Die andere Katharina - Gudrun Heyens - E-Book

Die andere Katharina E-Book

Gudrun Heyens

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Beschreibung

Während die Menschen versuchen, die Schrecken des Zweiten Weltkriegs zu vergessen, kreuzen sich die Lebenswege der beiden Katharinas – Käthe und Lina – durch die Hochzeit ihrer Kinder. Bislang lebten sie nur wenige Straßen voneinander getrennt in sehr unterschiedlichen familiären Verhältnissen, ohne indes weitere Berührungspunkte zu haben. Doch nun, zwangsweise ›vereint‹, schärft der Blick auf die jeweils andere Katharina das Bewusstsein für seelische Befindlichkeiten und die Frage nach dem Sinn der eigenen Existenz. Vor dem Hintergrund einer traumatischen Vergangenheit, in einer Zeit des politischen Umbruchs und einer Gesellschaft im Wandel erlebt der Leser die persönlichen, schicksalhaften Herausforderungen durch die Augen zweier Frauen im bürgerlichen Milieu des Ruhrgebiets. Eine Familiengeschichte über fast zwei Jahrzehnte, inspiriert von wahren Begebenheiten.

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Die andere Katharina

Gudrun Heyens

1. Auflage 2022

ISBN 978-3-947706-56-3

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de abrufbar.

© Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.

https://www.plattini-verlag.de

Lektorat: Michaela Marwich (Dortmund) Umschlaggestaltung: Tom Jay (Gundelsheim) Konvertierung: Sabine Abels (Hamburg)

1. Auflage 2022

ISBN 978-3-947706-55-6 (Taschenbuch)

ISBN 978-3-947706-56-3 (E-Book)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen

Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über https://portal.dnb.de

© Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.

https://www.plattini-verlag.de

Lektorat: Michaela Marwich (Dortmund)

Umschlaggestaltung: Tom Jay (Gundelsheim)

Layout: Sabine Abels (Hamburg)

Druck:WIRmachenDRUCK GmbH – Backnang

Printed in Germany

Für dich,Cousinchen

PERSONENREGISTER

KATHARINA / Käthe und Heinrich Appeltrath

KÄTHES TÖCHTER

Mariechen

Trude – Ehemann Rudi, Kinder: Gundula, Regine, Mirja

Emilie

FREUNDE

Hilde Koch, Geigerin

Tilda Blöß

Irmgard und Horst

KÄTHES GESCHWISTER

Emma, Sohn Rudolf, dessen Freund Adi (die Speldorfer)

Fine und Ehemann Ludwig (die Braunschweiger)

Wilhelm und Ehefrau Martha

Karl und Ehefrau Elisabeth

HEINRICHS GESCHWISTER (die Kettwiger)

Liese

Erna

Wim

August, Ehefrau Clara

IHRE NACHBARN

Wolfs, Römer, Hoppes, Frau Thal

KATHARINA / Lina Dunkel (und Ehemann Franz, gest. 1938)

LINAS KINDER

Senta, Kind: Angela, Verlobter: Giuseppe / Pepi

Rudi – Ehefrau Trude, Kinder: Gundula, Regine, Mirja

Ruth – Ehemann Kurt, Kinder: Berndt, Klaus

Elsbeth – Ehemann Will, Kinder: Douglas, Raymond

Leni – Ehemann Manni Mölders, Kinder: Gabriele, Günter, Baby

Mannis Eltern: Die alten Mölders, seine Schwestern: Elfriede, Ingrid, Anneliese

Fritz – Verlobte: Theodora Vogel

LINAS SCHWESTER

Minna, Ehemann Hermann (die Borbecker)

Tochter Inge, Ehemann Wolf-Dieter, Kinder: Ulla, Eva, Klein-Dieter

Sohn Waldemar, Ehefrau Edith

LINAS NACHBARN

Die Höhnerbachs, Tochter Friedel und Sabinchen

Buchners, Sohn Heribert

Grosses

Hansens

WEITERE BISSINGHEIMER

Ilschen Möllenberg

Pfarrer Wegemann

Juwelier Maxsein

Arzt: Dr. Schwendt

Polizist: Schupo Tenneberg

1

IN VORBEREITUNG

MÄRZ 1949

Käthe

Die Uhr schlägt vier, sie ist gewarnt. Manchmal hat es doch sein Gutes, dass man den tiefen Glockenton durchs ganze Haus hört.

In wenigen Minuten wird Trude von der Arbeit kommen, bis dahin muss sie das, was sie gerade aus der Mansarde die schmale Treppe runter in die erste Etage trägt, durchgesehen haben.

Käthe stellt den Karton, dessen Pappdeckel eine rote Satinschleife ziert, vor sich auf den Boden und lässt sich auf den einzigen Sessel in der zukünftigen Wohnung ihrer mittleren Tochter fallen. Andere persönliche Dinge von Trude hat sie schon vor Tagen in deren neuen Wohnzimmerschrank geräumt, diesen Karton aber hat sie erst nach Durchwühlen aller in der Mansarde befindlichen Sachen, versteckt hinter Mariechens schwerer Winterkleidung gefunden.

Bevor sie die rote Schleife aufzieht, die ihr wie ein Warnsignal entgegenleuchtet, zwingt sie sich zur Beruhigung ihrer bebenden Nerven zu einem langen Blick durchs Fenster, vorbei an den knochenbleichen, dürren Weinreben, die der Wind vor die Scheibe weht, über den Garten hinweg in den Vorfrühlingshimmel auf die Kirchturmspitze von St. Raphael zwischen den noch kahlen Eichen. Aber auch von dort dröhnen jetzt vier mahnende Glockenschläge, und gleich werden die leisen, bescheidener klingenden Glocken der evangelischen Kirche einfallen, die schon nächste Woche um diese Zeit für Trude und Rudi läuten werden. Wenn alles gut geht und nach Plan läuft.

Käthe nimmt entschlossen den Deckel ab und legt ihn auf den Boden.

Möglicherweise geht diese Ungehörigkeit nicht gut aus für sie. Der Lauscher an der Wand hört seine eigene Schand‘. Allerdings wüsste sie nicht, was sie sich Trude gegenüber vorzuwerfen hätte.

Obenauf liegen altbekannte Fotos, die sie hastig durchsieht und neben sich auf den Sessel legt: Trude mit dem Mädchenkreis im Siegerland. Trude und Emilie mit Zöpfen am Gartentor in Kettwig. Trude mit Busenfreundin Tilda Blöß, beide mit wehenden Haaren wandernd.

Darunter ein praller Briefumschlag, adressiert an Trude Appeltrath.

Auch der Absender in gestochen sauberer Schrift: Rudi Dunkel, Duisburg-Bissingheim.

Ihre leicht zitternden Finger ertasten drei Briefe verschiedenen Datums.

Noch könnte sie den Umschlag wieder zurücklegen, den Karton verschließen und ihm in Trudes Nussbaumschrank einen Platz geben, wie sie es schon mit ihren Büchern und Zeugnis-Ordnern getan hat.

Aber dann liest sie das Datum des ersten Briefes: Juni 1946, ein unvergessliches Datum:

Trudes Verlobung mit Rudi war da nach gerade mal nur zwei Monaten schon vorbei.

Eine Ahnung, ihr Name könne in diesem Zusammenhang gleich vor ihren Augen auftauchen, jagt ihr den Herzschlag hoch, und unter der dünnen Haut ihres Handgelenks sieht sie es heftig pulsieren. Wie eine Übelkeit, die sich nicht länger unterdrücken lässt, windet sich die uneingestandene Befürchtung, sie könne die Ursache für das Auseinanderbrechen dieser Verbindung gewesen sein, durch ihren Leib bis in ihr Bewusstsein. Käthe wirft einen raschen Blick zur Tür, aber da ist niemand, der ihr verwehren könnte, sich über Schuld oder Unschuld endgültig Klarheit zu verschaffen.

Von Anfang an war sie dagegen gewesen, diese Verlobung wie ein rauschendes Fest zu begehen, mit Tanz und Musik, die durch alle Ritzen nach draußen dringen bis vor die Ohren der Nachbarn, sodass alle Welt Bescheid weiß. Als nach geraumer Zeit keine Hochzeit folgte, hatten die Nachfragen angefangen, und natürlich fragte man nicht Trude, sondern sie. Gab es etwas Unangenehmeres?

»Gründe?«, hatte Käthe sich rauszureden versucht. »Welche Gründe mag es für eine Entlobung schon geben? Man kann ja nicht in den Kopf der Kinder sehen.«

Zögernd entfaltet sie jetzt das Blatt und liest mit angehaltenem Atem:

Liebste Trude, immer wieder stelle ich mir die Frage, was ich wohl verbrochen habe, dass Du so zu mir bist.

Den Vorwurf Deiner Mutter, in Dir die gefunden zu haben, die ich nur knebeln, kommandieren und befehlen wollte, die ich nur hätte, um an Dir meinen Mut auszulassen, den ich durch mein Schweigenmüssen in meinem Elternhaus aufgespeichert hätte, erkenne ich nicht an.

Eine Hitzewelle, heißer als alle in den zurückliegenden schwierigen Wechseljahren, steigt ihr in den Kopf, umgehend bahnt sich ein dünnes Rinnsal seinen Weg zwischen ihren Schulterblättern und dem festsitzenden Korsett den ganzen Rücken herunter. Diese Mutter ist sie. Sollte sie das wahrhaftig gesagt haben? Welcher Teufel hatte sie geritten? Gab es einen handfesten Vorfall, der sie so hatte reden lassen? Jeder anderen Frau hätte sie vorgeworfen, dass sich solche verleumderischen Worte mit allgemein-mütterlicher Sorge ja wohl kaum entschuldigen lassen. Woher sollte sie überhaupt die Einsichten in die Verhältnisse im Hause Dunkel bekommen haben, um sie derart beurteilen, schlimmer noch, verurteilen zu können? Hat sie sich da einfach was zusammenfantasiert? Ist es am Ende gar nicht darum gegangen, ob dieser Rudi der Richtige war, sondern vielmehr darum, dass sie ausgerechnet diese Tochter, ihr sanftes, fröhliches Trudchen mit der kugelrunden Nase im lieben Gesicht, nicht hergeben wollte?

