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Die Tür schloss sich. Hannegan stand auf. »Mr. McCollum«, wiederholte er trocken den Namen, wie im Selbstgespräch, und beobachtete noch immer Cassidy so gespannt und erstaunt wie von Anfang an. »Ray, was war mit dir denn los? Als der dir so unverblümt ins Gesicht sagte, du hättest mit Charlie unter einer Decke gesteckt, da habe ich doch gedacht, du würdest dem mal die Leviten lesen.« Er berührte Cassidy am Arm. »Was ist denn?«, fragte er mit ehrlich besorgtem Gesicht. »Wo hast du deinen Mumm gelassen, Kindchen? Neuerdings kommst du mir ganz anders vor als der Rote Cassidy von früher. Anders als ich dich kannte, wie wir zusammen den Streifenwagen in Harlem Ost fuhren, hm?«
Cassidy befeuchtete sich bei dieser Frage die Lippen, machte mit der Rechten eine unbestimmte Geste und lächelte Hannegan zu, angestrengt, schmerzlich. »Tja«, sagte er, innerlich wie von einem schweren Gewicht bedrückt, »das ist es, darum dreht sich’s, Mickey: Ich glaube, ich bin nicht mehr derselbe.«
Der Roman Mord im Hotel Imperial des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Thomas Walsh (* 19. September 1908 in New York; † 21. Oktober 1984 in Danbury) erschien erstmals im Jahr 1956; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1959 (unter dem Titel Hotel Imperial).
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
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Veröffentlichungsjahr: 2022
THOMAS WALSH
Mord im Hotel Imperial
Roman
Signum-Verlag
Inhaltsverzeichnis
Das Buch
MORD IM HOTEL IMPERIAL
Prolog
Erstes Kapitel
Zweites Kapitel
Drittes Kapitel
Viertes Kapitel
Fünftes Kapitel
Sechstes Kapitel
Die Tür schloss sich. Hannegan stand auf. »Mr. McCollum«, wiederholte er trocken den Namen, wie im Selbstgespräch, und beobachtete noch immer Cassidy so gespannt und erstaunt wie von Anfang an. »Ray, was war mit dir denn los? Als der dir so unverblümt ins Gesicht sagte, du hättest mit Charlie unter einer Decke gesteckt, da habe ich doch gedacht, du würdest dem mal die Leviten lesen.« Er berührte Cassidy am Arm. »Was ist denn?«, fragte er mit ehrlich besorgtem Gesicht. »Wo hast du deinen Mumm gelassen, Kindchen? Neuerdings kommst du mir ganz anders vor als der Rote Cassidy von früher. Anders als ich dich kannte, wie wir zusammen den Streifenwagen in Harlem Ost fuhren, hm?«
Cassidy befeuchtete sich bei dieser Frage die Lippen, machte mit der Rechten eine unbestimmte Geste und lächelte Hannegan zu, angestrengt, schmerzlich. »Tja«, sagte er, innerlich wie von einem schweren Gewicht bedrückt, »das ist es, darum dreht sich’s, Mickey: Ich glaube, ich bin nicht mehr derselbe.«
Der Roman Mord im Hotel Imperial des US-amerikanischen Kriminal-Schriftstellers Thomas Walsh (* 19. September 1908 in New York; † 21. Oktober 1984 in Danbury)erschien erstmals im Jahr 1956; eine deutsche Erstveröffentlichung erfolgte 1959 (unter dem Titel Hotel Imperial).
Der Signum-Verlag veröffentlicht eine durchgesehene Neuausgabe dieses Klassikers der Kriminal-Literatur.
Das Hotel Imperial liegt an der Ecke zweier großer Verkehrsadern New Yorks, mit gleich langen Flügeln an der Park Avenue und der Lexington Avenue. Es hat rund 2.700 Zimmer – 2.200 in den 22 Etagen des Hauptgebäudes und 500, vorwiegend Luxusappartements, in den 7 Stockwerken der zwei Turmaufbauten.
Zahlreiche Fahrstühle sowie Expresslifts, die nur in wenigen Stockwerken halten, dienen dem inneren Verkehr. In der Ecke jeder Etage, wo die beiden Flügel rechtwinklig Zusammenstößen, befindet sich ein kleines Büro: die Information. Hier können sich die Gäste Auskünfte holen über Lage und Art ihrer Zimmer, die Einrichtungen des Imperial und alles, was sie über New York erfahren möchten.
