Bei meinem Daddy im Schwarzwald - Georg Hartmann - E-Book

Bei meinem Daddy im Schwarzwald E-Book

Georg Hartmann

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Beschreibung

In Teil 1 des Buches mit dem Titel Mein neuer Daddy from Germany erzählt eine junge Filipina von ihrem Leben auf den Philippinen und von ihrer Ausreise nach Deutschland. Im vorliegenden 2. Teil schildert sie ihren Aufenthalt in Deutschland. Sie beschreibt den Schulalltag und auch das Leben in ihrer neuen Heimat im Schwarzwald. Dabei gibt sie neben vielen Alltagserfahrungen interessante Einblicke in ihre Erlebnis- und Gefühlswelt. Der Leser erfährt viel über das Leben von Filipinas hier in Westeuropa, besonders in Deutschland.

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Kapitelverzeichnis

01 Ankunft in Deutschland

02 Die neue Schule

03 Das Schwimmfest

04 Auf dem Reiterhof

05 Herbst in Deutschland

06 Weihnachten in Deutschland

07 Das erste Mal beim Skifahren

08 Fastnacht in Deutschland

09 Besuch eines Weltwunders

10 Meine beste Freundin aus den Philippinen

11 High-Tech-Land Deutschland

12 Too much selfies can make selfish

13 Knuts nächtliches Abenteuer

14 Im Schwimmbad

15 Alltag zu Hause

16 Fahrt nach Schlesien und Ostpreußen

17 Familiengold

18 Wunderbare Ferien

19 Malheur mit Linda

20 Ferientraum in Litauen

Kapitel 1

Ankunft in Deutschland

Irgendetwas hatte mich aufgeweckt. Noch etwas verschlafen schaute ich mich um. Stewardessen liefen hin und her und forderten die Passagiere auf, die Sitze in die aufrechte Position zu bringen, denn gleich sollte das Essen serviert werden. Meine Schwester Carina hatte wahrscheinlich auch geschlafen, denn müde richtete sie sich auf. Die Stewardess brachte ihre Rückenlehne in die richtige Position. Daddy und Mami lächelten uns zu. Er sagte uns, dass wir schon über der Türkei seien und in etwa drei Stunden in Frankfurt landen würden.

Dann stand die Stewardess neben uns und fragte, was wir essen wollten. Wir wählten alle Hähnchen mit Reis. Dazu gab es Orangensaft. Daddy und Mami tranken Weißwein.

Carina amüsierte sich über die sehr kleine Portion. Sie hatte schon auf dem Flug von Hongkong nach Dubai über das Zwergen-Format des Essens gestaunt. Trotzdem, mehr als das hätten wir nicht essen können. Es war nur umständlich, alles aus den eingeschweißten Folien herauszunehmen. Nach dem Essen blieb eine ansehnliche Menge Plastikmüll übrig, die die Stewardessen fachgerecht in ihren Boxen verstauten.

Wie uns Daddy sagte, waren wir nach dem Lunch schon über Bulgarien und kurze Zeit später über Ungarn. Nun dauerte es höchstens noch eine Stunde, bis wir in Frankfurt landeten. Auf dem Monitor konnten wir sehen, dass wir gerade Österreich überquerten. Als Daddy aus dem Fenster schaute, glaubte er, die Drei-Flüsse-Stadt Passau unter sich zu sehen, zu erkennen durch den Zusammenfluss von Donau, Inn und der Ilz, einem kleinen Flüsschen aus dem Bayerischen Wald. Mir sagten derartige Beobachtungen noch nichts.

„Eben haben wir Österreich verlassen und sind schon über Deutschland“, sagte er.

Glücklich gab ihm Mami einen Kuss. Langsam wurde es aufregend. Wir kamen Frankfurt immer näher. Hinter Nürnberg ging das Flugzeug in den Sinkflug über. Ich hielt es auf meinem Sitz nicht mehr aus und bat Daddy, den Platz zu tauschen, denn ich wollte unbedingt schon Deutschland sehen. Aber ich konnte aus der großen Höhe noch nicht viel erkennen. Doch nach und nach wurde die Landschaft intensiver, die Autos waren nicht mehr nur kleine Punkte. Das Flugzeug geriet in Turbulenzen und schaukelte, ein Zeichen, dass wir tiefere Luftschichten erreicht hatten.

Dann meldete sich der Flugkapitän und sagte, dass wir im Anflug auf Frankfurt seien. Die Häuser wurden immer größer, die Autos und Lastwagen waren jetzt gut zu erkennen. Schräg vor mir sah ich schon den Flughafen. Kurze Zeit später setzte die Maschine auf, es rumpelte und rüttelte – und wir waren in Deutschland!

„Wir sind in Deutschland!“ jubelte ich laut.

Mir kam es vor, als würde es eine Ewigkeit dauern, bis das Flugzeug seinen Parkplatz gefunden hatte. Eigentlich wollte ich sofort aufspringen und hinauslaufen. Aber wegen des Babys blieben wir sitzen, bis alle Fluggäste an uns vorbei waren. Dann standen wir auf, Daddy holte die Taschen aus den Ablagefächern, nahm Marco auf den Arm und ging voraus. Wir zuckelten hinterher.

Ich passte genau auf: Noch waren wir auf der Gangway. Noch hatten wir deutschen Boden nicht betreten. Erst als sich die Glastüren zum Flughafen öffneten, setzte ich mit Bedacht meinen rechten Fuß auf deutschen Boden.

Wir waren endlich da!

Ich konnte es nicht glauben.

Ich war in Deutschland!

Ich befand mich jetzt 12.000 km von den Philippinen entfernt, fast auf der anderen Seite des Globus. Ich war jetzt ganz allein mit meiner Familie. Ich hatte jetzt nur noch Mami, Daddy, Carina und mein kleines Brüderchen. Das war schon ein seltsames Gefühl, aber andererseits war ich froh, nun in jenem Land zu sein, von dem so viele Menschen schwärmten. Im Internet hatte ich gelesen, dass Deutschland eines der beliebtesten Reiseländer der Welt ist. Zudem war es auch das verzweifelte Ziel von Millionen Auswanderern und Asylanten.

Anschließend waren wir an der Gepäckausgabe angekommen und bald erschienen auch unsere Koffer auf dem Transportband, die wir auf einen großen Gepäck-Trolley verluden. Ich schaute auf die große Uhr und sah, dass es zwei Uhr am Nachmittag war.

Daddy ging mit uns durch die Passkontrolle für Nicht-Europäer, die wir anstandslos passieren konnten.

Wir mussten noch am Zoll vorbei.

Erst jetzt war ich so richtig in Deutschland. Daddy steuerte mit unserem Gepäck den Schalter einer Autovermietung an. Er hatte von Dubai aus einen Van gebucht, alles andere wäre für uns mit dem vielen Gepäck zu kompliziert gewesen und ein Großraumtaxi wäre noch wesentlich teurer geworden. Er legte seinen Personalausweis vor und unterschrieb ein Formular. Die Angestellte griff kurz zum Hörer und gab einen Auftrag durch.

Daddy übersetzte uns, dass man einen großen Van zu uns bringen würde.

Er bedankte sich bei der Dame am Schalter und dann setzten wir uns langsam in Bewegung. Am Ausgang des Flughafens fuhren pausenlos Taxis vor, die Koffer ausluden und Leute aussteigen ließen. Es war ein Kommen und Gehen. Mir fiel auf, dass es überhaupt nicht heiß und schwül war. Und trotz der vielen Leute war es kaum laut und turbulent wie auf den Philippinen.

Dann kam ein weißes Fahrzeug, ähnlich wie ein Super Grandia, nur etwas kleiner, langsam auf uns zu gefahren. Daddy winkte, der Van bog in die Parkbucht vor uns ein, der Fahrer stieg aus und überreichte Daddy nach einem kurzen Gespräch den Fahrzeugschlüssel. Er half uns noch beim Einladen des Gepäcks und verschwand dann im Flughafen.

Ich durfte neben Daddy sitzen, denn Mami hätte sich mit dem Baby auf dem Beifahrersitz nicht anschnallen dürfen. Bei einer Vollbremsung wäre der Gurt für den Kleinen zu gefährlich gewesen. So saß sie hinten neben dem Baby, das in einer Babyschale mit dem Rücken zum Fahrersitz montiert war. Carina saß ihr gegenüber.

Mein Sitz hatte zwei Armlehnen. Ich fühlte mich wie eine Prinzessin. So komfortabel hatte ich noch nie in einem Auto gesessen.

Daddy fuhr langsam aus dem Flughafengelände hinaus. Angespannt betrachtete ich alles, was ich sah.

Das war also Deutschland!

Als Erstes vermisste ich die Hitze, den chaotischen Verkehr, den Lärm und die vielen Pedicabs und Multicabs.

Ich staunte nicht schlecht, als wir die Autobahn erreichten. Alles war sauber und geordnet. Riesige Schilder, die über die Straßen reichten, zeigten den Weg. Mir kam es vor, als würden alle Autos sehr langsam dahingleiten, aber als ich zum Tacho schaute, sah ich, dass wir mit 120 km/h sanft über die Straße schwebten. Weil fast alle Fahrzeuge dieselbe Geschwindigkeit hatten, fiel es gar nicht auf, dass wir schneller fuhren, als ich je auf den Philippinen gefahren war. So ein tolles Fahrgefühl hatte ich noch nie erlebt.

