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Im Flur standen drei Mann. Der erste war Mike Polchinski – gestraffte Backenknochen, fest zusammengepresste Lippen, harte, blaue Augen mit einem kalten, finsteren Blick. Der zweite war ein uniformierter Polizeibeamter, der dritte ein Mann in grauem Sommeranzug und Panamahut. Auf Polchinskis Zufahrt hatte ich ihn nicht wiedererkannt, aber ich kann Ihnen sagen, jetzt erkannte ich ihn sofort. Ich wäre fast umgefallen...
Der Roman Das Verbrechen des Jahrhunderts des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Thomas Walsh (* 19. September 1908 in New York; † 21. Oktober 1984 in Danbury) erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1963.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
THOMAS WALSH
Das Verbrechen des Jahrhunderts
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
DAS VERBRECHEN DES JAHRHUNDERTS
Die Hauptpersonen dieses Romans
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Siebtes Kapitel
Im Flur standen drei Mann. Der erste war Mike Polchinski – gestraffte Backenknochen, fest zusammengepresste Lippen, harte, blaue Augen mit einem kalten, finsteren Blick. Der zweite war ein uniformierter Polizeibeamter, der dritte ein Mann in grauem Sommeranzug und Panamahut. Auf Polchinskis Zufahrt hatte ich ihn nicht wiedererkannt, aber ich kann Ihnen sagen, jetzt erkannte ich ihn sofort. Ich wäre fast umgefallen...
Der Roman Das Verbrechen des Jahrhunderts des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Thomas Walsh (* 19. September 1908 in New York; † 21. Oktober 1984 in Danbury) erschien erstmals im Jahr 1962; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1963.
Eddie McNulty: ein junger Mann.
Katie Polchinski: seine Braut.
Robert McNulty: Fliegeroffizier.
Meg McNulty: seine Frau.
Mike Polchinski: Kaufmann.
Jack Hennessy: ehemaliger Polizeiwachtmeister.
Frankie Boland: Chauffeur.
»Der Dicke«: ein russischer Politiker.
Lubodin: Sicherheitschef des »Dicken«.
Der Roman spielt in New York und Umgebung.
Also, jetzt werde ich es Ihnen erzählen. Es heißt, ich hätte mal vor Jahren in der achten Klasse der Saint-Anthony-Schule recht nette Aufsätze geschrieben, damals, als mich Schwester Ethelda betreute (wahrscheinlich hätte sie gern auf diese Ehre verzichtet), und aus irgendeinem Grund ist mir das neulich durch den Kopf geschossen, als ich mit Katie im Kino war. Der Film, den wir sahen, handelte von hochvornehmen Herrschaften, die die meiste Zeit halb nackt herumliefen und sich amüsierten. Da dachte ich mir, als wir aus dem Kino kamen, wie denn vielleicht eine vernünftige Geschichte wirken würde, nämlich die Geschichte von mir und dem Dicken ich meine die schlichten Tatsachen, das, was sich faktisch zwischen uns abgespielt hat. Schön. Ich erwähnte es ganz nebenbei, und Katie schien gleich Feuer und Flamme zu sein, weil sie sich neuerdings einbildet, dass ich alles schaffe, was ich mir vornehme, egal, was es sein mag. Na, ehrlich gestanden, ich glaube last, dass ich mir das früher einmal selbst eingebildet habe, und es ist auch noch gar nicht so lange her. Jetzt aber weiß ich besser Bescheid, weil ich viel dazugelernt habe. Und wieso denn? Eben – also eben. Wenn Sie es wirklich wissen wollen, lassen Sie mir eine Minute Zeit, damit ich mich an die ganze Sache erinnere, dann werde ich Ihnen vielleicht erklären können, wieso und wann und wo es angefangen hat. Ich möchte es auch gern näher erklären. Mir ist einfach danach zumute...
Also schön. Ich meine, eigentlich hat es vorigen Sommer im Strandhaus meines Bruders Robert begonnen, Ende August. An einem Freitagmorgen war ich mit Katie in aller Frühe losgefahren und hatte mich schon auf das schönste Wochenende gefreut, das man sich nur wünschen könnte. Ich hatte gleich gemerkt, dass Robert und seine Frau Meg Katie gut leiden mochten (ich hatte es erwartet), und dass Katie die beiden gut leiden mochte, also lud ich uns alle – natürlich bis auf die beiden kleinen Kinder meines Bruders – zu dem größten und besten Hummeressen ein, das in der ganzen Umgebung für Geld und gute Worte zu haben war. Nachher saßen wir auf der vorderen Veranda, sahen den großen runden Augustmond aufgehen und genehmigten uns einige Gläschen, und als wir dann gegen zwölf alle zu Bett gingen, da überlegte ich mir, dass Katie und ich vielleicht im kommenden Sommer heiraten würden, wenn sie mir die gleichen Gefühle entgegenbrachte, wie ich sie für sie zu hegen glaubte. Vielleicht würden wir uns dann hier draußen in Duffy’s Point selber etwas mieten und für den Rest unseres Lebens versorgt sein, genau wie Robert und Meg.
