Beobachten und Dokumentieren im pädagogischen Alltag - Susanne Viernickel - E-Book

Beobachten und Dokumentieren im pädagogischen Alltag E-Book

Susanne Viernickel

4,4

Beschreibung

Dieses Buch zeigt, wie Erwachsene durch systematische Beobachtung und Dokumentation Kinder noch besser oder vielleicht auch ganz anders kennenlernen können. Kernstück des Buches sind Verfahren zur systematischen Beobachtung und Dokumentation unterschiedlicher Aspekte kindlicher Entwicklungs- und Bildungsprozesse.

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Susanne Viernickel • Petra Völkel

Beobachten und Dokumentieren im pädagogischen Alltag

Susanne Viernickel • Petra Völkel

Beobachten und Dokumentieren im pädagogischen Alltag

Bei einigen Texten war es trotz intensiver Recherche nicht möglich, den Rechtsträger ausfindig zu machen. Für Hinweise sind Autorinnen und Verlag dankbar.

Im Interesse der besseren Lesbarkeit und weil Frauen in frühpädagogischen Berufen prozentual stärker vertreten sind als Männer, wird in diesem Buch stets die Leserin angesprochen und auch meist die weibliche Form verwendet, wenn von pädagogischen Fachkräften die Rede ist. Selbstverständlich sind damit aber immer Leser und Leserinnen bzw. männliche und weibliche Fachkräfte gleichermaßen gemeint.

Erweiterte Neuausgabe 2022

(10. Gesamtauflage)

© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2005

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Satz und Umschlaggestaltung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

Umschlagbild: Klara Killeit

Fotos:

Seiten 76, 85, 86, 91, 105, 111, 121, 127, 132, 136, 137, 140, 146, 148, 151, 158: Bildarchiv Herder S. 13 (c) FatCamera/GettyImages; S. 16 (c) nyul/GettyImages; S. 21 (c) Yvonne Bogdanski/ AdobeStock; S. 23 (c) lagom/AdobeStock; S. 24 (c) ajijchan/GettyImages; S. 25 (c) HalfPoint/ GettyImages; S. 26 (c) romrodinka/GettyImages; S. 28 (c) brebca/GettyImages; S. 30 (c) FatCamera/ GettyImages; S. 32 (c) SolStock/GettyImages; S. 43 (c) DmitriyBezborodkin/GettyImages; S. 69 (c) SeventyFour/GettyImages; S. 167 (c) SolStock/GettyImages; S. 172 (c) kali9/iStock; S. 183 (c) SerrNovik/GettyImages; S. 184 (c) andreonegin/GettyImages;

