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Jakob von Schwindt hat alles – außer Orientierung. Der Sohn eines wohlhabenden Düsseldorfer Galeristen könnte ein sorgenfreies Leben führen, doch innerlich ist er zerrissen. Soll er in die Fußstapfen seines Vaters treten und die Galerie übernehmen? Oder den mutigen Weg als freischaffender Maler gehen? Ohne wirkliche Leidenschaft studiert Jakob an der Kunstakademie, bis der Prüfungsdruck seine scheinbar perfekte Welt ins Wanken bringt. Er erkennt, dass seine ziellose Suche nicht nur sein Talent, sondern auch seine wichtigsten Beziehungen zerstört hat. Verunsichert zieht er sich in die Isolation zurück, wo er in seinem Schreiben über den Renaissancemaler Giorgione Trost und Inspiration sucht. Doch die Einsamkeit treibt ihn an den Rand der Realität – zwischen psychotischen Fantasien und abstrusen Hoffnungen wird die Kunst sein einziger Halt. In den faszinierenden Welten Düsseldorfs und Venedigs findet Jakob durch Giorgiones Leben und Werk einen neuen Zugang zu sich selbst und seinem eigenen Talent. Ein fesselnder Roman über die Herausforderungen einer sensiblen Künstlerseele in der heutigen Zeit und eine Reise in die Welt der norditalienischen Kunstszene und der Malerei des 16. Jahrhunderts.
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Seitenzahl: 440
Veröffentlichungsjahr: 2024
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© 2024 Calad Verlag
Ein Imprint des Amrun Verlags Jürgen Eglseer, Traunstein
Umschlaggestaltung im Verlag
Autorinnenfoto: Petra Müller
Alle Rechte vorbehalten
ISBN TB – 978-3-95869-433-0Print in the EU
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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.d-nb.de abrufbar
v2/24
Belétage
Gudrun Heyens
1 – Die Galerie
12. April 2016
»Von Schwindt, Jakob. Ich bin nur der Sohn. Und nein, leider keine Verwandtschaft mit dem berühmten Moritz. «
Jakob dreht sich nach einem Glas Champagner um.
Die kurze Begrüßungsansprache hat er brillant hinter sich gebracht, der Zettel war in seiner Jackentasche geblieben, er war nicht ins Schwadronieren geraten. Den Künstler Vince Mayrhofer, obwohl nicht anwesend, hat er angemessen vorgestellt, jetzt müssen seine informellen Großformate für sich sprechen. Besser hätte Armin es auch nicht gemacht, die heutige Vernissage hat sein Vater ihm überlassen. In letzter Zeit ist dieser häufig unabkömmlich. Bisher hat er Die Galerie – immerhin die Zweitgrößte Düsseldorfs – quasi neben seinem Job bei Hochtief geführt, aber jetzt macht es den Eindruck, als stünden Veränderungen bevor. Jakob möchte gerne glauben, dass Armin eine fließende Übergabe vorbereitet, indem er ihm immer öfter die Honneurs bei den handverlesenen Vernissage-Gästen überlässt, doch von Rückzug war bisher nie die Rede gewesen, obwohl er kurz nach seinem fünfundsechzigsten Geburtstag die Nachfolge für seinen Geschäftsführer-Postengeregelt hatte.
Für einen Nachfolger in derGalerie scheint jedoch der Zeitpunkt noch nicht gekommen zu sein.
Weder gibt es öffentliche Verlautbarungen, noch ist das Thema innerhalb der Familie angesprochen worden. Trotzdem ist Jakob sozusagen in den Startlöchern, um die Herausforderung anzunehmen; zwar steht er noch mit einem Bein in der Akademie, aber eben nur mit einem Bein. Hängepartien im Studium lassen ihn immer wieder daran zweifeln, seinen Lebensunterhalt als freischaffender Künstler bestreiten zu können, während ihm die Vorstellung, die Galerie zu übernehmen, von Tag zu Tag realistischer vorkommt. Allerdings konnten ihm die acht Semester Studium an der Kunstakademie seine Unsicherheit im Galeriebetrieb nicht restlos nehmen. Unerwartete Fragen vonseiten der Besucher können ihn wie aus dem Hinterhalt torpedieren, er gerät ins Faseln und redet sich schließlich mit seiner Jugend heraus, bevor seine schwindende Selbstsicherheit allzu offensichtlich wird. Im Januar ist er achtundzwanzig geworden.
Dabei kennt er sich in der Galerie blind aus. Wie viele einsame Kindheitstage hatte er im Depot im Keller zwischen Lagerstellagen und Verpackungspappen verbracht, oder in Skizzenbücher kritzelnd unter dem Schreibtisch seines Vaters hockend? Der grauen Erinnerung an diese Zeit folgt die noch trübere seiner Teenagerjahre. Bis heute kommt es vor, dass er von Stimmungen heimgesucht wird, die seiner Gemütslage jener Jahre ähneln, in denen er sich trostlos langweilig und einfallslos empfunden hatte und vergeblich damit beschäftigt war, in eine Freundes-Clique aufgenommen zu werden. Dass seine Mutter sein einziger Fan war, hatte ihn noch tiefer in den Selbsthass getrieben.
Trotzdem wohnt er immer noch bei seinen Eltern im Obergeschoss der alten Stadtvilla, vielleicht aus Bequemlichkeit, vielleicht auch wegen des unvergleichlichen Blicks auf den Rhein, von dem ein kilometerlanges Stück aus dem nachträglich eingebauten Panoramafenster zu sehen ist, ohne dass er den Kopf drehen mus.
Trotz Lissys schulmeisterlicher Belehrung, dass eine Belétage das erste Stockwerk einer Stadtvilla ist, hält er wegen der noblen Assoziation an Belétage fest.
Hier oben ist das Licht ganztägig optimal, die Inspiration für Wasserbilder unvergleichlich, wenn er sich denn inspirieren ließe; aber was wäre einem William Turner schon hinzuzufügen? Nichts, was einen Jakob von Schwindt von der zeichnenden, malenden und gestaltenden Masse sogenannter Künstler unterscheiden könnte. Negativen Gedanken dieser Art hält er entgegen, dass er erst am Anfang seiner Karriere steht – Kunst entsteht nicht aus guten Absichten. Oscar Wilde hat ihm eine lebenslange Legitimation dafür verschafft, geduldig auf die Eingebung zu warten. Aktivismus ist der Kunst nicht förderlich. Bisher hatte er es nicht fertiggebracht, diese Erkenntnis Professor Siegfried Mandelarzt entgegen zu schleudern. Der Zeitpunkt dafür wäre aber spätestens gekommen, wenn das Prüfungsamt ihm erneut mit dem drohenden Hinweis auflauert, dass die Deadline für die Abschlussarbeit in Sicht sei. Dahinter steckt die unbarmherzige Anmeldung durch den Meister, der sich nicht mit minderbegabten Studierenden umgeben will. Doch profitable, sogar in der Prüfungsordnung verankerte und auf Gegenseitigkeit beruhende Verflechtungen mit Die Galerie würden das Aussortieren seiner Person nur auf dem Wege grober Prüfungsordnungs-Verstöße und nichtbestandenem Abschluss zulassen.
Nach dem Grundstudium hatte er das Freie künstlerische Arbeiten in den Semestern fünf bis acht allzu wörtlich genommen, außerdem den Passus Verbindung zur Öffentlichkeit und der Düsseldorfer Kunstszene durch regelmäßige Begegnungen mit Künstlern, Kuratoren, Kritikern etc. als eine der wichtigsten Rollen im Alltag des Studiums wie auf ihn zugeschnitten erkannt. Er saß ja an der Quelle. Seiner Meinung nach hätte allein schon durch seinen Stellvertreter-Job in der Galerie die Erfüllung dieses Teils der Prüfungsordnung ausgereicht, ihm das Prädikat Meisterschüler zu verpassen. Ansonsten beruft er sich einerseits auf Oscar Wilde, was sein künstlerisches Schaffen angeht und vertraut andererseits unbesorgt auf seine lebenslange wirtschaftliche Absicherung als Erbe eines väterlichen Vermögens, das vermutlich groß genug ist. Er hat jedenfalls nie nach konkreten Zahlen gefragt, um sich ein schlechtes Gewissen angesichts des Elends in der Welt zu ersparen.
Auch sein ehemaliger Kommilitone Vince Mayrhofer hätte ausgesorgt, sollte sich ein gewisser Herr Schormann als potenzieller Käufer herausstellen. Im Augenblick flaniert er noch zwischen den zwei Meter mal drei Meter großen Gemälden Kreuzigung I und II, hin- und her; vermutlich braucht er eine gewisse Zeit, um zwischen dem Titel und dem, was er auf der Leinwand sieht, einen Zusammenhang herzustellen.