In der riesigen Halle bewältigen an der Rezeption, dem Empfang, eine Schar eleganter, sprachkundiger und vorzüglich geschulter Angestellter das unaufhörliche Gewimmel der ankommenden und abreisenden Gäste. Taxipagen haben ausschließlich mit der Bestellung und Abfertigung von Wagen zu tun. Hausdetektive walten ununterbrochen ihres Amtes, das hohe Anforderungen stellt. An dem Abend, an dem dieser Roman spielt, ist Ray Cassidy, der Rotkopf, in nervenaufreibenden Stunden mit der Aufklärung mysteriöser Verbrechen beschäftigt.
Sie befanden sich alle um 5 Uhr 10 nachmittags im Privatkontor von Walter Duval, Direktor des Hotel Imperial, als der Hausdetektiv hereinkam. Und alle drei bezichtigen sie Charlie Mueller gleich unverblümt des Diebstahls, anstatt ihn erst ruhig zu fragen, ob er von dem Geld überhaupt etwas wüsste. Außer Duval waren anwesend ein großer, salopp gekleideter und doch sehr elegant wirkender Kriminalbeamter namens Michael Hannegan und ein gewisser George V. McCollum aus Zimmer Achtzehnhundertsoundsoviel in dem nach der Park Avenue gelegenen Hotelflügel.
»...weil wir wissen«, verkündete Walter Duval gerade, als Ray Cassidy die Tür hinter sich zuzog, »dass außer Ihnen praktisch niemand in das Zimmer hinein- oder aus ihm herauskommen konnte.« Äußerlich Zoll für Zoll der Direktorentyp - imposante Figur, beweglich, tadellos frisiert und rasiert, gegebenenfalls aggressiv -, hatte Duval neben seinen gewählten Umgangsformen für die Gäste des Imperial auch seine ganz besondere Art im Verkehr mit den Angestellten des Hotels. Diese wusste er jetzt prächtig zur Geltung zu bringen, indem er sich, auf die geballten Fäuste gestützt, über seinen Schreibtisch neigte und in Ton und Haltung den grimmigen Vorgesetzten herauskehrte. »Wir wollen hier die Wahrheit feststellen, das sollen Sie gefälligst bedenken! Und wir werden sie erfahren! Also los: Sind Sie gestern Abend mit Mr. McCollum in sein Zimmer gegangen? Haben Sie selbst ihm die Tür aufgeschlossen? Haben Sie ihm auch beim Ausziehen geholfen?«
Cassidy war hinter ihnen stehengeblieben mit dem Hut in der Hand, dem Mantel über dem Arm. Er war noch jung, kräftig gebaut, hatte rotes Haar, einen breiten Brustkasten und derbe, aber klare Gesichtszüge, die von konzentriertem Denken zeugten. Bei seiner Tätigkeit als Nachtdetektiv im Hotel Imperial assistierte ihm Charlie Mueller gelegentlich. Cassidy sagte noch nichts. Nachdem er Hut und Mantel auf einen Stuhl gelegt hatte, ging er behutsam um Duvals Tisch und setzte sich in die äußerste Ecke, den anderen gegenüber, neben Mueller, den ganz verstörten kleinen Mann, der zitternd und leichenblass seinen Klemmer in der Hand hielt, während seine grauen Äugen unruhig, beinah verzweifelt, hin und her irrten.