E-Book-Konvertierung: Röser MEDIA GmbH & Co. KG, Karlsruhe

ISBN Print 978-3-451-38932-0

ISBN E-Book (EPUB) 978-3-451-82517-0

ISBN E-Book (PDF) 978-3-451-82511-8

Inhalt

Einleitung: Was Sie in diesem Buch erwartet

1. Beobachten als pädagogische Grundhaltung

1.1 Von der subjektiven Wahrnehmung zum Perspektivenwechsel

1.2 Einstellung gegenüber dem Kind

1.3 Beschreibung der kindlichen Handlungen

1.4 Erforschen der subjektiven Absichten der Kinder und erste Deutungen

1.5 Angebote machen und Impulse setzen

2. Beobachten und Dokumentieren als Elemente fachlichen Handelns

2.1 Beobachtung und Dokumentation in Qualitätshandbüchern und Bildungsplänen

2.2 Beobachten und Dokumentieren als Teil der Einrichtungskonzeption

2.3 Drei Säulen eines Beobachtungssystems

3. Beobachten und Dokumentieren in der praktischen Umsetzung

3.1 Beobachtung als pädagogisches Angebot?

3.2 Zeitliche und personelle Planung von Beobachtung

3.3 Wege zum Ziel: Zwei Praxisbeispiele

3.4 Die häufigsten Beobachtungs-„Fallen“ und wie man sie umgeht

4. Verfahren zur systematischen Beobachtung und Dokumentation von Entwicklungs- und Bildungsprozessen

4.1 Beobachtungsbasierte Bildungskonzepte

4.1.1 Das infans-Konzept der Frühpädagogik

4.1.2 Bildungs- und Lerngeschichten

4.1.3 Wahrnehmendes Beobachten

4.1.4 Early-Excellence-Ansatz

4.1.5 Die Leuvener Engagiertheitsskala

4.2 Beobachtung von Kompetenzen in mehreren Entwicklungs-/Bildungsbereichen

4.2.1 Kuno Bellers Entwicklungstabelle 0–9

4.2.2 Der Baum der Erkenntnis

4.2.3 Die Entwicklungsschnecken

4.2.4 Mondey

4.2.5 KOMPIK

4.3 Sprachliche Kompetenzen und Sprachstandsfeststellung

4.3.1 liseb, sismik, seldak, selsa

4.3.1.1 liseb

4.3.1.2 sismik & seldak

4.3.1.3 selsa

4.3.2 BaSiK

4.4 perik – positive Entwicklung und Resilienz im Kindergartenalltag

4.5 Ermittlung von Gruppenstrukturen (Soziogramme)

4.6 Beobachtung zur Früherkennung von Entwicklungsrisiken

4.6.1 Grenzsteine der Entwicklung

4.6.2 Entwicklungsbeobachtung und -dokumentation 3–48 (EBD 3–48) und 48–72 (EBD 48–72)

4.6.3 Beobachtungsbogen zur Erfassung von Entwicklungsrückständen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindergartenkindern – BEK

5. Dokumentationsformen

5.1 Dokumentation und Analyse spontaner Beobachtungen

5.2 Dokumentation und Analyse von ungeplanten Beobachtungen

5.3 Dokumentation und Analyse von Gesprächen mit Kindern

5.4 Dokumentation und Analyse von Fotografien und Filmaufnahmen

5.5 Portfolio-Dokumentation

6. Zum Abschluss: Was Sie auf jeden Fall beachten sollten, wenn Sie beobachten

6.1 Das Bild vom Kind

6.2 Perspektivenübernahme

6.3 Theoretische Grundannahmen zu Entwicklung und Entwicklungsverläufen

6.4 Beteiligung von Eltern und Kindern an der Dokumentation

6.5 Praktische Erfordernisse zur Arbeit mit den unterschiedlichen Verfahren

Literatur

Anhang

Über die Autoren

Einleitung: Was Sie in diesem Buch erwartet

Die Idee, Kinder zu beobachten, um sie zu verstehen, ist nicht neu, und als pädagogische Fachkraft tun Sie dies wahrscheinlich auch täglich, wenn Sie mit den Kindern Ihrer Gruppe spielen, sprechen und sich um sie kümmern. Deshalb wissen Sie in der Regel auch viel über die Kinder, die Sie betreuen. Sie können benennen, was die Kinder besonders gerne tun und was ihnen Spaß macht; Sie haben einen Eindruck davon, was einzelne Kinder besonders gut können, und Sie haben eine Idee davon, welche Kinder miteinander befreundet sind und häufig miteinander spielen. Andererseits sind Sie wahrscheinlich auch manchmal irritiert von dem, was die Kinder treiben. Sie fragen sich vielleicht, „was das jetzt schon wieder soll“, und haben den Wunsch, es genauer zu verstehen. Außerdem möchten Sie natürlich dem gesetzlichen Bildungsauftrag von Kindertageseinrichtungen gerecht werden und jedes Kind in seiner Entwicklung so gut wie möglich fördern.

Mit diesem Buch möchten wir Ihnen Anregungen und Hinweise geben, wie Sie durch systematische Beobachtung und Dokumentation die Kinder Ihrer Gruppe bzw. in Ihrem Verantwortungsbereich noch besser oder vielleicht auch ganz anders kennenlernen können. Dabei gehen wir davon aus, dass das, was Erwachsene an Kindern wahrnehmen, beeinflusst ist durch die Vorstellung, die sie vom kindlichen Lernen haben. Basierend auf Erkenntnissen der Pädagogik, der Entwicklungspsychologie und der Neurobiologie betrachten wir Kinder grundsätzlich als Wesen, die mit dem Wunsch, sich zu bilden, auf die Welt kommen, deren Neugier und das Bedürfnis, die Welt zu verstehen, keine Grenzen kennen, und die mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen, die sie umgebende Welt zu erforschen. Aufgabe von Erwachsenen ist es unserer Meinung nach, diesem Forscherdrang der Kinder mit einem breiten Angebot an individuellen Bildungsmöglichkeiten zu begegnen.

Um vor diesem Hintergrund die Bildungs- und Entwicklungsprozesse eines jeden Kindes möglichst optimal zu unterstützen und herauszufordern, ist unserer Ansicht nach die Beobachtung und Dokumentation kindlicher Bildungsprozesse unerlässlich. Die Beobachtung von Kindern betrachten wir als pädagogische Grundhaltung, denn nur durch jene Bildungsangebote, die auf die individuellen Interessen, Bedürfnisse und Wünsche der Kinder abgestimmt sind, ist ein Entwicklungsfortschritt zu erwarten.