»Vince Mayrhofer«, spricht Jakob ihn mit weicher Stimme an und verzichtet aus Gründen der Seriosität darauf, nur den Vornamen des Kommilitonen zu nennen, den er gerade noch als Erstsemester von Ferne hatte bewundern dürfen.
»Vince Mayrhofer hatte vor einiger Zeit eine Ausstellung in New York und neuerdings hat das Guggenheim in Venedig seine Kreuzigung III angekauft. Also …
Der Preis, lächerliche neunundvierzigtausend Euro für eins, findet vonseiten Schormanns keine Erwähnung, was ein gutes Zeichen ist. Das Prestige, die Gier, die Leidenschaft oder was es auch immer ist, obsiegt.
Womöglich ein guter Schachzug von Armin ihm, Jakob, den Werbe-Job mit Pressefoto überlassen zu haben, für das er sich zwischen die wandfüllenden Gemälde in Position gebracht hatte, jung, gutaussehend und am Puls der Zeit. Der Gegenentwurf für den alttestamentarischen Titel der beiden Großformate. Der Alte ist ein schlauer Fuchs.
2 – Der familiäre Kreis
13. April 2016
Maman dagegen ist nur wenig mehr als ein Aushängeschild mit täglich wechselnden Designs. Bei aller Liebe.
Seit er denken kann, absolviert sie mit klösterlicher Regelmäßigkeit ein geheimes Schönheitsprogramm im Umfang einer Dreißigstundenwoche, in der es nur wenig Platz für einen unauffälligen Sohn mit mittelmäßigen Schulnoten gegeben hatte. In der wenigen Zeit, die sie mit ihm verbracht hatte, war sie in einer erstickenden Weise bemüht gewesen, alle Versäumnisse wieder gutzumachen, wodurch diese Jakob erst recht bewusst wurden, und in einen Zustand andauernder Traurigkeit versetzt hatten.
Der Kitt, der wie eine unauffällige Fugenmasse das zerbrechliche Familiendreieck zusammenhält, ist Eva Kornelius, nunmehr seit vierzehn Jahren.
Dass sie heute, wie dreimal in der Woche, um neun Uhr dreißig bei der Arbeit ist, hört er am fernen Staubsaugersummen, das für ihn Weck-Funktion hat. Rücksichtsvoll trotz einer gewissen Unnachgiebigkeit, beginnt sie in einem der Räume in der ersten Etage, arbeitet sich zu ihm hoch und räumt ihm so eine Schonzeit bis zehn Uhr ein, der Zeit, die seinem Biorhythmus entspricht. Was natürlich keine Gewähr dafür ist, dass er in einer halbwegs aufgeräumten Gemütsverfassung aus den Federn kommt.
Nur mit Pyjama-Shorts bekleidet geht er die breite Treppe hinunter, der kalte Marmor unter seinen Füßen bringt ihn langsam zur Besinnung. In der Eingangshalle schiebt er Lionel mit einer Skrupellosigkeit von der Küchentür weg, die er sich in Anwesenheit von Maman nicht erlaubt hätte. Aber es ist niemand da.
Bis heute ist ihm schleierhaft, was seine Mutter an einer englischen Bulldogge findet. Lionel ist ein phlegmatischer, freundlicher Hund, breitbrüstig und mit einem zuviel an Haut und Speck und somit das blanke Gegenteil vom drahtigen Armin, an dem sich kein Gramm Fett ausmachen lässt, selbst nicht, wenn man ihm zufällig beim Surfen begegnen würde und er nur mit einem Neoprenanzug bekleidet wäre.
Lionels Fellfarbe gibt hundertprozentig das ins Orangefarbene spielende Rostrot der winzigen Sprengsel im Terrazzo-Boden wieder, die zusammen mit den dunkelbraunen und hellbeigen Anteilen eine elegante Kombination ergeben.Helene hatte bei der Renovierung 2008 den venezianischen Bodenbelag fürs ganze Haus gewählt und den noch anzuschaffenden Hund, der sich dekorativ darauf ausstrecken würde, gleich ins Farbkonzept mit einbezogen, wofür sie viertausend Euro hinblätterte; die Fellfarbe des Welpen hatte Seltenheitswert. Armins Reaktion war nicht etwa vorwurfsvoll gewesen –Helene verfügt über ein großzügiges Budget – er hatte ihr lediglich Fortschritte attestiert, was ihren Kunstverstand betraf. Zumindest nähme sie jetzt doch farbliche Unterschiede wahr, wenn auch nicht solche auf Leinwänden befindliche, war der bissige Satz gewesen, der Jakob nicht entgangen war. Obwohl sie tatsächlich nichts von Kunst versteht, hatte er innerlich Partei für seine Mutter ergriffen, vielleicht, weil er spürte, dass sie längst den Kampf gegen Armins verbale und auch sonstige Überlegenheit aufgegeben hatte und sich nicht einmal mehr verteidigte.
Beim Betreten der Küche, fällt ihn das allmorgendliche Verlassenheitsgefühl an, obwohl er nichts anderes als den Anblick seines einsamen Frühstücksgedeckes erwartet hatte.
Der alte englische Esstisch mit den vier Stühlen war einmal für das kleine Frühstück im vielzitierten familiären Kreis angeschafft worden. Er ist alles, was vom familiären Kreis übriggeblieben ist, außer der Erinnerung an die wohlige Empfindung, die Jakob damals bei der Formulierung seines Vaters durchströmt hatte. Wäre er noch hier, wenn nicht irgendetwas in ihm immer noch daran glaubte, dass der familiäre Kreis eines Tages Wirklichkeit werden könnte? Alle Anzeichen sprechen dagegen: Hier sitzt er alleine vor dem reichlich bestückten Brotkorb, dem nicht anzusehen ist, ob ihm Armin oder Helene – natürlich nacheinander – zu früherer Stunde etwas entnommen haben.
Lionel lässt mit einem menschlichen Aufseufzen den Kopf auf seine Vorderpfoten fallen und heftet seine traurigen Bulldoggen-Augen auf Jakob, in der Hoffnung vom Tisch des Herrn einen Brosamen zugeworfen zu bekommen. Aber wie immer: Nichts. Obwohl Jakob neuerdings das schlechte Gewissen plagt. Lionel hat das Lebensdurchschnittsalter einer Englischen Bulldogge überschritten, zusammen mit dem Terrazzoboden wurde er kürzlich acht. Was, wenn er mit einem Gefühl des Nicht-geliebt-werdens seinen letzten feuchten Seufzer tut?
Ausgerechnet neben ihm, Jakob, am einsamen Frühstückstisch?
3 - Freies Künstlerisches Arbeiten
Es ist der Mittwoch nach Beginn des Sommersemesters. Dieses ist sein achtes Semester.
Er sollte sich auf den Weg zur Akademie machen.
Lissy wird seit mindestens einer Stunde ihre Hälfte des gemeinsamen Atelierraumes unter Wasser gesetzt haben, während seine Hälfte im unberührten Weiß der getünchten Wände strahlt.
Vor dem Spiegel im Flur stülpt er sich die schwarze Mütze so über den Kopf, dass seine Stirn frei ist und seine dunklen Haare, die er gewöhnlich im Nacken zusammenbindet, sein Gesicht umrahmen. Ein Selbstportrait könnte ein Schritt heraus aus der künstlerischen Lähmung sein, die ihn seit einem Jahr befallen hat.
Professor Siggi Mandelarzts Ausspruch von neulich fällt ihm ein: Man schaut in den Spiegel und prüft ein paar Dinge. Zur Selbsterkenntnis? fragt er sich jetzt, zur Selbstvergewisserung?
Zum Zwecke des neudeutschen Selbsterfindens? Das hat er nicht gesagt.
Wenn Jakob sich überprüft, siehtalles an ihm aus, als hätte er zu lange darüber nachgedacht, während am Meister die weinrote Cordhose und der elfenbeinerne Pferdekopf an seinem Spazierstock keinen Moment lang wirken, als wären sie nicht angeboren.
Bevor er seinen Werkraum betritt, späht er durch die angelehnte Tür, hört die Stimme von Sága Egilsdóttier, Lissys Professorin für Bildhauerei, Isländerin. Sie steht neben Lissy in deren Hälfte des fünf Meter hohen und fünfzehn Meter langen Atelierraumes, den sie der Länge nach zwischen sich aufgeteilt haben, damit beide vom Fenster an der Kopfseite profitieren. Lissy sitzt im hereinfallenden Licht des späten Vormittags und arbeitet an etwas Einsfünfzighohem mit weichen Rundungen, auf das sie in Abständen einen nassen Lappen niedergehen lässt, so dass die gipsgraue Brühe in alle Richtungen spritzt und Professorin Egilsdóttir zur Seite springt, über das schwarz-gelbe Absperrband hinweg in Jakobs Hälfte, um sich in Sicherheit zu bringen.