So also schlief ich ein, hatte alle möglichen Pläne und gar keine Probleme im Kopf, aber als ich am nächsten Morgen gegen sechs aufwachte, musste ich wohl einen schlechten Traum gehabt oder falsch gelegen haben, weil ich mir gar nicht mehr wie der alte Eddie McNulty vorkam. Kaum machte ich die Augen auf, da wusste ich gleich, dass die gute Laune beim Teufel war, und dass es gar nicht das schöne Wochenende werden würde, das ich mir erhofft hatte. Also stand ich auf, ohne die anderen zu wecken, ging an den Strand hinunter, setzte mich hin, sah den hohen Brechern des Atlantiks zu, wie sie herangerollt kamen, und rauchte eine Zigarette nach der anderen.
Ich kann Ihnen sagen, ich fühlte mich recht elend und deprimiert. Wie konnte ich nur davon träumen, ein junges Mädchen wie Katie Polchinski heiraten zu wollen? Ja, ich konnte ihr ja nicht einmal die Wahrheit über Eddie McNulty sagen (jedenfalls hatte ich sie ihr noch nicht gesagt). Und warum nicht? Weil ich wusste, was dann passieren würde – darum. Ich wusste, sie würde sich schleunigst aus dem Staub machen – ja, weshalb denn auch nicht? – und ich würde sie nie wieder zu sehen bekommen. Und wenn ich mir überlegte, wie sie mir in den knappen sechs Wochen ans Herz gewachsen war, und dann sollte mir so etwas passieren, nein, da hätte ich ja ebenso gut gleich aufstehen und in die graue Brandung hinausmarschieren und nicht eher haltmachen mögen, als bis ich etliche Millionen Tonnen Meerwasser über mir hatte.
Ach ja. Vielleicht wissen Sie, wie das ist. Es fängt damit an, dass man sich selber leid tut, dann wird man böse und versucht sich einzureden, dass man genauso viel taugt wie alle anderen auch, egal, was man angestellt hat, und dann, wenn man merkt, dass man ja eigentlich nur den Kopf in den Sand steckt und es nicht wie ein Mann hinnimmt, egal, was es sein mag, ja, dann fährt der Teufel in einen, auch wenn man mit Menschen beisammen ist, die man besonders liebhat. Man faucht sie an – wenn man so gebaut ist wie ich –, man schnauzt sie an, man kommt ihnen mit höhnischen Bemerkungen. Ich kann mir schon denken, was es ist: das schlechte Gewissen. Meinen Sie nicht auch? Man schlägt um sich, egal, was da kommt. Aus irgendeinem Grund wird man böse und gemein wie eine Schlange.
Fragen Sie mich aber nicht, wie das passiert. Ich kann es Ihnen nicht sagen. Aber den ganzen Sonnabend über spürte ich, wie der böse Geist immerzu in mir rumorte, was ich auch anfasste, und wie es mich auch wurmte, wenn ich darüber nachdachte, was mein Bruder alles hatte – ich meine Meg und die beiden süßen kleinen Kinderchen – und wie ich mit leeren Händen dastand. Dann begann ich ihn zu hassen und zu verachten, und bald darauf natürlich, auch wenn ich es mir selber nicht eingestehen wollte, begann ich Eddie McNulty noch heftiger zu hassen und zu verachten. Ich blieb also den ganzen Nachmittag allein unten am Strand. Dabei wusste ich, Katie würde gekränkt sein und höchlichst verwundert über die Art, wie ich sie plötzlich behandelte. Und als Meg gegen halb sechs aus dem Hause kam, winkte und mir zurief, ich sollte mir vor dem Essen die Hände waschen, gönnte ich nach wie vor keinem von ihnen einen Blick oder ein Wort.