Ich wüsst‘ überhaupt nicht, dass ich Dich jemals herumkommandiert hätte, liebste Trude, ich meine immer, ich hätte Dich nur gebeten.

Das liest sie tief beschämt und glaubt es sofort. Sie hat Rudi niemals anders als aufmerksam, umsichtig und freundlich erlebt. Es war wohl eher so, dass Trude, von Natur aus schüchtern, fast ängstlich und, was den Umgang mit Männern angeht, gänzlich unerfahren, ihren Gefühlen misstraut und sich aus dieser Unsicherheit heraus an sie, ihre Mutter, gewendet hatte. Zuspruch erhoffend und die Zerstreuung ihrer Bedenken. Stattdessen hatte sie ihr die schwierigen Verhältnisse im Elternhaus des Verlobten vor Augen geführt, wohl wissend, dass sie ihr damit einen Schrecken einjagte. Das war unverzeihlich. Dem Allmächtigen sei Dank, dass es – sie weiß bis heute nicht wodurch – diese wundersame Wendung in Gestalt einer zweiten, diesmal heimlichen Verlobung gegeben hatte, der nun endlich die Hochzeit folgt.

Der Herrgott möge sie tot umfallen lassen, wenn sie je die Versuchung verspüren sollte, sich bei diesen beiden ein zweites Mal einmischen zu wollen. Käthe ertappt sich dabei, dass sie drei Finger zum Schwur hebt, obwohl sie ganz allein in ihrer ehemaligen guten Stube sitzt, die in einer Woche Trudes Wohnzimmer sein wird und jetzt schon mit einer hellen Tapete glänzt, auf der kleine, feine rosa Röschen zwischen cremefarbenen Streifen blühen. Rudi hat sie ganz allein unter fröhlichem Pfeifen an die Wand tapeziert, während sie im Stillen sein handwerkliches Geschick bewunderte, wenn sie hin und wieder die Treppe hochgestiegen war, eine Tasse Kaffee für ihn in beiden Händen balancierend. Dabei gab es keinen Grund, seine Arbeiten in der neuen Wohnung zu kontrollieren. Das Röschen-Muster, über das sie jetzt ihre Augen gleiten lässt, passt in jedem Winkel haargenau aufeinander, selbst unter der unebenen, leicht schrägen Fensterbank, und es gibt auch nicht die kleinste Falte zu entdecken. Als hier oben alles fertig war und noch der feuchte Kleistergeruch in der Luft hing, hat er sich ihre Wohnküche unten vorgenommen, ohne dass sie auch nur ein Wort über deren trostlose Vergilbung verloren hatte.

Trudes Entlobung, das sieht sie jetzt reuevoll ein, ist auf ihr Konto gegangen, das kann sie nicht länger vor sich verheimlichen. Sie war die Ursache für die verzweifelten Zeilen und die flehentlichen, aber irgendwie auch gestelzten Worte ihres zukünftigen Schwiegersohnes. Mehr will sie gar nicht wissen, Brief zwei und drei rührt sie nicht an, gibt sich stattdessen alle Mühe, die rote Schleife wieder so ordentlich zu binden, wie es Trudes verpackungsgeübte Verkäuferinnenhände getan hatten.

Käthe erhebt sich mit einem Stöhnen, steif vom reglosen Sitzen, und stellt den Karton in die unterste Schublade auf einen anderen, größeren, wo ihr argloses Trudchen glauben wird, sie selbst hätte ihn hier eingeräumt.

Kein Wort mehr über diese unselige Zeit, in der sie um ein Haar das Lebensglück ihres Kindes zerstört hätte, das schwört sie sich ein zweites Mal und streicht sich mit beiden Händen das feuchte Haar zurück, aus dem sich Strähnen gelöst haben, als hätte sie mehrere Stunden lang nasse Wäsche durch die Mangel gedreht.

Ihr kleiner Flurspiegel, den sie im Treppenhaus hat hängen lassen, zeigt ihr im Vorübergehen eine füllige, in sich zusammengesunkene Frau, deren Busen von einer dunkelkarierten Schürze mit mutlos herabhängenden Volants umspannt wird. Schon fühlt sie sich wie ein unförmiger Sack, in dem sich eine feuchte, schwere Masse träge bewegt, und sie klammert sich ans Treppengeländer in der wahnwitzigen Angst, vornüber runterzufallen.

Die Haustürschelle schrillt.

Anders als Mariechen kommt Trude niemals durch den Keller herein. Immer dreht sie mit Schwung mindestens zweimal an der Schelle, als bereite es ihr besonders große Freude, mit dem durchdringenden Schrillen jemanden hochzuscheuchen, der in irgendeinem Winkel des Hauses seine Arbeit unterbrechen und herbeieilen muss, um ihr aufzumachen. Meistens ist sie das, Käthe, und es ärgert sie jedes Mal aufs Neue. Aber ab heute will sie ihrem Kind gerne öffnen, sogar mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen.

Trude hat was gut bei ihr.

Wenig später unterbricht sie ihre Putzarbeiten und schaut Trude zu, wie sie die zukünftige Wohnung in Besitz nimmt, hin- und hergeht, den Sessel verschiebt, über die braunglänzende Tischplatte des neuen Couchtisches streicht und mit einem kleinen, versonnenen Lächeln die Röschen-Wände betrachtet.

Käthe wirft einen wehmütigen Blick durchs Fenster über die hohen Eichen hinweg auf die Turmspitze von St. Raphael, als müsse sie sich von diesem Bild der Ruhe und Beschaulichkeit auf ewig verabschieden. Dabei kann sie den beruhigenden Anblick genießen, wann immer sie will, nur die frischgestrichene Holztreppe hinauf, und schon steht sie in ihrer ehemaligen guten Stube, so wie jetzt. Allerdings wird sie anklopfen müssen, denn ein Ehemann befindet sich ab nächster Woche hinter dieser Tür der ersten Etage ihres Hauses. Eigentlich gehört es nicht ihr, sondern der Eisenbahn und ist auch kein ganzes, sondern nur die Hälfte eines großen Zweifamilienhauses, und einzigartig ist es auch nicht, denn die ganze Berglehne runter sind alle Häuser gleich.

Sicher sind es der bewölkte, lichtlose Vorfrühlingstag und die losen, geisterhaft winkenden Reben vor dem Fenster, die sie in diese trübe Stimmung versetzt haben. Hatte sie nicht angesichts der weinberankten, romantisch aussehenden Hausmauer kleine Jubelschreie ausgestoßen, als sie vor zehn Jahren zum ersten Mal vom Garten aus auf das Haus geblickt hatte?

Aber dann, von einem Tag auf den anderen, hatte der wuchernde Wein sie gestört. Ihr war, als wüchse er täglich zentimeterweise den Fenstern entgegen, und wenn sie einen Moment nicht Acht gäbe, drängten sich dunkle, fette Blätter durch den Spalt, hefteten sich an ihre Tapete und bald wären Schlafzimmer und Wohnküche von düsterem Laub überzogen; eine ekelhafte Vorstellung, die sie wochenlang nicht aus dem Kopf bekam.

Sie flehte Heinrich an, das Haus und sie vom Wein zu befreien, aber Heinrich hatte sich ganz gegen seine Absicht, hier grundsätzlich für Ordnung zu sorgen, gehütet, den Wein herunterzureißen, als habe er geahnt, dass sie in den folgenden Jahren für alles Essbare dankbar sein würden. Auch wenn heute das Schlimmste überstanden ist, die Angst vor Hunger hat sich fest in ihrem Hinterkopf eingenistet, und sie misstraut zutiefst den vollen Regalen und den euphorischen Nachrichten über den wirtschaftlichen Aufschwung. Trotzdem wird sie in diesem Jahr die Trauben den Wespen überlassen, und auch die Restgläser mit dem blassen, glibberigen Weingelee vom letzten Jahr, die sie schon hinter die eingemachten Kirschen, Birnen und Pflaumen in die hinterste Ecke des Kellerschranks verbannt hat, lässt sie bei nächster Gelegenheit einfach verschwinden. Der Wein, ganz gleich in welcher Form, schmeckt ihr zu sehr nach Krieg.

Käthe wendet sich ab vom deprimierenden Anblick der kahlen, winkenden Reben, erklärt ihre Verschnaufpause vom Putzen als beendet und geht die Treppe runter, indem sie gleichzeitig über den runden Handlauf des Geländers ein feuchtes Tuch gleiten lässt, das sie die ganze Zeit über in der Hand gehalten hatte.

Ohne Pause setzt sie unten ihre Arbeit mit dem Säubern des Fensterrahmens in der Wohnküche fort, zukünftig ihrer und Heinrichs einziger Aufenthaltsraum.

Im Lack des weißgestrichenen Holzes entdeckt sie feine Risse, und als sie näher hinsieht, ist an einigen Stellen Farbe abgeblättert, so unauffällig allerdings, dass ein Neuanstrich keine Bitte wäre, die sie an Heinrich herantragen könnte. Selbst ihr leuchtet ja ein, dass in einer Woche solche Arbeiten nicht zu schaffen wären, doch hält keiner ihrer vernünftigen Gedanken dem Wahn in ihrem Inneren stand, der sie wie eine Getriebene all die kleinen Unvollkommenheiten aufspüren lässt, denen sie bisher mit gelassener Nachsicht begegnet ist. Doch seitdem das Datum für Trudes Hochzeit feststeht, nicht mehr.

Ein weiteres Mal wischt sie über den Rahmen, jetzt vorsichtig, um weiteren Abplatzungen vorzubeugen.

