5,99 €
Nachher kam es Mr. Malone so vor, als sei die ganze Geschichte von Anfang an mysteriös, aber gleichsam schicksalhaft und unentrinnbar gewesen. Zum Beispiel: das junge Mädchen. In der letzten Zeit hatte sie jeden Morgen dort oben am Fenster, der Leihbibliothek gesessen, wenn er um halb zehn in dem von seiner Firma gestellten Wagen mit Chauffeur unten vorbeifuhr, dann reckte er den Hals und drehte sich auf dem Vordersitz um, als wolle er eine seiner Dollarzigarren zum Fenster hinauswerfen, und spähte zu dem dunklen, schmalen Köpfchen hinauf, zu dem angenehm wärmenden Lächeln (das leider nicht Mr. Malone, sondern den Bücherwürmern dort oben galt) und dem einfachen dunklen, Kleid, von dem aller Schick und alle Eleganz der Welt ausstrahlten wie ein edles Parfüm. Ja, es war, recht sonderbar.
Der Roman Bei Nacht im Central Park des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Thomas Walsh (* 19. September 1908 in New York; † 21. Oktober 1984 in Danbury) erschien erstmals im Jahr 1959; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1961 (unter dem Titel Nachts im Central Park).
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Veröffentlichungsjahr: 2023
THOMAS WALSH
Bei Nacht im Central Park
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
BEI NACHT IM CENTRAL PARK
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Achtes Kapitel
Neuntes Kapitel
Zehntes Kapitel
Elftes Kapitel
Zwölftes Kapitel
Nachher kam es Mr. Malone so vor, als sei die ganze Geschichte von Anfang an mysteriös, aber gleichsam schicksalhaft und unentrinnbar gewesen. Zum Beispiel: das junge Mädchen. In der letzten Zeit hatte sie jeden Morgen dort oben am Fenster, der Leihbibliothek gesessen, wenn er um halb zehn in dem von seiner Firma gestellten Wagen mit Chauffeur unten vorbeifuhr, dann reckte er den Hals und drehte sich auf dem Vordersitz um, als wolle er eine seiner Dollarzigarren zum Fenster hinauswerfen, und spähte zu dem dunklen, schmalen Köpfchen hinauf, zu dem angenehm wärmenden Lächeln (das leider nicht Mr. Malone, sondern den Bücherwürmern dort oben galt) und dem einfachen dunklen, Kleid, von dem aller Schick und alle Eleganz der Welt ausstrahlten wie ein edles Parfüm. Ja, es war, recht sonderbar.
Der Roman Bei Nacht im Central Park des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Thomas Walsh (* 19. September 1908 in New York; † 21. Oktober 1984 in Danbury) erschien erstmals im Jahr 1959; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1961 (unter dem Titel Nachts im Central Park).
Nachher kam es Mr. Malone so vor, als sei die ganze Geschichte von Anfang an mysteriös, aber gleichsam schicksalhaft und unentrinnbar gewesen. Zum Beispiel: das junge Mädchen. In der letzten Zeit hatte sie jeden Morgen dort oben am Fenster, der Leihbibliothek gesessen, wenn er um halb zehn in dem von seiner Firma gestellten Wagen mit Chauffeur unten vorbeifuhr, dann reckte er den Hals und drehte sich auf dem Vordersitz um, als wolle er eine seiner Dollarzigarren zum Fenster hinauswerfen, und spähte zu dem dunklen, schmalen Köpfchen hinauf, zu dem angenehm wärmenden Lächeln (das leider nicht Mr. Malone, sondern den Bücherwürmern dort oben galt) und dem einfachen dunklen, Kleid, von dem aller Schick und alle Eleganz der Welt ausstrahlten wie ein edles Parfüm. Ja, es war, recht sonderbar. Immer sah sie ganz genauso aus, wie Mr. Malone sie von ihrer ersten und einzigen Begegnung in Erinnerung an Ute – so frisch, so einnehmend, so anziehend, intelligent und unverdorben –, dass ihm das Herz weh tat, ganz und gar törichterweise, und sich ein wenig verkrampfte und ihm dann! die Kehle zusammenschnürte. Aber es war wirklich recht dumm, denn am zweiten Freitag begann sogar Eddie, der Fahrer, sich Gedanken zu machen und aufmerksam zu werden.
»Warum müssen wir denn immerzu diesen Weg fahren?«, beklagte er sich und auch mit einem gewissen Recht. »Wir könnten an der Neunten einbiegen, Mr. Malone, das ist viel kürzer. Warum müssen wir denn...« Dann drehte auch er sich um. »He! Wo schauen Sie denn hin? Was ist denn das für ein Mädchen, Mr. Malone?«
Eine Weile herrschte dumpfes Schweigen.