Stattdessen fing ich, als ich ins Haus kam, mit den beiden
Kindern zu spielen an – mit der vierjährigen Maggie, die auf den Namen ihrer Mutter getauft war, und dem zweijährigen Edward James, der meinen Namen trug – und machte dabei recht viel Lärm, recht viel Krach. Als nachher Katie und Meg in die Küche gingen, um sich mit dem Backhuhn und dem grünen Salat zu beschäftigen, sah ich, dass Robert ein wenig herumzuzappeln begann, und da wusste ich, dass er sich aufputschen wollte, um mir eine Strafpredigt zu halten, weil ich mich den ganzen Tag so miesepetrig aufgeführt hatte.
Ich irrte mich auch nicht, denn gleich zu Anfang sagte er, wie sehr er sich über die neue Stellung freue, von der ich ihm erzählt hatte (und die eigentlich gar nicht existierte, wenn ich aufrichtig sein soll).
Natürlich hatte ich gestern Abend vor ihm und Katie eine geschlagene Stunde lang mit dieser nichtexistenten neuen Stellung geprahlt. Kann mir, da wir anscheinend jetzt bei diesem Thema angelangt sind, irgendjemand verraten, warum Eddie McNulty immer das Gefühl hatte, er müsse anderen Menschen imponieren und ihnen klarmachen, was er eigentlich für eine große Kanone sei und wieviel Geld er verdiene? Ich glaube nicht, dass Katie mich in Verdacht hatte, es sei alles erlogen, wenn ich ihr von meiner Tätigkeit in einem großen Maklerbüro in der Wall Street erzählte, weil sie mich ja erst seit sechs Wochen kannte. Robert hatte natürlich den ganzen Schwindel sofort durchschaut, weil er das alles schon etwa fünf- bis sechsmal mitgemacht hatte. Also? Also Wurde ich jetzt fuchsteufelswild, nur weil er die Wahrheit witterte. Während er sich noch bemühte, einen Anknüpfungspunkt zu finden, ging ich hin, mischte mir einen kräftigen steifen Drink, und dann legte ich los.
»Egal, wie die Firma heißt, für die ich arbeite!«, erklärte ich rundheraus. »Das geht nun einmal niemanden an außer mich – meiner unmaßgeblichen Meinung nach. Dich geht es gar nichts an. Und ich finde es unverschämt von dir, dass du auch nur danach fragst, weil ich genau weiß, worauf du hinauswillst. Ich weiß, was dir im Kopf herumgeht. Wem willst du denn was vormachen?«
Natürlich war die Sache sonnenklar. Ich wollte ihm die Schuld in die Schuhe schieben, als hätte er mich grundlos beleidigt, dabei wusste ich die ganze Zeit im Grunde meines Herzens, wie es gemeint war, also wusste ich auch, wer unrecht hatte und wer nicht.
»Na, also schön«, sagte Robert und warf einen hastigen Blick zur Küchentür, um sich zu vergewissern, dass die Frauen noch nicht zurückkehrten. Dann drehte er sich mit bekümmerter Miene zu mir um! »Schön, Eddie. Wollen wir ausnahmsweise einmal versuchen, die Sache ruhig und still zu besprechen? Du bist immer gleich aus dem Häuschen, noch bevor wir angefangen haben. Hast du dir schon einmal überlegt, warum du so reagierst?«
»Die Sache?«, sagte ich. Ich fühlte, wie meine Zähne knirschten. »Was denn für eine Sache? Wovon ist die Rede?«
»Du weißt, wovon die Rede ist«, erwiderte Robert. »Wovon lebst du, Eddie? Du bist in keinem Maklerbüro angestellt. Du hast überhaupt keine Stellung – punktum. Wie kommt es also, dass du in einem Kabriolett umherkutschierst, das seine guten viereinhalbtausend Dollar kostet? Wo hattest du das Geld her?«
»Wer zum Teufel will denn so was wissen?«, schrie ich und sprang auf. »Vielleicht habe ich das Geld von der Bank abgehoben – von einer Sandbank bei Coney Island. Halt doch den Mund!«
Sogar die beiden Kinder merkten jetzt, dass da etwas nicht stimmte. Sie bekamen es mit der Angst zu tun. Ganz erstarrt saßen sie vor uns, der kleine Eddie hatte die Faust in den Mund gestopft und war dem Heulen nahe, und Maggie hielt eine Stoffpuppe im Arm. Jetzt fing sie an, die Puppe zu streicheln, wahrscheinlich, um sich zu trösten. Es war deutlich zu sehen, wie ihre großen braunen Augen sich mit Tränen füllten.