»Natürlich habe ich das«, beantwortete Mueller die Frage des Direktors, machte aber dabei fahrige Bewegungen und drehte ruckend den Kopf von Duval nach Mr. McCollum, der mit sturer Miene, die Lippen gespitzt, halb nach unten blickte. »Er kam heute Nacht sehr spät, Mr. Duval, so um halb fünf, und da sagte Ray, ich sollte mit ihm nach oben gehen und ihn ins Bett bringen. Na, und das tat ich. Und ich wollte gerade...« Er wandte sich mit zuckendem Mund an Cassidy: »Ray! Stimmt das nicht? Genau so war es doch?«
»Zwanzig nach vier«, sagte Cassidy, indem er seine jetzt ausdruckslosen blauen Augen unter den roten Brauen auf Hannegan, Duval und Mr. George McCollum richtete. »Klar stimmt das, Charlie. Brauchst dich gar nicht aufzuregen, das hast du nicht nötig. Weiter! Ich war ja selbst dabei.«
»Ach nein!«, rief Mr. McCollum, indem er plötzlich hochblickte. Dieser korpulente Mann- mit der frischen Gesichtsfarbe, dem kahlen Schädel, den weichlichen Zügen und den struppigen Brauen über dunklen Augen musste wohl sofort instinktiv denselben Widerwillen gegen Cassidy empfunden haben wie der gegen ihn. Jedenfalls klang es grob und großspurig, als er Cassidy fragte: »Wie kommt es dann, dass ich Sie nicht gesehen habe? Wo hatten Sie sich versteckt?«
»Vielleicht«, sagte Cassidy, indem er auf ihn hinabsah, während er seine große Hand mit festem Druck in Muellers Schulter presste, »vielleicht gab es da allerhand, was Sie nicht bemerkt haben würden, Mr. McCollum. Jedenfalls um diese Zeit.«
»Also gut«, sagte McCollum noch lauter, in arrogantem Ton, als sei ihm dieser Punkt im Augenblick unwichtig. »Ich hatte ein paar Schnäpse getrunken, was ich ja nicht abstreite, wie? Aber ich besaß heute Nacht, als ich zu Bett ging und dieser Mann mich aufs Zimmer brachte, eine Brieftasche mit über 400 Dollar, und die hatte ich nicht mehr, als ich vor ungefähr zwei Stunden aufwachte. Sie scheinen den ja recht gut zu kennen, einerlei, wer Sie sind. Dann ist es wohl am besten, Sie reden mit ihm mal Fraktur! So viel werden Sie wohl können, wie?«
»Ich denke, ja«, erwiderte Cassidy, noch in ganz gleichgültigem Ton. »Und ich kenne ihn gut, sehr viel besser, als ich Sie kenne, Mr. McCollum. Er arbeitet nämlich für mich.«
»Oh...«, sagte McCollum gedehnt. Seine hässlichen Gedanken schon andeutend, lächelte er Hannegan und Direktor Duval zu. »So, er arbeitet für Sie! In welchem Umfang, hm? Halbe-halbe, was? Was euch bei diesen kleinen Gaunereien in die Hände fällt, wird haargenau geteilt, wie?«
Jäh trat Stille ein. Schließlich sagte Walter Duval mit törichtem Lächeln: »Na, ich muss doch wirklich sehr bitten, Mr. McCollum!«
Hannegan warf Cassidy einen schnellen Blick zu, forschend und offensichtlich verwundert. Doch Ray Cassidy sagte, obwohl er blasser geworden war, kein Wort und machte nicht die kleinste Bewegung.
»Wollen doch ruhig bleiben«, sagte Hannegan, der ihn noch mit gefurchter Stirn ansah. »Vorsichtig vorgehen, he? Es handelt sich um folgendes, Ray: Er behauptet, in seinem Zimmer die Kette vorgelegt zu haben, nachdem Charlie Mueller ihn verlassen hatte, so dass nachher niemand hinein- oder hinausgegangen sein könnte. Ich will ja keinen beschuldigen, denn das ist nicht meine Aufgabe, aber du hast doch ein Köpfchen, mein Junge. Okay, dann streng es an. Wie lautet deine Antwort?«
»Oh, der wird schon eine wissen«, sagte McCollum, indem er Cassidy scharf fixierte, und zwar mit ganz offener, brutaler Verachtung. »Diese Sache haben die beiden sicher zusammen ausgeheckt. Liegt ja nahe!«
»Können Sie denn nicht mal ruhig sein?«, fragte Hannegan sanft, aber mit gefährlichem Unterton. »Mal für ’ne Minute die Klappe halten, he?«
»An Ihrer Stelle würde ich mich anders ausdrücken«, erklärte McCollum grimmig. »Mit mir kann man so nicht umspringen, Mister. Ich bin in dieser Stadt mit Leuten befreundet, die Ihnen etwas bessere Manieren beibringen könnten.«
»Oje!«, sagte Hannegan, indem er ihn unverschämt gleichgültig von oben bis unten musterte. »Ein richtiger Prominenter, wie? Aber ich trete ja immer ins Fettnäpfchen, Ray. Weißt du, für was ich den gehalten habe? Für einen Kerl, der diese Nacht in der Stadt herumgesumpft und an jeder Schnapstheke von hier bis nach Harlem gehockt hat. So ungefähr wird das wohl stimmen, wie?«
McCollum lief rot an und senkte den Blick vor Hannegan, was er vor Cassidy nicht getan hatte.