»Was für ein Mädchen?«, fragte Mr. Malone mit finsterer Miene. »Wer oder was? Sie fahren diesen Weg, weil ich Ihnen befohlen habe, diesen Weg zu fahren. Und nun halten Sie die Klappe. Wohl geträumt, was?« – In der letzten Zeit jedoch hatte Mr. Malone sich selber diese Frage des Öfteren stellen müssen. So auch jetzt. Wenn er nur eine vernünftige Antwort gewusst hätte
Aber auf jeden Fall war das Nummer Eins gewesen. Das junge Mädchen. Nummer zwei wartete auf ihn um die Ecke, in der Garage der Maddock-Taxi-Gesellschaft: Der Stunk mit der Konkurrenzfirma – der Rotpunkt-Taxi-Gesellschaft. Wie aus den Morgenberichten hervorging, hatten die Herrschaften ihren Druck eher noch verschärft. Zwei Mann hoch hatten sie gestern Abend den Chauffeur Hymie Horowitz auf dem Standplatz vor dem Hotel Afton überfallen. Ein anderer von ihren Leuten war gegen einen funkelnagelneuen Maddock geballert und hatte die Stoßstange ruiniert. Aus dunklen Seitengassen kamen Ziegelsteine gegen die Windschutzscheiben der Maddock-Taxis geflogen. Und in mindestens einem halben Dutzend Fällen war die Sitzpolsterung zerfetzt worden: mit einem Rasiermesser in der Hand eines anonymen Fahrgastes, der fünf bis sechs Blocks weit mitfuhr, lautlos und geschickt seine Arbeit verrichtete und dann, nach der stets übereinstimmenden Beschreibung zu schließen, ein anderes Maddock-Taxi anhielt und in seinen dunklen Tiefen den gleichen Unfug trieb.
Das alles schien sich seit gestern Nacht noch ein wenig verschlimmert zu haben; infolgedessen führte Mr. Malone ein ernstes Telefongespräch mit Saul Jacobsen im Hauptbüro und fuhr dann zum Taxikontrollamt der Verkehrspolizei, um zu sehen, was er für den Fahrer Horowitz – oder Onkel Hymie, wie Mr. Malone ihn stets zu begrüßen pflegte – tun könne. Aber auch vor dem Vernehmungszimmer lungerten zwei dieser Rotpunkt-Rabauken herum und warteten, bis der Fall drankäme. Und sowie sie Mr. Malone erblickten – den untersetzten, kräftig gebauten jungen Mann, der jetzt nicht mehr die Mütze und Windjacke des Taxichauffeurs trug, sondern, wie es sich für einen wohlbestallten Direktor gehörte (und warum nicht? Man hatte ihm doch sogar einen Fahrer gestellt, oder wie?), einen teuren englischen Mantel, einen schwarzen, eleganten Bankiershut und eine richtige erstklassige Schlipsnadel mit Perle (Preis 185 Dollar), also, da stießen sie einander an und begannen recht anzügliche und bissige Bemerkungen von sich zu geben.
»Schau, der Hut mit dem Herrn!«, sagten sie höhnisch, aber sie wussten natürlich auch, dass sie sich das ungestraft erlauben durften – zumindest hier drin, wo es von Polizeibeamten wimmelte. »Wo geht denn der Hut mit dem Herrchen hin? Hallo, komm mal raus unter der Krempe!«
Natürlich war das schwer hinunterzuschlucken, aber Mr. Malone sah sich unter den gegebenen Umständen dazu gezwungen, sowohl in seinem eigenen als auch im Interesse der Maddock-Taxigesellschaft. Dann zeigte sich aber zu guter Letzt, dass er trotzdem etwas vor ihnen und ihrem lausigen Boss Jack Dancy voraushatte, weil der heutige Vernehmungsbeamte Lieutenant McCracken war, und Charley McCracken war ein braver, ein anständiger Kerl, wie Mr. Malone ihn nur selten unter den raubeinigen Hütern des Gesetzes angetroffen hatte.
»Ich möchte Ihnen jetzt einiges erklären, Lieutenant«, sagte Mr. Malone zu ihm, und er sagte das in recht gelassenem Ton – trotz des grimmigen Gesichts, mit breiten, verbeulten Backenknochen, von alten Schlägereien zeugend auf dem kantig gefügten Malone-Korpus. Die Hutkrempe zeigte nach unten, die Churchill-Zigarre nach oben, und in dem sportlichen Tweedmantel, der ihm vielleicht um ein paar Zentimeter zu lang war, sah Mr. Malone leider Gottes wie ein verkümmerter Herkules aus. Er hatte den Brustkasten eines Bullen, die Schultern eines Schwergewichtsboxers und Liliputbeine. Seine Nase war an mehreren Stellen gebrochen und gerade nur schlecht und recht geflickt worden, und seine Augen, von tiefem Nussbraun, funkelten unter streitlustigen blonden Brauen.