»Sprich leiser«, sagte Robert ruhig. »Was ist denn mit dir los? Warum können wir es nicht vernünftig besprechen? Wann wirst du endlich aufhören, dich wie ein kleines Kind zu benehmen, Eddie? Das ist ein sehr nettes Mädchen, das du mitgebracht hast. Ein außerordentlich nettes Mädchen. Meg ist der Meinung, dass sie sich in dich verliebt hat. Ich bin derselben Meinung. Aber was hast du ihr über dich selber erzählt? Hast du die Wahrheit gesagt, oder spielst du dich wieder auf? Mir wäre es recht, du würdest ihr die Wahrheit sagen und abwarten, was dann geschieht. Vielleicht wirst du dich wundern, Eddie. Wenn ich mich nicht hundertprozentig in ihr täusche, möchte ich behaupten, dass sie der Typ ist...«
Mit geballten Fäusten ging ich auf ihn zu. Am Strand zu liegen und sich darüber klarzuwerden, dass man Katie Polchinski opfern muss, ist eine Sache für sich – dass man es aber von einem anderen unter die Nase gerieben bekommt, hat man nicht gern. Ich sah rot.
»Sag doch schon, was du meinst!« Ich knurrte wie ein Hofhund. »Ich weiß ja ohnedies, was du meinst. Freilich ist sie eine prächtige Person, aber vielleicht viel zu prächtig für Eddie McNulty, he?«
»Mama!«, begann der kleine Eddie zu plärren. »Mama!«
»Nein«, sagte Robert. Diesmal gab er nicht nach. Er ist selber recht jähzornig, aber zum Unterschied von mir, kann er sich im Allgemeinen beherrschen. »Nein, das stimmt nicht – du weißt es selber ganz genau. Ich möchte dich nur ersuchen, ihr die Wahrheit zu sagen. Soviel Rücksicht hat sie wohl verdient, nein?«
Also im Augenblick konnte ich überhaupt nichts erwidern. Ich durfte mich nicht mehr auf mich verlassen. Ich ging ganz einfach ins Schlafzimmer mit einem Schädel, der wie in einer Zange saß, und knallte meine Sachen in den Koffer. Als ich mit dem Koffer zurückkam, waren Katie und Meg bei ihm im Wohnzimmer, und ich hatte den Eindruck (ob er nun zufällig richtig war oder nicht), dass sie über mich getuschelt hatten und erst verstummten, als sie mich auftauchen sahen. Wieder platzte mir der Kragen. Ich spürte, dass ich am ganzen Leib zitterte.
»Ich fahre Sie jetzt sofort nach Flushing zurück!«, stieß ich atemlos hervor. »Ich verzichte auf die Hühner. Holen Sie Ihren Koffer.«
»Wie?«, sagte Meg. »Ach, um Gottes willen, was ist denn zwischen euch vorgefallen?«
»Ich weiß es nicht«, erwiderte ich. »Ich kann es dir nicht sagen. Ich bin nur ein Schwätzer, ein Prahlhans und noch nicht einmal den Kinderschuhen entwachsen.«
»Ach so«, bemerkte Robert und wechselte einen schnellen Blick mit seiner Frau. »Mhm. Wenn dem so ist, Eddie, bitte ich um Verzeihung. Aber du weißt doch, wie es gemeint war.«
»Und ob ich es weiß!«, antwortete ich. »Ich verstehe immerhin Englisch, Major McNulty... Katie, ich habe Sie gebeten, Ihre Sachen zu holen!«
Dann ging ich hinaus, setzte mich ins Kabriolett, ließ den Motor an, stieß den Wagen vor die Haustür und wartete, bis die drei hinterherkamen. Katie war gleichfalls sehr aufgeregt und den Tränen nahe, aber ich sagte auch zu ihr kein Wort.
Soll ich Ihnen etwas über Eddie McNulty verraten? Wollen Sie wissen, wie boshaft der Mann sein kann? Es machte ihm Spaß, die Frau zu kränken und sie vor Leuten zu blamieren, die sie kaum kannte. Und es machte ihm außerdem Spaß, seinem Bruder Robert weh zu tun. Das war es, was mich nachher so gequält hat, was ich mir gar nicht mehr verzeihen kann, und wenn ich hundertfünfzig Jahre alt werden sollte. Ich wusste, Montag früh würde er nach Europa unterwegs sein. Es handelte sich um einen neuen großen streng geheimen Luftwaffenstützpunkt. Ich wusste, dort drüben würde ihm alles Mögliche passieren können. Trotzdem sah Ich ihn nicht an und verabschiedete mich nicht einmal von ihm. Als wir losfuhren, rief er mir nach: »Auf Wiedersehen. Eddie!« Dann nahm er den Arm von Megs Schulter und winkte. Ich winkte aber nicht zurück, und auch daran musste ich nachher immerzu denken. Ich ließ mich nicht einmal dazu herab, ihm zuzuwinken. Da haben Sie Ihren Eddie McNulty. Jawohl. Ein goldiger Mensch...