Alles ist geputzt, sie ist auf ihren vierundfünfzig Jahre alten Knien in alle Ecken gekrochen, hat jede Strebe der sechs eigenen und der zwanzig aus dem Gemeindehaus geliehenen Stühle mit Möbelpolitur bearbeitet, aber natürlich müsste am Freitagmorgen ein weiterer, letzter Putzgang über alle größeren Flächen und Böden folgen. Ihr Verstand und Heinrich rufen ihr die Unsinnigkeit dieser Anstrengungen vor Augen: dreißig Paar Beine, die nach der Trauung auf ihrem Wohnküchen-Stubenboden stehen werden, verwehren selbst dem kritischsten Späherauge die Sicht auf ihr hochglänzend gebohnertes Linoleum. Bei Späherauge denkt sie an die andere Katharina. Trudes zukünftige Schwiegermutter.

»Armes Tierchen …«

Heinrichs Stimme dringt zusammen mit einem Schwall kühler Märzluft durch den Fensterspalt herein, leise und gepresst wie von zurückgehaltenen Tränen kommt es ihr vor, obwohl sie ihn nie hat weinen sehen. Sie ahnt, welch deprimierendes Bild sich ihr bieten wird, trotzdem zieht sie den Volant der Küchengardine zurück, öffnet den rechten Fensterflügel, lehnt sich über den noch leeren Blumenkasten hinweg und sieht ihn direkt unter sich auf der steinernen Seitenwand der Kellertreppe sitzen. Sein gebeugter Rücken in der grauen Arbeitsjacke ist ihr zugewandt, sie blickt auf seinen gesenkten Kopf mit den dünnen, kurzen Haaren, die ein schnittscharfer Scheitel trennt, und weiß, was er da auf dem Schoß hat und hingebungsvoll streichelt: Den Hochzeitsbraten mit Namen Schnuck.

Emilie hatte dem Tier den Namen gegeben. Woher diese plötzliche Sentimentalität bei ihrer sonst so kaltschnäuzigen Jüngsten? Etwa von der Arbeit auf der Säuglingsstation und dem tagtäglichen Umgang mit hilflosen kleinen Lebewesen? Käthe ist sich sicher, dass es der Name ist, der das Kaninchen für Heinrich, der auf dem elterlichen Bauernhof mit Schlachtungen aller Art großgeworden war, zu einem Familienmitglied hatte werden lassen, dem man nicht an den Kragen gehen konnte.

»Heinrich!«, ruft sie streng zu ihm herunter.

Ohne hochzublicken, murmelt er: »Ist ja gut. Musst kein Wort sagen.«

Käthe will keinen Blick auf das Opfertier werfen, schließt schnell das Fenster und zieht die Gardine zu, bevor Heinrich aufstehen kann, um sich die Treppe hinunter in den Keller zu schleppen, wo die Hobelbank zur Schlachtbank werden wird, wie manchmal für ein Huhn. Unvermittelt ergreift sie eine Mitleidswelle; entgegen ihrer Absicht hatte sie häufiger beobachten können: Schnuck ist anhänglicher als jedes Huhn. Sie wischt die Empfindung weg, indem sie mit dem Putzlappen ein letztes Mal über die Fensterbank geht. Dieses Opfer muss einfach sein für Trude und ihren Rudi und dessen Sippe; denn wie heißt es doch: Gute Manieren bestehen aus lauter Opfern.

»Mutter, es ist vollbracht, soll ich dir von Vater ausrichten«, tönt Mariechens Stimme durchs Treppenhaus; demnach ist es kurz nach fünf. Mit der ihr eigenen, angesichts ihres lebenslangen Gesundheitszustandes unerklärlichen Fröhlichkeit, die selbst Schnucks Exekution offenbar nicht trüben konnte, ist sie zurück vom Dienst in der Krankenhausverwaltung und wie immer gleich die Treppe hoch ins Mansardenzimmer, wo sie sich schnellstens ihrer Kleider und Strümpfe entledigt, unter denen der Schweiß ihre empfindliche Haut so zum Jucken bringt, dass sie dem Zwang, sich am ganzen Körper kratzen zu müssen, nicht widerstehen kann.

Was gäbe Käthe darum, von ihr zu erfahren, wie sie sich fühlt, jetzt, wo ihre jüngere Schwester heiratet und aus dem gemeinsamen Mansardenzimmer in die erste Etage umzieht. So alleingelassen, wird sie sich die Frage stellen, wie es mit ihrer eigenen Zukunft aussieht.

»Wenn es nur bei dem einen Tier bleiben könnte!«, ruft sie Mariechen durch die offene Küchentür hinterher. »Ich fürchte, es müssen noch drei, wenn nicht vier Hühner dran glauben … Bedenke, wir sind dreißig!«

Heinrich und sie werden schon mit der Beschränkung aufs Erdgeschoss zurechtkommen, redet sie sich ein. Sie nimmt an, dass er auch so denkt; nicht jeder hat eine Haushälfte mit insgesamt sechs Wohnräumen, einem Abort, Mansarde, Speicher, Waschküche, Keller und Kohlenkeller – den großen Garten mit Hühnerstall und Bleiche nicht zu vergessen. Die glückliche Empfindung, von der sie bei der allerersten Besichtigung ihres Bissingheimer Hauses ergriffen worden war, hält sich unbeirrbar wie ein sicheres Fundament, das allen unvorhersehbaren Geschehnissen trotzt, wie das Haus selbst der Bombardierung der Stadt getrotzt hatte. Nur im Moment fühlt sie sich schwankend wie in einem Boot und unsicher, wie sie die bevorstehende Fahrt überstehen wird.

Dabei geht es nur um die Hochzeit ihrer Mittleren.

Falls Trude und Rudi nicht hier hätten wohnen wollen, was gottlob keine Minute zur Debatte gestanden hatte – jedenfalls war ihr diesbezüglich kein Wort zu Ohren gekommen –, hätte sie es unrecht gefunden, allein mit Heinrich und Mariechen so viel Wohnraum zu beanspruchen. Emilie, die Jüngste – was heißt Jüngste mit immerhin schon achtundzwanzig – wohnt derzeit in der Wuppertaler Hebammenschule, wo sie ihre dritte Ausbildung macht. Sie ist schon so lange nicht mehr zu Hause, dass Käthe manchmal vergisst, sie dazuzuzählen. Hoppes nebenan, in der anderen Haushälfte, haben sämtliche vier Töchter noch bei sich, und nur eine macht Anstalten zu heiraten. Wo sollten auch die Ehemänner herkommen, nicht alle hatten so viel Glück wie Rudi mit einer nur achtwöchigen Kriegsgefangenschaft …

Mariechen wird ihr wohl erhalten bleiben, sie wird nicht allein leben können.

Käthe schüttet die Kartoffeln ab und gibt einen Stich Margarine an die Möhren, bevor sie alles auf einem Teller anrichtet und vor Mariechen auf den Tisch stellt. Kein Fleisch heute, auch wenn sie bestimmt darauf gehofft hatte; manchmal gibt es extra für sie eine Portion außer der Reihe, als Ersatz für all das, worauf sie wegen ihrer schrecklichen Eiweißallergie verzichten muss.

Mariechen, inzwischen im weißen, weiten Baumwollkittel, der kühle Luft an ihre Haut lässt, isst sichtbar mit Appetit, aber Käthe sieht blutige Kratzspuren an ihren Unterarmen. Sie sagt nichts, aber der Anblick greift ihr mit unverminderter Wucht ans Herz, seitdem das Mädchen auf der Welt ist.

»Eine Woche noch, Mutter. Du sagst mir doch, wenn es etwas für mich zu tun gibt? Ich habe mir extra keine Arbeit aus dem Büro mitgenommen.«

»Du weißt, was deine Aufgabe ist …«

Käthe deutet auf das Klavier und den beachtlichen Notenstapel, der darauf liegt, und erhofft sich für die Abendstunden, die sie mit angelaufenem Silberbesteck und Putztuch am Tisch verbringen wird, Walzer, Märsche, Rheinländer und Potpourris in heiterem Dur, die ihre sorgenvollen Bedenken durch beschwingte Vorfreude ersetzen werden. So ist es jedenfalls immer, wenn Mariechen übt. Was heißt übt – sie spielt, und zwar so gut, dass sie die ganze Hochzeitsgesellschaft bestens unterhalten wird.

Liebevoll sieht sie ihre Älteste an, die sich gerade den Mund abwischt und Messer und Gabel sorgfältig nebeneinander in den Teller legt. Die Haut ihres Gesichts leuchtet entzündlich rot, aber der strahlende Blick ihrer grün gesprenkelten Augen lässt Käthe für einen Augenblick ihre lebenslange Sorge um dieses Kind vergessen.

2

DIE TRAUUNG

Käthe

Mit dem Eintreffen der Hochzeitsgäste füllt sich das Haus, es herrscht drangvolle Enge im Flur, wo Heinrich lautstark die Begrüßung übernommen hat.

»Ah, die Mutter des Bräutigams!«, sagt er jetzt, und seine Stimme klingt, als gehöre sie nicht ihm.

Trotzdem staunt Käthe über seine Souveränität, die er mit einer Geste übertriebener Ritterlichkeit unterstreicht, sie meint, sie in einem Kinofilm gesehen zu haben – der Schauspieler trug eine weiße Lockenperücke. Heinrich zieht einen unsichtbaren Zylinder, was ihr grotesk vorkommt, aber mit seiner schwarzen Fliege unterm steifen weißen Hemdkragen gibt er einen glaubhaften Brautvater ab und wirkt auch nicht so zierlich wie immer an ihrer Seite; er ist genauso groß wie die andere Katharina, Rufname Katrina, und von Rudi weiß sie, dass aus der kleinkindhaften Verfälschung Katlina die heutige Lina wurde – wegen des vornehmeren Klanges.

Es wäre für uns alle leichter, es bliebe bei ›Frau Dunkel‹ – Mutter hasst das Duzen – natürlich nur, wenn es euch recht ist … Rudi weiß gar nicht, welchen Gefallen er ihr mit diesem, im Vorfeld der Hochzeit hervorgebrachten Ansinnen getan hat. Liebend gern, Frau Dunkel! Sie, Käthe, rechnet nicht mit Verschwesterungen und daraus folgenden gegenseitigen Visiten.