»Wir haben nichts als Scherereien, seit Jack Dancy den andern dort in der Rotpunkt ausgekauft – oder vielmehr hinausgegrault hat, wenn Sie die Wahrheit wissen wollen. Jetzt hatten zwei seiner Kulis die Frechheit, gestern Abend vor dem Afton Hymie Horowitz anzustänkern, ihn herumzuschubsen und sich dann bei Ihren unschuldsvollen Engeln zu beschweren, weil er sich wehren wollte. Okay. Was gedenken Sie in der Sache zu tun, Charley! Heraus mit der Sprache, Mann!«
»Tja, ich weiß nicht recht...«, erwiderte Lieutenant McCracken. Er blätterte in den Papieren, die vor ihm auf dem Schreibtisch lagen. »Einen Augenblick. Mal sehen, ob ich die Meldung hier habe. Horowitz, sagten Sie...«
»Ja, ja, ich weiß Bescheid.« Mr. Malone zeigte mit der Churchill-Zigarre auf ihn. »Jack Dancy scheint sich wirklich einiges einzubilden. Ich habe mir sogar sagen lassen, dass er herumgeht und in der ganzen Stadt offen damit prahlt. Also? Nun können Sie den beiden Rabauken dort draußen das Märchen abnehmen, das sie sich ausgedacht haben, und Hymies Führerschein für dreißig Tage suspendieren – und dann wird Dancy überall herumerzählen, dass er bei euch einen Stein im Brett habe und dass ich nicht mal meine eigenen Fahrer heraushauen könne. Kapiert?«
»Vielleicht«, erwiderte McCracken behutsam. »Aber ich bin schließlich nicht in der Lage, Partei zu ergreifen. Das müssen Sie einsehen, Mike. Wie kann ich denn...?«
»Ich werde Sie nicht bitten, Partei zu ergreifen«, erklärte Mr. Malone. Ungeduldig schob er den Hut aus der Stirn und stemmte sich gegen Charley McCrackens Schreibtisch mit Fäusten so dick und feist wie Hammelschlegel. »Und ich habe es auch nie getan. Aber wenn Sie wollen, dass ich die ganze Chose persönlich erledige, nicht auf dem Amtsweg«, und in diesem Augenblick schob er seinen runden Kanonenkugelkopf ein paar Zentimeter vor, tiefgesenkt und bedrohlich, »dann brauchen Sie es nur zu sagen, Charley. Wenn ihr es nicht schafft – ich werde schon mit Mr. Jack Dancy und seinen haschischrauchenden Revolverhelden fertig. Ich besuche ihn eines Abends in seinem Büro und bringe ihm bei, wie man sich in der Taxibranche zu benehmen hat. Es wird mir nichts anderes übrigbleiben, weil es so nicht weitergehen kann, Charley, weder bei mir noch bei meinen Chauffeuren. Warum denn auch?«
»Na, na«, sagte Charley McCracken. Er sah etwas bekümmert drein. »Ich gebe zu, dass ich in der letzten Zeit allerlei gehört habe, aber seien Sie doch vernünftig, Mann, ja? Sehen Sie zu, dass Sie eines Nachts seine Rabauken auf frischer Tat ertappen. Dann können Sie sich ruhig aufs Ohr legen und den Rest mir überlassen.«
»Ja, wenn ich sie bloß erwischen könnte!«, murmelte Malone leise, aber voller Inbrunst. »Junge, Junge! da würden sie was lernen, Charley, da würden sie sich sehr schnell gute Manieren zulegen. Aber so, wie es jetzt steht, wie sie das alles still und heimlich machen, grade dann, wenn sie wissen, dass ich nicht in der Nähe bin – da sieht es mir ganz danach aus, als müsste ich es auf die eine oder andere Weise direkt mit Jack Dancy regeln. Ich werde es schon regeln. Oder ich drehe ihm den, Hals um. Je nachdem, was ihm lieber ist. Glauben Sie, ich mache Spaß?«
»Nein«, erwiderte Charley McCracken und musterte ihn mit nüchternem Blick. »Keineswegs. Aber das wollen die Leute: Sie bis zum Äußersten treiben, Mike. Verstehen Sie das nicht? Mit solchen Burschen... ja, Sie werden sich doch nicht persönlich mit ihnen einlassen wollen, damit man Sie eines schönen Tages im Kofferraum Ihres eigenen Wagens findet!«