Katie behandelte ich genauso niederträchtig. Es war eine ziemlich lange Fahrt bis Flushing, wo sie zusammen mit ihrem Vater eine zweistöckige Ziegelvilla im Kolonialstil an einer der Hauptalleen bewohnte. Obwohl ich wusste, dass sie verstört war und sich nicht erklären konnte, was mit mir los war, und warum ich mich so benommen hatte, redete ich kein Wort mit ihr. Ich drehte das Radio recht laut an, pfiff die Melodie durch die Zähne mit und fuhr drauflos, als ob sie gar nicht neben mir gewesen wäre.
Ich glaube, es wurden keine zehn Worte zwischen uns gewechselt. Der Teufel, der in mir lauerte, hatte die Brüder McNulty entzweit, und ich glaube, jetzt wollte er auch mich und Katie auseinanderbringen. Manchmal hatten wir es gar nicht nötig gehabt, etwas zu sagen, es war, als wüssten wir auch so, was der andere fühlte oder dachte.
Heute aber war es anders. Als ich ein- oder zweimal zu ihr hinsah, hatte sie die Hände gefaltet im Schoß liegen und starrte betrübt in den Verkehr hinaus. Natürlich hatte ich noch keine Ahnung, was für ein irrer Verdacht sich in ihrem Kopf einzunisten begann, ich wusste nur, dass ich alles zerstörte, was wir gemeinsam aufgebaut hatten, und das schien mir eben gerade recht zu sein. Warum? Fragen Sie mich nicht. Ich kann Ihnen nur erzählen, wie mir zumute war und was mir durch den Kopf ging, weiter nichts.
Also, schließlich kamen wir vor ihrem Haus in Flushing an. Sie stieg aus, ich ging hinten um den Wagen herum, öffnete den Gepäckraum und nahm ihren Koffer heraus, immer noch stumm wie ein Fisch. Dann folgte ich ihr zur Haustür.
Auf einmal aber wurde mir ganz ängstlich zumute, obgleich ich zu den frechen kleinen Bürschchen gehöre (oder früher gehört habe), die nicht so leicht und nicht sehr oft zu bibbern beginnen: Ich erschrak bei dem Gedanken, dass ich Katie vielleicht nie mehr wiedersehen würde. Also, das konnte ich nicht ertragen. In der Küche brannte Licht, ich roch den Zigarrenrauch und hörte zwei Männerstimmen brabbeln, deshalb wusste ich, dass ihr Alter zu Hause war und Besuch hatte. Ich hielt ihren Koffer in der Hand. Ich hielt ihn noch immer in der Hand, als sie die Haustür aufgesperrt hatte und sich zu mir umdrehte.
»Einen Augenblick!«, sagte ich sodann. Sie hatte ein weißes Kleid an mit enger Taille und bauschigem Rock, und ihre blonden Haare waren mir noch nie so weich und glanzvoll erschienen und ihre Augen noch nie so dunkelblau und so umschattet. »Ich muss Ihnen etwas erklären«, fuhr ich mit heiserer Stimme tort. »Bitte, gehen Sie noch nicht hinein, bitte nicht, Katie.«
»Schon gut«, erwiderte sie und machte nicht allzu viel mit dem Lächeln her, mit dem sie mich beehrte. »Es gibt nichts zu erklären, Eddie. Könnte ich jetzt meinen Koffer haben?«
»Katie«, begann ich abermals. Es fiel mir aber schwer, verdammt schwer. Erst vor sechs Wochen hatte ich sie kennengelernt, als wir auf einem überfüllten Parkplatz mit den Stoßstangen zusammenstießen, aber ich hatte sie noch keine sechs Stunden gekannt, da war ich mir bereits über meine Gefühle für sie im Klaren, einfach ganz ohne Frage. »Bitte Katie, lassen Sie mich erklären...«
Gelassen fiel sie mir ins Wort. »Ja, ja, schon gut, schon gut. Wollen Sie mir jetzt meinen Koffer geben?«
»Erst nachdem ich gesagt habe, was ich zu sagen habe!« Jetzt wurde ich bockig, weil ich nicht wusste, wie ich es anders anpacken sollte. »Robert, mein Bruder, hat mir geraten, Ihnen etwas zu gestehen, und aus diesem Anlass haben wir uns gezankt. Ich hatte Angst, und ich glaube, ich schämte mich ein bisschen. Meiner Meinung nach werden Sie nichts mehr mit mir zu tun haben wollen, wenn ich Ihnen die Wahrheit sage, Sie werden mich gar nicht mehr wiedersehen wollen. Deshalb... Sie verstehen, was ich sagen will, Katie, ja?«
»Ich glaube es zu verstehen«, sagte sie noch immer ganz still. »Ich habe schon den ganzen Tag gemerkt, dass etwas zwischen uns nicht stimmt. Und ich glaube auch zu wissen, was es ist. Sie sind verheiratet, nicht wahr?«
Ich konnte nur den Mund aufsperren und sie anglotzen.