Um Interessen, Bedürfnisse und Wünsche der Kinder zu verstehen, ist es notwendig, dass sich Erwachsene auf die kindliche „Weltsicht“ einlassen. Das erste Kapitel dieses Buches beschäftigt sich deshalb damit, warum es wichtig ist und wie es gelingen kann,

sich bei der Beobachtung in die Perspektive des Kindes zu versetzen,

davon auszugehen, dass das Tun des Kindes für es selbst Sinn macht (auch wenn Erwachsene diesen Sinn nicht gleich verstehen),

die subjektiven Absichten des Kindes zu erforschen

und darauf aufbauend Angebote zu machen und Impulse zu setzen.

Zum besseren Verständnis der kindlichen Weltsicht werden im ersten Kapitel einige typische Entwicklungsthemen von Kindern im vorschulischen Alter beschrieben.

In aktuellen Qualitätshandbüchern und in den Bildungsplänen der einzelnen Bundesländer wird der Beobachtung und Dokumentation kindlicher Bildungsprozesse als Element fachlichen Handelns große Bedeutung beigemessen. Das zweite Kapitel dieses Buches beschäftigt sich damit,

welche Aufgaben sich stellen und welche Kompetenzen von pädagogischen Fachkräften in Bezug auf die Beobachtung und Dokumentation erwartet werden

und gibt Hinweise darauf, wie Sie sich Klarheit darüber verschaffen können, wo Ihre Einrichtung in dieser Hinsicht im Augenblick steht, was sie leisten sollte und was sie leisten möchte.

Wie ein aus fachlicher Sicht geeignetes Beobachtungssystem konzipiert sein sollte, ist ebenfalls in Kapitel 2 beschrieben.

Das dritte Kapitel thematisiert, wie die systematische Beobachtung von Kindern als pädagogisches Angebot in die alltägliche Praxis integriert werden kann. Es werden Überlegungen dazu angestellt,

welche Chancen eine regelmäßige und reflektierte Beobachtungs- und Dokumentationspraxis für die Weiterentwicklung der pädagogischen Arbeit in der Einrichtung bieten kann

und welcher zeitlichen und personellen Planung es dazu bedarf.

Erfahrungen zweier Kindertageseinrichtungen illustrieren, welche Lösungen auch unter ganz normalen Praxisbedingungen hier gefunden werden können. Weiterhin finden Sie in diesem Kapitel, unter Bezugnahme auf Erkenntnisse aus der Wahrnehmungspsychologie und der Beobachtungsforschung, Informationen über mögliche Beobachtungsfehler und wie man sie vermeiden kann.

Kernstück des Buches ist das vierte Kapitel, in dem wir Ihnen beobachtungsbasierte Bildungskonzepte und Verfahren zur systematischen Beobachtung und Dokumentation unterschiedlicher Aspekte kindlicher Entwicklungs- und Bildungsprozesse präsentieren. In Kapitel 4.1 finden Sie zunächst umfassende Bildungskonzepte, die maßgeblich auf Beobachtungen zurückgreifen, um zu verstehen, mit welchen Themen und Inhalten sich Kinder auseinandersetzen, und welche Wege sie gehen, um sich Wissen und Kompetenzen zu erschließen. Dies bildet dann die Basis für die Bildungs- und Erziehungsarbeit in der Kindertageseinrichtung bzw. der Kindertagespflege.

Die Beobachtungsverfahren dieser Konzepte stellen „kindliche Praktiken, Sichtweisen und Selbst- und Weltzugänge in den Mittelpunkt“ (Blaschke-Nacak & Thörner 2019, S. 38). Das infans-Konzept der Frühpädagogik, die Bildungs- und Lerngeschichten, das Wahrnehmende Beobachten nach Gerd E. Schäfer, der Early Excellence Ansatz und die Leuvener Engagiertheitsskala bieten die Möglichkeit, zu identifizieren, wofür sich Kinder besonders interessieren, sich kindlichen Bildungs- und Lernprozessen anzunähern und zu verfolgen, ob die pädagogischen Angebote den „Bildungsnerv“ der Kinder treffen oder an ihren Interessen vorbeigehen.