»Vielleicht können wir jetzt probieren, ob wir’s rauskriegen«, warf Cassidy ein. Sein Gesicht blieb immer noch ruhig, aber es sah fast krankhaft gespannt aus. »Wenn Sie freundlichst ein bisschen zurückdenken wollen, Mr. McCollum: Was Sie taten, als Sie zu Bett gingen. Und ob Sie nachher wieder aufgestanden sind. Ja?«
»Natürlich bin ich aufgestanden«, antwortete McCollum, verächtlich die Lippen verziehend. »Und dann habe ich vermutlich die Brieftasche aus meiner Hosentasche genommen, was? Und sie an meinem Körper verborgen, nicht wahr?« Nur ganz wenig und nur für einen Moment änderte sich sein Gesichtsausdruck, aber darauf hatte Cassidy gewartet, und er wusste auch, warum.
»Ich überlege gerade, dass wir manchmal Gäste von einem besonderen Typ haben«, sagte er, wobei ihm die Kehle so merkwürdig trocken war, dass er die Worte kaum klar herausbrachte. »Meistens sind es einzelne, Mr. McCollum, wie Sie. Schön - so ein Gast geht also aus, haut ordentlich auf die Pauke, kommt später wieder in sein Zimmer, zählt seinen Zaster nach und zerbricht sich den Kopf, wieviel er davon ausgegeben hat. Und dann wird er ein bisschen zu schlau. Er tut nämlich, was Sie eben sagten: Er verbirgt das Geld am Leib. So was haben wir hier im Hause schon erlebt, und ich habe es selbst gesehen. Könnte das vorige Nacht auch so gewesen sein?«
»Was?«, rief McCollum. Er stand rasch auf, dunkelrot im Gesicht. »Selbstverständlich nicht!«
Hannegan, der unverhohlen gegrinst hatte, lachte jetzt laut. »Na klar«, sagte er, während Duval ihm zublinzelte, »selbstverständlich nicht. Aber ich könnte Ihnen noch andere Plätze nennen, wo man suchen kann, Mr. McCollum. Zum Beispiel hinter einem der Bilder oder auf dem hohen Schränkchen im Badezimmer.«
»Ich bin - das ist doch wirklich...«, zischte McCollum, noch tiefrot. »Diese ganze - ach, ich wünschte...« Mit einem Blich auf Charlie Mueller fummelte er nervös in seiner Westentasche, fand darin ein paar zerdrückte Geldscheine, die er nach kurzem Zögern auf die Löschunterlage von Duvals Schreibtisch fallen ließ.
»Oha!«, sagte Hannegan, indem er die Scheine mit seinem manikürten Zeigefinger berührte. »Zwei ganze Ein-Dollar-Scheine! Ein echter Kavalier, Charlie. Sie verstehen, wie ich’s meine: Erst lässt er Sie wer weiß wie piesacken - schiebt Ihnen alles in die Schuhe, und dann... Wollen Sie diesen Kies annehmen, Kindchen, oder wollen Sie dem Herrn selbst sagen, was er damit machen kann?«
Jetzt ging McCollum hinaus, Duval folgte ihm beflissen. »Kann Sie vollkommen begreifen«, sagte er. »Vollkommen, Sir. Diese ganze wirklich peinliche...«
Die Tür schloss sich. Hannegan stand auf. »Mr. McCollum«, wiederholte er trocken den Namen, wie im Selbstgespräch, und beobachtete noch immer Cassidy so gespannt und erstaunt wie von Anfang an. »Ray, was war mit dir denn los? Als der dir so unverblümt ins Gesicht sagte, du hättest mit Charlie unter einer Decke gesteckt, da habe ich doch gedacht, du würdest dem mal die Leviten lesen.« Er berührte Cassidy am Arm. »Was ist denn?«, fragte er mit ehrlich besorgtem Gesicht. »Wo hast du deinen Mumm gelassen, Kindchen? Neuerdings kommst du mir ganz anders vor als der Rote Cassidy von früher. Anders als ich dich kannte, wie wir zusammen den Streifenwagen in Harlem Ost fuhren, hm?«
Cassidy befeuchtete sich bei dieser Frage die Lippen, machte mit der Rechten eine unbestimmte Geste und lächelte Hannegan zu, angestrengt, schmerzlich. »Tja«, sagte er, innerlich wie von einem schweren Gewicht bedrückt, »das ist es, darum dreht sich’s, Mickey: Ich glaube, ich bin nicht mehr derselbe.«
Zehn Minuten später fuhr er nach oben - Beschwerde über zu lautes Radio. Nachdem er die Sache wie üblich mit der dem Imperial angemessenen äußersten Höflichkeit erledigt hatte, stand er ein paar Minuten am Flurfenster und rauchte eine Zigarette, während er auf das abendliche Verkehrsgewühl in der Park Avenue hinabblickte und an Mickey Hannegans Worte dachte. Wie recht er doch hat! überlegte er ruhig. Vor kurzer Zeit noch, in dem Polizeiauto im Harlemer Negerviertel, war ich ein ganz anderer Mensch. Ein Ray Cassidy, den vielleicht dieser Mr. George McCollum ebenso schnell und genau taxieren konnte, wobei er aber bestimmt einen ganz anderen Eindruck bekommen hätte als heute. Na...