»Und wie ist er denn so, der Jakob?« hört er die Egilsdóttir fragen, während Lissy ungerührt ihre gipsverschmierten Hände in einen Eimer taucht und über die kleinere, oberste Kugel gleiten lässt, mit einem zärtlichen Ausdruck im Gesicht, wie er ihn lange nicht mehr an ihr gesehen hat, wenn sie ihre Hände über etwas an ihm gleiten lässt.
»Feinfühlig bis zur Überempfindlichkeit. Ängstlich.«
Die Diagnose kommt wie aus der Pistole geschossen. Es kann hier nicht um ihn gehen.
»Ah. Interessant. Auf mich macht er eher einen lethargischen, um nicht zu sagen faulen Eindruck – oberflächlich gesehen, natürlich …«
Jakob hält den Zeitpunkt für gekommen, diese private Unterhaltung zu beenden, die es so zwischen ihm und seinem Professor niemals geben würde. Er räuspert sich und schlendert, Hände in den Hosentaschen, herein.
»Schwindt«, wendet sich wenig überrascht die Egilsdóttier an ihn und schüttelt Wassertröpfchen von ihrem grauen Arbeitskittel, ihrem anscheinend einzigen Kleidungsstück; Jakob hat sie nie in etwas anderem gesehen, obwohl sie sich in ihrem Prorektorinnen-Büro direkt neben Siggis wohl kaum die Hände schmutzig macht.
»Professor Mandelarzt lässt Ihnen ausrichten, dass Sie sich einen Termin für eine Sprechstunde geben lassen sollen.«, und zu Lissy gewendet, indem sie sie kurz an der Schulter berührt: »Weiter so. Ich sehe, da kommt was.«
Lissy blickt kaum auf, als er sich auf seinem Stuhl niederlässt und den Skizzenblock auf seine Knie legt. Weil er nichts Besseres mit sich anzufangen weiß, lässt er den Stift über das Papier gleiten und vermeidet sie anzusehen, denn eines weiß er: Ihre abwehrende Haltung wird sich verfestigen, wenn er sie sich zum x-ten Male als Modell vornimmt. Lissy will kein Portrait von ihm. Aber was will sie von ihm? Für die Umrisse ihres Gesichtes müsste er nicht einmal aufsehen, er hat sie viele Stunden lang aus nächster Nähe betrachtet, kennt jeden Quadratzentimeter. Manchmal wünscht er sich, ihr Gesicht hätte eine sanftere Linie, der er mit vielen zarten Farb-Schichten leuchtende Sinnlichkeit verleihen würde – falls er sich endlich für die heimliche Anfertigung eines Portraits aufraffen könnte. Aber ihr eckiges Kinn ist wie trotzig vorgeschoben und ihre, nur wenige Zentimeter langen Haare, sind tiefschwarz gefärbt. Im scharfen Kontrast zu ihrem blassen, fast weißen Teint, sucht er weiche Sinnlichkeit vergebens. So kerzengerade, wie sie hiersitzt, ist zwischen ihrem Rücken und der Stuhllehne ein Zehn-Zentimeter-Abstand. Er kann sich nicht erinnern, sie jemals angelehnt oder gar mit hochgelegten Beinen gesehen zu haben. Aber immer noch ist er von ihrer martialischen Ausstrahlung angezogen.
»Was ist? Solltest du nicht ins Sekretariat? Worum geht’s denn?« fragt sie, ohne ihre Arbeit am Oberteil der Figur zu unterbrechen, die aufgrund ihrer Größe und Anzahl der runden Wülste an die Venus von Willendorf erinnert. Am Ende wird sie sicher eine ihrer Figurinen sein, mit denen sie nicht Jemand darstellen möchte, wie sie sagt, sondern ähnlich, wie bei den Putten der Frührenaissance, lediglich ein Gefühl zum Ausdruck bringen möchte . In ihrer letzten Werkphase hatte sie Ausdruck noch realistisch umgesetzt, ihre Giacometti haften Langskulpturen mit einer echsenhaft schuppigen Oberfläche, zeigten im glattgeschmirgelten Gesicht ein eindeutiges Gefühl. Die letzte, eine weibliche Frauenfigur, die von oben herab auf ihre vor der Leibmitte zusammengelegten Hände blickt und an eine Agentin aus Zeiten des Kalten Kriegs erinnert, bewacht in seiner Belétage eine kleine feinziselierte Messing-Schatulle aus Marrakesch – Mitbringsel von Maman – in der er einige Tütchen mit ein paar Gramm Haschisch aufbewahrt.
Damals hatte er Lissys wertvolles Geschenk mit dem Gefühl entgegengenommen, sie überreiche ihm den Schlüssel zur Tür in eine gemeinsame Zukunft, aber gleichzeitig war er vor der Zerbrechlichkeit der Figur zurückgeschreckt, von der er wusste, dass sie nur durch eine dünne Stahlstange im Inneren zusammengehalten wird.
»Schwindt, da sind Sie ja.« Professor Mandelarzt zeigt mit seinem rechten Zeigefinger, auf dem ein Rubin im klarsten Taubenblutrot steckt, auf den Polstersessel, und Jakob folgt dem Aufblitzen des Facettenschliffs vor den Schreibtisch, einem erstaunlich unmodernen Büromöbel aus abgestoßenem Ahornholz, ein Anachronismus zu allem in diesem Raum, einschließlich zum Meister selbst.
»Wie läuft`s?« fragt Siggi jovial, lehnt sich zurück und schlägt die Beine übereinander, seine rechte Hand streichelt den Pferdekopfgriff seines Spazierstocks, aber seine Augen sind prüfende Schlitze.
»In der Galerie? Gut. Es gibt einen Käufer für die Kreuzigungen, ich gehe davon aus, dass er heute zusagt.«
»Freut mich. Für Ihren Vater und natürlich für Vince Mayrhofer. Gratulation. Richten Sie es beiden aus.«
«Mach` ich gern.«
»Was halten Sie von den Bildern?«
Jakob überrascht die Frage. Angesichts der überwiegend informellen Werke in derGalerie, verfolgt er die Strategie, das, was er sieht, in einem neutralen, sachlichen Ton so minutiös zu beschreiben, dass der Kunde in neunundneunzig Prozent aller Fälle darüber vergisst, was er ursprünglich hören wollte: Eine Interpretation. Aber Jakob hütet sich vor Spekulationen über mögliche Absichten und Vorstellungen des Künstlers.
»Ich kenne die Räumlichkeiten nicht, in denen sie zukünftig hängen werden, keine privaten jedenfalls – soviel ich weiß, im Foyer des neuen Florence-Nightingale-Centers in Kaiserswerth, in dem Verwaltungs-und Architekturbüros sein sollen. Ein großzügiger Bau, angeblich mit viel Glas und viel Licht von oben …
»Schön. Soviel zur Unterbringung der Bilder. Ich kenne von Vince natürlich die Kreuzigung III, sie war ja in allen Medien – aber wie sind I und II?«
»Nun ja. Nummer I zeigt Holz oder Holzähnliches. Die ganze Palette holziger Farbtöne von Grau bis Ocker über tiefstes Braunschwarz an balkenartigen gleichlangen, gleichdicken Formen, die wie zufällig, etwa wie bei einem Mikadospiel, übereinander geworfen daliegen. Auf reinweißem Untergrund. Nummer Zwei ist ganz anders, da hat er sozusagen pointilistisch gearbeitet. Thema: Rot. Vom blassesten Rosé bis zum dunkelsten Purpur unterschiedlich geformte Punkte dicht nebeneinander über die ganze Fläche. Keine Hintergrundfarbe sichtbar. Ich würde sagen, ziemlich eindrucksvoll auf die Größe.«
»Hm.«
In Jakob steigt Ärger auf.
»Sehen Sie, ich verkaufelediglich die Bilder …Wenn ich sie nicht wertschätzen würde – und zwar nicht nur in geschäftlicher Hinsicht – gelänge mir das wohl nicht. Ich selbst male anders, wie Sie wissen.«
»Da sind wir beim Punkt. Gut, dass Sie es von sich aus ansprechen. Ich habe lange nichts von Ihnen gesehen. Genau genommen seit einem Jahr. Ihre letzten Arbeiten in der Semester-Ausstellung von Ende Februar 2015, zusammen mit den Objekten von Elisabeth Engelhard, Klasse Egilsdóttier, richtig?«
Er ist verdammt gut informiert, die Fragerei rein rhetorisch, die Akte vom Prüfungsamt mit seinem Namen liegt rechts von seiner Rubinhand auf dem Schreibtisch und verdeckt zur Hälfte das Mouse-Pad mit Botticellis Simonetta Vespucci.