Ich gewann den Eindruck, fast nur neue Autos auf der Straße zu sehen. Auch die Lastwagen sahen so sauber aus und kein einziger pustete so schwarze Rauchwolken in die Luft wie auf den Philippinen.

Ich war von dem, was ich sah, so gefesselt, dass ich gar nicht bemerkte, dass sich Daddy mit Mami unterhielt.

Daddy schlug vor, in der nächsten Zeit eine kurze Rast einzulegen, um etwas zu essen, denn das Essen im Flugzeug lag schon einige Stunden zurück. Selbstverständlich begrüßten wir alle diesen Vorschlag.

Nach kurzer Zeit bog Daddy in eine Ausfahrt ein, bewegte sich auf ein kleines Dorf zu und hielt vor einer Pizzeria.

„Hier habe ich schon des Öfteren eine Rast eingelegt“, erklärte er.

Er half Mami mit dem Baby aus dem Auto und dann traten wir ein. Im Lokal herrschte eine wohlige Stille. Alles war mit Holz verkleidet. Wow, so eine schöne, heimelige Gaststube hatte ich noch nie gesehen.

Es waren nicht viele Leute im Gastraum. Wir suchten uns einen wunderschönen Fensterplatz und Daddy half uns beim Lesen der Menükarte. Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass nun alles in Deutsch geschrieben war.

„Auf den Philippinen essen die normalen Filipinos überall, wo sie hinkommen, am liebsten gebackene Hühnchen mit Reis wie bei Jollibee, Andoks, Chowking oder Inasal“, lachte Daddy.

Daddy hatte recht, wir hatten fast überall gebackene Hühnchen mit Reis gegessen, selbst bei McDonaldʼs und in der Greenwich-Pizzeria. Das liegt aber daran, dass wir fast nichts anderes kannten. Einen Luxusfisch wie den Lapu Lapu kann sich der normale Filipino im Restaurant sowieso nicht leisten. Das höchste der Gefühle ist dann eine Caldereta, also Ziegenfleisch, oder Pancit oder Baboy, also Schweinefleisch.

„Wir sind heute in einer Pizzeria und dann wollen wir auch eine Pizza essen. Ich werde mir noch einen Salat dazu bestellen“, lachte Daddy.

Ich schaute hinüber zu Carina und sie lächelte süßsauer zurück. Also, nichts mit gebackenem Hühnchen und Reis heute.

Daddy hatte zwei große Pizzas bestellt: eine Pizza Funghi und eine Pizza Quattro Formaggi.

Der Duft der Pizzas war atemberaubend schmackhaft. So eine appetitliche, goldfarbene Pizza hatte ich noch nie gesehen. Augenblicklich vergaß ich mein Jollibee-Hühnchen mit Reis. Ich glaube, Carina ist es ähnlich ergangen.

Daddy aß einsam seine Salatplatte mit ein paar Schnitten Pizza.

Ich erwähne das deshalb, weil jüngere Filipinos kaum Salat essen. Ein junger Filipino isst vielleicht gekochtes Gemüse, aber viele schieben bereits die Zwiebeln, den Knoblauch, den Ginseng und die Karotten an den Tellerrand.

Ich selbst hatte noch nie Salat gegessen. Als mir Daddy ein paar Wochen zuvor einmal ein Salatblatt gegeben hatte, musste ich mich fast übergeben.

Heute war es das erste Mal, dass ich so richtig mit Genuss eine Pizza aß. Auch Carina aß mehr als sonst.

Daddy bestellte zum Nachtisch Eiscreme für mich und Carina. Er und Mami tranken einen Cappuccino.

„Es sind noch an die 150 km. Ich hoffe, dass wir in zwei Stunden daheim sind“, erklärte Daddy.

Er zahlte und dann brachen wir auf. Während wir so auf der Autobahn dahinglitten, erklärte mir Daddy:

„Wenn man aus der Entfernung auf den Schwarzwald schaut, dann erscheinen auf den Berghügeln große, nahezu schwarze Waldflächen, die durch die Nadelbäume so dunkel wirken. Aus diesem Grund heißt dieses langgezogene, riesige Waldgebiet Schwarzwald.

In Millionen von Jahren zerfiel das zuvor schroffe Gebirge und bildete die sanften Hügel und Berge, die du jetzt sehen kannst. Der höchste Berg des Schwarzwaldes, der Feldberg, ist fast 1500 m hoch. In der Nähe von Baguio, wo wir vor einigen Monaten die Sommerferien verbracht hatten, liegt der höchste Berg der Insel Luzon, nämlich der Mount Pulag. Er ist mit 2920 m in etwa so hoch wie der höchste Berg Deutschlands: die Zugspitze. Mit 2960 m ist sie etwa doppelt so hoch wie der höchste Berg des Schwarzwaldes“, erklärte mir Daddy.

Die nächsten zwei Stunden vergingen wie im Flug. Als Daddy dann die Autobahn verließ, fuhren wir über Offenburg in ein Seitental des Schwarzwaldes und waren schon nach zehn Minuten in Gengenbach.

Daddys Haus lag in einer sehr gepflegten Straße mit Bäumen. Die ganze Straße entlang waren einzelne Dächer zu sehen, weil die Häuser zumeist hinter Hecken verborgen waren. Auch das Haus von Daddy lag hinter hohen Sträuchern. Er stieg aus und öffnete das Gartentor, dann fuhren wir bis zu einer geschlossenen Garage. Er öffnete die Schiebetür unseres Fahrzeugs, nahm Mami das Baby ab und ging mit uns erst einmal zum Haupteingang, wo er die Tür aufschloss. Hier gelangten wir in einen Raum, den er Flur nannte, und von dort aus ging es in das Wohnzimmer.

Fensterscheiben, die bis zum Boden reichten, erlaubten einen fantastischen Blick hinaus in den Garten. Gleich neben dem Wohnzimmer lag das Esszimmer mit einem Tisch für acht Personen. Der Essraum war durch einen runden Bogen mit der Küche verbunden.

Wow, die Küche erschien mir topmodern. Erst später erfuhr ich, dass sie schon 20 Jahre alt war: deutsche Wertarbeit.

Durch eine Tür in der Küche gelangte man in die Speisekammer. So etwas hatte ich auch noch nie gesehen. Aber ich empfand es als sehr sinnvoll, in der Küche eine Vorratskammer zu besitzen. Gleich neben der Küche war das Arbeitszimmer von Daddy mit zwei Computern und übergroßen Monitoren, die er für seine Konstruktionspläne brauchte. Im Erdgeschoss gab es auch noch ein Gäste-WC. Im ersten Stock waren das Bad und drei weitere Zimmer: das Schlafzimmer der Eltern und zwei Kinderzimmer, wovon eines auch als Gästezimmer genutzt werden konnte. Carina und ich hätten uns je ein Zimmer aussuchen können, aber wir waren es nicht gewohnt, allein zu schlafen, wir hätten uns gefürchtet und aus diesem Grund wählten wir ein Zimmer aus, in dem wir gemeinsam schlafen konnten.

Eine Holztreppe führte unter das Dach, das voll ausgebaut war. Hier waren noch zwei sehr große, helle Zimmer mit Teppichboden.

Nach dieser Hausbesichtigung gingen wir wieder zum Auto und luden alle Sachen aus. Mami hatte sich in der Zwischenzeit auf das Sofa im Wohnzimmer gelegt und stillte den Kleinen.

Da es Ende August war, herrschte ein angenehmes, warmes Klima. Für mich war es ein Geschenk des Himmels, nicht schwitzen zu müssen.

Ich öffnete die Terrassentür, wunderte mich über den großen, mit Glas überdachten Raum vor dem Wohnzimmer, den Daddy Wintergarten nannte, und lief hinaus auf den Rasen, schaute zum Himmel, drehte mich im Kreis und jubelte innerlich.

Ich war glücklich! Ich war im Paradies! Ich war in Deutschland!

Es war wunderbar. Keine Hitze, keine Moskitos, kein Lärm. Und meine Familie war bei mir. Ich hatte einen Daddy, wie man sich einen besseren nicht hätte vorstellen können. Und Mami, die Kämpferin für unsere Familie, war ebenso bei mir. Auch sie war überglücklich und der kleine Marco war der Gipfel unserer Freude. Carina kam zu mir in den Garten. Wir umarmten uns, tanzten im Gras und legten uns dann mit ausgestreckten Armen auf den Rücken.

Wir schauten hinauf in den Himmel, in das unendliche Blau mit den weißen Wolken. Ich empfand tiefen Frieden und genoss es, dass meine Gedanken mit den Wolken dahinzogen. Lange lagen wir still so da.

Es war ein langer Kampf gewesen, hierher nach Deutschland zu kommen. Ohne Daddy hätten wir es nie geschafft, wir würden noch immer in Staub, Lehm, Hitze und Hundescheiße armselig in einer Wellblechhütte dahinvegetieren.

Mein Blick zum Himmel mündete in ein Gebet ohne Worte. Ich spürte, wie mir die Tränen über die Wangen liefen.