Sie drängt sich an Emilie und dem alle überragenden Trauzeugen aus Rudis Göttinger Verwandtschaft vorbei, scheucht Irmgard und Horst auseinander, die Emilie gerade überschwänglich um den Hals fallen wollen, kämpft sich zur Haustür vor und streckt Lina zur Begrüßung beide Hände entgegen – tat sie das jemals zuvor? Vielleicht hat sie das auch im Kino gesehen, es muss derselbe Film gewesen sein, sie waren ja nur in zweien. Linas kleine Hand im schwarzen Spitzenhandschuh aus gestärkter Baumwolle fühlt sich kratzig an, ihre Stimme dagegen hat einen melodiösen Klang.

»Die beiden hätten es nicht besser antreffen können – Kaiserwetter zur Feier des Tages!«, sagt sie, allerdings ohne den Anflug eines Lächelns.

Käthe nickt und will noch etwas Beipflichtendes sagen, da ruft Rudi von hinten über die Köpfe der Gäste hinweg, dass man sofort aufbrechen müsse, um rechtzeitig an der Kirche zu sein. Er drängt sich an Käthe vorbei und deutet seinen gerade eintretenden Schwestern an, dass sie gleich wieder den Rückweg antreten können.

»Ihr müsst euch gar nicht erst hereinzwängen – das Brautauto fährt jede Minute vor, und jetzt macht bitte den Weg frei für die Braut!«

Lina Dunkel dreht sich mit schmalen Lippen um und folgt den Töchtern die Treppe wieder hinunter bis auf die Straße, während sich im schmalen Flur eine Gasse für die Braut bildet. Käthe wird von knisternden Taftkleidern gegen die überfüllte Garderobe gedrückt, es ruckelt an ihrer Schulter, und sie sieht die Schnauze des Fuchses an ihrer Wange vorbei nach hinten schnellen. Wann wird sie die Zeit haben, den Fuchskragen wieder anzuheften? Heute nicht mehr. Galle steigt in ihr hoch, und jetzt stolpert Heinrich auch noch über die unterste Stufe der Etagentreppe, die gleich neben der Haustür in einer leichten Biegung nach oben geht, und stößt dabei einen Blumentopf um, der, in dünnes Papier eingehüllt, ein Kärtchen mit Golddruck angeheftet, auf der Stufe steht. Eine von zwölf Hochzeitsgaben aus der Nachbarschaft, Hortensien zumeist, die ganze Treppe hoch und dicht an die Wand gedrückt, damit man überhaupt noch einen Fuß auf die Stufen setzen kann. Es gibt in der ganzen Wohnung keinen freien Fleck mehr, wo man sie hätte abstellen können.

Aber da kommt die Braut.

Käthe vergisst die Hortensien und den losgelösten Fuchs auf ihren Schultern und blickt der Tochter entgegen, deren liebes Gesicht wie von einer Altarkerze angestrahlt unter dem Myrtenkränzchen leuchtet. Rudi, der sie an der Hand durch die enge Menschengasse führt und dabei mit der anderen umsichtig den zarten, ebenfalls mit winzigen Myrtensträußchen bestickten Schleier hochhält, hat außerdem auch noch die kleine Ilse Möllenberg im Blick, die schüchtern mit einem Blumenkörbchen in der Hand und der Miniaturversion von Trudes Brautkranz in den rotblonden Locken den beiden folgt. Käthe hätte Trude einen Mann mit stärkerem Haarwuchs gewünscht. Jetzt, wo sich seine Familie hier versammelt, bemerkt sie an den raffiniert nach vorn gekämmten Frisuren seiner Schwestern Leni und Elsbeth, dass er nicht als Einziger die hohe Stirn seines Vaters geerbt hat.

Dreimaliges Hupen dringt von der Straße herein und übertönt das Stimmengewirr im Flur – Karls Opel Kapitän. Dem Himmel sei Dank, dass sie diesen wohlhabenden Bruder hat, der einen repräsentablen Brautwagen besitzt. Mit der weißgrünen Blumengirlande ringsherum auf dem dunkelblauen Lack sieht er prächtig aus und Karl selbst regelrecht staatsmännisch, so wie er Trude jetzt die hintere Tür öffnet und ihr beim Einsteigen hilft; trotzdem kommen Käthe Bedenken.

»Ist doch ein ziemlich großer Aufwand für einen Gehweg von höchstens zehn Minuten, findest du nicht auch?«, raunt sie Heinrich zu, während sie den Fuchs zurechtrückt und er ihr den Mantel um die Schultern legt.

»Vornehm geht die Welt zugrunde«, flüstert Heinrich zurück, »es war bestimmt nicht meine Idee …«

»Aber so eine Prozession mit allen die ganze Berglehne runter bis zur Kirche – ich wäre mir vorgekommen wie bei einer Beerdigung.«

»Ist es das nicht irgendwie auch …?«, gibt Heinrich zurück, als hätte er wegen dieser Hochzeit immer schon Bedenken gehabt.

Aber jetzt ist weder der Zeitpunkt, Bedenken zu offenbaren, noch diese ergründen zu wollen, damit hätte er früher rausrücken müssen, aber das ist ganz und gar nicht Kettwiger Art.

Von seinen fünf Geschwistern ist nur Erna gekommen. Wim und Liese, so hieß es, können den Hof nicht alleinlassen, und August, einer seiner Zwillingsbrüder aus Velbert, will mit Schwägerin Clara direkt zur Kirche kommen. Zum anderen Zwillingsbruder, Gustav, hat man keinen Kontakt.

Ausgerechnet Heinrichs grünäugige Schwester Erna mit ihrem verschlagenen Katzenlächeln ist schon in aller Frühe angereist; Käthe war noch mit ihren Haaren beschäftigt gewesen und hatte keinen Bissen gegessen.

Karl lässt seinen Opel Kapitän weitere dreimal durch die Straße tuten – endgültig jetzt ist die gesamte Nachbarschaft aufmerksam geworden. Käthe meint im Herunterschreiten der fünf steinernen Treppenstufen an Heinrichs Arm hinter Fenstern und Gardinen Bewegungen zu erkennen; die Hoppe-Mädchen von nebenan drängeln sich gar vor dem offenen Fenster und winken, sodass Käthe um ein freundliches Zunicken nicht herumkommt. So viel Aufsehen ist ihr sehr unangenehm, aber so ist das nun mal, wenn ein Kind heiratet; doch wie es aussieht, wird ihr das ein zweites Mal erspart bleiben. Nur im ersten Moment ein tröstlicher Gedanke, denkt sie plötzlich und macht eine verscheuchende Handbewegung, die Heinrich aufblicken lässt.

Sie muss sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass Schwägerin Erna gleich hinter ihr läuft, das hört sie an dem unrhythmischen, schleifenden Schritt ihres nachgezogenen Beines, das sie nicht daran hindert, sich für was Besseres zu halten, seit sie den Reichen oben an der Pierburg das Anwesen sauber hält. Käthe hätte viel lieber Heinrichs andere Schwester hier gehabt, die stille, bescheidene Liese, auch wenn diese zweifellos mit ihrem strengen, dünnen Haarknoten und dem derben Schuhwerk nicht gerade zum Festtagscharakter beigetragen hätte. Diesbezüglich ist Erna schon vorzeigbarer und durch ihre Arbeit bei den wohlhabenden Leuten gewandter im Umgang mit ihren, Käthes, Schwestern und Brüdern; sie treffen ja nur alle Jubeljahre aufeinander.

Hoffentlich haben die Speldorfer und die Braunschweiger den Weg in die Kirche gefunden. Ihre größte Sorge ist, sie dort gleich nicht vorzufinden, wo doch Fine und Ludwig die lange Zugfahrt auf sich genommen haben und auch noch die unbequeme Übernachtung im winzigen Speldorfer Häuschen ihrer gemeinsamen Schwester Emma. Wenigstens wären ihre Schwestern auf diese Weise mal wieder beisammen, denkt sie und wie gemütlich sie spätabends noch beisammensäßen und wie sie die ganze Hochzeits-Gesellschaft durch den Kakao ziehen würden, im Mülheimer Platt natürlich, damit auch keiner sie versteht, was wirklich sehr komisch ist, weil sie ja allein wären und sogar ohne sie, ihre dritte Schwester. Käthe fühlt sich von einem heftigen Neidgefühl gepackt. Was ist nur mit ihr los?

Sie ist die Brautmutter und hat Wichtigeres zu bedenken, zum Beispiel, ob sie nach der Kirche beim Heimkommen die gedeckten Kaffeetische unten und oben so vorfinden wird, wie sie es angeordnet hat. Die beiden Töchter von Frau Thal, die sie für den Küchendienst angefragt hat, waren ihr allzu lustig vorgekommen, als sie heute früh von ihr eingewiesen wurden.

Das Hochzeitsauto setzt sich in Bewegung, Karl fährt im Schritttempo, und Käthes mit üppigem Gold behängte Schwägerin Elisabeth auf dem Beifahrersitz hat das Fenster runtergekurbelt und plaudert mit Emilie und Leni, die sich am Arm ihrer Trauzeugen beeilen, Schritt zu halten, damit sie gleichzeitig mit dem Brautpaar bei der Kirche ankommen. Die Tulpen in ihren Armen sehen jetzt schon aus, als würden sie die Strapazen nicht überstehen.

»Ich muss sagen, ich bin noch nie mit so vielen jungen Frauen spazieren gegangen. Ihre Töchter sind ja allesamt Schönheiten!«, hört Käthe zu ihrem großen Erstaunen Heinrich zu Lina sagen, die an seiner anderen Seite geht, als hätte er zwei Ehefrauen.

Linas Mann ist seit mehr als zehn Jahren tot, Genaueres weiß Käthe nicht.