Er zündete sich eine neue Zigarette an. Hinter ihm lag der lange Hotelkorridor, die Wände ganz mit dunklem Holz verkleidet, edle, einfache Linien, ultramoderne Deckenbeleuchtung, Ruhe ausströmende grüne Läufer mit Goldmuster, die aber gerade jetzt natürlich Cassidy nicht zu beruhigen vermochten. Denn er hatte gleich das Gefühl gehabt, dass dieser McCollum mit seiner Affäre nur den Auftakt für eine wirklich schlimme Nacht bilden würde. Jetzt war er davon fest überzeugt und spürte schon die Strapazen voraus - da ging die Tür des Appartements Nr. 2234 auf, und ein junges Mädchen mit einem Stenogrammblock und einem Bündel Bleistifte kam heraus.
Sie glich nur wenig einem gewissen anderen Mädchen, an das Cassidy manchmal noch dachte. Nein, das war gar. kein Vergleich. Letzthin war ihm klargeworden, dass der Mensch nach einiger Zeit über gewisse Ereignisse hinwegkommen konnte, wenn er auch vielleicht viel stillen Kummer ertragen musste. Vielleicht war man noch immer nicht voll erwachsen? Jedenfalls begann man erst jetzt, die Mitmenschen in mancher Hinsicht besser zu verstehen und bei ihnen nach Eigenschaften zu suchen, die man früher als unwichtig betrachtet und so gut wie gar nicht bemerkt hatte.
Eine sonderbare Ironie lag in der ganzen Entwicklung. Voriges Jahr noch hatte in dem Streifenwagen, wie Hannegan ihm in Erinnerung rief, ein Ray Cassidy gesessen, der sich elastisch und mit Elan bewegte und anscheinend alles besaß, was er von der Welt erwartete, zumindest den richtigen Job und das richtige Mädel. Es war aber, was ihm damals kaum bewusst wurde, die falsche gewesen, der er sich ohne jeden Vorbehalt gewidmet hatte. Jetzt freilich wusste er, wer die einzige war, die in seinem Leben noch eine Rolle spielen konnte. Jedoch der Cassidy vom Hotel Imperial unterschied sich sehr vom früheren Cassidy, und was dieser Hotel-Mensch einem Mädel wie Florence Savage bieten konnte, das war... Er drehte sich halb um. Seine starken Kinnbacken schlossen sich schmerzhaft.
»Nun«, sagte sie, »was gibt’s Neues?« während sie die Doppeltür hinter sich schloss, und ihn, genau wie Hannegan vorher, ein Weilchen prüfend anblickte, als sei sie ein wenig verblüfft und nicht ganz sicher, ob es wirklich Cassidy war. Nicht sicher der Situation und unfähig, an den Kern dieses neuen Cassidy heranzukommen.
Sie war groß, hatte braunes, weich aussehendes Haar und schöne Schultern. Jetzt erschien sie frisch und energisch, sehr geschäftsmäßig in einem Schneiderkostüm mit schlichter weißer Bluse.
»Das ist es«, fügte sie ihrem Gruß hinzu, indem sie ernst für sich nickte und den Schreibblock unter den Arm schob. »Dieser Blick ist’s, Cassidy. Sag mir doch mal, was du innerlich für eine Bürde mit dir herumschleppst. Die ganze kummervolle Welt, ja?«
Er lächelte verzerrt und zog sich gleichsam fester in seine Rüstung zurück, die ihn gegen alles sicherte.