»Das ist richtig. Das waren zwei größere Arbeiten, Rasenstück, aus der Erde gesehen und
Sella mit Piz Boè. Beides Öl auf Leinwand. Sie standen im thematischen Kontext Natur und Kreatur mit den Figurinen von Frau Engelhard, was ein ideales Gesamtkonzept war. Danach hatte ich zugegebenermaßen eine Art Flaute, habe vor allem gezeichnet, Entwürfe und Skizzen gemacht … es gibt ein paar Blätter … aber nichts Größeres.«
»Sie ahnen, worauf ich hinauswill. Ihre beiden letzten Semester sind in Sicht. Dieses ist Ihr achtes – in weniger als einem Jahr ist Ihre Künstlerische Abschlussarbeit fällig. Sie haben genau noch dieses Sommersemester für den theoretischen Teil …Also, worüber möchten Sie schreiben? Was ist Ihr Thema?«
Am liebsten würde ich der Akademie auf der Stelle den Rücken zukehren, liegt Jakob auf der Zunge, denn damit wäre das leidige Gedankenspiel Akademie versus Galerie mit einem Schlag entschieden. Mit einem abgebrochenen Studium könnte ich leben. Es wäre vielleicht ganz in Lissys Sinne. Mit mir als Galerist und Verdiener hätte sie sorgenfreies Arbeiten und ich wäre nicht länger ihr inspirationsbedürftiges Anhängsel, als das sie mich empfindet.
»Ich denke an die Frührenaissance«, hört Jakob sich sagen, «der Beginn der Landschaftsmalerei, oder lieber noch: Das Portrait. Das Neue in der Malerei um 1500, ihr Ausdruck, ihre Seele.«
»Oha.«
So ironisch das geklungen haben mag, so aufmerksam ist plötzlich Siggis Blick.
»Back to the roots. Ich erinnere mich an Ihre Bewerbungsmappe und warum ich Sie in meiner Klasse haben wollte. Ich will den Ausdruck beseelt nicht überstrapazieren – sagen wir, ich habe Ihre Arbeiten anrührend gefunden. Dachschindeln auf einer Bauernkate – es war eine Zeichnung, die ich noch genau vor mir sehe. Aber dann ging über die Jahre etwas verloren, oder auch nur unter …Es ist müßig, jetzt darüber nachzudenken …
Ich mache einen Vorschlag: Giorgione.Das Leben des … oder etwas in der Art. Formulieren Sie ein vernünftiges Thema und reichen Sie es ein. Bis morgen zwölf Uhr. Frau Hochhuth vom Prüfungsamt ist unerbittlich, aber damit sage ich Ihnen nichts Neues.«
Siggi lächelt freundlich und macht eine winzige Kinnbewegung zur Tür hin.
Jakob steht auf, um sich zu verabschieden, da wird ihm flau. Ihm ist, als befänden sich seine Innereien auf einer rasenden Talfahrt. Das ist kein Hunger, sagt er sich, ich habe ja gefrühstückt.
Das ist Angst.
4 - Herzen
»Ah, Herzchen! Wie schön! «
Helene mustert ihn aus der Sitzlandschaft heraus mit einem prüfenden Blick, soweit er von hier aus sehen kann. Seit er erkannt hatte, dass der Kosename eine der wenigen Konstanten in seinem Leben ist, kämpfte er seinen Protest nieder, wechselte aber rachehalber vom kindlichen Mama zum distanzierteren Maman, was sie, einfältig wie sie ist, nicht kränkt, sondern ihr besonders zu schmeicheln scheint.
Noch ist er unentschlossen, ob er durch die Flügeltür treten soll, die den Wohnbereich vom Entrée trennt, wie sie die kleine Eingangshalle gerne nennt. Unweigerlich würde er sich einer Befragung aussetzen, der er sich jetzt nicht gewachsen fühlt.
»Wir könnten brunchen«, ruft sie mit ungewohnter Munterkeit, »oder bist du schon verabredet? By the way: Wie geht`s Lissy? Hab` sie lange nicht gesehen.«
Sie klopft auffordernd auf das Polster neben sich; nur grobe Unhöflichkeit könnte ihm zur Flucht verhelfen, er will sich schon geschlagen geben, da fühlt Lionel sich von ihrem Klopfen angesprochen und wagt einen Sprung hinauf, erschöpft lässt er seinen Kopf auf Helenes hochgezogene Beine fallen. Sabber tropft von seinen Lefzen auf ihre Anzughose. Sie macht den Eindruck, als säße sie hier ausgehbereit, obwohl sie mit seinem Auftauchen um diese Zeit nicht rechnen konnte.
»Gib mir eine halbe Stunde, Maman, ja? Worauf hast du denn Lust … vielleicht auf Georgina`s?«
Umgehend jagt sie den Hund hoch und kommt ihm mit leichtem Schritt entgegen.
»Georgina`s ist eine hervorragende Idee, hoffentlich ist sie da. Seit sie Charly eingestellt hat, überlässt sie alles ihm … Jedenfalls freue ich mich, dass du dir Zeit für mich nimmst.«
Falls in dem Zusatz eine winzige Anklage mitgeschwungen haben sollte, überhört er sie und nimmt sie, einen inneren Widerstand überwindend, kurz in den Arm, kann aber nicht verhindern, dass sie ihm einen Kuss auf die Wange drückt. In seinem Bad in der Belétage schrubbt er ihren Lippenstift mit einem Waschlappen ab.
Helenes Euphorie verfliegt augenblicklich, als Charly ihr bedauernd auseinandersetzt, dass die Chefin heute nicht anwesend ist, er aber alles Menschenmögliche tun wird, um Madam die Freundin zu ersetzen.
Schon als Charly sich wenige Minuten später mit zwei Proseccogläsern ihrem Zweiertischchen nähert, scheint Helene die Abwesenheit ihrer Freundin Georgina verwunden zu haben; sie fährt sich mit gerecktem, halbentblößtem Arm und nach hinten geworfenem Kopf über die im Nacken hochgekämmten, zu einem roten Lockenbusch zusammengesteckten Haare und verharrt zwei, drei Sekunden - zu lang, um nicht den Eindruck einer älteren, auf Komplimente angewiesenen Frau zu erwecken. Aber Charly ist ein Profi und reagiert galant, Helene schenkt ihm einen anzüglichen Blick; Jakob wird es ihm mit einem großzügigen Trinkgeld danken.
Während er ohne Appetit in seinem Caesarssalad stochert und Helene überdreht, zwischen zwei Fragen, deren Antworten sie nicht abwartet, Charly heranwinkt und ein zweites Glas Wein bestellt, sieht Jakob draußen seinen Vater vorbeigehen.
Er ist nicht allein, neben ihm läuft Maxim.
Jakob erkennt den Freund an seinem knöchellangen grünen Lodenmantel und dem lebhaften, für ihn typischen Gestikulieren. Mit einer Hand die Augen beschattend, späht Maxim jetzt durch die Fensterscheibe, als wolle er prüfen, ob es in Geogina`s Diner noch freie Plätze gibt. Er scheint ihn und Helene nicht gesehen zu haben, denn Sekunden später hört Jakob seinen Vater hinter dem schweren Wollvorhang vor der Drehtür lachen. Maxim lässt Armin den Vortritt, der schaut sich nach der Chefin um. Augenblicklich eilt Charly herbei, begrüßt ihn, nimmt ihm den Mantel ab, zeigt keine Reaktion in seine, Jakobs Richtung. Neutralität scheint eine der Eigenschaften zu sein, die Georgina an ihm schätzt.
Er und Maman sitzen in der hintersten Ecke des nicht allzu großen Raumes, haben drei Tische an der Fensterwand vor sich, alle besetzt; ein unbestimmtes Gefühl lässt Jakob hoffen, dass Charly seinen Vater und Maxim auf die Galerie hinaufkomplimentiert und ihnen dort einen Platz anbietet. Aber da sieht Maxim zu ihm hin, erst überrascht, dann unsicher lächelnd. Armin folgt Maxims Blick und seine eben noch heiteren Gesichtszüge verfinstern sich von einer Sekunde auf die andere, er hält kurz inne, macht dann eine kleine Handbewegung hin zu Charly und sagt mit unbewegter Miene etwas zu Maxim; der setzt ein künstliches Lächeln auf.
Jakob fällt eine Situation von neulich im Stadtpark ein, als er plötzlich die Gleichzeitigkeit von Bewegungen mehrerer ihn umgebender Personen wahrgenommen hatte: Die Hand eines Mannes auf dem Kopf seines Hundes, die winkende Hand eines Mädchens mit Schulranzen und die Hand eines Greises mit Stock, der einer lärmenden Schülergruppe Einhalt gebietet.