»Ach, darüber habe ich schon nachgedacht«, erwiderte Mr. Malone. Er verzog den Mund. »Vielleicht sogar sehr viel. Ich bin doch kein Idiot. Aber ich arbeite jetzt seit zehn Jahren in dieser Branche, seit ich meinen Führerschein bekommen habe – und wenn ich leicht einzuschüchtern wäre...! Bei uns darf man sich nicht herumschubsen lassen – das weiß ich. Ich weiß es, weil ich selber fünf Jähre lang gefahren bin. Dann bin ich ein bisschen avanciert, habe mal hier, mal dort in der Verwaltung gearbeitet, nachdem Saul Jacobsen an mir einen Narren gefressen hatte, und dann ist vor drei Monaten Johnny McCue zurückgetreten, und ich habe den gesamten Laden in die Hand genommen – auf jeden Fall den Straßendienst. Was glauben Sie, was das bedeutet?« Wieder stieß die Zigarre vor, es war eine seiner Lieblingsgesten. »Ich will es Ihnen sagen! Meiner bescheidenen Auffassung nach bedeutet das, dass ich mich um meine Chauffeure kümmere – das heißt, wenn sie mich brauchen und wenn sie es verdienen! Aber was mich ärgert: Kommt ein ehrlicher Kerl wie Mike Malone zu Ihnen und bittet mit der Mütze in der Hand um die Droschkenlizenz, dann schauen Sie ihm genau auf die Finger. Da wird alles kontrolliert. Dann aber kommt ein übler Geselle wie dieser Jack Dancy gelaufen mit einer Vorstrafenliste, die von hier bis Harlem stinkt, und ihr erlaubt ihm, mir nichts dir nichts eine anständige Firma zu übernehmen. Warum habt ihr denn ihn nicht kontrolliert, he? Jeden einzelnen Dollar hat er durch Erpressungen verdient, das wisst ihr sehr gut, aber ihr rührt keinen Finger und schaut zu, wie er brave und fleißige Taxichauffeure ruiniert. Warum? Das möchte ich gern erfahren, Charley. Was stecken da für Beziehungen dahinter?«
»Ja, ja, ich weiß«, gab Charley McCracken zu, nicht eben sehr vergnügt. »Ich weiß, Mike. Aber das fällt nicht in mein Ressort. Die Beziehungen, die Sie meinen...!« Seine Miene erhellte sich ein wenig. Mit einem Ausdruck grimmiger Zufriedenheit griff er nach einer Morgenzeitung, die auf dem Schreibtisch lag, und schob sie Mr. Malone hin. »Hier ist das Finale – wenigstens in einem Fall. Wohlgemerkt, ich will nicht behaupten, dass Mr. Frank Cronin, unser hervorragender und allgemein bekannter Oberschieber – der falsche Frankie – seine schmutzigen Finger mit im Spiel gehabt hat, als der frühere Besitzer, wie Sie mir erzählen, hinausgedrängt wurde. Aber er hat zu seiner Zeit so vieles andere geschoben und noch mehr! Jetzt sehe ich, dass er endlich nächste Woche vor die Anklagebehörde geladen ist. Höchste Eisenbahn! Haben Sie die Meldungen gelesen?«
Und das war nach der jungen Dame und Jack Dancy Nummer drei: Das war Frank Cronin.
»Ja, teilweise«, erwiderte Mr. Malone und betrachtete die Schlagzeilen, ohne überwältigendes Interesse zu zeigen. »Ihr habt ihn endlich in der Abbaticio-Sache zu fassen gekriegt, ja?«
»Jawohl«, erklärte Charley McCracken mit Nachdruck. »Endlich, endlich! Sie dürften ihn nicht kennen, aber ich kenne ihn. Ein gerissener und kaltblütiger alter Gauner, der seine Dienste an den Höchstbietenden verkauft, sowie er Gelegenheit hat, sie zu verkaufen – und der die Leute, aus deren Mitte er kommt, mit Schande bedeckt und betrogen hat. Uns übrigens auch. Das geht einem an die Nieren. Naja – nun will ich mir mal den Schlaf aus den Augen reiben und mich mit Ihrem Chauffeur beschäftigen. Fall Horowitz. Wie spät ist es, Mike?«
Es war gerade die Stunde, zu der im Taxikontrollamt die morgendliche Besuchszeit beginnt, als Frank Cronin in seinem ebenerdigen Büro im Hotel Afton saß. Heute aber, zum Unterschied von anderen Vormittagen, waren bei ihm überhaupt keine Besucher erschienen, nicht ein einziger, abgesehen von den Reportern – und niemand hatte angerufen. Frank Cronin machte das wenig aus. Er kannte den Lauf der Welt – hatte ihn seit jeher gekannt. Allein schon durch die Menge an Leuten, die... also Pressevertreter, die abgezogen waren... um sich dringenden und ernsten Geschäften zu widmen. An erster Stelle kam selbstverständlich die kleine Sache mit dem Schließfach, das er seit mehreren Jahren auf seinen eigenen Namen, vielleicht unvorsichtigerweise, ziemlich weit draußen in einem Vorstadtviertel gemietet hatte.