»Verheiratet?«, wiederholte ich schließlich. Das war das Letzte, das mir jemals von selber eingefallen wäre – ich meine, dass Eddie McNulty verheiratet sein könnte. Es war für mich ein solcher Schock, eine solche Überraschung, dass mir die Wahrheit entschlüpfte, bevor ich es recht merkte, und ich glaube, anders wäre ich auch nie damit fertig geworden. »Aber woher denn! Wie sind Sie denn auf diesen Gedanken verfallen? Heiliger Bimbam, Katie! Ich bin nicht verheiratet. Es handelt sich um etwas viel Schlimmeres. Ich habe gesessen. Als junges Bürschchen war ich drei Jahre lang eingesperrt wegen zwei Einbruchdiebstählen. Und nachher hat man mich vor ganz kurzer Zeit in Los Angeles wegen einer anderen Sache geschnappt, für die ich gar nichts konnte. Bisher habe ich nicht den Mut gehabt, es Ihnen zu gestehen, Katie. Ich bin eine verkrachte Existenz. Ich bin vorbestraft. Deshalb... Aber schauen Sie mich nicht so an, Katie, sagen Sie doch etwas! Was ist denn los mit Ihnen, Katie?«
Eine verkrachte Existenz zu sein, war vielleicht in meinen Augen viel schlimmer, als verheiratet zu sein – doch nicht in ihren Augen. Sie starrte mich unaufhörlich an, schüttelte dann langsam den Kopf, als ob sie etwas verneinen müsste, das sie eigentlich gar nicht verneinen wollte. Dann machte sie die Augen zu, und ich hörte ihre Zähne klappern. Dann schlug sie die Augen auf, und ich sah, wie ihr kleines Gesichtchen ganz weich wurde, ganz lieb und strahlend.
Gleich darauf hatte sie die Arme um meinen Hals geschlungen, zum ersten Male, und sie flüsterte mir etwas zu, und sie küsste mich, und dann küsste sie mich wieder, ganz wild und feurig. Ich konnte es gar nicht glauben. Eine andere Frau hatte ihr im Kopf herumgespukt. Aber der wirkliche Haken – dass ich gesessen hatte – tja, das war in knapp zwei Sekunden einfach weggewischt, als ob ich ihr weiter nichts erzählt hätte, als dass ich mit acht Jahren aus dem Kirchenchor ausgeschlossen wurde, weil ich zu oft den Sonntagssegen geschwänzt hatte.
»Und ich dachte, es ist zu schön, als dass es mir je passieren könnte!«, murmelte sie. »Ach, Eddie! Ich wusste ja, was ich für dich empfinde, wie sehr ich dich liebe, aber dann hast du dich auf einmal dort draußen so sonderbar benommen, und ich hörte dich und Robert im Wohnzimmer reden, und da glaubte ich zu wissen, worum es sich handelt. Ich sagte mir: Eine andere Frau – er muss verheiratet sein. Das will er mir jetzt gestehen. Aber wenn es nicht das ist, wenn es nur... Was spielt denn sonst noch eine Rolle? Was könnte denn eine Rolle spielen? Ach Eddie!«
Und wieder begann sie, mich abzuküssen. Ich muss sagen, ich war total verdattert, ja, vielleicht sogar schockiert, weil ich nie vermutet hätte, eine Frau wie Katie Polchinski könnte sich so benehmen. Ja, die stillen Wasser, nicht wahr? Schließlich aber fasste sie sich, wurde rot und trat schnell einen Schritt zurück. Dann setzten wir uns auf die Türstufen und begannen uns auszusprechen, und nach fünf Minuten hatte sie so ziemlich alles zwischen uns ins Lot gebracht.