Jakob hatte drei, wie durch einen Lichteinfall hervorgehobene Hände gesehen, eine Szene, wie von Rembrandt gemalt. So sieht er jetzt sich selbst, Helene und Armin, heraustretend aus dem sich in nebeligem Dunst auflösenden noblen Ambiente des Diners.
Aber da ist noch Maxim. Unerklärlicherweise.
Er ist sein Freund. Sein einziger seit der Schulzeit.
»Wir haben uns zufällig getroffen!« sagt Armin und beugt sich kurz zu seiner Frau hinunter, die seinen, zu einem Kuss gespitzten Lippen, nicht entgegenkommt. Ohne den Blick von ihrem Glas zu wenden, sagt sie: »Das ist wirklich ein Zufall.« und es klingt so kühl und gleichgültig, als glaube sie ihrem Mann schon längst kein Wort mehr. Maxim berührt Jakob an der Schulter.
»He, Jo.«
»Maxim, mein Freund.«
Jakob hofft, sein Gesicht zeigt den Ausdruck von Normalität, aber dann kann er keine Minute länger hier sitzenbleiben. Will er Armin seinen Platz anbieten oder will er nur Maxim entkommen, dessen Nähe ihm plötzlich so unangenehm ist, wie die körperliche Berührung eines Wildfremden?
Es ist keine eineinhalb Stunden her, dass sie vor dem Akademieportal zufällig aufeinandergetroffen waren. Er, Jakob, aufgewühlt nach seinem Termin bei Siggi, Maxim, mit gesenktem Kopf, das Handy am Ohr, auf und ab gehend, rauchend. Als er Jakob auf sich zukommen sah, hatte er das Gespräch sofort beendet, und sie tauschten in der Mittagssonne stehend ein paar Belanglosigkeiten aus; Maxim wirkte geistesabwesend.
Kein Wunder, hatte Jakob gedacht, er steht kurz vor der Präsentation seiner Abschluss-Installation; ich möchte mir gar nicht vorstellen, wo ich meinen Kopf habe, wenn ich an dem Punkt angekommen sein werde. Deshalb erwähnte er Siggi und seine Abschlussarbeit gar nicht erst, und sie hatten sich mit einer männlichen Umarmung getrennt. Trotzdem ist es untypisch für Maxim, dass er seine Verabredung mit Armin einfach vergessen haben sollte. Jakob kennt ihn seit achtzehn Jahren, wie man einen Bruder kennt – er weiß, Maxim ist ein Ausbund an überwacher Intelligenz, strukturiert und organisiert, das Gegenteil von ihm, weshalb dieses Nichterwähnen ein bewusstes Verschweigen gewesen sein muss.
»Und nun?« fragt Armin so unternehmungslustig, als gälte es eine narkotisierte Gesellschaft wiederzubeleben, »Paartausch, oder Tischtausch?«
Angriff ist die beste Verteidigung, denkt Jakob, ohne allerdings den Strafbestand zu kennen. Er sieht auf seine Uhr.
»Ich bin gleich in der Galerie mit einem Kunden verabredet, also – ich bin sozusagen fast schon weg. Maman – wenn ich dich vorher nach Hause begleiten soll, könnten die beiden unseren Tisch übernehmen.«
»Nettes Angebot, Sohn«, schaltet sich Armin ein. »Aber danke, du hast frei. Da ich nicht ins Büro muss, werde ich deinen Termin in der Galerie übernehmen … Iss du doch erst in Ruhe zuende, Maxim und ich nehmen inzwischen unseren Prosecco an der Theke.«
Helene trinkt ihren zweiten Riesling in einem Zug aus, während Maxim sich mit seinem iPhone wegdreht und es so aussieht, als höre er Anrufe ab, aber schon wird er von Armin zur Theke mitgezogen, ohne gefragt worden zu sein.
Armin hat was von einem Mafioso, denkt Jakob, das dominante Gebaren, der superteure Anzug – eine gefährlich wirkende Melange.
Auf dem Nachhauseweg, die wenigen Gehminuten durch die Altstadt, trippelt Maman schweigend neben ihm her. Höchstwahrscheinlich ist sie damit beschäftigt, ihre Ahnungslosigkeit über das Kommen und Gehen ihres Gatten in etwas Erträgliches umzuwandeln, wie Unabhängigkeit einer modernen offenen Ehe. Falls Helene in irgendetwas eingeweiht sein sollte, das Maxims zufälliges Auftauchen erklären würde, so wirkt sie glaubhaft unschuldig. Falls sie aber doch etwas weiß und vor ihm, ihrem Sohn, verschweigt, würde sie sich bei Nachfragen auf ihre Loyalität zu Armin berufen, ob der sie nun verdient hat oder nicht. Loyalität ihrem Mann gegenüber ist ihr letztes Sicherheitsnetz, so traurig das ist. Gut möglich, dass auch Lissy über ihn, Jakob, als Sicherheitsnetz nachdenkt und ihn längst schon so manipuliert, dass er glaubt, die Versorger-Idee sei auf seinem eigenen Mist gewachsen.
»Merkwürdiges Zusammentreffen gerade«, sagt er zu Helene, »findest du nicht auch?«
»Ach was.« Helene zögert eine Sekunde zu lang. »Purer Zufall, Herzchen.« ergänzt sie, ohne den Blick von ihren marsalaroten Pumps zu heben.
5 - Elisabeth
In der Belétage genehmigt Jakob sich einen Drink.
Es ist kurz nach drei. Die Nachmittagssonne steht voll auf dem Panoramafenster, im Zimmer ist es sehr warm; er betätigt den Automatikknopf der Markise und lässt sie über die Hälfte der zehn Meter langen Fensterfront ausfahren. Den Raum erfüllt ein mildes Licht; die weiß-gelbe Streifenvariante war eine richtige Entscheidung, wie überhaupt die ganze Markise. Die monatelange Auseinandersetzung mit dem Denkmalschutzamt hat sich gelohnt. Helene wollte schon klein beigeben, aber schließlich hat er sich durchsetzen können, argumentativ und kämpferisch wie nie sonst.
Dass er sich Lissy gegenüber ebenso entschlossen zeigen kann, falls er es fertigbringt sie gleich anzurufen, bezweifelt er. Warum meint er, ihre Beziehung plötzlich unter die Lupe nehmen zu müssen? Er will Klarheit. Aber worin weiß er nicht. Muss er was voranbringen? Und was genau? Ist diese vage Empfindung das Risiko wert, womöglich weitreichende Fakten zu schaffen?
Auf dem Sofa ausgestreckt, lässt er den Cognac im Glas kreisen und starrt sein Smartphone neben sich auf dem Teeschränkchen an. Die wertvollen Erstausgaben hinter dem Glas stehen gut sichtbar ganz vorne. Die englische Ausgabe von Cennino Cenninis Il Libro dell`Arte und Charles Eastlake`s Materials for the History of Oil Paintings von 1847 hatte, wie erhofft, Lissy bei ihrem ersten Besuch vor etwas weniger als zwei Jahren tief beeindruckt. Er musste sie erst auffordern, die Bände in die Hand zu nehmen. Auch von ihm war sie beeindruckt gewesen, das war keine Einbildung.
Nach dem ersten Abend aber war ihm klar, dass es mit seiner Frauenkenntnis nicht weit her war; er hatte Lissy als zurückhaltend und vorsichtig eingeschätzt, besonders in sexueller Hinsicht. Dann aber – und es war ganz sicher kein Alkohol im Spiel gewesen – waren sie gleich im Bett gelandet. Er weiß nur noch, dass sein Schlafraum am nächsten Morgen Spuren einer orgiastischen Verwüstung zeigte, an die er sich – mit einer einzigen Ausnahme – kaum erinnern konnte: Lediglich der überraschende Anblick ihrer radikal rasierten Scham, die er sich in seiner Fantasie als schwarzes, wildes Dreieck auf ihrer blassen Haut vorgestellt hatte, war ihm verhaftet geblieben. Weitere Details ihrer intimen Vereinigung waren wie ausgelöscht. Zunächst hatte er das für ein Zeichen totaler emotionaler und körperlicher Hingabe gehalten. Aber dann erinnerte er sich doch daran, wie er erschöpft dalag und zufriedene Blicke über seinen akzeptablen Körper mit der dunklen, nicht zu üppigen, aber auch nicht zu dürftigen Behaarung an den richtigen Stellen wandern ließ, während sie gleich unter der Dusche verschwunden war. Das tut nur eine Frau, die keine Freude an mir hat, hatte er da gedacht.
Von der Verunsicherung war er wie vergiftet gewesen, und sie hatte sich mit jedem Zusammentreffen gesteigert. Lissy löste Gefühle in ihm aus, die ihn an seine Pubertätsjahre erinnerten, in denen er sich sein eigenes Spiegelbild nicht zugemutet hatte.