»Möglich«, sagte er, »so was wird’s wohl sein. - Überstunden gemacht?«
»Ein bisschen, ja«, sagte sie und setzte sich, rasch und gewandt wie stets, auf die Fensterbank, mit der Grazie, die Cassidy nun seit ungefähr zwei Monaten hier und da im Bereich des Imperial aufgefallen war. »Oje!« Sie seufzte schwer. »Das war ein Tag, Cassidy! Hundert und zig Briefe, zwei Klageschriftsätze, und nun muss ich auch noch diese Rede tippen. Na, du weißt wohl, wen wir in 2234 haben? Diesen Bischof Hruba.«
Eine schwache Erinnerung aus der Nachmittagszeitung rührte sich in Cassidy - das Photo von einem großen Transatlantikflugzeug in Idlewild, mit der Bordtreppe, neben der ein gebrechlicher, müde aussehender Greis in geistlicher Kleidung stand.
»Oh!«, sagte er. »Den, der den Kommunisten drüben, hinter dem Eisernen Vorhang, ausgerückt ist. Von dem habe ich gelesen. Wie sieht er aus? Wohl ziemlich kaputt? Mit dem haben sie doch die sogenannte Gehirnwäsche exerziert, nicht wahr?«
»Ich will’s dir sagen«, vertraute sie ihm tiefernst an, während sie an ihm vorbei nach Appartement 2234 blickte. »Das Herz dreht sich dir um, wenn du ihn ansiehst, Cassidy. Und er kommt einem so ruhig, so freundlich und sanft entgegen. Und wenn man daran denkt, was sie ihm da drüben angetan haben, hat man das Empfinden, es müsste...« Sie erschauerte ein wenig, dann schüttelte sie heftig den Kopf, als wollte sie diese Gedanken abschütteln. »Nun, Gott sei Dank ist er denen ja noch entkommen. Und wie geht’s dem Herrn Imperial-Detektiv heutzutage? Immer gut ausgelastet?«
»Geschäfte genug«, erwiderte Cassidy, der wieder den Verkehr auf der Park Avenue und nicht sie betrachtete. »Wie geht’s Hannegan? Hat mir erzählt, dass er vorige Woche mit dir ausgegangen ist.«
»War das etwa eine Überraschung?«, fragte Miss Florence Savage nicht ohne bewusste Würde. »Du hast mich ja mit ihm bekannt gemacht, Cassidy. Weißt doch? Hast mich, genau besehen, Mr. Michael Hannegan an den Hals geworfen. Möchte wissen, weshalb eigentlich. Was ist denn bei mir verkehrt? Habe ich keine Reize mehr?« Sie seufzte wieder, sehr betrübt. »Weil Mr. Ray Cassidy die nie bemerkt hat, oder es sich nie anmerken ließ. Und ich bin - na ja, ein bisschen bekümmert darüber. Deprimiert, ehrlich gesagt.«
Cassidy gab keine Antwort, er hatte gerade ein paar frühe Sterne am Himmel entdeckt und spürte wieder die nur zu bekannte Kälte und Leere im Herzen.
»War übrigens ein gewaltiger Abend«, erzählte Miss Savage, während sie sich in einem Taschenspiegel kritisch musterte und dann ihn. »Ein feines Abendessen auf Coney Island, hinterher Tanz, und dann hatten wir, ob du es glaubst oder nicht, noch ernste Gespräche, die sich auf einen gewissen Mr. Ray Cassidy bezogen.«
»Auf mich?«, fragte Cassidy. Seine Kinnbacken arbeiteten ein wenig. »Inwiefern?«
»Oh!« Sie studierte ihn wieder mit ihren scharfsichtigen, klugen Augen. »Über die Schießerei voriges Jahr, bei der du niedergeknallt wurdest. War doch eine recht böse Sache, nicht wahr?«
Kurzes Schweigen trat zwischen ihnen ein, bis er ziemlich ruhig sagte: »Nein, sehr schlimm war es nicht.«
Aber nun passierte es in seinem Innern wieder, im winzigen Bruchteil einer Sekunde, wie jedes Mal. Für diesen flüchtigen Moment war ihm, als befände er sich nicht mehr auf einem Flur des Imperial, sondern wieder in einem kleinen, sehr dunklen Raum, in Zimmer 305 eines städtischen Krankenhauses. Da lag er, ganz in Gips, hatte nur die Arme und den Kopf frei. Und neben ihm saß Dottie McConnell - jeden Morgen, jeden Nachmittag und jeden Abend, zumindest in der ersten Woche, bevor die erste Andeutung fiel, dass es für Ray Cassidy sehr lange, fast endlos lange bei diesem Raum und dieser Lage bleiben würde, und dass hinterher - nun, hinterher erst das wirklich große Problem käme. Oh, er würde es schon schaffen, hatten die Ärzte munter verkündet, beinah mit Gewissheit. Aber das Rückgrat war eine sehr empfindliche Sache, mit dem ließ sich bei Eingriffen nicht spaßen, und ehe nicht sämtliche Befunde Vorlagen...