»Sie kennen Senta noch nicht, meine Älteste, sie ist bei Weitem die Hübscheste. Aber wie Sie von Rudi wissen werden, ist sie sehr krank und kann heute nicht dabei sein. Tuberkulose. Sie darf ihr Zimmer nicht verlassen und hat außerdem das Kind bei sich. Eine Zweijährige … Aber wo ist Ihre Älteste?«

»Ich hoffe, sie sitzt schon auf der Orgelbank und spielt sich die Finger warm – da oben wird es noch frischer sein als hier draußen«, antwortet Heinrich mit dem Lächeln eines Conférenciers.

Dem Himmel sei Dank, dass er nicht nur eine überraschende Galanterie an den Tag legt, sondern auch noch mit Leichtigkeit auf den Themenwechsel – weg von Linas kranker Tochter mit ihrem unehelichen Mädchen – eingeht. Käthe spürt ein paar erste Schweißtröpfchen auf ihrer Stirn. Sie muss einen Moment stehenbleiben und bückt sich, um in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch zu kramen, da sieht sie den Fuchskopf zwischen ihren Schuhen baumeln, die glänzende kleine Nase nur wenige Zentimeter über dem festgetretenen Lehm der dörflichen Straße, aus dem spitze Steine ragen. Während sie sich mit der rechten Hand über die feuchte Stirn fährt, greift sie mit der anderen unter ihren Mantelkragen und zerrt das Tier am Schwanz nach oben; sie fühlt sich gänzlich in Unordnung geraten.

Schon sind Lina und Heinrich ein paar Schritte weiter; von hinten könnte man meinen, sie wären ein Paar. Lina hat sich umstandslos bei Heinrich eingehakt, als wäre das eine Selbstverständlichkeit, und Heinrich hält sich besonders gerade; trotzdem wirkt er unvertraut mit dem schwarzen Anzug und dem Zylinder auf dem Kopf.

Ganz anders als Linas toter Mann, der Reichsbahnassistent Franz Dunkel in seiner mit goldenen Kordeln besetzten königsblauen Uniform.

Käthe hatte ihn nur ein einziges Mal gesehen, als sie und Heinrich mit dem Zug nach Bissingheim gefahren waren, um sich den Stadtteil anzusehen, in den sie ein Jahr später ziehen sollten, nichtsahnend, dass mit ihrem Einzug der Krieg beginnen sollte. Franz Dunkel hatte ihre Billetts kontrolliert und sie kurz angesehen. Sie müsste lügen, wenn sie leugnete, dass sie sich bisweilen diesen Blick in Erinnerung ruft. Damals konnte sie nicht wissen, dass der älteste Sohn dieses eleganten Mannes eines Tages ihr Schwiegersohn sein würde. Als sie Rudi erstmalig ins pfiffige Gesicht sah, hatte sie mit Ausnahme der Nase keine Ähnlichkeit feststellen können. Zwar hat er die graugrünen Augen seines Vaters geerbt, nicht aber die Schönheit seiner kühnen Gesichtszüge und seine kavaliersmäßigen Bewegungen, die sie damals einen Augenblick hatte glauben lassen, sie stiege gleich in ein chromglänzendes Automobil und nicht in einen stinkenden, weiße Dampfwolken ausstoßenden Zug.

Und Lina – selbst unter dem grauen Stoffmantel ist ihr Rücken ein eleganter weiblicher Rücken, der sich zur Taille hin etwas verjüngt, obwohl sie eine durchaus rundliche Figur hat. Nein, eher eine stattliche, muss man wohl sagen, was vielleicht an einem starken Korsett liegen mag und dem hochgereckten Kinn, das ihren Kopf mit dem schlohweißen Haar leicht im Nacken liegen lässt und ihr einen Ausdruck hochmütigen Stolzes verleiht. Erstaunlich weißes Haar – sie ist doch erst fünfundfünfzig … Mit der hohen, aus dem Gesicht frisierten Tolle sieht sie wahrhaftig aus, als trüge sie ein Diadem.

Sie, Käthe, nur ein Jahr jünger, hat kein einziges graues Haar im dunklen Brünett und ist heute außerdem frisch onduliert; noch vor wenigen Stunden war sie mit ihrem Anblick sehr zufrieden. Aber seit Lina eingetroffen ist, meint sie zu verblassen wie die schlammbraune Fotografie ihrer Urgroßmutter, während Lina jede Minute den Eindruck macht, als blicke sie voller Stolz auf ein uraltes Adelsgeschlecht zurück.

Von hier aus läuft die Straße schnurgerade auf die evangelische Kirche zu. Mit ihrem viereckigen Kirchturm an der rechten Seite, auf dem die viel zu kleine Spitze wie ein Hütchen sitzt und das Kirchendach kaum überragt, sieht sie klein und bescheiden aus, findet Käthe, aber irgendwie auch freundlich und nicht so ehrfurchtgebietend wie der viel größere strenge Bau von St. Raphael. Und die Glocke hat einen schönen, wenn auch leichteren Klang als die katholische, und jetzt, an einem Samstag nach dem Zwei-Uhr-Läuten und dem Einfallen der zweiten Glocke, wird man sich in ganz Bissingheim fragen, wer da heiratet.

Käthe spürt einen kleinen Ruck durch Heinrichs Körper gehen – ist es die zweite Frau an seiner anderen Seite, die ihn die Schultern straffen lässt?, fragt sie sich –, aber da sind sie und ihr kleines, heiter plapperndes Gefolge auch schon bei der Kirche angekommen; zu früh allerdings, denn die Kirchentür ist noch verschlossen.

Man steht etwas unschlüssig beieinander: Schwägerin Erna, Trudes Freunde, die ungeschickte Tilda Blöß, Irmgard und Horst, daneben Linas jüngster Sohn Fritz und dessen Freundin, die ihr noch gar nicht vorgestellt worden ist, das fällt Käthe erst jetzt auf. Sie nickt dem Mädchen, dessen kariertes, küchenschürzenähnliches Kleid um einige Zentimeter unter dem zu kurzen Mantel hervorschaut, freundlich lächelnd zu. Sie darf sich nicht mit Unwichtigem verzetteln, muss sich konzentrieren, alles im Blick behalten, die ganze große Verwandtschaft, die sich schließlich lebenslang an diesen Tag als an etwas Einmaliges erinnern soll.

Ein paar neugierige Kinder drücken sich um die Buchsbaumhecken herum, die den Weg zum Kirchenportal einsäumen – hat Rudi an Bonbons zum Werfen gedacht?, fragt Käthe sich erschrocken. Wie unangenehm, wenn man die Kinder wegjagen müsste, nur weil man nichts in der Tasche hat – ein fürchterlicher Brauch! Dass sie daran nicht gedacht hat – aber muss immer sie an alles denken? Was, wenn die Kinder nicht dazu zu bewegen sind, den Weg freizugeben?

»Da sind ja Karl und Elisabeth«, sagt Heinrich, »sie haben wohl um die Ecke geparkt – und Rudi und Trude sind gerade durch den Seiteneingang rein.«

»Es wäre dem Feierlichen auch abträglich, wenn die Gemeinde sie schon vor dem Einzug sähe«, bemerkt Lina, und ihre langsame Art zu sprechen, bei der ihr die weichen Konsonanten summend und die harten wie kleine Explosionen von den Lippen kommen, ist von einem so reinen Hochdeutsch, dass man kurz aufblicken möchte. Sie zupft sich den Kragen ihres Mantels zurecht, hängt ihre kleine schwarze Handtasche in ihre Armbeuge und wendet sich entschlossen, als wäre es an ihr, die Sache voranzutreiben, dem Kirchenportal zu, das sich in dem Augenblick wie von Geisterhand öffnet.

Der noch recht junge Pfarrer Wegemann erscheint im bogenförmigen Rahmen, beide Arme mit den schwarzen, lang herunterhängenden Talar-Ärmeln ausgebreitet, als wolle er die Versammelten segnen, dabei drückt er nur die schweren Holzflügel auseinander. So verharrt er eine Weile, bis er sich der Aufmerksamkeit aller sicher ist; das jedenfalls hatte Käthe während zurückliegender Gottesdienste schon mehrmals beobachtet. Auch ist sie wieder von seinem blinden Auge unangenehm berührt, das milchig-perlmuttern schimmert wie das eines toten Fisches.

Im Rhythmus des Glockenschlages schreitet Heinrich voran auf die Kirchentreppe zu, mit ihr am rechten Arm, am linken Lina, die keine Anstalten macht, als wolle sie den Arm ihres Mannes jemals wieder loslassen. Was wird Pfarrer Wegemann von ihnen denken? Der alte Appeltrath mit zwei Frauen! Im besten Fall wird er diesen Aufzug für einen Akt der Nächstenliebe halten, denn dass sowohl sie als auch Lina keine Anhänger einer Vielweiber-Sekte sind, sondern Mitglieder seiner kleinen evangelischen Gemeinde, weiß der Pastor wohl am besten; aber Heinrich gehört nicht zu den sanftesten Lämmern seiner Herde. Käthe würde sogar behaupten, er ist ein dickköpfiger Bock, wenn es um die Geistlichkeit geht, insofern könnte Herr Pfarrer dieses als einen Affront verstehen, auf den er meint, mit einem seelsorgerischen Besuch reagieren zu müssen. Käthe will ihn milde stimmen und lächelt ihm ersatzweise für alle ihn unsympathisch findenden Gemeindeglieder mit einer Herzlichkeit entgegen, die sie sich selbst nicht abnimmt.

Aber dieses ist Trudes Hochzeit.

Das denkt wohl auch der Pfarrer, der sich nun umdreht und den Eingang freigibt. Möglicherweise hat er sich an seine eigene Hochzeit erinnert, die noch nicht lange zurückliegt, wenn er auch schon zwei Kleinkinder im Abstand von höchstens einem Jahr hat und das dritte unterwegs ist. Weitere werden folgen, denkt Käthe, Platz hat er ja genug im größten und schönsten Haus Bissingheims mit Erkerchen und Rundungen wie kein zweites. Höchstwahrscheinlich war es ursprünglich für eine Art Ortsvorsteher oder Bürgermeister gedacht, jedenfalls für eine Person von Wichtigkeit. Nun gut, das ist jetzt offensichtlich der junge Pfarrer Wegemann. Deswegen wohnt er nicht im bescheidenen Pfarrhaus neben der Kirche. Da haust die mausearme Küsterin mit ihren zwei Kindern ohne einen Vater.