„Lieber Gott, ich danke dir, dass du unsere Rettung organisiert hast.“

Carina musste ähnliche Gedanken gehabt haben, denn sie fasste mich an der Hand, drehte sich zu mir, umarmte mich und dann weinten wir beide, dass es uns nur so schüttelte. Nun kam all das Leid der letzten Jahre aus uns heraus: die grauenvollen Erlebnisse mit unserem Vater, die Flucht vor ihm nach Villareal, die fürchterliche Zeit beim Cousin meiner Mutter, der Scheidungshorror meiner Mami, der Terror der Frau des Cousins, unsere erbärmliche Flucht nach Naval zu meinem Onkel und zu meiner Tante, unser armseliges Leben in der Wellblechhütte auf der ehemaligen Müllkippe und der fast tödliche Trip unserer Mutter nach Arabien.

Doch in die Tränen dieses Schmerzes mischte sich auch die Freude über unseren neuen Daddy, der uns gerettet hatte und durch den unser Leben geradezu paradiesisch geworden war. Daddy hatte uns in neue Welten geführt, von denen wir vorher nicht die geringste Ahnung hatten.

Woher sollten wir wissen, dass das Leben so schön sein konnte?

Woher sollten wir wissen, dass es Länder in gemäßigten Klimazonen gab, in denen das Leben einfach wunderbar war?

Keiner unserer Lehrer hatte einen Atlas besessen, nicht einmal das Schulamt hatte einen Atlas. Und so wussten wir fast gar nichts vom Rest der Welt, geschweige von gemäßigten Klimazonen.

Viele Filipinos würden auf der Weltkarte nicht einmal ihre eigene Heimat finden.

Als wir nach einiger Zeit wieder ins Wohnzimmer zurückkamen, hatten wir uns einen großen Teil des Schmerzes der letzten Jahre von der Seele geweint und hatten mit Freudentränen das neue Leben in Deutschland begrüßt.

Nun war ich bereit:

Deutschland, ich bin da!

Deutschland, ich liebe dich.

Deutschland, ich bin dankbar, dass ich hier sein kann.

Deutschland, ich werde alles tun, um deiner würdig zu sein.

Dann waren wir alle in der Küche, denn Daddy bereitete ein Abendessen vor. Wie er uns erklärte, war sein Hobby das Kochen. Wir konnten ihm nicht groß helfen, weil wir uns in seiner Küche noch nicht auskannten.

„Heute gibt es ein Abendessen aus dem Tiefkühlschrank“, lachte er. Dann holte er eine Plastiktüte Käsespätzle aus einer Kühlschublade. Ich hatte größte Schwierigkeiten, das Wort Käsespätzle zu lesen. Das fing ja schon gut an.

Wir lachten. Als Mami versuchte, das Wort Käsespätzle auszusprechen, brachen wir alle in schallendes Gelächter aus. Carina schaffte es auch nicht. Ich versuchte es noch einige Male und zerfranste mir fast die Zunge dabei.

„Sind alle deutschen Wörter so kompliziert?“ fragte Carina naiv.

„Keine Sorge, die deutsche Sprache ist einfacher, als du denkst. Sie ist sehr eng verwandt mit der englischen Sprache, in der wir uns im Augenblick verständigen. Aber du wirst sehen, die Ähnlichkeit der beiden Sprachen wird dir helfen, bald deutsch zu sprechen“, meinte Daddy.

Er nahm noch einen Beutel Tiefkühlgemüse und eine Schachtel panierte Fischstäbchen. Carina hatte den Fehler gemacht, den leeren Beutel zu nehmen und zu versuchen, das Wort Fischstäbchen auszusprechen, was ihr natürlich nicht gelang. Auch Mami scheiterte wieder kläglich. Als ich versuchte, dieses Wort auszusprechen, brachen wir wieder in schallendes Gelächter aus.

„Zweiter Anlauf in Deutsch ebenfalls gescheitert“, lachte ich.

„Ihr habt euch aber auch gleich zum Anfang zwei schwierige Wörter ausgesucht“, schmunzelte Daddy. Dann gab er uns die Teller, das Besteck und die Gläser. Zur Feier des Tages gab es dunkelblaue Papierservietten mit dem Aufdruck einer goldenen Lilie. Dann holte er noch eine Flasche Weißwein und eine Flasche Apfelsaft aus dem Kühlschrank und gab sie Carina.

Aus einer Glasvitrine nahm Daddy noch vier silberne Kerzenständer und stellte sie auf den Tisch. Er gab mir ein Feuerzeug, um die Kerzen anzuzünden. Dann brachte er das Essen auf den Tisch und schaltete die Deckenlampe aus. Die zwölf Kerzen verbreiteten ein wunderschönes Licht. Es war richtig romantisch. Plötzlich wurde es still am Tisch. Nun war es Mami, die Tränen in den Augen hatte. Sie wollte etwas sagen, aber es gelang ihr nicht.

Nach einer Weile stand sie auf, umarmte Daddy und schluchzte mit tränen-erstickter Stimme nur noch:

„Danke, Daddy.“

Dann fing sie heftig zu weinen an. Ich konnte sehen, dass es sie vor Schmerz und Freude nur so schüttelte. Sie bemühte sich nach besten Kräften, die Tränen zu unterdrücken, aber es gelang ihr nicht. Nun brach auch aus ihr der Schmerz der letzten Jahre heraus. Carina und mich schüttelte es ebenfalls noch einmal kräftig durch und ein unsäglicher Schmerz löste sich erneut in meinem Inneren. Es dauerte fast eine Ewigkeit, bis wir uns beruhigt hatten, doch dann nahmen wir uns an den Händen und nickten uns mit verweinten Augen zu. Wir Frauen waren nahe dran, noch einmal richtig loszuheulen, doch wir rissen uns zusammen.

Still saßen wir da, wischten unsere Tränen ab und versuchten zu lächeln. Daddy war großartig, er hatte uns lange Zeit gelassen, zur Ruhe zu kommen. Er schaute uns aufmunternd an und nickte uns freundlich zu.

Dann war es endlich so weit, dass wir zu essen anfangen konnten.

Es hatte sich zu einem Ritual entwickelt, dass wir uns zuerst in die Augen schauten und dann zuprosteten. Wir waren schon ein eingeschworenes Team. Carina hatte bereits den Apfelsaft eingeschenkt und für Mami und Daddy den Wein. Nach dem gemeinsamen Prost auf uns alle und auf unsere neue gemeinsame Zeit in Deutschland trank ich ahnungslos den ersten Schluck Apfelsaft in Deutschland.

Wow!

Dieser Saft schmeckte wirklich sehr verschieden von dem, was ich bisher an Apfelsaft getrunken hatte. Welch ein wunderbares Aroma!

Die Käsespätzle und die Fischstäbchen mundeten fantastisch. Ich schaute zu Carina und sie zwinkerte mir zu, was so viel bedeutete wie:

Okay, kein Reis und kein Jollibee-Hähnchen heute.

Aber es schmeckte trotzdem super.

Dann kam die große Überraschung. Daddy brachte drei große Plastikboxen mit Vanille-, Schoko- und Erdbeer-Eiscreme, stellte sie auf den Tisch und nahm die Deckel ab.

„So, nun könnt ihr euch so viel nehmen, wie ihr wollt.“

Dieser Satz klang wie aus einem fremden Universum und hallte noch einige Zeit in mir nach.

Ich hatte schon davon gehört, dass in Amerika, Kanada und Australien sich jeder so viel Eiscreme nehmen konnte, wie er wollte. Nur konnten wir das auf den Philippinen nicht glauben. Doch nun war ein Traum Realität geworden. Am liebsten hätte ich schnell eine Facebook-Mitteilung an meine Schulkameradinnen geschrieben:

„Hallo, ich bin gerade in Deutschland angekommen und kann so viel Eis essen, wie ich will!“

Carina und ich schaufelten uns eine erste, große Portion in unsere Schalen. Die zweite Portion fiel schon wesentlich kleiner aus. Die dritte Portion bestand nur noch aus einem Löffel und dann war Schluss.

Ich hätte mir früher überhaupt nicht vorstellen können, vor der Eiscreme zu kapitulieren. Gut, in den verschiedenen Hotels gab es nach dem Essen ebenfalls Eis. Nun war ich aber doch erschüttert, dass ich gleich beim ersten Mal in Deutschland so schnell aufgeben musste.

Erst später merkte ich, dass es auch für Eiscreme und Schokolade Grenzen gab. Auf den Philippinen waren Eiscreme und Schokolade für uns Mangelware gewesen, deshalb träumt man als Kind von riesigen Mengen Eis und Schokolade. Wenn man dann aber wirklich so viel essen kann, wie man will, dann sieht das anders aus. Ich schämte mich ein bisschen für meine Naivität.

Als wir ins Bett gehen wollten, waren wir noch so aufgeregt, dass wir nicht gleich schlafen konnten. So räumten wir erst einmal den Inhalt unserer Koffer in unsere Schränke. Ich empfand ein königliches Gefühl, einen eigenen Schrank, ein eigenes Bett, ein großes Kopfkissen und eigenes frisches Bettzeug zu haben. Zu alledem genoss ich die frische, wohlig kühle Luft.

Wir gingen noch mal ins Wohnzimmer. Die Terrassentür war offen. Als ich in den Garten ging, herrschte dort dieselbe Temperatur wie im Haus. Es war unglaublich. Ich konnte frei herumlaufen und überall war dieselbe angenehme Temperatur. Und alles ohne Klimaanlage. Das hatte ich bisher nur in Baguio erlebt.

Es war schon spät geworden. Carina und ich gingen ins Bad, das aussah wie in einem Hotel. Das Tollste war eine Doppelbadewanne, in der man sich gegenüber liegen konnte. Man konnte sich beim Baden gegenseitig sehen. Noch ahnten Carina und ich nicht, dass wir in dieser Wanne wunderbare Stunden und Abende im warmen Wasser verbringen würden.