Jedenfalls war es noch nicht zu spät. Johnny, der mit zeichnungsberechtigt war, konnte das leicht besorgen. Zehn Minuten nach zehn, nachdem er die ausführliche und klare Weisung erhalten hatte, das Taxi mindestens dreimal zu wechseln und darauf zu achten, dass niemand ihm folgte, trabte Johnny von dannen mit seiner gewohnten Flinkheit und Folgsamkeit – der ideale Laufbursche –, und gegen ein Uhr war er wieder da. Er legte seine Aktentasche vor Cronin auf den Tisch. »Es ging wie geschmiert«, sagte er atemlos. »Und rechtzeitig, Frank, ehe uns die anderen zuvorkommen konnten. Hier!«
Ja, da lagen die Schätze. Die Tasche enthielt etwa zwölfhundert Dollar Bargeld, einige persönliche Dokumente und die Bankbücher. Einen Augenblick trommelte Cronin auf den Tisch. »Es ging wie geschmiert«, sagte er schließlich. »Schön. Besten Dank, Johnny.« Er machte die Aktentasche zu. »Später«, fuhr er fort, »nehme ich das altes mit nach Hause, der Sicherheit halber. Aber geh jetzt, Johnny, ich habe hier zu tun. Ich habe einiges zu erledigen.«
»Ja, freilich – und du wirst es schon schaffen, Frank«, beteuerte Johnny. »Noch hast du Freunde, mehr als du ahnst. Bilde dir nicht ein, dass du schon unten durch bist, Frank. Und wenn...« Er hatte sich bemüht, einen tapferen und aufmunternden Ton anzuschlagen, aber in seinem unschuldsvollen, runden Gesicht spiegelte sich etwas ganz anderes. »Frank«, fuhr er zögernd fort – und diesmal schwankte er zwischen Scheu und hilfloser Besorgnis, »ich habe gehofft, dass vielleicht... Ist es dir gelungen, dich mit dem Herrn in der Stadt in Verbindung zu setzen?«
Der Herr in der Stadt, dachte Cronin: Seine Gnaden, der Herr Gerichtspräsident. Nicht ein einziger Anruf – fiel ihm ein. Nicht ein einziger Besucher. Er hob den Kopf. Die hochmütigen, faltigen Züge unter den schütteren Brauen und den bitteren, tiefliegenden grauen Augen wirkten gewaltsam beherrscht. »Es ist sonderbar«, bemerkte er ruhig. »Nicht den Herrn in der Stadt, und auch sonst niemanden – nun habe ich nur noch Johnny Fitzgerald. Warum denn nur? Es kann doch nicht das bisschen Geld sein, das du von mir bekommst. Was also ist es? Die gute Behandlung...« Er verzog den Mund zu einem schiefen Lächeln. »Natürlich. Das ist das Geheimnis. Die Liebe und Treue, mit der wir aneinanderhängen. Die echte Freundschaft. Wie, Johnny?«
»Nun«, begann Fitzgerald wieder mit jener falschen Munterkeit, »so etwas sollst du nicht sagen, nicht zu mir, Frank! Und der Herr in der Stadt, wenn er dich fallenlässt, nachdem du ihn vor Jahren im alten Seminole-Club auf die Beine gestellt hast, dann sage ich: Der Teufel soll ihn holen! Ich sage...« Aber seine Augen füllten sich mit Tränen, eine für Johnny Fitzgerald sehr typische Reaktion, wie die Natur sie Frank Cronin versagt hatte. Langsam und neugierig, gleichsam verdutzt sah dieser von der Aktentasche auf, berührte Johnnys Arm und klopfte ihm auf die Schulter.