Von ihrem Gesichtspunkt aus war es eigentlich sehr einfach. Natürlich würde ich mich von jetzt an anständig benehmen und mir nichts mehr einbrocken. Dann würde ihr Vater mir vielleicht eine Anstellung in der Versicherungsfirma verschaffen, in der er beschäftigt war. Natürlich würde sie, Katie, bis wir richtig in Gang gekommen waren, also in den ersten paar Jahren, auch noch etwas verdienen. Möglicherweise könnte ich mich selbständig machen. Sie hatte ein bisschen Geld erspart. Möglicherweise...
Ich fiel ihr ins Wort. »Das musst du dir gründlich überlegen.« Ich war ein wenig verzweifelt, weil mir eine ganze Menge. Einwände durch den Kopf schossen, an die sie noch gar nicht gedacht hatte. »So einfach ist es nun wieder nicht, Katie. Erstens werde ich deinem Vater gestehen müssen, dass ich vorbestraft bin – vergiss das nicht! Was wird er dazu sagen?«
Sie war sogleich mit mir einverstanden. »Ja, natürlich, werden wir es ihm gestehen, aber erst nach der Hochzeit. Dann bleibt ihm ja einfach nichts übrig, als...« Sie sprang auf und drehte sich hastig um. Die Küchentür wurde geöffnet, Mike Polchinski trat in den gedeckten Durchgang hinaus, der zur Garage führte, gefolgt von einem Besucher.
»Wer ist denn da?«, brummte Polchinski. Er kniff die Augen zusammen. »Ach, ihr beiden! Ich dachte doch gleich, ich hätte einen Wagen vorfahren hören. Aber du hast doch gesagt, du kommst erst morgen Abend nach Hause, Kotchie. Was ist denn passiert?«
Er war ein kräftig gebauter, grauhaariger Mann mit kantigem Kinn, harten blauen Augen und derben, grobgeschnittenen Zügen. Auch der andere war recht stämmig, aber da Polchinski sich nicht die Mühe gemacht hatte, die Außenbeleuchtung anzuknipsen, sah ich nur, dass er einen grauen Sommeranzug und einen Panamahut trug.
»Eddies Schwägerin ist ein bisschen erkältet, Papa. Ein Sommerschnupfen, und da wollten wir nicht stören.«
»So, so«, brummte Polchinski und musterte mich von oben bis unten ohne sonderliches Wohlwollen. Aber er hatte schließlich fünf verteufelt hübsche Töchter, die bis auf Katie alle schon verheiratet waren, und ich glaube, der Gedanke, auch sie zu verlieren, war ihm in der Seele verhasst. »Dann geh jetzt lieber schlafen, Kotchie. Es ist Zeit, nein? Meiner Meinung nach ja. Auf meiner Uhr ist es schon weit über elf. Und auf Ihrer, McNulty?«
Tja, ich wusste, ich würde mich gut mit ihm stellen müssen, weil ich ja wusste, was Katie und ich ihm eines schönen Tages zu beichten haben würden, also tat ich so, als wunderte ich mich furchtbar darüber, dass es schon so spät sei, und sagte dann allerseits gute Nacht und ging zu meinem Kabriolett. Aber den stämmigen Mann, der hinter Polchinski stand, hatte ich noch immer nicht recht zu sehen bekommen. Mir war es so vorgekommen, als hätte er, als mein Name fiel, mit einem Ruck aufgeblickt und sich dann in den Schatten zurückgezogen. Das war aber nur ein flüchtiger Eindruck gewesen, den ich nicht ernsthaft beachtete.
Im Augenblick nicht – wohl aber etwa anderthalb Stunden später, als ich in meiner Wohnung war und gerade geduscht hatte und es mir mit einer Flasche kaltem Bier und der Nachtausgabe der Morgenblätter gemütlich machen wollte. Ich saß da und blätterte in den Zeitungen, dachte aber eigentlich an Katie und fragte mich, ob es richtig sei, sie für den Rest ihres Lebens an einen Menschen wie mich zu fesseln – da wurde draußen geklingelt.