Am liebsten hätte er das Rad ihrer Beziehung zurückgedreht und an einem früheren Zeitpunkt nochmal mit ihr angefangen, aber es zeigte sich, dass sie nicht nur mit dem Aussehen ihres Intimbereichs radikal vorging: Seine zaghaften Vorschläge, die folgenden Verabredungen in Cafébesuche und Spaziergänge am Rheinufer umzuwandeln, um sich langsam tastend aneinander anzunähern, überhörte sie kommentarlos.
Zwar hatte sich an ihrem sachlichen, scheinbar emotionslosen Umgang in der Akademie nichts geändert, aber außerhalb dieser alten Mauern schien Lissy wie verwandelt, überraschte ihn mit unangemeldeten Besuchen zuhause und überschüttete ihn mit Anrufen und SMS, die ihn in Aufruhr versetzten. Lange konnte er nicht glauben, dass ihr Liebeswerben wirklich ihm galt; niemals hatte ihn jemand so begehrt.
Eines Morgens fand er sie in der Küche vor, wo sie plaudernd mit Helene saß und an einem Espresso nippte.
»Ich hatte ja keine Ahnung, dass du so lange schläfst – eigentlich wollte ich dich mit Frühstück überraschen!« hatte sie ihm hellwach entgegengerufen und dabei auf eine pralle Brötchentüte gezeigt, und Helene hatte »Ist sie nicht reizend?« gesagt und begeistert ausgesehen. Reizend trifft es nicht, hatte er damals gedacht. Er fand sie auf eine gefährliche Art faszinierend. Als würde sie sich langsam Stück für Stück von ihm einverleiben, bis er ganz in ihr verschwunden wäre. Trotzdem konnte er jeden Tag weniger auf sie verzichten.
Mit Lissys Zuwendung war ganz klar eine Aufwertung seiner Person verbunden gewesen. Armin, der nie Fragen stellte, tat dies auch jetzt nicht, spitzte aber merklich interessiert die Ohren, wenn ihr Name fiel. In den Augen seiner Mutter schien Jakob von einem Tag auf den anderen zum Mann gereift. Es war schon merkwürdig, dass Helene nicht das kleinste bisschen Eifersucht zeigte.
Im Gegenteil. Die Begeisterung seiner Mutter über den sogenannten Familienzuwachs hatte sie sogar in seine und Lissys gemeinsame Semester-Abschluss-Ausstellung getrieben. Es war das erste und einzige Mal, dass sie seine Arbeiten sah, denn danach kam seine Flaute.
Über Lissys Kreaturen-Armee war Helene lautstark ins Schwärmen geraten. Aus Angst vor dem, was ihm und allen Besuchern im Raum aus dem Mund seiner Mutter hätte zu Ohren kommen können, hatte Jakob darauf verzichtet, sie über ihre Meinung nach seinem Rasenstück von unten gesehen und Sellamit Pitz Boè zu befragen. Von der allgemeinen Euphorie der Besucher hatte er sich schließlich im Stillen ein Großteil selbst zugeschrieben, es waren ja auch seine Bilder, die das Gesamtkunstwerk ausmachten, das mit Ausgezeichnet bewertet worden war.
Dem Drang, sich ein zweites Glas einzuschenken, widersteht er und ruft stattdessen Lissys Nummer auf. Das Display zeigt ihr Foto mit helmartig geschnittenen, blauschwarzen Haaren über eckigen Wangenknochen, doch ihr Lächeln mildert den Eindruck von Härte, den er anfangs außergewöhnlich faszinierend gefunden hatte. Mit seiner Bewunderung für ihre Erscheinung war er nicht der Einzige gewesen. Aber sie erwählte ihn und automatisch schien etwas von der Aufmerksamkeit, die ihre Kommilitonen ihr entgegenbrachten, auf ihn übergegangen zu sein.
Als sie sich zum ersten Mal als Paar mit Maxim verabredet hatten, war dieser sekundenlang sprachlos gewesen. Das offensichtliche Erstaunen in seinem Blick hatte Jakob als demütigend empfunden.
Gerade will er auf den grünen Hörer drücken, da wechselt das Display, ihr Foto verschwindet, ihr Name erscheint und sein Telefon klingelt mit einem absteigenden Dreiklang, dessen tiefster Ton ihm immer etwas zu tief vorkommt. Lissys Klingelton.
»Bist du zuhause?« fragt sie, »Ich stehe quasi vor der Tür.«
»Klar. Komm hoch.«, sagt er leichthin, als stünde ihm eines ihrer gemütlichen Teestündchen bevor und nicht ein Gespräch, das möglicherweise über ihre gemeinsame Zukunft entscheidet. Falls er es schafft, die Sprache drauf zu bringen. Als er auf den Türöffner drückt, erschreckt ihn der Gedanke, dass dieser Überfall möglicherweise ihr letzter sein könnte, wenn alles ganz schlecht läuft.
Lissy sieht erhitzt aus, sie muss die Treppen im Laufschritt genommen haben, gefolgt von Lionel, der aber die letzten zehn Stufen scheut und sich unter heftigem Schnaufen auf dem Absatz fallenlässt. Jakob schließt die Tür vor seinem sehnsüchtigen Blick.
»Was kann ich dir anbieten - Wasser? Tee? Kaffee? Was Stärkeres?« fragt er förmlich, als wäre er Winston Churchill, der überraschenderweise von der Queen aufgesucht wird und nicht Teil eines Liebespaares, das sie seit zwei Jahren sind. Ganz klar schockiert ihn ihre plötzliche Gegenwart, aber er bemerkt doch, dass sie es eilig hat, sie hat ihren Trenchcoat nicht abgelegt und setzt sich auch nicht wie sonst in den kleinen Sessel, der dem Sofa gegenübersteht.
»Ich hätte Kuchen besorgt, wenn du heute Morgen einen Ton gesagt hättest.«
»Heute Morgen wusste ich selbst noch nicht, dass ich vorbeikommen würde – weißt du – es hat sich was ergeben … in meinem Kopf – vielleicht auch längst schon in meinem Herzen. Um es kurz zu machen: Durch Sága ist mir plötzlich klargeworden: Wir sollten uns eine Pause gönnen. Ich brauche Raum.«
Das sagt sie atemlos und im Stehen.
Im Gegenlicht sieht sie aus, wie mit Weichzeichner gemalt; die Sonne umhüllt ihre Konturen mit einem leichten Sfumato, wie man es von Madonnenbildern kennt. So schön ist sie ihm im wahrsten Sinne des Wortes noch nie erschienen.
Fokussiere dich! ermahnt er sich und setzt sich, greift unwillkürlich zum leeren Cognacglas und stellt es wieder ab. Lissy, hypersensibel und mit einem ausgeprägten Sinn für seelische Befindlichkeiten, hat seinen Entschluss, eine, wenn auch noch ziemlich unkonkrete Entscheidung herbeiführen zu wollen, längst gespürt. Aber so hat er sich das nicht vorgestellt.
Dass sie ihm zuvor kommt, kann er nicht akzeptieren. Um die Fäden in der Hand zu behalten muss er Zeit gewinnen.
Ob sie etwa einen eigenen Werkraum wolle? fragt er heuchlerisch. Kein Problem! Siggi hätte ihm bezüglich seiner Arbeit ein Ultimatum gestellt, er müsse liefern, schon morgen, was eine semesterlange Recherche bedeute, eventuell auch im Ausland. Demnach könne sie also den Raum für sich alleine haben und zwar im realen, wie auch metaphysischen Sinne …
Er überschlägt sich geradezu, redet sich in eine Hitze hinein, während Lissy sich nun doch, aber mit einem Ausdruck völliger Resignation in den kleinen Sessel setzt und auf ihre im Schoß liegenden Hände blickt, als wäre längst schon alles entschieden und nur er hätte die Aussichtslosigkeit der Lage noch nicht begriffen.
»So einfach ist das nicht, Jakob.« sagt sie und hebt den Blick.
»Mit dir habe ich das Gefühl – ich kann es nicht anders ausdrücken – dass ich mich in unserer Beziehung nicht weiterentwickeln kann. Das meine ich nicht nur künstlerisch gesehen – dafür bist du nur zum Teil verantwortlich. Nein. Aber ich glaube, du bist die Ursache dafür, dass ich meine Fähigkeiten auf Dauer nicht richtig ausschöpfen kann. Mit einem Wort – verzeih mir, das klingt jetzt hart – aber du lähmst mich, anstatt mich zu inspirieren. Mit dir kann ich nicht die werden, die ich bin … wenn du verstehst, was ich damit meine. Ich möchte am Ende meines Lebens sagen können, dass die Grenzen, an die ich künstlerisch gestoßen bin, meine ureigenen, selbst gesetzten Grenzen sind und nicht solche, die mir von außen aufgezwungen wurden …wie es dein blockierender Einfluss tut. Du bremst meine Entwicklung aus, Jakob. Damit kann ich nicht weiterleben.«
Sie holt tief Luft. Er ist wie vor den Kopf geschlagen.