Er drückte seine Zigarette sehr sorgfältig in einem Messingaschenbecher aus und sagte bedächtig: »Ich dachte, du hättest es vielleicht bemerkt. Manchen fällt’s auf. Zuweilen bin ich plötzlich wie gelähmt und muss hinken. Die Ärzte sagen natürlich, die Sache verheilte tadellos, kein Grund zur Besorgnis. Es ist nur - na ja, die Polizeiärzte wollen
nichts damit zu schaffen haben, verstehst du. Sie haben mich schon dienstunfähig geschrieben und mich nach dem letzten Röntgenbild einfach von der Liste der Aktiven gestrichen.«
»Ja«, sagte sie, »Hannegan hat’s mir erzählt. Und du möchtest gern zurück, nicht wahr?«
Wieder antwortete Cassidy nicht sofort. Er musste an den Mietshauskorridor in Harlem-Ost denken, wo er gegen die Wand gepresst gestanden hatte, und ein anderer sich gegen die Kellertür presste - einer, der mit dem Revolver auf ihn zielte. Zollweise hatte er sich vorgeschoben, ganz behutsam, ohne zu atmen. Und dann, von der Kellertür her... Seine Hände wurden jetzt plötzlich feucht und heiß, doch auch das war in den letzten Tagen und Nächten schon öfters vorgekommen.
»Ich weiß nicht«, sagte er endlich. Ein leichtes Zucken überlief sein derbes Gesicht. »Vielleicht würde ich sowieso nichts mehr taugen. Bin sozusagen schreckhaft geworden, seitdem es passiert ist. Wenn ich nur daran denke, bleibt mir beinahe die Luft weg. Soll ich dir mal was verraten? Ich kann keinen Revolver mehr sehen und kann keinen mehr anfassen.«
Er lächelte mühsam, der Schweiß brach ihm aus. Was war das bloß, was wühlte in ihm? Und wann hatte es angefangen? Damals in dem Krankenzimmer, an dem regnerischen Nachmittag, als Dottie McConnell ihn zum letzten Mal besuchen kam und ein bisschen weinte und ihm von dem großen stattlichen Herrn in Manhattan-Ost erzählte, der sie heiraten wolle, der starke, kerngesunde Bursche - hatte es damals begonnen? Er hatte kein Wort zu ihr sagen können, keine Silbe. Musste daliegen, starr wie eine Wachspuppe, Gesicht zur Wand, die Augen geschlossen, fast ohne jedes Gefühl, vielleicht nur, weil er, wie ein winziges Fleckchen, noch irgendwo in seinem Innern die beginnende Fäulnis spürte. Ja, die hatte sich verbreitet, mehr und mehr, bis schließlich ein Kerl wie dieser George V. McCollum ihn fixieren, ihn höhnisch angrinsen und ihm Frechheiten bieten durfte, die der Cassidy vom vorigen Jahr ihm schon in den Hals zurückgeboxt hätte, ehe sie ganz heraus waren.
»Den Eindruck hat Michael auch gehabt«, sagte sie jetzt, indem sie wieder die Stirn kraus zog, »dass du dir viel zu viel Gedanken darüber machst. Aber das war ja zu erwarten, und du brauchst dich deshalb nicht zu schämen. Und dann lässt dieses Mädchen dich derart sitzen...«
»Welches Mädchen?«, fragte Cassidy, merklich errötend. »Wovon redest du eigentlich? Na, komm, fährst du auch nach unten?«
»Oh, du meine Güte«, sagte sie, sehr kühl und beherrscht. »Das ist dir wohl heilig, wie? Na, für mich wäre es das nicht, Ray Cassidy. Eine wie die würde ich sehr schnell vergessen.« Sie sprang von der Fensterbank, anscheinend ärgerlich auf ihn und ein wenig auch auf sich selbst. »Verschlossen tief im Herzen mein«, zitierte sie leise, aber fast gehässig. »Und so furchtbar empfindlich in dem Punkt!«
Sie marschierte davon, den Kopf erhoben, ihre schönen Schultern bogen sich graziös, vielleicht ein wenig verächtlich. Und an ihr vorbei sah Cassidy im Flur zwei Männer, ungefähr in der Mitte zwischen sich und dem Auskunftstisch. Sie waren aber nicht aus diesem Raum gekommen, sondern plötzlich an der Personaltreppe aufgetaucht, und soeben merkte der Kleinere, dass Cassidy sie ansah. Er blieb sofort stehen, der Große jedoch nicht. Der fasste den Kleinen an, murmelte gedämpft, und dann blieb er, worin Cassidy sich auch bei der Entfernung nicht irren konnte, vor Nr. 2219 stehen, vor dem Appartement von Mrs. Henry McPherson-King, klopfte dort an, und beide wurden eingelassen.