Im Kirchen-Vorraum bleibt Heinrich plötzlich stehen, weil Lina ihren Mantel ausziehen möchte. Was bleibt Käthe anderes übrig, als auch ihren auszuziehen. Es ist erst März. Sie ahnt, dass sie frieren wird. Aber Trude, Emilie und Leni werden mit ihr frieren. Und wegen ihres Kleides muss sie sich nicht schämen. Im Gegenteil sogar. Das Herz war ihr aufgegangen, als sie diesen Musselin in Neudorf entdeckt hatte; Trude hat ihn als Hochzeitsgeschenk von ihrer Chefin mit erheblichem Preisnachlass bekommen. Taubenblau mit einem winzigen weißen Muster. Sie hatte sich lange kein solch elegantes Kleid genäht, mit einem frischen weißen Spitzenkrägelchen, und vor allem: kein Schwarz! Wie das von Lina Dunkel. Einen kurzen Augenblick fühlt sie sich selbst wie eine Braut, dann verstummt die Orgel mit einem ersterbenden Laut; Mariechen hat sich warmgespielt und wartet nun auf den Einzug des Brautpaares.

»Du meine Güte!«, entfährt es Heinrich, als sie ihren Fuß auf den rostbraunen Sisalläufer setzen, mit dem der Mittelgang bis vor den Altar ausgelegt ist – die Kirche ist bis auf den letzten Platz besetzt. Erleichtert sieht Käthe über die vielen Köpfe hinweg, dass die beiden ersten Reihen freigehalten wurden, und sie gemahnt sich, nur nicht überwältigt auszusehen, als hätte sie mit höchstens dreißig Menschen gerechnet, nämlich genau denen, die zur Hochzeit eingeladen wurden.

Lina hat nun doch Heinrichs Arm losgelassen und schreitet zügig im Mittelgang voran, und Käthe zerrt ein wenig an Heinrichs Ärmel, um nicht abgehängt zu werden. Von beiden Seiten nickt man ihr zu, sie muss zurücknicken, lächelt in bekannte und unbekannte Bissingheimer Gesichter; je näher sie dem Altar kommt, desto vertrauter werden ihr diese. Da sind sie ja, die Braunschweiger! Fine und Ludwig, neben den Speldorfern – Bruder Wilhelm und Schwägerin Martha, Schwester Emma und Neffe Rudolf. Mit einem schnellen Blick erfasst sie, dass Rudolfs sogenannter Freund Adi nicht dabei ist, dem Himmel sei Dank. Auch Lina grüßt, allerdings zur anderen Stuhlseite hin, da sitzen wohl die Borbecker und wer weiß welche Verwandten noch; sicher ist nur, dass von Linas fünf Geschwistern nur die Borbecker Schwester zugesagt hat, was Rudi enttäuscht zur Kenntnis genommen hatte. Sie, Käthe dagegen, ist heilfroh, wie hätte sie sich all die Namen merken sollen?

Vor dem schlichten braunen Holzaltar stehen zwei Stühle für das Brautpaar, auf dem Altar ein dicker Strauß weißer Flieder, wie Trudes Brautstrauß. Immer noch ist ihr rätselhaft, wie Trauzeuge Maxsein an Flieder gekommen ist, jetzt im März.

Kaum hat sie sich neben Heinrich auf ihrem Stuhl zurechtgesetzt, da braust auch schon die Orgel auf, Käthe erkennt Großer Gott, wir loben dich.

Alle stehen auf, wenden sich zum Eingang um, sie sieht hoch zur Orgelbühne. Mariechen sitzt kerzengerade auf der Orgelbank, die Hände gehen auf und ab auf der Tastatur, sie strahlt, regelrecht schön sieht sie aus, denkt Käthe gerührt. Neben ihr steht Hilde Koch mit ihrem Instrument in der Hand, sie ist Orchestergeigerin. Ein Glücksgefühl durchströmt Käthe: Dass Mariechen eine solche Freundin hat! Was wäre das Leben ohne Musik? Nicht, dass sie sich auskennen würde. Aber was schön ist, fühlt sie mit jeder Faser ihres Körpers, dafür muss sie nichts wissen, rein gar nichts.

Genau in dem Moment, als Pfarrer Wegemann den Kirchenraum betritt und hinter ihm Trudes Brautkleid sichtbar wird, ist das Orgelvorspiel vorbei, und es erklingen die ersten festlichen Akkorde von dem prächtigen, sehr weltlichen Marsch, den sie inzwischen mitsummen kann, weil Mariechen ihn wochenlang zu Hause auf dem Klavier geübt hat. Käthe sieht Pfarrer Wegemann stutzen; wenn er könnte, würde er strafend nach oben sehen, so aber geht er steif, wenn auch im Schlag der festlichen Einzugsmusik weiter, doch mit sichtlich missbilligendem Ausdruck auf den starren Zügen: Was denkt sich dieses Fräulein Appeltrath? Der Apfel fällt nicht weit vom Stamm! Bestimmt merkt er sich diesen weiteren Punkt für seinen seelsorgerischen Besuch vor, das sieht Käthe kommen, doch schon perlt der Gedanke an ihr ab wie das Wasser an der Gans, denn jetzt kommt Trude ihr an Rudis Arm entgegen, mit dem Ausdruck reinen Glücks auf dem Gesicht. Käthe ist zutiefst berührt, ein Schmerz pulsiert sekundenlang an ihrem Brustbein, sie bricht in Tränen aus, nicht etwa verhalten und fein, wie es sich für eine Brautmutter gehört, nein, sie schluchzt so laut auf, dass Heinrich sie erschrocken ansieht und sie sich entsetzt ein Taschentuch vor den Mund drückt. Aber es hilft nichts, ihre Tränen lassen sich nicht eindämmen, sie fließen umso mehr, als Trude sie, ihre Mutter, im Moment des Vorübergehens so liebevoll anblickt, wie vielleicht nie zuvor in ihrem einunddreißigjährigen Leben, oder bildet sie sich das ein und hat es nur nicht mitgekriegt bei all der Arbeit und der wenigen Zeit, die sie für die Mädchen hatte?

Erst als sie einen Blick in das Gesicht ihrer Jüngsten wirft, die hinter dem Brautpaar am Arm des großen Göttingers vorbeigeht, ist ihr, als gewönne sie wieder festen Boden unter den Füßen. Emilie blickt sie mit dem gewohnt skeptischen Zug um die Augen an, die trotz der blauen Farbe, die sie wohl von Heinrich hat, irgendwie Ernas Katzenaugen sind. Die gelben Tulpen liegen trostlos matt in ihrer Armbeuge, und auch die in Lenis Arm lassen die Köpfe hängen, aber der geschniegelte Trauzeuge an Lenis Seite mit dem ölig gewellten Haar zieht erstaunte Blicke auf sich, was Käthe nicht weiter wundert. Dieser Erich Maxsein hat just vor ein paar Wochen ein kleines Juweliergeschäft vor dem Dorfplatz in einer Ladenbaracke eröffnet. Aber was hat Leni Dunkel mit dem zu schaffen?

Als der Pfarrer den Altar erreicht, setzt sich die Gemeinde, auch Trude und Rudi nehmen Platz, die kleine Ilse Möllenberg wird von ihrer Mutter in Empfang genommen und auf einen freien Stuhl gezogen. Mariechen spielt punktgenau die letzten Akkorde vom allzu weltlichen Händel-Marsch, die allerbeste Wahl für diesen Einzug, denkt Käthe und richtet ihr Kleid über den Knien.

Das Nächste, was sie wahrnimmt, als sie durch einen Tränenschleier der Rührung und einem Gefühl unendlicher Liebe, die sich auf niemand Bestimmten richtet, aber ausgelöst wurde durch Rudis Gesicht, das beim Treueschwur von einer so innigen Zärtlichkeit durchleuchtet ist, dass ihr der Gedanke, jemals an ihm als dem absolut Richtigen für Trude gezweifelt zu haben, eine glühende Schamwelle durch den Körper jagt – das Nächste also, was sie erblickt, als sie ihr längst durchweichtes Taschentuch von den Augen nimmt und in ihre Handtasche stecken will, ist der Fuchs, der zusammengerollt wie eine schlafende Katze vor ihr auf dem Steinboden liegt. Sie sitzt in der ersten Reihe, dem Pfarrer preisgegeben, dessen sehendes Auge entgeistert auf das Tier zu ihren Füßen starrt, dieweil seine Hände segnend über den Köpfen der Brautleute schweben.

Käthe hört ihn »… nun Mann und Frau« murmeln, und mit seinen herabsinkenden Armen sinken auch Rudi und Trude auf ihre Stühle, und von der Orgelbühne dröhnen die ersten Klänge des Vorspiels von Du meine Seele singe, in die Hildes Geige jetzt jubilierend einfällt, bevor es die Gemeinde ihr gleichtut.

Käthe kann ihren Blick nicht vom Fuchs lösen und wagt sich nicht zu rühren. Sie spürt eine Desorientiertheit, wie damals als Kind, als ihr ein harter Schneeball gegen die Schläfe geflogen war.

Heinrich schlägt das Gesangbuch auf, hält es ihr mit einem auffordernden Ruck hin. Wohlauf und singe schön!, singt jetzt die große Hochzeitsgemeinde inbrünstig, aber Käthes Mund ist ausgetrocknet wie sonst nur im staubigen Hühnerstall, und sie kann Heinrich gerademal mit einem Blick nach unten ein Zeichen geben, das er gottlob richtig deutet. Getreu seinem Motto Hammer und Hand allein, lässt alle Kunst gedeihn, bückt er sich jetzt umstandslos, greift den Fuchs beim Kopf und zieht ihn hoch auf Käthes Schoß. Von einem plötzlichen Ekel erfasst weicht sie vor den kraftlos winkenden Pfötchen zurück. Als sie ihn gestern aus dem Schrank holte, klebte ein Büschel Haare an ihrer Hand.

