich bemühe mich noch heute darum. Warum habe ich Joe den Brief nicht gegeben? Agnes’ kleine Welt lag durch den Verlust ihrer Eltern in Scherben. Es war einfach nicht der richtige Zeitpunkt für neue Menschen in ihrem Leben. Meine Eltern waren sicher nicht ideal, doch sie waren Agnes wenigstens vertraut, und auf ihre eigene Art liebten sie die Kleine innig. Sie würde bei ihnen immer ein Zuhause haben, wo ich sie sehen und ein Auge auf alles haben konnte. Zusammen sorgten wir für Kontinuität, so gut es in dieser Situation eben ging. Joe ins Spiel zu bringen schien mir damals unverantwortlich. Ich wusste ja gar nicht, was für ein Mann er war. Also legte ich den Brief beiseite. Der Schulmeister in mir sagte sich außerdem, es gebe viele Arten, eine Geschichte zu erzählen, und dieser Brief sei nichts weiter als ein romantischer Erguss der wahrscheinlich vergänglichen Gefühle meiner Schwester. Sophy war eine junge Frau, von Leidenschaft für einen Mann erfüllt, mit dem sie in einem Moment höchster Gefahr zusammen gewesen war. Sie hat gefühlt, was man eben fühlt, während um einen herum der Krieg tobt. Und warum habe ich den Brief dann nicht einfach verbrannt? Nun, das ist schon immer eine Eigenart von mir gewesen. Ich bewahre Dinge auf. Selbst sehr schmerzhafte Erinnerungen. Ich habe die Briefe von Geliebten aufgehoben, mit denen sie mir den Laufpass gaben, das waren weiß Gott einige, aber ich halte sie genauso in Ehren wie die Liebesbriefe. Alles Teil meiner Geschichte. Und so kam der Brief auf den Stapel dieser anderen; nicht dass es, als ich zwanzig war, schon viele gewesen wären. Und man könnte auch sagen, dass es nicht an mir war, ihn zu verbrennen. Eins tat ich damals allerdings schon: Ich machte ihn auf und las ihn.
Wenn ich ihn jetzt wieder lese, bin ich von Neuem erstaunt, wie viel Sophy von Kurt schrieb, ihrem Mann, seinem holländischen Vater Willem, seiner deutschen Mutter Agnes und ihrem Leben in Rotterdam. Nachdem Kurts Mutter bei einem Bombenangriff der Alliierten getötet worden war, flohen Willem und Kurt nach England, wo sie eine Zeit lang interniert wurden. Wir lernten die beiden kennen, weil mein Vater Wert darauf legte, dass wir Flüchtlinge zum Essen zu uns nach Hause einluden. In ihrem Brief schien es Sophy wichtig zu betonen, wie sicher sie sich bei ihrem Ehemann fühlte.
Er ist künstlerisch veranlagt, witzig, sehr körperlich. Er hat große, schöne Hände mit breiten, wohlgeformten Handflächen und langen Fingern. Er zeichnet beim Sprechen in die Luft, weil er in Bildern denkt.
Ich verstehe nicht ganz, warum sie so viele Einzelheiten über ihn preisgab, aber vermutlich war das Sophys Art, sich vor allem potenziellen Ehebruch zu schützen. Sie hatte sich entschieden, Kurt zu lieben und sich ein gemeinsames Leben mit ihm aufzubauen. Sie wollte dafür frei sein, obwohl es ganz offenbar Joe war, der ihr Herz erobert hatte. Zum Zeitpunkt ihrer Hochzeit konnte sie nicht wissen, ob Joe lebend aus dem Krieg zurückkehren würde; sicher war er unentwegt in Gefahr. Sie brauchte einen Vater für ihr Kind, und Kurt war zuerst ihr und später ihnen beiden treu ergeben.
Meine Schwester hatte eine pragmatische Seite. Und wahr ist auch, dass sie damals keine Möglichkeit hatte herauszufinden, wer der Vater ihres Kindes war.
Sie war begeistert von Willem. Sophy hatte die Fähigkeit, Wunderbares und Gutes in Menschen zu sehen, die ich als eher gewöhnlich betrachtete. »All ihre Gänse sind Schwäne«, beklagte sich meine Mutter oft, wenn wir wieder einmal einen von Sophys »wundervollen« Menschen kennenlernen durften. Aber Willem war ein sympathischer Mann, das stimmte schon. Beide, Vater und Sohn, hatten sich, allem zum Trotz, eine Art romantische Unschuld bewahrt. Das konnte mitunter äußerst ärgerlich sein; eine blinde Weigerung, den Tatsachen ins Auge zu sehen, sagte mein Vater, und ich stimmte ihm zu.
Nach ein paar Bier zitiert er gern Spinozas Gedanken zum freien Willen, von dem Spinoza sinngemäß sagt, er liege nicht in der freien Entscheidung, sondern in der »freien Notwendigkeit«, wie er das nennt. Wir würden alle »von äußeren Ursachen bestimmt werden, auf eine gewisse, bestimmte Weise zu existieren und zu handeln.« Ein Stein, schreibt er, der von einer äußeren Ursache angestoßen worden sei, wäre, wenn er ein Bewusstsein hätte, davon überzeugt, dass er »nur darum in seiner Bewegung verharre, weil er es so wolle«. Mit diesem Beispiel, so Willem, wolle Spinoza illustrieren, dass die Menschen sich zwar ihrer Wünsche bewusst sind, aber deren Ursprung nicht kennen.