Mit der Beobachtung kindlicher Entwicklungsverläufe in verschiedenen Entwicklungsbzw. Bildungsbereichen befassen sich die in Kapitel 4.2 versammelten Verfahren. Die Erfassung der Entwicklungsverläufe erfolgt in diesen Verfahren überwiegend nicht normativ,sondern bezieht sich auf die individuellen Stärken und Schwächen der Kinder. Die Kuno-Beller-Entwicklungstabelle, der Baum der Erkenntnis, die Entwicklungsschnecken sowie die Verfahren Mondey und Kompik umfassen ein breites Entwicklungsspektrum mit bis zu elf einzeln beschriebenen Entwicklungs- und/oder Bildungsbereichen. Beim Baum der Erkenntnis wird darüber hinaus der kindliche Kompetenzerwerb auch in einen Zusammenhang mit gesellschaftlichen Werten und Zielen gestellt. Die Altersstufen, für die die Verfahren angewendet werden können, sind dabei unterschiedlich: Während Kuno Bellers Entwicklungstabelle für die Beobachtung von Kindern zwischen null und neun Jahren konzipiert ist und die Entwicklungsschnecken für Kinder zwischen null und sechs Jahren, wird es mit dem Baum der Erkenntnis möglich, Kompetenzen von Kindern und Jugendlichen bis zum Alter von 15 Jahren zu erfassen. Das Verfahren Mondey kann für Kinder von der Geburt bis zum dritten Lebensjahr angewendet werden und das Verfahren Kompik eignet sich für Kinder im Alter von dreieinhalb bis sechs Jahren.

Eine Reihe von Verfahren, die in Kapitel 4.3 vorgestellt werden, konzentriert sich auf Fragen des Spracherwerbs und des sprachlichen Entwicklungsstands. Auch diese Verfahren sind an individueller Betrachtung interessiert, ermöglichen jedoch auch einen normativen Vergleich mit Kindern gleichen Alters. Die Beobachtung des Sprachverhaltens und des Interesses an Sprache bei Kindern mit Migrationsgeschichte wird Ihnen durch das Verfahren sismik ermöglicht, die Beobachtung der Sprachentwicklung und sogenannten Literacy bei deutschsprachig aufwachsenden Kindern durch die Verfahren seldak und liseb. Selsa ist für die Beobachtung der Sprach- und Literacyentwicklung von Kindern im Schulalter (1.–4. Klasse) geeignet. Das Verfahren BaSiK konzentriert sich ebenfalls auf die Sprach- und Literacyentwicklung bei Kindern im Alter zwischen zwei und sechs Jahren mit Deutsch als Erstsprache und mit Deutsch als Zweitsprache.

Das in Kapitel 4.4 erläuterte Verfahren perik ermöglicht individuelle Beobachtungen im Bereich der sozial-emotionalen Entwicklung sowie einen Abgleich mit der Entwicklung der jeweiligen Altersgruppe. Mit dem Soziogramm wird in Kapitel 4.5 ein Verfahren beschrieben, das Ihnen hilft, sich mit Gruppenstrukturen unter Kindern auseinanderzusetzen.

Alle in den Kapiteln 4.1 bis 4.5 vorgestellten Verfahren gehen von einem modernen Bild des Kindes aus, das heißt, sie sehen das Kind als einen aktiven Gestalter seiner eigenen Entwicklung an und berücksichtigen, dass es sein Wissen und seine Kenntnisse über die Welt durch die eigenen Handlungen und Erfahrungen gewinnt.

Zur Früherkennung von Entwicklungsrisiken bieten sich die in Kapitel 4.6 beschriebenen Verfahren Grenzsteine der Entwicklung, die Entwicklungsbeobachtung und Dokumentation (EBD 3–48 und EBD 48–72) sowie der Beobachtungsbogen zur Erfassung von Entwicklungsrückständen und Verhaltensauffälligkeiten bei Kindergartenkindern (BEK) an. Diese Verfahren sind diagnostisch orientiert, aber auch für die Verwendung durch pädagogische Fachkräfte geeignet.

Aufgrund ihrer Zielsetzung können sie nicht stärkenorientiert ausgerichtet sein; die Autorinnen und Autoren betonen jedoch, dass ihre Instrumente nicht als alleinige Beobachtungsverfahren ausreichen, sondern immer in Ergänzung zu anderen, pädagogisch nutzbaren Verfahren eingesetzt werden sollten.

Für jedes beschriebene Verfahren finden Sie Hinweise darauf,

welche Erkenntnisse damit gewonnen werden können,

wo der Beobachtungsfokus liegt,

wie die Beobachtung dokumentiert und ausgewertet wird,

wofür die gewonnenen Erkenntnisse eingesetzt werden können,

welcher Voraussetzungen es bedarf, um mit dem jeweiligen Verfahren zu beobachten,

und wo Sie weitere Informationen und Anregungen dazu finden.