Wir putzten uns die Zähne, zogen unsere Pyjamas an, gingen hinunter zu unseren Eltern und sagten: „Gute Nacht.“

Es war ein Genuss, sich ins frisch bezogene Bett zu kuscheln, und es war ein Geschenk des Himmels, dass wir nicht von Moskitos gestochen wurden.

Selig schlief ich ein:

Ich war in Deutschland!

Am nächsten Tag gab es ein wunderbares Frühstück – mit heißer Schokolade, wunderbar duftenden Marmelade- und Honigbrötchen. Es war fast so wie im besten Hotel. Der Unterschied bestand nur darin, dass wir jetzt endlich zu Hause waren.

Nach dem Frühstück kamen zwei Angestellte der europäischen Autoverleihfirma und holten den Mietwagen ab. Daddy fuhr anschließend seinen Multivan aus der Garage. Es war ein Familien-Van mit viel Platz für uns alle.

Unsere erste Fahrt führte zum Marktplatz, denn Daddy wollte frisches Gemüse kaufen.

Der Marktplatz sah aus wie eine Filmkulisse.

Ich musste mich erst daran gewöhnen, dass diese Fachwerkhäuser Realität waren. Ich war sehr erstaunt, dass der Bauernmarkt so ruhig ablief. Doch am schönsten fand ich es, dass ich nicht mehr schwitzen musste.

Dann fuhren wir in ein Geschäft für Kinderartikel. Das Geschäft sah von außen klein aus, aber innen war es fast so groß wie die Kinderabteilung von Robinsons in Manila. Eine Kundin hatte einen Kinderwagen mit sehr großen Rädern zurückgegeben, weil sie ihn nicht im Kofferraum ihres Kleinwagens verstauen konnte. Damit galt der Buggy als gebraucht. Und deshalb erhielten wir ihn zu einem Sonderpreis. Die großen Räder machten das Gefährt geeignet auch für nicht geteerte Wege draußen in der Natur. Endlich konnte Mami den Kleinen wieder in einen Wagen setzen. Ich war ganz stolz, dass ich als Erste den Kinderwagen schieben durfte. Durch die großen Räder fielen kleinere Unebenheiten wie Pflastersteine überhaupt nicht auf. Nach fünf Minuten wollte auch Carina den Wagen schieben.

Mami hatte sich bei Daddy eingehängt, strahlte über das ganze Gesicht und war überglücklich, ab und zu wischte sie sich eine Freudenträne aus den Augen. Ihre vielen Gebete waren erhört worden und ihr Traum war in Erfüllung gegangen.

Wir gingen durch eine kleine Nebenstraße und ich kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Alles war so gepflegt und so sauber. Ungläubig betrachtete ich die Blumen an den Fenstern. So etwas hatte ich noch nie gesehen. Auch die alten Häuser sahen wunderschön aus. Daddy erklärte mir, dass es sich um historische, alte Fachwerkhäuser handelte.

„Vor einigen 100 Jahren bauten die Leute erst Holzgerüste, verstrebten die Zwischenräume mit dünnen Ästen und füllten sie dann mit Lehm auf. Um den Lehm geschmeidig zu machen, wurde er mit Kuhfladen vermischt und dann mit nackten Füßen gestampft“, erklärte uns Daddy.

Carina machte große Augen. Das mit der Kuhscheiße konnte sie nicht glauben. Aber es beeindruckte sie sehr. Vorsichtig roch sie an einer der Mauern, konnte aber keinen unangenehmen Geruch entdecken.

Daddy ging an ein Haus und zeigte uns eine Stelle, an der man noch die Fingerspuren erkennen konnte, die bewiesen, dass der Lehm mit der Hand glatt gestrichen wurde.

Ich schaute mir das ganz genau an und auch ich schnupperte an der weiß getünchten Wand, aber ich konnte nichts mehr riechen.

„Warum ist die Straße nicht geteert?“ fragte ich Daddy.

„Liebe Mara, das ist eine alte, mit runden Flusssteinen gepflasterte Straße. Es gibt nicht mehr viele solcher Straßen. Sie sind eine Besonderheit und müssen geschützt werden“, erwiderte Daddy.

Zum Glück hatte unser Kinderwagen große Räder und so konnte ihn Mami problemlos über das holprige Rundsteinpflaster schieben. Wir kamen an einen schönen Platz. Vor einem Café waren Tische, Stühle und Sonnenschirme aufgebaut. Daddy lud uns zu einer heißen Schokolade und zu einem Stück Kuchen ein. Es war wunderschön, in der frischen Luft zu sitzen, ohne zu schwitzen und ohne Moskitos.

Daddy bestellte für alle eine Schwarzwälder Kirschtorte. Noch hatte ich keine Ahnung, um welche Torte es sich handelte. Als sie auf den Tisch gestellt wurde, sah sie schon ganz gut aus. Doch als ich das erste Stück Kuchen in den Mund schob, fühlte ich mich fast wie im siebten Himmel. Das war das beste Tortenstück, das ich je in meinem Leben gegessen hatte. Mami und Carina erging es ähnlich. Carina verdrehte genüsslich die Augen und schob sich gleich ein zweites Stück in den Mund. Sie nickte mir zu, als wollte sie sagen:

„Hi, diese Torte ist der Hammer!“

Diese Torte hatte uns augenblicklich zu Schwarzwald-Fans gemacht. Ich spürte geradezu den Spirit of the Schwarzwald und fühlte mich sofort als Schwarzwald-Mädel.

Mir wurde sofort klar:

The Black Forest is one of the best places at the planet.

Ich musste insgeheim lachen: Ein Stück Torte hatte mich geradezu verwandelt und zu einer Sofort-Integration geführt.

Freudig erregt verließen wir das Café und wanderten zurück zum Auto. Dann gingʼs wieder nach Hause und Daddy und Mami bereiteten in der Küche das Mittagessen vor. Carina und ich spielten im Garten Badminton.

Am Nachmittag fuhren wir zu einem beglaubigten Übersetzer, der die Heiratsurkunde meiner Eltern in die deutsche Sprache übertrug. Denn wir mussten uns in den nächsten Tagen am Rathaus und am Ausländeramt anmelden. Anschließend fuhren wir noch zur Krankenkasse, denn auch dort mussten wir angemeldet werden. Daddy schloss sogar noch eine Haftpflichtversicherung für uns ab, um jedes Risiko auszuschließen.

Kapitel 2

Die neue Schule

Dem nächsten Tag fieberten wir schon mit großer Spannung entgegen, denn wir sollten an der Schule angemeldet werden. Ich war schon ganz aufgeregt und überlegte mir dauernd, wie die Schule wohl aussehen würde. Den ersten Tag in der Schule konnte ich mir überhaupt nicht vorstellen.

In meiner Zeit auf den Philippinen war ich immer die Beste in der Schule gewesen. Aus diesem Grund wollte mich Daddy am Gymnasium anmelden. Für Carina wählte er erst mal die Werkrealschule, um sie nicht zu überfordern.

Ich hatte die ganze Nacht unruhig geschlafen und als ich morgens aufwachte, konnte ich es kaum erwarten, das Gymnasium zu sehen. Das Frühstück zog sich hin. Dann war es endlich so weit. Wir gingen die kurze Strecke zu Fuß. Hinter Bäumen sah ich meine Schule. Ich konnte es kaum glauben, dass es das Schicksal so gut mit mir meinte, eine so schöne Schule besuchen zu dürfen.

Durch eine große Glastür gelangten wir in eine große Halle. Daddy erklärte, dass dies die Aula sei, in der größere Schulveranstaltungen stattfänden. Im Obergeschoss befand sich das Sekretariat. Als wir eintraten, kam eine nette ältere Dame auf uns zu und begrüßte uns. Daddy stellte mich als mögliche neue Schülerin vor. Die Sekretärin holte ein Formblatt, das sie dann ausfüllte. Mara Geronimo stand da in großen Buchstaben. Daddy und ich mussten unterschreiben. Nach Aussage der Sekretärin erfüllte ich die Anforderungen. Daddy legte noch meinen Pass und mein Abschlusszeugnis aus den Philippinen vor. So, wie es aussah, kam ich erst mal in die neunte Klasse, obwohl ich vom Alter in die zehnte gepasst hätte. Daddy wollte mich nicht überfordern und, wie es sich später zeigte, war das gut so. Ihm war es ein Anliegen, noch vor Beginn des neuen Schuljahres mit der künftigen Klassenlehrerin zu sprechen. Aus Datenschutzgründen durfte uns die Sekretärin ihre Adresse nicht nennen. Aber sie rief die Klassenlehrerin sofort an und erklärte ihr die Angelegenheit.

Die Lehrerin war ohne zu zögern bereit, mit Daddy zu sprechen. Er lud sie zu einem Kaffee bei uns ein und bat darum, zwei Schülerinnen der Klasse mitzubringen, denn ich sollte schon ein paar Tage vorher zwei Klassenkameradinnen kennen lernen, die mich am ersten Schultag abholen und ins Gymnasium begleiten sollten. Schließlich sprach ich kaum Deutsch und kannte mich im deutschen Schulsystem überhaupt nicht aus.

Als das Telefongespräch beendet war, bot uns die Sekretärin an, uns kurz das Schulhaus zu zeigen, denn so, wie es aussah, war an diesem Morgen nicht viel los in der Schule.