»Ach, es ist schon gut«, sagte er, und fühlte im eigenen Herzen einen Rest der allen Iren, eigenen Sentimentalität – etwas, das ihm verhasst war. »Mir macht der Herr kein Kopfzerbrechen, also kannst auch du beruhigt sein. Nur solltest du mich jetzt allein lassen, Johnny.«
Dann sperrte er die Außentür hinter Fitzgerald ab. Nur noch drei Lage, sagte er sich, bevor er zur Verhandlung vor der Anklagejury zu erscheinen hatte, und was für Fragen würden sie ihm stellen? Inzwischen hatten sie schon recht viel erfahren. Das ging aus dem Inhalt der Vorladung hervor. Zuallererst würden sie wahrscheinlich wissen wollen, ob er zugibt, diesen braven Ehrenmann namens Vito Abbaticio (»Dickerchen«) überhaupt zu kennen, und sodann, ob sie sich unter vier Augen an den folgenden Zeitpunkten und an den folgenden Orten getroffen hätten, die Mr. Abbaticio selber bereits – und zwar unter Eid – genannt hatte. Sie würden fragen – ach, ganz, bestimmt! –, ob gewisse Barzahlungen von Mr. Abbaticio einerseits angeboten und von Mr. Cronin andererseits entgegengenommen worden seien und ob diese Zahlungen sich alles in allem während eines Zeitraumes von mehreren Jahren auf annähernd 165.000 Dollar belaufen hätten. Darüber hinaus und insbesondere: Wären diese Zahlungen in dem stillschweigenden Einverständnis erfolgt, dass Mr. Cronin durch seinen politischen Einfluss als Leiter einer inzwischen aufgelösten, unter dem Namen Seminole-Club bekannten Organisation, und mit Hilfe seiner zahlreichen Freunde in den höchsten Schichten der früheren Gemeindeverwaltung Mr. Abbaticio jede polizeiliche Einmischung in seine illegalen Glücksspiel- und Buchmacher-Geschäfte ersparen werde? Nein? Ist das also nach Mr. Cronins Ansicht eine durchaus unrichtige Schlussfolgerung? Dann wird vielleicht Mr. Cronin so gut sein, einen Überblick über seine Vermögensverhältnisse zu liefern. Was für Börsenpapiere besitzt er, was für Grundstücke? Und wie hoch sind, wenn auch nach ganz beiläufiger Schätzung, seine Bankguthaben?
Er schaltete die Deckenbeleuchtung ein. Es schien im Raum sehr dunkel zu werden, viel dunkler als sonst um diese Zeit. Gelassen – auch innerlich? – überlegte er sich: Das einzig Gute ist, dass Johnny die Bankbücher rechtzeitig sichergestellt hat, bevor durch eine gerichtliche Verfügung das Schließfach versiegelt oder beschlagnahmt werden konnte. Nun war es nicht mehr möglich, am kommenden Montag die Bankbücher als Beweismaterial gegen ihn vorzulegen, als ein zu allem Unglück höchst umfassendes und detailliertes Beweismaterial, aus dem Datum für Datum und Buchung für Buchung hervorging, wer das Geld Abbaticios erhalten, und was er damit gemacht hatte.
Er begann die Konten durchzusehen. Es waren acht Stück, alle unter verschiedenen und durchaus mysteriösen Namen angelegt, ein jedes bei einem anderen Bankinstitut. Freilich waren sie alle durch einen eingeschriebenen Brief eröffnet und auf die gleiche Weise vermehrt worden, sodass kein Bankangestellter Frank Cronin persönlich würde identifizieren können. Aber was spielte das für eine Rolle, wenn die Bankbücher erst einmal mit ihm in Verbindung gebracht worden waren? Handschriftensachverständige würden die Kontensignaturen und die handgeschriebenen Einzahlungsbelege identifizieren, und dann würde nicht mehr ganz einfach Frank Cronins Wort gegen das einer elendigen Kreatur wie dieser Abbaticio stehen. Vorerst jedoch – seine grauen Augen blickten schlau – würde er am kommenden Montag alles abstreiten können, den Herrschaften ins Gesicht hinein. Ohne die Bankbücher sollten sie ihm erst einmal beweisen, dass er jemals einen Dollar von diesen Geldern empfangen hatte – ja, sie sollen beweisen, dass diese Gelder jemals existiert haben!
Und nun kehrte ein Teil seiner gewohnten Energie und Autorität zurück. Er brummte höhnisch etwas in sich hinein, wie das seine Gewohnheit war, legte dann die Bankbüchen beiseite und beschäftigte sich mit bestimmten Mappen und Registerkästen aus dem Eckschrank. Es war fast vier Uhr nachmittags, erstaunlich spät, als er die letzte Auswahl aus dem wirklich wichtigen Material getroffen und ein halbes Dutzend große, feste Pappumschläge vollgestopft hatte. Dann aber geschah etwas außerordentlich Seltsames: Er vergaß Johnny Fitzgeralds Aktentasche und die Bankbücher. Er war tatsächlich bereits in der Halle angelangt, als sie ihm wieder einfielen.