Gut, denkt er, sie nimmt mir die unangenehme Aussprache ab. Falsch. Wie immer fällt sie die Entscheidungen für mich! Vielleicht eine Angewohnheit, die sich aufgrund meiner Bequemlichkeit eingeschlichen hat. Bis auf ein einziges Mal. Da hatte er sich ihr total verweigert; die Sprache war auf Kinder gekommen. Jetzt bereut er seine Absage zutiefst. Damals hatte er sich überhaupt nicht als Galerist und Versorger gesehen. Warum eigentlich nicht? Einfache Antwort: Der Maler Jakob von Schwindt war doch von Anfang an eine Utopie gewesen. Wie hatte er nur so hoffnungslos realitätsfern sein können. Maxim hatte ihn gewarnt: Das Tafelbild hat keine Zukunft!
Und er hat keine ohne Lissy. Das sieht er in diesem Augenblick lebensbedrohlich scharf.
»Verstehe. Du hast dir deine Zukunft anders vorgestellt. Ich frage mich gerade, ob ich darin gar nicht vorkomme oder nur nicht als der, der ich im Moment bin. Einfach gefragt: Was wäre, wenn ich mich für die Galerie entscheiden würde? Wir könnten Kinder haben, du könntest arbeiten, alle wären versorgt.«
Kaum ausgesprochen, ist das unsittliche Angebot in der Welt. Damals hatte sie es haargenau so formuliert.
»Das also hältst du von mir!« ruft sie empört aus, aber er spürt, sie ist verunsichert, sie wird versuchen, sich zu rechtfertigen, er braucht nur zu schweigen und abzuwarten.
»Falls ich jemals was in der Richtung gesagt haben sollte – die Zeiten sind vorbei. Ich sehe mich jetzt ganz anders. Ich habe mich verändert, und du solltest endlich auch damit anfangen … Ich will nicht verantwortlich dafür sein, dass du nichts aus dir machst. Was ist denn mit deiner Malerei, was ist denn mit deinem Studium? Du solltest endlich mal mit der Arbeit anfangen. Ach …, sie hebt resigniert die Hände, »ich bin einfach nicht die Richtige für dich.«
»Sei ehrlich: Umgekehrt wird ein Schuh draus.«
Sie schweigt. Soviel Zuneigung ist wohl immer noch da, dass sie diese Wahrheit nicht laut bestätigen will. Aber sie steht auf und schlägt ihm vor, nun doch etwas zusammen zu trinken.
Er nimmt das Angebot an. Ein letztes Glas, denkt er verzweifelt und im selben Augenblick, dass er in letzter Zeit immer schnell bei der Hand ist, wenn es ums Trinken geht. Das wird sich absehbar noch steigern.
Wir brauchen einePause, hat sie eingangs gesagt.
Aber so, wie sie etwas später die Tür hinter sich ins Schloss fallen lässt, weiß er, es ist für immer.
6 - Sonnen-Untergänge
Maxim nimmt seinen Anruf nicht an, die Mailbox auch nicht, der Festnetzanschluss klingelt vergeblich, unwahrscheinlich, dass er zuhause ist.
Jakob würde es jetzt helfen, wenn er ein paar Worte mit ihm reden könnte, oder sie beide einfach nur stumm nebeneinander säßen, Maxim rauchend, er mit einem Glas Cardinal, oder auch nur Weißwein. Sie würden in dieselbe Richtung auf den Rhein blicken, von dem von hieraus nur ein schmaler Streifen unter einem weiten Himmel sichtbar ist. Alleine hier zu sitzen, dem Untergehen der Sonne zuzusehen und im diffusen Licht wie in einem sich verdichtenden Nebel zu versinken, ist wie ein Untergang ohne jede Hoffnung auf eine rettende Hand. Ein desolater Zustand. Er fragt sich, ob er noch länger auf Maxim als seine rettende Hand setzen kann. Seinen ihm zugedrehten Rücken im Diner hatte er für einen Moment als Zurückweisung empfunden, dabei war von Anfang an das Gegenteil die Basis ihrer jahrzehntelangen Freundschaft: Jakob hatte sich von Maxim angenommen gefühlt, seit dieser am ersten Schultag seinen Ranzen unter ihr gemeinsames Pult geschoben hatte.
Vor dem flamingofarbenen Schein der untergegangenen Sonne fließen blassblaue Streifen über in ein lichtes Grau vor Pfingstrosen-Rot; ein Frühlings-Abendhimmel über die ganze Fensterfront mit Farben, für die es keine Namen gibt.
Kein einziger von Helenes zahllosen Sonnenuntergängen hatte dieses durchsichtige Grau, dieses zarte Rosé, sie beleidigten ausnahmslos seine Augen durch ein gemeines Rot-Orange-Gelb. Helene schickte Fotos aus Malta, Kairo, Marokko, von den Malediven, Polynesien. Sie waren austauschbar in ihrer touristischen Ansicht und Aussage und ihrer immer gleichen Botschaft, Helenes unerschütterlichen Versuchen mütterlicher Einflussnahme: »Diese Sonnenuntergänge, Herzchen! Sind sie nicht eine einzige Inspiration? Ich wünschte, ich könnte irgendetwas tun, damit diese von mir auf dich übergeht …«
»Inspiration wozu, Maman?«, hatte er sie einmal gefragt und bösartig hinzugefügt: »Und was genau folgt bei dir auf diese göttliche Eingebung?«
Was ist mit der Expiration, dem Hervorbringen des kreativen Impulses in Form irgendeiner Sichtbarmachung?
Mich, Maman, inspirieren deine Fotos zum Wegwerfen, hätte er ihr am liebsten sagen wollen, aber geschrieben hat er ihr ins südliche Domizil:
»Helene, danke. Aber mach Dir bitte keine Mühe mehr. Ist einfach nicht mein Sujet.«
Dann hatte er alle Sonnenuntergänge gelöscht und mit ihrem Verschwinden im virtuellen Papierkorb auf einmal die Antwort gewusst: Die Sonnenuntergänge inspirieren seine Mutter zum nackten Weiterleben.
Genaugenommen hatte er sie nie etwas annähernd Künstlerisches, noch nicht einmal Handwerkliches, herstellen sehen. Weder hatte sie jemals einen Origami-Vogel für ihn gefaltet, noch in einem Nachmittags-Kurs für Kindergarten-Mütter Teeglas-Untersetzer aus Makramé geflochten. Sie kann nicht stricken und nicht singen.
Er fragt sich nicht zum ersten Mal, wie es zu seinem leidlichen Talent fürs Malen kommen konnte; in den Ahnentafeln seiner Vorfahren ist jedenfalls nichts davon zu entdecken.
Manchmal aber fallen Begabungen wie aus dem Nichts vom Himmel und dann gibt es einen Ersten in der Familie, dessen überragendes Talent geniale Züge hat. Wenn er drauf und dran ist zum Trinker zu werden, dann, weil er glaubt, dass er seine Ambitionen, aufgrund derer er sich sogar zu einem Kunststudium verstiegen hat, ausschließlich den nimmermüden Einflüsterungen seiner Eltern verdankt, die sich nichts anderes als künstlerisch begabten Nachwuchs vorstellen konnten.
Folglich hatte er sich eingebildet, zumindest als Galerist seinem Vater das Wasser reichen zu können; aufgrund eines erfolgreich absolvierten Studiums würde er ihm die nötige Kompetenz entgegensetzen. Auf künstlerischem Gebiet ist sein Vater Autodidakt, also kaum mehr als ein begeisterter Laie.
Aber bei Armin heißt das nichts.
Das Transparente am Himmel genauso auf die Leinwand zu bringen, wäre eine Herausforderung. Aber bei der bloßen Vorstellung, aufzustehen, um eine entsprechende Leinwand aus dem Schrank zu holen, erschlafft der Impuls und die Idee erscheint ihm absurd.
Er trinkt sein Glas leer und drückt ein letztes Mal die Wahlwiederholung von Maxims Festnetzanschluss. Magalie nimmt ab.
Wie immer löst schon ihr Hallo bei ihm ein inneres Zurückweichen aus. Selbst diese zwei Silben klingen geisterhaft ausdruckslos und, obwohl er Magalie nun schon seit etwas mehr als zwei Jahren kennt, befremdet ihn diese leise Stimme, die ihm eine sonderbare Distanz suggeriert, als wolle sie ihren französischen Akzent verbergen oder etwas anderes Undurchschaubares, jedenfalls etwas, an dem er keinen Anteil hat.
Er bemüht sich um einige belanglose Sätze, fragt dann nach Maxim, sie antwortet mit einer Gegenfrage – eigentlich müssten sie sich doch getroffen haben – dann schweigt sie verlegen, als hätte sie sich verplappert.