Sie schloss die Tür ab und hängte einen Zettel an die Türklinke, wahrscheinlich um anzuzeigen, dass sie gleich wieder zurück sei.

Die Klassenräume sahen umwerfend aus. Solch schöne Stühle und Tische mit Stahlrahmen hatte ich noch nie gesehen. Die riesigen Tafeln waren dreiteilig und konnten lautlos verschoben werden. Es sah alles so sauber, gepflegt und nahezu neu aus.

Andächtig folgte ich der Sekretärin. Ich konnte es kaum glauben, dass es für Geschichte, Geografie, Chemie, Physik und Biologie eigene Räume gab. Als sie uns die zwei Computerräume zeigte, war ich sprachlos. Wie im Traum folgten wir ihr noch in die Musikräume und in die zwei Säle für Bildende Kunst.

Dann war die kurze Führung abgeschlossen, denn die Sekretärin musste wieder zurück in ihr Büro. Auf dem Weg zum Sekretariat trafen wir den sympathischen Oberstudiendirektor. Die Sekretärin stellte uns vor und sagte ihm, dass ich die Kandidatin für die neunte Klasse sei. Er sagte in perfektem Englisch, dass er sich freue, so ein nettes Mädchen wie mich in die Schule aufzunehmen und dass er die Unterlagen noch einmal überprüfen werde. Wir bedankten uns und verließen das Gymnasium und gingen zum gegenüberliegenden Gebäude, in dem sich die Werkrealschule und die Realschule befanden.

Auch hier wurden wir herzlich empfangen und der Direktorin vorgestellt. Die Anmeldeformalitäten waren schnell erledigt. Und auch hier wurde Daddy sehr freundlich mit der künftigen Klassenlehrerin verbunden, die bereit war, mit zwei Schülerinnen bei uns zu einem Kaffee vorbeizukommen. Der Hausmeister, der gerade im Sekretariat zu tun hatte, war so entgegenkommend, uns kurz die Schule zu zeigen. Carina bekam vor Staunen den Mund nicht zu. So eine schöne Schule hatte sie sich in ihren kühnsten Träumen nicht vorstellen können. Allein die Werkräume mit modernsten Holz- und Metallbearbeitungs-Maschinen verschlugen selbst mir fast die Sprache. Als wir in die Schulungsküche kamen, blieb uns schier die Luft weg. Der große helle Raum hatte viele Edelstahl-Kochstellen und einen eigenen Bereich, der aussah wie ein Restaurant. In dieser Restaurantecke sollten dann die Gerichte, die die Klasse gekocht hatte, in einem angemessenen Rahmen verzehrt werden.

Wow!

Dann zeigte uns der Hausmeister noch die Turnhalle, unter der ich mir bis dahin noch nicht viel hatte vorstellen können. Fassungslos stand ich da und betrachtete die riesigen Dimensionen.

Du meine Güte! Hier sollte ich eines Tages mal Sport treiben?

Carina schaute auch mit großen Augen um sich. Hinter der Sporthalle war noch ein Multifunktionspark mit Flächen für Skateboarder, Handballer und Fußballer. Der Boden im eingezäunten Bereich war mit wetterfesten, dicken Gummimatten ausgelegt, damit sich niemand verletzen konnte.

Dann war auch hier die Führung zu Ende und wir bedankten uns herzlich. Andächtig und still folgten Carina und ich den Eltern. Wir waren sprachlos.

Bevor wir das Schulgelände verließen, kamen wir noch an der Schulmensa vorbei. Sie bestand aus einem gelben, zumeist verglasten Gebäude, das aussah wie ein topmodernes Restaurant. Nun verschlug es mir und Carina endgültig die Sprache.

Auch Mami hatte so etwas noch nie gesehen. Sie konnte es kaum glauben, dass ihre beiden Töchter in ein paar Tagen in derart schöne Schulen gehen durften.

Am übernächsten Tag war es dann so weit. Für den Nachmittag war meine Klassenlehrerin eingeladen, die zwei Schülerinnen meiner künftigen Klasse mitbringen wollte.

Wir hatten eine Schwarzwälder Kirschtorte gekauft und einen wunderschönen Kaffeetisch hergerichtet. Das ganze Haus duftete schon nach Kaffee. Ich wartete aufgeregt und schaute dauernd auf die Uhr. Zäh und langsam bewegte sich der Zeiger.

Plötzlich ertönte der Gong an der Tür. Eigentlich wollte ich aufmachen, aber ich blieb vor Aufregung wie angewurzelt stehen. Carina hatte sich in der Küche versteckt. Mami hatte den kleinen Marco genommen und hielt ihn wie ein Schutzschild vor sich. Daddy öffnete die Tür und eine freundliche junge Dame trat mit zwei Mädchen ein. Ihre entspannte Art, uns zu begrüßen, war so entwaffnend, dass meine Anspannung sofort nachließ. So ähnlich musste es auch Mami ergangen sein.

Die beiden Schülerinnen stellten sich vor: Anja, die erste Klassensprecherin, und Maria, die einfach nur so mitgekommen war. Die zwei Mädchen waren mir vom ersten Augenblick an sympathisch. Ich kann mir vorstellen, dass es den beiden genauso ergangen war, denn wir lachten uns an und Anja sagte in fließendem Englisch:

„How do you like Germany?“

„Oh, it is wonderful, it is marvelous. I did not know that Germany is so beautiful“, antwortete ich.

Dann setzten wir uns an den Tisch und ich sah, wie Mami beruhigend auf Carina einredete, die dann auch scheu aus ihrem Versteck in der Küche kam und sich zu uns an den Tisch setzte.

Langsam entwickelte sich ein reges Gespräch, das in Englisch geführt wurde, weil Mami, Carina und ich noch kein Deutsch verstanden. Ich konnte damals noch nicht ahnen, dass ich zwei Monate später schon einigermaßen deutsch sprach und dem größten Teil des Unterrichts in groben Zügen folgen konnte.

Mami verstand sich mit der Klassenlehrerin, Frau Berger, sehr gut. Ich konnte spüren, dass beide dieselbe Wellenlänge hatten. Ähnlich erging es mir mit meinen zwei zukünftigen Klassenkameradinnen. Das waren wirklich nette und sympathische Mädchen. Anja lud mich und Carina für den nächsten Nachmittag zu sich ein. Daddy und Mami waren einverstanden.

Die Klassenlehrerin versicherte meinen Eltern, dass sie sich um mich kümmern werde und dass ich gleich von Anfang an in der ersten Reihe zwischen Anja und Maria sitzen konnte. Die beiden Schülerinnen freuten sich schon, mich in die Schule zu begleiten. Als die Kaffeerunde aufgehoben wurde, hatte ich die Klassenlehrerin und meine beiden Schulkameradinnen bereits in mein Herz geschlossen.

Von der Schwarzwälder Kirschtorte war nur noch ein Stück übrig geblieben, das Mami dann heimlich in der Küche verzehrte.

Am nächsten Tag kam dann die zukünftige Klassenlehrerin von Carina, ebenfalls mit zwei Schülerinnen. Die Lehrerin, Frau Schwabe, war eine ältere, mütterliche, freundliche Dame, die uns allen sofort sympathisch war.

Die beiden zukünftigen Klassenkameradinnen von Carina waren lustige, fröhliche und unbekümmerte Mädchen. Sie sprachen immerhin so viel Englisch, dass man verstand, was sie sagen wollten. Bald entwickelte sich eine heitere und unbeschwerte Unterhaltung. Carina legte ihre Scheu ab und blühte auf. Ich war erstaunt, denn plötzlich fing Carina zu reden an, machte Witze und lachte. Die Spontaneität der beiden Mädchen hatte sich auch auf Carina übertragen.

Daddy hatte eine Käsesahnetorte gekauft, die von uns Mädchen ruckzuck aufgegessen worden war. Ich hatte bis dahin nicht gewusst, dass es noch eine Torte gab, die mindestens genauso gut schmeckte wie die Schwarzwälder Kirschtorte.

Mami und Daddy trafen mit der Klassenlehrerin eine ähnliche Vereinbarung. Carina sollte am ersten Schultag von den beiden Mädchen abgeholt werden und in der ersten Reihe zwischen den beiden sitzen.

Eines der Mädchen, Elisabeth, wollte Carina und mich zum Wochenende vor dem Schulanfang einladen. Sie würde sich telefonisch noch einmal bei uns melden.

Ich war selig. Nun konnte es losgehen:

Gymnasium – ich komme!

Am nächsten Tag brachten uns Daddy und Mami zu Anja. Sie und ihre Mutter kamen uns am Gartentor entgegen und begrüßten uns herzlich. Anjas Mutter lud Mami und Daddy zu einem kurzen Kaffee ein. Ich ging mit Anja und Carina hinters Haus zur Gartenterrasse, wo ich eine riesige Überraschung erlebte. Anja hatte bereits zehn Schüler ihrer Klasse eingeladen, sechs Mädchen und vier Jungen.

Anja stellte sie mir und Carina der Reihe nach vor. Schon während der Vorstellung gab es viel Gelächter. Als ich der letzten Schülerin die Hand schüttelte, war das Eis schon gebrochen. Ein Schüler, Matthias, hatte viele Ideen für lustige Spiele. Auch Carina hatte ihre anfängliche Scheu überwunden und machte mit. Es wurde ein lustiger Nachmittag und am Ende hatte ich das Gefühl, meine zukünftigen Klassenkameraden schon lange zu kennen.