Wohl dem, der einzig schauet nach Jakobs Gott und Heil. Begleitet von der sich in himmlische Höhen aufschwingenden Geigenstimme ist die Gemeinde bereits bei der zweiten Strophe angekommen. Pfarrer Wegemann steht jetzt mit dem Rücken zu ihr und hantiert mit etwas auf dem Altar, das sie nicht sehen kann, Trude und Rudi halten sich an den Händen und schauen sich in die tränenfeuchten Augen. So scheint doch im Moment alles seine Ordnung zu haben, und gleich wird sie zu Hause endlich eine Tasse Kaffee bekommen. Die bräuchte sie dringend eigentlich jetzt schon. Anstatt die Kinder der göttlichen Obhut anzuempfehlen, wie es Pfarrer Wegemann gerade von der Gemeinde verlangt, tobt ein Aufruhr in ihr, der ihre Nerven vibrieren lässt wie die Schnurrhaare einer sprungbereiten Katze.

Käthe setzt sich etwas anders hin und hält dabei Fuchs und Handtasche fest in beiden Händen, während sie Heinrich neben ihr erstaunlich sicher Hier sind die treuen Sinnen, die niemand Unrecht tun singen hört. Was man nicht alles behält aus seiner frühesten Jugend; sie weiß nicht, wann er zuletzt neben ihr in der Kirche gesessen hat. Als hätte sie laut gedacht, sieht er sie kurz auf seine abwesende Weise an und hält ihr erneut das Gesangbuch hin. Jetzt endlich wirft sie einen Blick hinein, siebte Strophe. Sie hat die verschiedenen Variationen der Oberstimme überhaupt nicht mitbekommen, dabei hatte Mariechen sie extra ermahnt, genau hinzuhören, Hilde würde sie aus dem Stegreif erfinden. Aber Käthe hört statt Hildes Geigenspiel nur Linas Stimme wie eine Trompete aus dem Gemeindegesang heraustönen. Er ist der Fremden Hütte, die Waisen nimmt er an, erfüllt der Witwen Bitte, wird selbst ihr Trost und Mann.

Käthe beugt sich etwas vor und sieht auf der anderen Seite des Ganges Lina mit in den Nacken gelegtem Kopf und einem hoffnungsvollen Lächeln das große Kreuz über dem Altar ansingen, als sähe sie dort den Gekreuzigten. Aber am braunen, glatten Holz hängt niemand. Die Protestanten haben einfach mehr Fantasie als die Katholiken mit ihren elenden, blutüberströmten Heilanden, denkt Käthe, aber besser ER ist Linas Trost und Mann als ihr Heinrich.

Sie seufzt leise und lehnt sich wieder zurück.

Begleitet vom Glockenschlag tritt sie wenig später hinter dem Brautpaar durch die Kirchentür hinaus in die Sonne des kühlen Märznachmittags. Wie Mariechen es nur geschafft hat, noch im Verklingen des letzten Orgeltones durch den Turm und die Seitentür rechtzeitig nach draußen zu kommen! Jetzt steht sie jedenfalls mit ihrer Box vor dem Bauch unterhalb der Treppenstufen und fotografiert das Brautpaar mit seinen Trauzeugen rechts und links. Käthe setzt ein Lächeln auf und blickt zwischen Trude und Rudi hindurch, damit wenigstens ihr Kopf auf dem Foto zu sehen sein wird, aber das Lächeln vergeht ihr, als sie das dicke graue Tau erspäht, das die Kinderhorde unten vor der Treppe aufgespannt hat.

»Hier, Rudi«, hört sie Emilie sagen, »Bonbons und Kupfergeld!«

Meine gute, praktische, schlaue Emilie, denkt Käthe mit großer Erleichterung, eine tüchtige Trauzeugin. Ich schätze das Kind falsch ein. Nein, das ist nicht wahr. Die Sache ist anders. Aber jetzt wirft Rudi mit vollen Händen all das, was im weißen Säckchen ist, den johlenden Kindern zu, und schon sinkt das Tau schlaff zu Boden, und das Brautpaar will die Treppe hinunter schreiten, aber die kleine Ilse steht wie erstarrt und erinnert sich erst wieder an ihre Aufgabe, als Emilie sich vorbeugt und ihr eine Handvoll bunter Blütenblätter aus dem Körbchen vor die Füße streut.

Rudi und Trude beeilen sich, jetzt zügig über das Seil zu kommen, hinter ihnen her die Familie und nach und nach auch die ganze Gemeinde.

Glückwünsche über Glückwünsche, Umarmungen und kleine Ansprachen begleitet vom feierlichen Läuten auf dem kleinen Kirchplatz in der kühlen Märzsonne. Käthe zieht ihren Mantel enger um sich und tastet nach dem Fuchs. Eine unbezähmbare Ungeduld macht sich in ihr breit. Gab es von Stötzels nicht schon eine Karte samt Topfblume? Und nicht auch vom grauen, zerbrechlichen Fräulein Mönch und ihrem Vater?

»Der alte Nazi!«, murmelt Heinrich neben ihr.

»Nicht jetzt, Heinrich!«, zischt sie und bringt es fertig, dabei kaum die Lippen zu bewegen. Das scheue Fräulein Mönch mit ihrem leisen Stimmchen tut ihr leid, und außerdem sieht sie die katholischen Höhnerbachs geradewegs auf die Kirche zulaufen, höchstwahrscheinlich zum Gratulieren, obwohl auch von ihnen schon eine Hortensie auf der Treppe steht. Lina jedoch begrüßt ihre Nachbarn sichtlich hocherfreut mit ausgestreckten Armen. Aber der Kaffee, den die Thal-Töchter sicher schon auf die Tische gestellt haben, der wird kalt.

3

DIE HOCHZEITSFEIER

Käthe

»Sie Gute!«, hört Käthe sich ausrufen, als sie Frau Thal mit weißer, gestärkter Schürze in der Küche vorfindet, wo sie ihren Zwillings-Töchtern die vollen Kaffeekannen auf die Tabletts stellt. »Sie schickt der Himmel!«

»Ganz und gar nicht! Es ist der reine Eigennutz, falls es jemals bei meinen beiden so weit sein sollte – es könnte ja eine Doppelhochzeit werden!«

»Nach dem heutigen Tag kann mich nichts mehr erschüttern«, erwidert Käthe lachend. »Merken Sie mich jetzt schon als Küchenhilfe vor!«

Die heitere Gelassenheit, die Frau Thal verbreitet, tut Käthe gut. Sie hätte sich einige Grübeleien ersparen können, wenn sie die patente Nachbarin gleich um ihre Mithilfe gebeten hätte, aber etwas hatte sie davon abgehalten – war es die mehr oder weniger unbewusste Befürchtung, sie gestünde sich damit ein, der Ausrichtung einer einfachen, kleinen Hochzeit nicht gewachsen zu sein? Sie weiß es nicht, irgendetwas hatte sie geritten, wie es ihr manchmal passiert, gegen alle Vernunft und immer mit einem für sie schädlichen Ausgang. Nun, in diesem Fall hat der Herrgott ihr gerade noch rechtzeitig Einsicht geschenkt, und sie hat Frau Thal die Regie über die Bedienung an den beiden Kaffeetafeln oben und unten überlassen, sodass sie ihre Gäste, allen voran ihre Schwestern, richtig begrüßen kann.

Emma sitzt bereits wie ein Fels auf ihrem angestammten Platz, den sie immer bei ihren Besuchen einnimmt: Am Kopfende des Tisches, mit dem Stubenfenster im Rücken, damit ihr das grelle Licht nicht ins Auge fällt. Es ist nicht Emmas Korpulenz bedingte Unbeweglichkeit, die ihre Begrüßung für alle Anwesenden distanziert aussehen lassen muss, im Umarmen sind sie schlichtweg ungeübt, körperliche Nähe war niemals üblich zwischen ihnen. Aber Emma scheint guter Dinge zu sein, das sieht Käthe ihr an; was hingegen Emma noch sieht, ist schwer zu sagen. Das rechte Auge hat man ihr entfernen und durch ein Glasauge ersetzen müssen, das andere wird wohl täglich schwächer, blickt aber jetzt durchaus wohlgemut, so gut kennt Käthe sie. Rudolf legt ihr soeben Serviette und Kuchengabel in eine griffbereite Position, die seiner Mutter hilfloses Ertasten ersparen soll. Darin ist er geübt, ist immer aufmerksam für alle ihre Belange, schon seit Kindesbeinen. Und wie immer ist Käthe gerührt über so viel Fürsorge und Hingabe des Sohnes für seine Mutter und freut sich ersatzweise für ihre Schwester, denn die kann die bewundernden Blicke ja nicht sehen, die Rudolf auf sich zieht. Trotz der leicht hervorquellenden Augen ist er bei Weitem der schönste Mann hier, der einzige mit einem erlesenen Geschmack und natürlich mit einem Gehalt, das ihm sein elegantes Erscheinungsbild überhaupt erst möglich macht. Rudolf ist Prokurist bei Hugo Stinnes in Mülheim. Darauf, dass er seit seiner Lehre als Bürokaufmann ein festes Mitglied dieser Firma ist, sind sie alle stolz, als hätte er in eine der wohlhabendsten und angesehensten Familien Deutschlands eingeheiratet, noch dazu in eine aus ihrer nächsten Nachbarschaft, die sie alle bestens kennen. Finanziell kann Rudolf jetzt schon mit seinen beiden Onkeln mithalten, nimmt Käthe an; Wilhelm hat eine Schreinerei mit einer Werkstatt im Hof des Speldorfer Elternhauses, in dem Emma immer noch wohnt, und Karl ist leitender Angestellter in einer prosperierenden Mülheimer Sanitärfirma.