»Kein Problem«, beschwichtigt Jakob sie, »er wird sich schon noch bei mir melden.«, und beendet das Telefonat mit einem unguten Gefühl.
Er wünscht sich, er könnte Magalie mehr Wärme entgegenbringen. Aber der Schreck über ihre plötzliche Anwesenheit in seinem und Maxims Leben sitzt ihm immer noch in den Knochen, natürlich bestens kaschiert durch typisch männliche Gleichmut. Eine Öffnung seiner engen Beziehung zu Maximeinem dritten Menschen gegenüber hatte er für undenkbar gehalten, obwohl es bei ihnen beiden Frauen gegeben hatte, aber die waren irreal, wie eine Fata Morgana, und schon vorübergezogen, bevor sie sich überhaupt materialisieren konnten.
Magalie aber hatte sich festzusetzen gewusst, nachdem Maxim sie gut zwei Monate lang vor ihm geheim gehalten hatte.
Zunächst hatte er ihre Okkupationsversuche einigermaßen unbesorgt beobachtet; soweit kannte er Maxim, dass er wusste, eine so unscheinbare Erscheinung ist nicht sein Typ. Ganz anders als seine früheren Freundinnen, die alle auf die eine oder andere Weise aufsehenerregend gewesen waren, hatte er Magalie für die Ausnahme gehalten, die die Regel bestätigt. Aber dann traf ihn eines Tages die Erkenntnis, dass Magalies Faszination in tieferen, ihm nicht zugänglichen Schichten liegen muss, und er hatte sich umgehend aussortiert gefühlt, wie einen in die Ecke gestellten Regenschirm, der wegen plötzlich anhaltenden Sonnenscheins überflüssig geworden ist. Das alte, seine ganze Pubertät bestimmende, irritierende Minderwertigkeitsgefühl war mit einem Schlag wieder da und sein Vertrauen in Maxims lebenslange Zuneigung bedrohlich ins Wanken geraten. Er distanzierte sich äußerlich und innerlich, was für Maxim wie verständnisvolle Zurückhaltung angesichts seiner Frischverliebtheit ausgesehen haben muss, doch so war es nicht.
Anfangs hatte Magalies Aussehen Jakob hoffen lassen, dies könne nicht von langer Dauer sein. Er hatte sie, bis es zu einem ersten Zusammentreffen in einem Bistro gekommen war, nur von Ferne gesehen und dann auch nur für Sekunden. Neben Maxim wirkte Magalie – dünn, blass und farblos – auf den ersten Blick wie eine Studierende im Erstsemester, der man Maxim als Tutor zur Seite gestellt hat. Aber das traf nicht zu, außerdem hatte sie nicht das Geringste mit Kunst zu tun.
»Bankerin. Chefetage.« So hatte Maxim sie vorgestellt und sein fast militanter Tonfall hatte Jakob verstummen lassen, bevor er auch nur eine Frage formulieren konnte. Alles hätte er sich vorstellen können, aber nicht Magalie im klassischen Hosenanzug, die Meetings leitet und nebenbei problemlos den Laptop mit einer Power-Point Präsentation bedient. Einzig die nachlässige Art, mit der sie bis heute ihr halblanges Haar am Hinterkopf mit einer Hornspange zusammenrafft, schien ihm schon damals ein Hinweis auf eine unkalkulierbare Souveränität zu sein, die ihm gefährlich werden konnte. Ungefähr zu diesem Zeitpunkt hatte er angefangen, sich für Lissy zu interessieren, mehr aus einem Gefühl der Leere heraus. Der Blitz, der ihn aus heiterem Himmel getroffen hatte, war weniger Lissys unerwartete Verliebtheit, als die Erkenntnis, ohne Maxim alleine dazustehen.
Maxim und Magalie, die äußerlich ein Paradebeispiel für die Theorie sein mögen, dass Gegensätze sich anziehen, scheinen sich vom Wesen her ähnlicher zu sein, als er es für möglich gehalten hatte. Maxims unbestrittene Attraktivität liegt nicht nur in der Inszenierung seiner Person, mit der er sich als Kreativer ausweist, sondern vor allem in seiner Begabung, sich eine Kulisse zu schaffen, vor deren Hintergrund sich seine Schönheit wie von selbst vervielfacht. Seine kupferfarbenen Locken ziehen alle Blicke auf sich, nachdem sie über Magalies falbfarbenen Haarschopf hinweggeglitten sind, wie über eine Vorstufe zu etwas Erhabenerem.
Mit einer plötzlichen Niedergeschlagenheit lässt Jakob sein Handy aufs Sofa fallen. Beide verbergen etwas vor ihm, das weiß er jetzt. Ein bedrohliches Gefühl, als ginge es um sein Leben.
7 - Faustischer Pakt
Es ist schon nach sieben Uhr und fast dunkel, als er runter in die Küche geht.
Im Kühlschrank findet er die Lasagne, die Eva Kornelius für ihn zubereitet hatte. Er stellt sie in die Mikrowelle und öffnet eine Flasche Nero di Troia, lässt den dunkelrubinroten Wein langsam ins Glas rinnen und sieht den öligen Schlieren nach.
Nur der Hund ist da. Er liegt in seinem Küchenkorb und sieht ihn mit einem blutunterlaufenden Blick von unten herauf an. Jakob fragt sich, wer ihn eigentlich versorgt. Soweit er sich erinnert, hat er ihm nie was zu Fressen hingestellt, weshalb er einige Minuten braucht, bis er in einem der fünf Unterschränke ein Sortiment verschiedenfarbig etikettierter Hundefutterdosen vorfindet und die erstbeste herausnimmt und in den Napf füllt. Umgehend hört er Lionel neben sich schnaufen. Dass er noch mit solcher Behändigkeit aus seinem Korb hochkommt, hat er ihm nicht mehr zugetraut, zugleich wird ihm bewusst, dass hier niemand ist, der sich für den Hund verantwortlich fühlt, wenn es ihm irgendwann schlechter gehen sollte. Unvermittelt wird er von heftigem Mitleid erfasst und möchte den Hund umarmen. Aber Lionel hat jedes Interesse an ihm verloren und leckt in Sekundenschnelle seinen Napf aus. Wo ist Helene? Sie hatte den Hund angeschafft und sollte auch diejenige sein, die ihn zum allerletzten Mal hier herausbringt.
Bis auf Lionels ständiges Schnaufen ist das Haus still wie ein Grab. Hatte er seiner Mutter nicht zugehört, als sie ihm ihren Tagesablauf vorgebetet hatte? Eine neue Marotte, als wolle sie damit eine versäumte Mutterpflicht nachholen, allerdings mit der Verspätung von zwanzig Jahren. Oder ist sie ihm morgens aus dem Weg gegangen, um ihm mittags aufzulauern, weil sie etwas mit ihm bereden wollte? Etwas, bei dem ihr Armin bei Georgina dazwischengekommen war, bevor sie es ihrem Sohn anvertrauen konnte?
Er trinkt sein Glas in einem Zug leer und bezichtigt sich, Gespenster zu sehen.
Die Appetitlosigkeit, mit der er in seiner Lasagne stochert, führt er auf das Chaos in seinem Kopf zurück, auf Maxims, Magalies und schließlich auch Helenes undurchsichtiges Verhalten und dem Druck, noch heute eine Formulierung seines Themas zu Papier bringen zu müssen.
Soviel er weiß, hat er hier kein einziges Buch über den Renaissancemaler Giorgione, allenfalls eine oder zwei Seiten in den Vite, Vasaris Künstlerbiografien. Wie er sich kennt, wird er aus lauter Verzweiflung versuchen, das Wenige an Information so aufzubauschen, dass diese Abschlussarbeit aufgrund von Verirrungen in irrelevante Nebenthemen den Umfang einer Doktorarbeit annimmt oder er es gerademal auf die Seitenzahl eines Schulaufsatzes bringt. Letzteres erscheint ihm wahrscheinlicher. Zum Verfassen schriftlicher Abhandlungen fehlt ihm jede Übung.
Keinesfalls fährt er gleich sein Laptop hoch, um Wikipedia aufzurufen, obwohl es ein Anfang wäre. Ein Abendspaziergang hingegen ist denkbar, Ziel: DieGalerie. Sie hat mittwochs bis einundzwanzig Uhr geöffnet und könnte ihm möglicherweise zu einer Eingebung Giorgione betreffendverhelfen, die vor Siggis Augen Gnade fände. Spaziergänge im Freien sollen sich positiv auf die Struktur des Gehirns auswirken, hat er mal gehört.
»Lionel. Wir gehen.«
Der Hund sieht aus, als lächele er, dabei bewegt er nur routinemäßig seinen Schwanzstummel.