Unter seinem altmodischen steifen Kragen brach ihm der kalte Schweiß aus. Hatte er nicht irgendwo, vielleicht in einem Zeitschriftenartikel, gelesen, dass der Mensch nur das vergisst, was er vergessen will, verborgene und schändliche persönliche Geheimnisse? Er brabbelte etwas in sich hinein und zappelte sich mit den verdammten Umschlägen und Johnny Fitzgeralds Aktentasche ab, während er seine übliche Serie von Abendblättern kaufte. War inzwischen wieder, was gedruckt worden? Natürlich. Sein eigenes Angesicht starrte ihm aus den Spalten eines schäbigen Boulevardblattes entgegen.
Er setzte sich in das erstbeste Taxi, das auf dem Standplatz vor dem Hotel parkte, und schloss die Augen. Hinter den Lidern empfand er jetzt nichts als rote Finsternis, einen heftigen Druck. Natürlich hatte er seit Monaten gewusst – wer hatte es nicht gewusst? –, dass man in der Abbaticio-Affäre einen Sündenbock würde finden müssen. Aber dass der Sündenbock Frank Cronin heißen würde? Hass und Wut stiegen hoch und blieben ihm im Halse stecken. Etwa fünf Minuten später hielt das Taxi vor einem altmodischen Steinhaus in der East Side. Er warf einen Dollarschein aufs Geratewohl über die Lehne des Vordersitzes, griff nach dem Spazierstock und den Umschlägen, die daneben lagen, ließ jedoch die Zeitungen liegen – und unter den Zeitungen auch noch etwas anderes: Johnny Fitzgeralds Aktentasche. Diesen Verlust entdeckte er erst, nachdem er die Haustür geöffnet und den Stock und die Umschläge auf einen Tisch im Vorzimmer gelegt hatte. In panischem Schreck stolperte er auf die Straße hinaus – und sah gerade noch mit verkrampftem Herzen ein blauweißes Maddock-Taxi in den dichten Verkehr der Avenue hinausschwenken.
Aber war es dieses Taxi gewesen, das ihn hierhergebracht hatte, oder jenes, das soeben von einem der gegenüberliegenden Wohnhäuser wegfuhr? Er wusste einfach nicht mehr, ob sein Taxi ein Maddock gewesen war. Aber er hatte ja auch weder ihm noch dem Chauffeur die geringste Aufmerksamkeit geschenkt. Zögernd blieb er auf den Eingangsstufen stehen, den einen Arm erhoben, die grauen Augen plötzlich verhärmt und verzweifelt. Dann machte er einen zittrigen und nicht sehr erfolgreichen Versuch, sich zu fassen, kehrte ins Haus zurück, dachte eine Weile sehr angestrengt nach und rief dann Johnny Fitzgerald an.
»Im Taxi«, sagte er. Rhythmisch zitterte der Hörer in seiner linken Hand. »Also pass auf, Johnny! Du musst mir diesen Chauffeur finden. Du musst! Versuchs zuerst einmal vor dem Hotel. Er hat dort gestanden. Ich kann dir nur sagen, dass es ein blauweißes Taxi gewesen sein könnte, ein Maddock. Aber ich bin meiner Sache nicht sicher. Ich kann mich an gar nichts erinnern.«
»In fünf Minuten bin ich dort«, versprach Johnny, durch diese Wendung verstört und stimuliert zugleich. »Aber denk doch ein wenig nach. Alle Taxis haben vorn ein Kärtchen mit dem Namen und dem Foto des Fahrers. Du hast das Kärtchen gesehen, Frank, du musst es gesehen haben. Wer war es denn? Wie hieß er?«
Ja, dachte Cronin, das Kärtchen mit dem Namen. Er musste es gesehen haben. Wenn er bloß... Dann platzte ihm der Kragen – auch eine alte Gewohnheit Johnny Fitzgerald gegenüber. Denk nach! Erinnere dich an den Namen. Jetzt kam es ihm vor, als müsste das Taxi nicht einmal ein Maddock, sondern ein Rotpunkt gewesen sein. Du lieber Gott! Konnte er nicht einmal das mit Bestimmtheit sagen?
»Wenn ich mich doch an den Mann nicht erinnern kann!«, stieß er hervor. »Fahr hin und tu, was ich dir sage! Ich glaube, er hat eine graue Mütze und eine karierte Stoffjacke angehabt. Mehr kann ich dir nicht sagen. Mehr weiß ich nicht.«
»Na schön«, erwiderte Johnny, teils ungeduldig, teils in unterwürfig besänftigendem Ton. »Aber sollten wir nicht erst die Maddock-Garage verständigen? Hast du daran gedacht, Frank?«
Die Maddock-Garage?, fragte sich Cronin. Und die Rotpunkt-Garage? Angenommen, es war ein Rotpunkt-Taxi...