Mami und Daddy hatten sich in der Zwischenzeit mit Anjas Mutter unterhalten und schnell Kontakt zueinander gefunden. Anjas Vater war Praktischer Arzt. Das traf sich gut, so hatten wir in Zukunft schon einen Hausarzt, zu dessen Frau wir jetzt schon einen guten Draht hatten. Unsere Eltern waren dann schon früher weggefahren, um Carina und mich drei Stunden später wieder abzuholen.

Als sie zurückkamen, war unsere Party noch voll im Gange. Es dauerte einige Zeit, bis wir uns verabschiedeten, und ich freute mich schon, mit so vielen sympathischen Jungen und Mädchen demnächst in einer Klasse zu sein.

Gerade als wir das Haus verlassen wollten, kam Anjas Vater. Unsere Eltern unterhielten sich noch einige Zeit mit ihm und freuten sich, auch ihn kennengelernt zu haben.

Als wir nach Hause fuhren, waren Carina und ich völlig aufgedreht, fröhlich und optimistisch im Hinblick auf den ersten Schultag.

Am nächsten Tag waren wir dann im Rathaus, um uns anzumelden. Höflich und freundlich wurden unsere Daten in den Computer eingegeben. Dann wurde die Aufenthaltserlaubnis ausgedruckt – und schon waren wir fertig.

Auf den Philippinen hätten wir dafür Schmiergeld zahlen und sicherlich mehrere Stunden warten müssen. Nicht umsonst gelten die Philippinen als ein Paradies des Wartens und auch der Korruption.

Als wir nach draußen gingen, war es nicht heiß, nicht staubig, nicht schwül und auch nicht schmutzig auf der Straße.

Das Wochenende kam schneller, als wir gedacht hatten. Am Nachmittag fuhren wir dann zum Haus der Elisabeth, wo wir von der ganzen Familie begrüßt wurden. Mami und Daddy mussten natürlich kurz mit ins Haus kommen.

Elisabeth führte uns in ihr Kinderzimmer, das aussah wie das Gemach einer Barbie-Prinzessin. Carina und ich kamen aus dem Staunen nicht mehr heraus. Am meisten gefiel uns das Bett, das aussah wie das Bett einer Prinzessin, denn es hatte einen Himmel, von dem seitlich Schleier herunterhingen.

In diesem Bett wäre ich gerne eine Prinzessin gewesen und hätte mich von einem Prinzen wachküssen lassen.

Elisabeth hatte einige Spiele vorbereitet. Eine Stunde später nahm sie uns mit zu einem Volleyballspiel, denn die Volleyballmannschaft der Mädchen ihrer Klasse spielte gegen eine Mannschaft aus dem Nachbarort. So lernte Carina gleich ihre Sportlehrerin und viele zukünftige Mitschülerinnen kennen.

Am Montag war unser erster Schultag und sowohl Carina als auch ich kannten schon einen großen Teil der Klasse. Es kostete uns Mühe, den Montagmorgen zu erwarten. Vor Aufregung konnten wir kaum frühstücken. Wir schauten dauernd auf die Wohnzimmeruhr und fieberten dem Augenblick entgegen, dass wir von unseren Mitschülern abgeholt wurden. Carina und ich hatten verschiedene Kleidungsstücke probiert, hatten uns mehrfach umgezogen und wussten nicht so recht, was wir anziehen sollten. Schließlich entschieden wir uns beide für T-Shirts, Leggins und leichte Sandalen, denn draußen war es noch sommerlich warm.

Mitten in unsere Überlegungen ertönte der Gong und als Mami zur Tür hinausschaute, stand schon Elisabeth mit ihrer Volleyballmannschaft da, um Carina abzuholen. Bevor wir uns versahen, war Carina mit ihren Klassenkameraden schon abmarschiert. Ich wollte gerade wieder ins Haus gehen, als Anja mit ihrer Partygruppe kam. Es gab ein lautes Hallo. Sie nahmen mich in die Mitte und fröhlich ging es ins Gymnasium.

Ich drehte mich um und sah Mami, wie sie mir noch nachwinkte.

Als wir in die Schule kamen, war die Aula schon ziemlich voll. Überall standen Schülergruppen und lachten und diskutierten. Dann ertönte der Gong und wir gingen in unser Klassenzimmer. Wie ausgemacht, saß ich zwischen Maria und Anja. Die Klasse war nicht groß, wir waren nur 23 Schüler. Fast die Hälfte von ihnen kannte ich schon. Das war beruhigend. In meiner letzten Klasse auf den Philippinen waren wir 75 Schüler gewesen. Die geringe Schülerzahl hier empfand ich geradezu als Wohltat.

Als die Klassenlehrerin, Frau Berger, eintrat, standen wir alle auf und als es still geworden war, konnten wir uns setzen.

Dann bat mich Frau Berger, nach vorne zu kommen. Sie stellte mich kurz vor und dann sollte ich in englischer Sprache noch etwas mehr über mich sagen.

In diesem Moment bekam ich es mit der Angst zu tun, aber als ich so in die Runde blickte und die vielen bekannten Gesichter und die vielen aufmunternden Blicke sah, löste sich meine Zunge und ich war höchst erstaunt, mich ziemlich entspannt reden zu hören. Ich sagte:

„Mein Name ist Mara Geronimo, ich komme von den Philippinen. Die Philippinen sind nicht ganz so groß wie die Bundesrepublik, etwa 300.000 km2. Die Philippinen bestehen aus 7000 Inseln und liegen am Rande des Südpazifiks. Die Bundesrepublik hat etwa 82 Millionen Einwohner, die Philippinen haben etwa 100 Millionen, so genau weiß das keiner. Auf den Philippinen gibt es mehr junge als alte Leute. In Deutschland scheint es umgekehrt zu sein.

Im Vergleich zur Bundesrepublik sind wir ein relativ armes Land, obwohl es dort auch viele Reiche und Superreiche gibt. Im Augenblick bildet sich eine Mittelschicht auf den Philippinen heraus, die über einen sehr guten Lebensstandard verfügt. Doch Millionen leben noch immer am Rande des Existenzminimums. Sie wissen nicht, womit sie sich am nächsten Tag ernähren sollen. Millionen sind ohne Wasser und vernünftige Toiletten. In vielen Regionen leben die Menschen entweder in Bambus- oder in Wellblechhütten. Die schwüle Hitze und die Moskitos sind die größte Plage.

Als ich nach Deutschland kam, atmete ich auf, weil es nicht so heiß war. Es ist ein Segen, in kühlen Nächten ohne Moskitos schlafen zu können.

Meine Schule auf den Philippinen ist nicht vergleichbar mit der in Deutschland. An meiner Schule hatten wir nur selbst gebastelte, primitive Stühle und Tische, aus denen die Nägel herausschauten. Ich war in einer Klasse mit 75 Schülern. Wir hatten keine Bücher. Keine unserer Lehrerinnen und keiner unserer Lehrer hatte einen Atlas. Wegen der schlechten Satellitenverbindungen mussten wir erst in benachbarte Städte fahren, um für bestimmte Hausaufgaben in das Internet zu gelangen.

Eines der größten Probleme in unserer Schule war die Hitze. Wir hatten keine Ventilatoren und keine Klimaanlage. Wenn es regnete, tropfte es nicht selten durch. Vor Kurzem gab es einen Mega-Taifun mit dem Namen Yolanda, der riss allen Schulen in der Umgebung von 100 km die Dächer weg. Weil unser Ortsvorsteher sämtliche Hilfsgüter verkaufte, einschließlich der Wellblechdächer für unsere Schule, saßen wir unter Billig-Plastikplanen, die bald rissen und Wasser durchließen. Denn auch die guten und stabilen Plastikplanen der Hilfsorganisationen waren nicht bei uns angekommen, sondern verkauft worden. Die Philippinen haben bisher sehr unter der Korruption gelitten.

Meine Klassenkameraden auf den Philippinen könnten sich beim besten Willen nicht vorstellen, in einer so schönen Schule wie dieser zu sein. Es gibt zwar gute private Schulen, aber nicht für die vielen einfachen Familien. Ich wusste bis vor wenigen Tagen nicht, dass ich eine so traumhaft schöne Schule besuchen würde. Ich freue mich, dass ich hier sein darf. Ich freue mich auch, in einer so netten Klasse zu sein und so viele freundliche Gesichter zu sehen. Das macht mir Mut.“

Dann fiel mir plötzlich nichts mehr ein und ich setzte mich.

Die Klassenlehrerin bedankte sich für meine nette Einführung und die Klasse klatschte Beifall. Anschließend legte Frau Berger eine Folie auf den Projektor. Es war der Stundenplan, der nun groß auf der Wand erschien.

Es gab ein lautes Weh und Ach und natürlich auch Freudenrufe, als meine Mitschüler neben den Fächern auch die entsprechenden Lehrer entdeckten. Noch hatte ich keine Ahnung, welche Lehrer welche Fächer unterrichteten.

Anschließend wurde der Klassensprecher gewählt. Anja wurde wieder erste Klassensprecherin. Knut, der schon auf meiner Begrüßungsparty dabei war, wurde zweiter Klassensprecher. Zwei Schüler meldeten sich freiwillig für das Klassenbuch, das jeden Morgen vor dem Lehrerzimmer abgeholt werden musste. Der Ordnungsdienst und die Pausenaufsicht erfolgten in alphabetischer Reihenfolge.