Im Flur standen drei Mann. Der erste war Mike Polchinski – gestraffte Backenknochen, fest zusammengepresste Lippen, harte, blaue Augen mit einem kalten, finsteren Blick. Der zweite war ein uniformierter Polizeibeamter, der dritte ein Mann in grauem Sommeranzug und Panamahut. Auf Polchinskis Zufahrt hatte ich ihn nicht wiedererkannt, aber ich kann Ihnen sagen, jetzt erkannte ich ihn sofort. Ich wäre fast umgefallen.
Der Mann hieß Jack Hennessy. Vor etwa zwei Jahren hatte ich mit ihm zu tun gehabt. Damals war er noch bei der Polizei gewesen, und wir waren nicht als Freunde geschieden. Nachher hatte ich gehört, er sei in aller Stille wegen irgendeines Vergehens entlassen worden. Ich hatte keine Ahnung, wovon er jetzt lebte. Damals aber hatte er mich verhaftet, ich weiß nicht einmal mehr, wessen er mich beschuldigte. Er verfügte auch über keine plausiblen Anhaltspunkte und Beweise, er wollte nur irgendjemanden ans Messer liefern und sich damit einen Namen machen. Ich konnte aber mit einem einwandfreien Alibi aufwarten – es war ein reiner Glücksfall und da stand er recht belämmert da. Ich wusste, dass seit dieser Zeit Jack Hennessy mich hasste wie die Pest. Mir sollte es recht sein. Damit waren wir quitt. Ich hasste ihn wie die Pest.
Jetzt aber stieß mich Polchinski an meiner eigenen Tür zur Seite und ging an mir vorbei. »Zeigen Sie ihm den Haussuchungsbefehl«, sagte er zu dem Wachtmeister. »Seine Rechte wird er schon kennen. Darauf kann man sich bei seinesgleichen verlassen. Also schön! Ich nehme das Schlafzimmer, Hennessy, Sie schauen sich in der Küche um.«
Das war alles, was ich zu hören bekam. Der Wachtmeister hielt mir den Haussuchungsbefehl hin, ich rührte ihn nicht an. Hennessy beehrte mich mit seinem boshaften, höhnischen Lächeln und ging in die Küche. Ich nahm meine Zigaretten vom Tisch, zündete mir eine an und setzte mich dann wieder in den Sessel. In den ersten paar Minuten wusste ich gär nicht, was ich tun sollte. Ich war verblüfft. Katies Vater erscheint bei mir mit einem Haussuchungsbefehl und hat einen Lumpen wie diesen Jade Hennessy bei sich? Wieso? Ich kannte mich nicht aus. Was hatten sie zu dieser nächtlichen Stunde in meiner Wohnung zu tun? Was wollten sie von mir? Was suchten sie?
Ich wusste es nicht, aber ich machte mir keine großen Sorgen, weil ich momentan in keinerlei dunkle Geschichten verwickelt war und eigentlich seit meiner Entlassung im vergangenen Frühling nichts mehr angestellt hatte. Damals hatte ich, um einem guten Freund einen Gefallen zu tun, ein paar Schmuckstücke bei mir aufbewahrt, und die Polizei kam angerückt, und natürlich wollte ich meinen Freund nicht verraten. Als ich entlassen wurde, schenkte er mir das Kabriolett, zum Dank dafür, dass ich ihn gedeckt hatte. Es war natürlich ein streng legaler Wagen. Außerdem steckte er mir ein bisschen Geld zu, damit ich mir an der Ostküste etwas aufbauen könnte. Das war das Geld, das Robert Kopfzerbrechen bereitete, und deshalb bildete ich mir ein, ich brauchte jetzt nicht davor zu bibbern, dass sie in der Wohnung etwas für mich Belastendes finden würden. Aber was suchten sie denn?
Natürlich machte mich diese Frage ein wenig kribblig. Ich wusste es nicht, aber ich war klug genug, um brav sitzenzubleiben und den Mund zu halten, während Jack Hennessy in der Küche herumrumorte und dann hereinkam und im Wohnzimmer zu rumoren begann. Ein paar Minuten später erschien Mike Polchinski aus dem Korridor.
»Haben Sie etwas gefunden?«, fragte er Hennessy brummig.
»Noch nicht.« Hennessy schob den Hut aus der Stirn, hakte seine Daumen in einen eleganten Ledergürtel und kam auf mich zu geschlendert. »Aber er ist natürlich ein Pfiffikus, er war es schon immer, Mike. Eddie, der Fassadenkletterer. Na, wir wollen mal sehen...«