Nach dieser Feststellung ging Cassidy weiter, doch Florence Savage war ihm inzwischen schon in einem der Fahrstühle entschwunden. Na, das ist vielleicht ebenso gut, dachte er. Was war denn Ray Cassidy noch? War der überhaupt noch etwas wert? Als Mann? Er wusste die Antwort, wenn Hannegan oder Florence Savage sie nicht wissen sollten. Also...
In der Halle stieg er aus. Auch hier erstrahlten die Dekorationen in den Farben des Imperial, Grün und Gold - eine Kühlung andeutende Marmorfontäne, glänzende Marmorsäulen, Farnkrautanpflanzungen so exakt und ornamental angelegt wie japanische Gärten; drüben in einer Nische eine schlanke antike Bronzefigur, dort ein paar dezente Wandgemälde und darüber, um drei Stockwerke höher, die erhabene Decke, aus handgearbeiteten Holzblöcken, so fein geschnitzt wie die Orientalen ihr Silber ziselieren.
Es war abends kurz vor 6 Uhr 30, eine sehr lebhafte Zeit im Imperial. Pagen, blau und grau uniformiert, machten sich nützlich; Berge von teuren Gepäckstücken breiteten sich vor der imposanten Mahagoniverkleidung der Rezeption aus, vom Speisesaal herüber schwebten, gedämpft gespielt, Takte der Dinner-Musik. Am Eingang zu dem Saal stand elegant und wachsam der Maître d’ Hotel mit einer riesigen rotweißen Menü-Karte, um für die reservierten Tische zu sorgen, und schräg ihm gegenüber herrschte, wie immer, ein eiliges Gewimmel an den sechs zum Ausgang Park Avenue hinabführenden Marmorstufen.
Bisweilen wurde Cassidy von dem luxuriösen Milieu stark beeindruckt, doch heute Abend nicht. Auch heute machte er seinen üblichen Kontrollweg durch die Herrenbar und den Imperial-Grillroom, dann durch die berühmte Arkade des Hotels mit ihren farbenfreudigen Reisebüros und der Reihe exklusiv feiner Läden, in dem langen Flügel zu der Lexington Avenue. Und schließlich bezog er seinen üblichen Posten dicht hinter dem Stand des Pagenmeisters, wo von dieser Stunde an ein Hausdetektiv die Nacht hindurch jederzeit auf Abruf verfügbar sein musste. Er fand dort verschiedene Kleinigkeiten zu erledigen: eine telefonische Notiz von Direktor Duval, eine Gepäcks Verwechslung, einen zu Tode erschrockenen Pagen, der erwischt worden war, als er eine silberne Kaffeekanne durch den Personalausgang schmuggeln wollte. Und nachher, am Eingang Park Avenue, konnte er ganz zufällig ein paar Worte mit der hinausgehenden Mrs. McPherson-King sprechen. Bei dieser kurzen Unterhaltung kniff er einmal, für einen Moment nur, die blauen Augen zu, dann begab er sich zum Platz des Pagenmeisters und zu Charlie Mueller.
»Ich glaube, wir haben was«, erklärte er gepresst. »Zwei Gelegenheitsdiebe. Habe sie oben gesehen, Charlie, war bloß so blöde, dass ich sie entwischen ließ, aber sie haben das auch sehr geschickt gemacht. In derselben Minute, als sie mich sahen, klopften sie bei der alten Mrs. King an und erklärten ihrer Zofe, sie seien von der Direktion geschickt, weil auf der Etage irgendwo eine Wasserleitung undicht sein müsse. Sie hat mich eben gefragt, wo die undichte Stelle denn wäre, und deshalb... Na, pass auf: Ich beschreibe dir die beiden, dann fährst du in den 22. Stock und siehst nach, ob sie sich da noch herumtreiben, aber ich glaube, sie haben nur aufs Geratewohl ihr Glück probiert, während sie eigentlich nach einer unverschlossenen Tür suchten. Okay. Du willst gleich los, ja?«