Frau Berger unterrichtete in der Klasse Englisch und Deutsch. Weil wir die Bücher erst am zweiten Tag erhielten, wollte Frau Berger mit einer entspannten Englischstunde beginnen. Sie rief immer wieder Schüler auf, die nach vorne kommen und ein paar Ferienerlebnisse auf Englisch erzählen sollten.

Es gab viel zu lachen.

Sven, ein lustiger und pfiffiger Junge, erzählte ganz spontan, wie er im Urlaub mit seinen Eltern heimlich das Hotel verließ und das erste Mal ein Mädchen geküsst hatte. Ich schaute immer wieder zu Frau Berger und wollte wissen, wie sie darauf reagierte. Aber sie ließ Sven erzählen und lachte manchmal mit. Es gab schallendes Gelächter, als er schilderte, wie er am See vor dem Hotel das Mädchen vorsichtig hinter einen Baum zog, damit sie nicht gleich gesehen werden konnten. Dabei hatten beide übersehen, dass hinter ihnen ein Fischer saß, der ihnen seelenruhig beim Küssen zugeschaut hatte.

Hanna erzählte von einer Bergtour mit ihrer Familie in Österreich. Auf dieser Tour waren sie in der Nähe des Gipfels in ein Gewitter geraten. Sie schilderte das Phänomen des Elmsfeuers, jener elektrischen Ladung, die auf jedem metallischen Gegenstand eine Spannung erzeugt, die wie blaues Licht aussieht und sich in kleinen Blitzen entlädt. Dieses Feuer konnte sehr gefährlich werden. Ich fieberte richtig mit, als sie vom überhasteten Abstieg aus der Gefahrenzone berichtete.

Georg erzählte von seinen Erlebnissen beim Surfen und Kiten am Gardasee in Norditalien. Er war in einen Sturm geraten und auf der anderen Seite des Sees ans Ufer geschleudert worden. Zum Glück hatte er in einem Hotel seine Eltern anrufen können, um ihnen mitzuteilen, dass er in Sicherheit war.

Dann kam Oliver, ein netter, großer, schlaksiger Kerl, der erzählte, wie er mit seinem Vater zur größten Düne Europas in Frankreich gefahren war, um dort das Paragleiten zu erlernen. Auf dem Weg quer durch Frankreich versuchte sein Vater, ihm immer wieder etwas Französisch beizubringen. Auf der Autobahn las ihm sein Vater die Werbesprüche auf Lastwagen vor und Oliver sollte sie wiederholen. Wir lachten Tränen, als er schilderte, was da alles herauskam. In Dörfern und Städten las ihm sein Vater die Namen von Geschäften und Werbeanzeigen vor. Geschäfte für Pralinen und Konditoreiprodukte hießen zum Beispiel Viennoiserie. Als er einige Schüler aufforderte, diese französische Vokabel zu wiederholen, brach die Klasse in schallendes Gelächter aus, weil das Wort wirklich sehr schwierig auszusprechen ist.

Oliver gab zu, dass man auf so einer Fahrt tatsächlich viele neue Wörter kennen lernen konnte. Aber er gestand uns, dass er eigentlich gar keine große Lust hatte, in den Ferien noch neue französische Wörter zu lernen.

Dann schilderte er uns seinen Kampf in den Dünen mit dem Paragleiter im auflandigen Wind an der Atlantikküste. Schon nach zwei Tagen absolvierte er seine ersten Flüge. Am dritten Tag flog er schon 300 m hoch.

Er fragte Frau Berger, ob er einen kurzen Film zeigen dürfe, den er auf sein Handy geladen hatte.

Er schloss sein Handy am Computer neben dem Lehrerpult an und schaltete den Projektor ein. In Großbildprojektion konnten wir nun sehen, wie er auf der Düne stand, ein paar Schritte vorwärts lief und dann abhob. Ich war total fasziniert, wie er so durch die Luft schwebte. Das wollte ich auch einmal lernen. Es musste wunderbar sein, abzuheben und zu fliegen.

Astrid berichtete von den Ferien mit ihrer Familie in Kanada. Der Vater hatte dort ein Blockhaus an einem See gemietet, denn er war leidenschaftlicher Fischer. Auch sie schloss ihr Handy an den Computer an und zeigte uns traumhaft schöne Urlaubsfotos.

Anna, eine sehr sympathische Schülerin, erzählte, dass sie auf dem Bauernhof ihren Eltern helfen musste. Sie erzählte, dass sie noch nie im Ausland war und im herkömmlichen Sinne auch noch nie Ferien gemacht hatte. Aber sie schilderte uns eindrucksvoll ihre Erlebnisse in der Natur. Sie erzählte uns, wie sie mit dem Traktor des Vaters in den Wald fuhr und abgesägte Bäume herauszog. Sie erzählte auch von den Jagderlebnissen mit ihrem Vater und dass sie schon einen kapitalen Hirsch erlegt hatte.

Nach dieser Doppelstunde Englisch war der Unterricht für den ersten Tag vorbei. Frau Berger trug ins Klassenbuch ein:

„Konversationsübungen in englischer Sprache.“

Mit einem Pulk von Schülern machte ich mich auf den Heimweg. Am Gartentor unseres Hauses verabschiedete ich mich und einige Mitschüler versprachen, mich am nächsten Morgen wieder abzuholen.

Als ich ins Haus ging, sprudelte ich nur so über vor Begeisterung über die neue Schule. Ich erzählte meiner Mutter alles, was ich an diesem Morgen erlebt hatte. Sie freute sich, dass es mir so gut in der Schule gefiel.

Einige Minuten später kam Carina. Auch sie war begeistert, sie hatten Sprachspiele gemacht und es sei sehr lustig gewesen. Daddy hatte noch kurz etwas erledigen müssen und kam erst zum Mittagessen wieder. Wir bombardierten natürlich auch ihn mit unseren Erlebnissen, manchmal sprachen Carina und ich durcheinander, sodass er für einige Augenblicke nichts verstehen konnte. Auch er war hoch erfreut über unsere Begeisterung für die Schule.

Das Mittagessen verlief turbulent, weil wir immer wieder von der Schule berichteten.

Anja hatte mich für den Nachmittag eingeladen und Daddy stimmte zu. Carina fragte, ob auch sie für zwei Stunden zu Elisabeth gehen könne, dort würde sie noch einige Klassenkameradinnen treffen.

Am nächsten Tag ging es schon früher los. Um 7.30 Uhr wurde ich von einigen Klassenkameradinnen und Klassenkameraden abgeholt. Elisabeth und einige Mädchen warteten ebenfalls auf Carina, um sie in die Schule zu begleiten.

In der ersten Stunde hatten wir Mathematik bei einem netten jungen Lehrer, der schon von der neuen Schülerin von den Philippinen gehört hatte und der mich freundlich begrüßte. Obwohl der Unterricht in deutscher Sprache stattfand, konnte ich dem Unterricht, in dem viele Formeln vorkamen, verhältnismäßig gut folgen. In der zweiten Stunde wurden dann die Bücher ausgeteilt. Wir erhielten unsere Bücher in den Fächern Deutsch, Englisch, Mathematik, Physik, Geografie, Geschichte, Chemie und Spanisch, denn ich hatte Spanisch als zweite Fremdsprache gewählt.

Andächtig betrachtete ich meine Bücher. Es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich für jedes Fach ein Schulbuch hatte.

Es gab bereits Tablet-Klassen, die brauchten keine Bücher mehr. Es hieß, wir würden demnächst auch auf Tablets umgestellt werden. Wir schleppten unsere Bücher ins Klassenzimmer und legten sie auf unsere Plätze. Nach der zweiten Stunde gab es 15 Minuten Pause.

Es war nicht erlaubt, während der Pause in den Klassenzimmern zu bleiben, denn es waren wohl früher immer Beschädigungen vorgekommen, die von Schülern ausgeführt worden waren, die sich im Klassenzimmer während der Pause gelangweilt hatten.

Daddy hatte Carina und mir Pausenbrote hergerichtet und eingepackt, die ich nun mit großem Genuss aß. Manche Schüler gingen in die Mensa und kauften sich belegte Brote. Für die Ordnung auf dem Pausenhof waren einige Lehrer eingeteilt. Die Schüler standen in Gruppen zusammen, unterhielten sich, lachten und gestikulierten. Manche Schüler hatten auch schon ein Mädchen im Arm und ich sah sogar ein Pärchen, das sich vor allen Schülern küsste.

Ich stand im Kreis mit Anja und Hanna und anderen Klassenkameradinnen. Freundlicherweise unterhielten sie sich wegen mir noch in Englisch, aber ich war fest entschlossen, schnell deutsch zu lernen, schließlich war ich in Deutschland.

Die Pause ging schnell vorüber. Wir holten unsere Schulsachen und pilgerten in den Geschichtsraum, denn anschließend hatten wir Geschichte.

Als ein älterer, rundlicher Herr mit einer schwarzen Pilotentasche kam, wurde er mit großem Hallo begrüßt. Anja klärte mich auf und sagte mir, dass dies der Geschichtslehrer Müller sei, einer der Lieblingslehrer der Klasse. Herr Müller sperrte auf und ließ uns ein. Als wir unsere Plätze eingenommen hatten, herrschte freudig-gespannte Stimmung. Anscheinend warteten alle auf eine witzige Begrüßung durch Herrn Müller.