»Katchen, nun setzt dich doch endlich mal!«

Fine reißt sie aus ihren Gedanken – nächstes Jahr wird die kleine Schwester schon fünfzig – niemand würde das glauben, und Großmutter ist sie auch schon; das Leben ist oft ungerecht. Lebhaft will Fine ihr quer über den Tisch einen Teller mit einem Stück Stachelbeerkuchen anreichen, ihre cremefarbenen Spitzenärmel bringen das Milchkännchen in Gefahr.

»Vorsicht!«, ruft Käthe zu spät, und die Milch ergießt sich über das reinweiße Damasttuch; Emma zuckt erschrocken zusammen und macht eine unwirsche Kopfbewegung in ihre Richtung.

»Nichts passiert, Mutter.«

Rudolfs Ton ist ruhig, und die Bewegung, mit der er das Glaskännchen aufnimmt und seine Serviette über der verschütteten Milch ausbreitet und andrückt, ist von einer gewissen Anmut, wie man sie bei Männern selten beobachtet. Fine sinkt zurück auf ihren Stuhl und tätschelt schuldbewusst Emmas kraftlos auf dem Tisch liegende Hand. Käthe setzt sich endlich auch. In dieser Ecke fühlt sie sich trotz des erhöhten Unfallrisikos durch eine temperamentvolle und eine fast erblindete Schwester doch am besten aufgehoben, obwohl sie sich von Schwager Ludwig fixiert fühlt. Er ist Polizist. Das kann sie beim besten Willen nicht ausblenden. Als gäbe es unter der Uniform keinen Menschen. Ohne auch nur einen Anflug von Schuldbewusstsein hält er in der lässig erhobenen Hand eine dicke Zigarre und bläst graue Wölkchen über die Sahnetorte. Käthe blickt auf ihren Kuchen, lässt ihre Gabel durch die Stachelbeeren und die weiche Lage Vanillepudding gleiten. Es lässt sich nicht alles regeln. Aus den Augenwinkeln sieht sie Heinrich, wie er Linas Stuhl zurechtrückt, und, genau wie sie befürchtet hatte, glimmt auch in seiner Hand schon eine Zigarre. Umgehend fühlt sie sich, als befände sie sich unter Kindern. Wenn sie jetzt schon das Fenster aufreißt, wird Emmas einzige, dafür aber unvergessliche Erinnerung an den Hochzeitstag ihrer Nichte ein Hexenschuss sein.

Käthe versucht, ihr Kuchenstückchen aufzuspießen, aber der Boden ist widerständig hart, sie weiß warum: Damit Mariechen etwas davon essen kann – damit sie überhaupt auch nur irgendein Stück Kuchen essen kann –, darf er nicht das kleinste bisschen Ei enthalten, nicht auch nur ein Gramm. Das macht das Backen eines Tortenbodens zu einer Meisterleistung. Natürlich nur, wenn man mit Anstand eine Gabel voll davon nehmen kann, ohne dass der Boden in tausend kleinen Bröckchen über die ganze Tafel springt. Fine lacht auf, Emma lächelt, obwohl sie nicht wissen kann, was so lustig war. Käthe ist nicht nach Lachen zumute, sie nimmt einen Schluck Kaffee und sagt dann vernehmlich in die Runde: »Beim Stachelbeerkuchen ist Vorsicht geboten, Explosionsgefahr. Besser ihr macht euch über den Gedeckten Apfel und die Sahnetorte her!« Und den Stachelbeerkuchen bring ich in die Küche, dann hat Mariechen morgen auch noch ein Stück. Das sagt sie jedoch nicht laut und steht auf.

Die Zigarren stinken, die Luft wird schwer. Vielleicht öffnet sie am besten das kleine Fenster in der Küche, aber dafür muss sie an Linas Schwester Minna vorbei, die sich ihr jetzt auf dem Stuhl zudreht.

»Wir haben uns noch gar nicht Guten Tag gesagt!«

In Minnas Stimme liegt kein Vorwurf.

»Sie müssen Rudis Tante sein – Frau Diederich, nicht wahr? Sie sehen Ihrer Schwester sehr ähnlich!«

Wieder sieht Käthe sich beide Arme ausstrecken und Minnas Rechte mit beiden Händen umfassen, als hätte sie seit Wochen auf niemand anderes als die Frau des Borbecker Milchmanns gewartet. Minna Diederich dankt es ihr mit einem wirklich herzlichen Lächeln, das sie wie eine weiche, heitere Version ihrer Schwester Lina aussehen lässt.

»Was für eine schöne Hochzeit! Und was für ein Glück für unseren Rudi – er hätte keine bessere Frau finden können!«

»Ja, eine wunderbare Trauung – ich bin erleichtert, dass alles so reibungslos vonstattengegangen ist, man weiß ja nie …«, sagt Käthe, während sie Hermann Diederich, dessen freundliches, aber nach Hungersnot aussehendes Gesicht ihr gleich sympathisch ist, über den Tisch hinweg die Hand gibt und dann auch der neben ihm sitzenden, verlegen kichernden jungen Frau mit einer blässlichen Gesichtsfarbe, vermutlich ihre Tochter Inge. Gab es nicht auch noch einen Sohn? Waldemar? Sie fragt nicht nach und ertappt sich dabei, dass sie inzwischen über jeden nicht erschienenen Gast froh ist.

»Damit, dass die Braut Nein sagt oder der Bräutigam gar nicht erst erscheint, war ja wohl nicht zu rechnen gewesen!«, versetzt Minna gutgelaunt und trifft Käthe damit ins Mark, denn in dem Augenblick wird ihr klar, dass sie genau das nicht für unmöglich gehalten hatte.

Passend zum irrwitzigen Gedanken erbebt die Zimmerdecke, oben poltert es. Stimmen werden laut, sie hört Emilies heraus, sie klingt aufgebracht, verstehen kann sie jedoch nichts, aber die Sorge, Emilie könnte mit einem ihrer aufrührerischen Themen Missstimmung unter den jungen Leuten erzeugen, nimmt von ihr Besitz. Sie beschließt, Rudi und Trude ein Zeichen zu geben, damit sie ihren Standort wechseln; hier unten haben sie mit ihrer Anwesenheit bei allen Tanten und Onkeln Anstand und Sitte Genüge getan und könnten oben unauffällig nach dem Rechten sehen. Es wurde doch nicht etwa schon Alkohol serviert? Die Pfirsichbowle zieht noch in der Küche, und die Bierflaschen stehen im kühlen Keller, wenn man nicht heimlich eine entwendet hat. Diesbezüglich muss sie Fritz, Rudis jüngsten Bruder, im Auge behalten. Hier unten ist er nicht. Wie gut, dass Trude und Rudi gerade im Begriff sind aufzustehen, um sich oben blicken zu lassen – aber nein, Rudi will etwas sagen und verschafft sich Gehör, indem er mit dem Kaffeelöffel gegen seine Tasse schlägt.

»Es tut mir leid, euch aufzuscheuchen, aber jetzt ist der beste Zeitpunkt für unser Hochzeitsfoto, noch scheint die Sonne – also, wenn ich euch raus auf die Wiese bitten dürfte?«

Käthe schnellt hoch, blickt durch die Gardinen hinaus in den Garten und erwartet Mariechen mit ihrer Box auf der Wiese zu sehen, wo sie mit einem kleinen Gerät, das an einer goldfarbenen Kette hängt, die Abstände vom Objektiv zum Objekt ausmisst, aber es ist eine Gruppe von vier Männern, auf die ihr Blick fällt; sie haben sich direkt unter dem Fenster im Hof versammelt. Blankgeputztes Metall blitzt in der Sonne. Bevor sie erkennt, dass dieses der Posaunenchor des CVJM ist, in dem gewöhnlich auch Rudi mitspielt, ertönt Lobt froh den Herrn, ihr jugendlichen Chöre, vierstimmig und selbst von der Trompete ziemlich sauber geblasen, soweit sie das durch das geschlossene Fenster hört. Erstaunt erkennt sie im Trompeter Rudis Bruder Fritz.

Nun ist es unabänderlich, Käthe öffnet das Fenster hinter Emmas rundem, zusammengesackten Rücken, feierlich tönt es herein, und als Käthe sich umdreht, sieht sie die Gäste andächtig lauschen und Tränen in Trudes Augen schimmern. Rudis Arm ist um ihre Schultern gelegt, er sieht recht zufrieden aus, vielleicht hat er das Ständchen selbst organisiert, oder es ist das Geschenk von Fritz, dem von ihr zu Unrecht Verdächtigten.

»Bitte recht freundlich!«, ruft Mariechen, bevor sie auf den Auslöser drückt.

Sie hat gut reden, die Sonne steht tief, und man kann nicht anders, als mit mehr oder weniger zusammengekniffenen Augen zu blinzeln; nur Lina hat offensichtlich die Lage gleich richtig eingeschätzt, weiß sich wortwörtlich ins rechte Licht zu setzen und hat Heinrich ihr Profil zugedreht. Käthe reißt mit Anstrengung ihre Augen auf, damit sie auf dem Hochzeits-Gruppenfoto ihrer Tochter nicht mit grimmig zusammengezogenen Brauen eine zweifelnde Brautmutter abgibt, und überprüft kurz, wie der Fuchs liegt, den sie im Rausgehen von der Garderobe gezogen und umgelegt hat.

Wo steht Fine? Sie ist so klein. Käthe kann sich jetzt nicht umdrehen, sie steht gleich hinter den auf Stühlen sitzenden frisch getrauten Eheleuten und der kleinen Ilse Möllenberg und weiß nicht, wie sich ihre Schwestern, Schwager und Schwägerinnen hinter ihr aufgestellt haben und ob überhaupt jemand so geistesgegenwärtig ist, die sehr große Tilda Blöß ganz nach hinten zu verfügen, wo sie mit ihrer weißen Bluse alle wie ein Leuchtturm überragen wird. Und auch der riesige Göttinger an Emilies Arm, direkt neben ihr, wäre besser in der letzten Reihe aufgehoben.