»Ich habe die Garage nämlich gesehen«, fuhr Johnny eifrig fort. »Sie. liegt im West End. Gleich um die Ecke hinter der Leihbibliotheksfiliale, wo Chrissy vor ein paar Monaten eingesprungen ist. Vielleicht sollte ich sie anrufen. Ich fahre dann zum Hotel und erkundige mich dort, und sie läuft in die Garage hinüber und stellt ein paar Fragen. Das ist der richtige Weg, Frank. Da müssen wir den Kerl an dem einen oder anderen Ende erwischen. Meinst du nicht auch?«
»Gut«, sagte Cronin. Bibliothek und Garage – so dicht beieinander. Er stürzte sich gleichsam auf diesen Zufall, instinktiv mit abergläubischer und verzweifelter Zuversicht. »Die Maddock-Garage, Johnny! Genau. Aber – ich darf nicht einmal bei Chrissy in Erscheinung treten. Es ist zu gefährlich. Sag ihr, dass du selber die Tasche verloren hast. Sie darf meinen Namen auf keinen Fall erwähnen. Wenn sie das tut, und man bringt mich mit den Bankbüchern in Verbindung, Johnny...«
Er biss die Zähne zusammen. »Na, du weißt, was sie für mich bedeuten.«
»Ja. Aber mach dir keine Sorgen, Frank – versuch’s. Ein Maddock-Taxi, sagst du, und ein Mann mit grauer Mütze und karierter Stoffjacke. Ein großer Mann, ja? Ein junger vielleicht?«
Aber wiederum war da ein schwarzes Loch in Frank Cronins Gedächtnis. Er legte auf, seine Hand zitterte noch immer, er hörte Mrs. O’Brien unten in der Küche mit Töpfen klappern und das Wasser laufen lassen. Freitagabend, sagte er sich – also die Abendandacht für die gute Frau und ein frühzeitiges Essen für den Herren im oberen Stock. Vielleicht ein Fischragout oder... Wütend schlug er mit beiden Fäusten auf den Kaminsims. Was waren das für dumme Gedanken? Zu diesem Zeitpunkt... Hastig atmend drehte er sich um und hörte einen tiefen, milden Ton – halb fünf – aus der großen Standuhr in der einen Ecke. Er blickte hinüber. Das Vergessene, sagte er sich, das Versteckte, das Schändliche. Seine Lippen zuckten. Er empfand jedoch nichts als die rote Finsternis in seinem Inneren, wie sie ihn immer mehr erfüllte; und dazu, noch unerträglicher als zuvor, all die Qualen eines heftigen, ständig wachsenden Drucks. Soweit er sich erinnern konnte, hatte er sich niemals zuvor elender gefühlt.
Halb fünf in der Maddock-Garage war aber die denkbar schlimmste Zeit, die Chrissy Fitzgerald sich aussuchen konnte, um irgendwelche Auskünfte über die Aktentasche einzuholen. Dort waren in diesem Augenblick hundert Dinge gleichzeitig zu ordnen, und alle lasteten sie auf Mr. Malones Schultern. Und als er merkte, dass der Starter Red Leary sich unten am Straßeneingang mit einem Frauenzimmer unterhielt und zu ihm hinaufdeutete, kehrte er der durchaus unerwünschten Besucherin den Rücken; und er drehte sich auch nicht um, als sie ihm zögernd vom Rampenabsatz aus das eine oder andere zu erklären begann. Er ignorierte sie jedoch nicht ganz und gar. Bei solchen Gelegenheiten hatte er Augen im Hinterkopf und auch Ohren. Und das hielt Mr. Malone für sehr angebracht. Er konnte sie brauchen.
»Na schön, na schön, na schön!«, warf er schließlich ein, als er begriffen hatte, während er mit ruckartigen Bewegungen des rechten Armes und ungeduldigen Randbemerkungen in wild urwüchsigem Englisch die abfahrenden Taxis antrieb. »Sie tragen nach einem Chauffeur mit Mütze und karierter Jacke... einer Art karierter Jacke. Heiliger Strohsack! Das nenne ich eine gute Beschreibung, prima. Wie heißen Sie denn, Kleine?«,
»Kleine?«, sagte die Stimme, anscheinend ein wenig unsicher. »Chrissy – das heißt, Christina Fitzgerald. Aber nicht ich habe die Aktentasche verloren – mein Vater hat sie verloren. Sehen Sie...«