Ich habe mich oft gefragt, welche Ursachen uns beide in jener Nacht angestoßen haben, Joe. Ich erinnere mich so lebhaft an alles. Das Dröhnen der Flugzeuge und der Bomben, das wie aus einem anderen Universum zu uns drang. Etwas Mondlicht, von dem Staub gefiltert, der durch die leeren Fensterrahmen auf den Boden fiel, aber dein Gesicht konnte ich trotzdem kaum sehen. In irgendeinem Moment, das weiß ich noch, habe ich es ein wenig von mir weggehalten und zu dir hochgeschaut. Hattest du etwas gesagt? Ich war mir nicht sicher. »Ich will mit dir schlafen«, habe ich gesagt.
Man hätte meinen können, wir hätten alle Zeit der Welt gehabt, und vielleicht hatten wir das auch. Wenn man keine Angst vor dem Sterben hat, verliert die Zeit ihre Bedeutung.
Während um uns herum die Welt einstürzte, die Flugabwehrgeschütze feuerten, die Landminen fielen und gewaltige Explosionen die Wände unseres Refugiums erschütterten, lagen wir dort, vollkommen eins, vollkommen in Frieden.
Erinnerst du dich, dass wir geflüstert haben, obwohl alles um uns herum im Lärm des kreischenden Fliegeralarms versank? Manchmal blicke ich zurück und denke, ich bin nie jemandem so nah gewesen wie dir in dieser Nacht.
Als schließlich, kurz vor Morgengrauen, Entwarnung gegeben wurde und wir unseren Zufluchtsort verließen, konnte ich sehen, dass dein Haar grau war vor Staub. Ich erinnere mich, dass wir uns noch ein letztes Mal küssten, dann liefst du durchs Geröll zu den Hafenanlagen, und ich sah dir nach und humpelte mit nur einem Schuh zur Rettungswache zurück. Den anderen Schuh habe ich nie gefunden.
Die Zerstörung war immens. Ich kam an Häusern vorbei, von denen nur noch die Fassade stand. Eine Katze saß traurig vor einer Tür. Überlebende zerrten an den umgestürzten Balken, weil sie hofften, ihre Kinder darunter zu finden, ihre Eltern, alles, was sie verloren hatten. Warum hatten wir zwei überlebt?
Als ich nach Merebridge zurückkam, waren meine Eltern beide unterwegs, aber mein Bruder Malcolm war zu Hause. Er war erst fünfzehn. Als Kinder fühlten wir uns wie Verschworene gegen die Welt: Wenn er von jemandem bedroht wurde, kam ich ihm zu Hilfe, und umgekehrt. Das schloss gelegentlich auch unsere Eltern ein. Er ist ein dünner, ängstlicher Junge. Er schläft schlecht. In der Schule wird er schikaniert. Dagegen kann ich natürlich nichts machen, aber ich rede mit ihm über das Leben, sozusagen, und versuche, ihm etwas mitzugeben, woran er sich halten kann. Als ich die Hintertür öffnete, saß er am Küchentisch und sah mit diesem erstaunlichen Lächeln, das so typisch für ihn ist, zu mir hoch, stand auf und kam rasch durchs Zimmer, packte mich an den Schultern und untersuchte fürsorglich mein Gesicht.
Ich hatte es schon damals seltsam gefunden, das über mich zu lesen, und das finde ich auch jetzt. Wie sie mich liebte und beschützen wollte. Ich war noch keine hässliche Kröte, ich war groß und mager, ein Milchgesicht, hätte ein Außenstehender vielleicht gesagt. Aber mich beschäftigte im Wesentlichen schon dasselbe wie später: die Aussicht auf Sex, die Freuden des Alkohols, der Eskapismus, den Bücher einem ermöglichen. War ich wirklich schikaniert worden? Nicht mehr als jeder Streber. Ich erinnere mich noch daran, wie sie durch die Küchentür trat, staubbedeckt, schmutzig, die Kleider zerrissen und mit nur einem Schuh. An einer Wange hatte sie eine Schramme. Sie sah so aus, wie man sich die Überlebenden eines Bombenangriffs vorstellte. Doch schon bald begriff ich, dass ihre Erschütterung von einem wesentlich bedeutsameren Ereignis herrührte. Ich glaube, ich habe ihr gesagt, dass die Kathedrale zerstört worden war, und ihr einen Tee angeboten. Ich dachte, sie würde schockiert und entsetzt sein, aber sie sprudelte nur so vor Aufregung.
»Mally, ich hatte gerade eine absolut unglaubliche Nacht. Ich kann es selbst kaum fassen. Ich habe einen Mann kennengelernt, einen jungen Arzt, er hat sich heute zum Kriegsdienst gemeldet, und wir haben uns auf einer Bank, in einer Hausdiele irgendwo an der St Anne’s Road, geliebt.«
Das fand ich natürlich schwer zu glauben, und ich befragte sie eingehend. Er sei erst seit Kurzem Arzt und just an diesem Tag zu seinem Regiment gestoßen, und sie hätten die Stunden des Bombenangriffs zusammen verbracht. Es sei wundervoll gewesen. Sofort verdächtigte ich den Kerl, sie ausgenutzt zu haben, aber sie blieb dabei, er sei ein vollendeter Gentleman. Es sei die schönste Nacht ihres Lebens gewesen. Und wenn sie nun schwanger sei, fragte ich, und sie räumte widerstrebend ein, ja, das sei eine Sorge. Das Erlebnis hatte sie ungeheuer berauscht, mir war klar, dass sie eine Weile brauchen würde, um wieder auf die Erde zu kommen.
»Wer ist er?«
»Er heißt Joe. Dr. Joseph Bradshaw.«