Doch er kam erst auf mich zu, begrüßte mich und sagte, er würde sich über mich als Neuzugang sehr freuen. Meine Mitschüler klopften zustimmend auf die Tische. Ich war rot geworden und setzte mich scheu. Herr Müller bat Anja, die neben mir saß, alles, so gut es ging, leise ins Englische zu übersetzen, sonst bekäme ich vom Unterricht nichts mit.

Dann schmunzelte er und sagte:

„Hi Freaks, eigentlich wollten wir doch alle noch in den Ferien bleiben, aber eine bestimmte Form des Masochismus hat uns dann doch wieder hierher geführt.“

„Sind wir demnach alle Masochisten?“ fragte Knut lachend.

„Ja, natürlich, Geschichts-Masochisten“, schmunzelte Herr Müller.

Es gab noch ein paar gespielte Buhrufe, doch dann stellten sich alle auf den Unterricht ein.

Herr Müller setzte sich vorn auf das Pult und forderte alle auf, uns erst mal zurückzulehnen. Dann wiederholte er in groben Zügen den Stoff des letzten Jahres und erklärte, dass wir nach dem neuen Lehrplan mit der Kolonialisierung der Welt und dem Sonnenkönig Ludwig XIV. weitermachen würden.

Doch bevor er auf die ersten großen Kolonialreiche einging, wollte er noch mal einige Entdecker wiederholen, um das Verständnis für die Kolonialisierung der Welt zu erleichtern und auf eine solide Basis zu stellen.

„Um 1400 oder 1450 glaubten die Menschen, die Erde und der Mond seien eine Scheibe. Ich muss euch offen gestehen, zu jener Zeit hätte auch ich an die Philosophie der Scheibe geglaubt. Natürlich wissen wir heute, dass der Mond eine Kugel ist, und deshalb sehen wir auch eine Kugel. Aber wenn man euch gesagt hätte, der Mond sei eine Scheibe, dann hätten viele von uns daran geglaubt, ich auch. Ich habe schon oft zum Mond hinaufgeschaut und mir überlegt, ob ich damals die Kugelform entdeckt hätte. Also, ich muss euch sagen, ich wäre nie und nimmer auf die Kugelform gekommen.“

„Wem wäre es von euch auch so gegangen?“

Es meldeten sich fast alle Schüler, ich auch.

„Bis zur Zeit des Kolumbus hatte man sich die Erde als Scheibe vorgestellt. Aus diesem Grund trauten sich die Männer auf den Segelschiffen nicht weit hinaus aufs Meer. Sie hatten Angst, an den Rand der Scheibe zu gelangen und in die Hölle hinunterzufallen. Und nun wird es richtig spannend.

Kolumbus glaubte nicht mehr an eine Welt auf einer Scheibe, er vertraute der neuen Lehre von der Kugelform der Erde. Im Auftrag des spanischen Königs wollte er 1492 westwärts segeln und, auf die Kugelform der Erde vertrauend, an die Ostküste Indiens gelangen. Ziel war es, ebenfalls in den lukrativen Gewürzhandel der Portugiesen einzusteigen, die über die Ost-Route nach Indien gelangt waren.

Also, mich hätte zu dieser Zeit kein Pferd auf eines der Schiffe von Kolumbus gebracht. Das wäre mir alles zu spekulativ und zu gefährlich gewesen.

Damals glaubten die Seefahrer noch an Meeresungeheuer. Wenn sie Wale sahen, wussten viele nicht, welches Körperteil eines Riesenmonsters hier aus dem Wasser schaute. Es konnte ja sein, dass so eine Wal-Fluke nur der Finger eines Untieres war, das vielleicht einen Kilometer in die Tiefe reichte.

Wer von euch hätte sich auf eines der Schiffe des Kolumbus gewagt?“

Nur drei Schüler meldeten sich. Sven sagte, er sei ein Typ, der nicht an Märchen glaubt. Er hätte wahrscheinlich auch damals nicht an Märchen geglaubt.

Herr Müller ließ die Aussage mal so stehen.

Dann legte er eine farbige Folie mit den Entdeckungsfahrten von Kolumbus, Vasco da Gama, Bernal Díaz und Magellan auf den Overheadprojektor.

Ich war beeindruckt von der Größe und der gestochen scharfen Klarheit des Overheadbildes.

„Normalerweise wäre Kolumbus, hätte er die lange Seefahrt durchgehalten, tatsächlich im heutigen Ostindien gelandet. Insofern waren seine Überlegungen richtig. Was hatte er aber nicht gewusst?“

Sofort gingen einige Arme hoch.

„Dass Amerika dazwischen lag“, sagte Hanna.

„Richtig, er konnte sich nicht vorstellen, einen neuen Kontinent entdeckt zu haben. Er hielt die Menschen, auf die er traf, für Inder. Deshalb nannte er sie auch Indianer. Noch heute werden in England die Karibischen Inseln als Westindies bezeichnet, und zwar deshalb, weil Kolumbus nach Westen segelte und glaubte, in Indien angekommen zu sein.

„Hat er jemals erfahren, dass er einen neuen Kontinent entdeckte?“ fragte Herr Müller.

Georg meldete sich:

„Kolumbus war viermal in Amerika. Aber die Tragik seines Lebens bestand darin, dass er bis zu seinem Tod nicht wusste, dass er einen neuen Kontinent entdeckt hatte.“

„Sehr gut, Georg.“

Nach einem kurzen Frage- und Antwortspiel erhielt jeder Schüler eine Umriss-Karte der Welt, auf der wir die Route von Kolumbus, von Vasco da Gama, Bernal Díaz und von Magellan einzeichneten und die ersten Kolonien der Engländer, Franzosen, Spanier und Portugiesen.

Dann erzählte uns Herr Müller noch aus dem Leben von Vasco da Gama und Bernal Díaz.

Kurz vor dem Ende der Stunde schaute er auf die Uhr und sagte:

„Hausaufgabe für die nächste Stunde ist: Seiten 8–12 im Geschichtsbuch zu lesen und die Fragen zwei und drei auf Seite 12 schriftlich zu beantworten. In der nächsten Stunde wird uns die Mara einen kleinen Vortrag über Magellan halten, denn er war es schließlich, der die Philippinen entdeckte. Über diese Entdeckung wollen wir von einer echten Filipina natürlich etwas mehr hören. Es stört uns überhaupt nicht, wenn du deinen Vortrag vorerst noch in englischer Sprache hältst.“

Ich war im Gesicht rot geworden, nickte und freute mich, etwas über die Geschichte meines Heimatlandes erzählen zu können.

Dann war die Stunde zu Ende und wir begaben uns in den Physikraum, dessen Doppeltür schon offen stand, denn der dortige Fachlehrer war gerade damit beschäftigt, den Versuch der vorherigen Stunde abzubauen. Wir setzten uns und warteten, bis der Gong ertönte.

Der Physiklehrer, Herr Meyer, war ein netter gemütlicher Mann mit gütigen Gesichtszügen.

Nach dem Gong kam er auf mich zu. Auch er gab seiner Freude Ausdruck, mich als Neuzugang in dieser Klasse begrüßen zu dürfen. Er erlaubte Anja, mir den Unterricht zu übersetzen. Thema der Stunde war der Luftdruck. Dazu wollte er auch einige praktische Experimente durchführen.

Erst gab er eine kurze Einleitung zum Thema Luftdruck. Anschließend rief er zwei Schüler zu sich, denen er zwei große Schachteln gab. Dann begaben wir uns auf eine Wiese hinter dem Pausenhof. Wir stellten uns im Kreis auf und harrten der Dinge, die da kamen.

Herr Meyer holte eine kleine Plastikrakete aus der Schachtel und setzte sie auf eine Startrampe, durch die Luft gepumpt werden sollte.

In die Startrampe legte er eine 5 Cent große runde Plastikfolie, die bei Überdruck platzen und die Rakete in den Himmel schießen würde.

Knut bekam eine Fußluftpumpe, mit der er den entsprechenden Druck aufbauen konnte.

Herr Meyer empfahl uns, noch mal einige Schritte zurück zu gehen, um den Abflug der Rakete besser verfolgen zu können.

Knut hatte sich freiwillig gemeldet, die Fußluftpumpe zu betätigen.

Er pumpte und pumpte, bis es einen leichten Knall tat und die Plastikrakete in den Himmel schoss. Sie flog so hoch, dass wir sie aus den Augen verloren. Doch dann kam sie senkrecht wieder zurück. Die Rakete war leicht und hatte eine Schaumstoffspitze, aus diesem Grund hätte niemand verletzt werden können.

Wir klatschten und baten um eine Wiederholung dieses Versuches, der wirklich sehr beeindruckend war.

Johanna löste Knut ab, präparierte die Rakete mit der Plastikfolie und fing dann an zu pumpen.

Mit einem leichten Knall flog sie wieder außerhalb unserer Sichtweite und kehrte erst nach einigen Sekunden wieder zurück.

„Was passiert, wenn ich zwei Plastikfolien verwende?“ fragte Herr Meyer.

„Dann ist ein höherer Druck nötig“, meinte Peter.

„Richtig!“ nickte Herr Meyer. „Und hätte das auch eine Auswirkung auf die Flughöhe?“

„Selbstverständlich, die Rakete würde dann noch höher fliegen“, warf Sandra ein.

„Hervorragend“, bestätigte Herr Meyer.