Damit Beobachtungen zur Reflexion der eigenen pädagogischen Arbeit und zur Entwicklung individueller pädagogischer Angebote genutzt werden können, müssen sie dokumentiert und analysiert werden. Die im vierten Kapitel vorgestellten Beobachtungsverfahren bieten dazu Hilfen in Form von Beobachtungs- und Einschätzbogen an.

Darüber hinaus finden Sie im fünften Kapitel Hinweise,

wie und warum auch spontane Beobachtungen dokumentiert und analysiert werden sollten,

welche Möglichkeiten die Dokumentation durch Fotografien und Filmaufnahmen bietet

und welche Vorteile ein Portfolio für die systematische Dokumentation kindlicher Bildungsprozesse und darauf aufbauender pädagogischer Angebote hat.

Zum Abschluss werden die wesentlichen Aussagen dieses Buches noch einmal zusammengefasst, damit Sie sich auf einen Blick versichern können, „was Sie auf jeden Fall beachten sollten, wenn Sie beobachten“.

1.

Beobachten als pädagogische Grundhaltung

Die Erzieherin Anja arbeitet in einer altersgemischten Gruppe mit Kindern im Alter zwischen zwei und fünf Jahren. Heute ist ein besonders schöner Tag, und die Kinder möchten in den Garten gehen. Nach dem Frühstück ziehen sie sich ihre Schuhe und Jacken an. Die beiden fünfjährigen Jungen Lukas und Markus sind schnell fertig, und die Erzieherin erlaubt ihnen, schon vorauszugehen. Sie weiß, dass sie sich auf sie verlassen kann. Auch der dreijährige Simon ist bereits angezogen. Lautstark fordert er das gleiche Recht ein wie die beiden älteren Jungen; er möchte gemeinsam mit ihnen in den Garten gehen. Anja überlegt einen kurzen Augenblick und stimmt dann zu. An Lukas und Markus gewandt, sagt sie: „Achtet ein bisschen auf unseren Kleinen.“ Zu dritt machen sich die Jungen auf den Weg.

Zehn Minuten später kommt auch Anja mit den restlichen Kindern der Gruppe in den Garten. Sie hält Ausschau nach Lukas, Markus und dem kleinen Simon. Als sie die drei entdeckt, stockt ihr fast der Atem. Lukas und Markus wälzen sich im Sandkasten, halb unter ihnen begraben entdeckt sie den dreijährigen Simon. Der versucht ganz offensichtlich, sich aus der Umklammerung der beiden älteren Jungen zu befreien. Empört läuft die Erzieherin auf das Kinderknäuel zu und ruft dabei: „Lukas! Markus! Das kann ja wohl nicht wahr sein! Sofort lasst ihr den Simon los!“ Lukas und Markus heben erstaunt die Köpfe, sehen Anja, stehen auf und grinsen verlegen. Auch Simon rappelt sich auf. Gerade will die Erzieherin anfangen, die älteren Jungen zur Rechenschaft zu ziehen, da läuft Simon strahlend auf sie zu und erklärt freudig: „Anja, Anja, wir spielen verkloppen!“

Was hier aus der Sicht der verschiedenen Beteiligten passiert ist und welche Bedeutung eine Beobachtung durch die pädagogische Fachkraft in einer solchen Situationen haben kann, wollen wir im Folgenden betrachten.

1.1 Von der subjektiven Wahrnehmung zum Perspektivenwechsel

Beobachtung hat etwas mit Wahrnehmen zu tun. Was Erwachsene in Bezug auf Kinder wahrnehmen, interpretieren und bewerten sie in der Regel subjektiv und vor dem Hintergrund ihrer eigenen Erfahrungen, Wertvorstellungen und Erziehungsziele. Auch die Erzieherin Anja nimmt das Verhalten der drei Jungen mit dem Blick einer Erwachsenen wahr und interpretiert. Als sie in den Garten kommt, sieht sie drei sich prügelnde Jungen. Sofort geht sie davon aus, dass es zwischen ihnen einen Streit gegeben hat. Die Tatsache, dass die Jungen ihren Streit sozusagen „mit den Fäusten“ regeln, findet sie überhaupt nicht gut. Wie oft hat sie den Kindern schon gesagt: „Redet miteinander!“ Außerdem ist die Erzieherin maßlos enttäuscht von den beiden Großen. Da lässt sie die beiden einmal für zehn Minuten allein, und schon geht alles schief. Der Verantwortung, die sie Lukas und Markus für den kleinen Simon übertragen hat, sind sie allem Anschein nach nicht gerecht geworden. Anstatt auf ihn aufzupassen, nutzen sie ihre Überlegenheit aus und tun ihm weh. Die Reaktion der Erzieherin ist von Empörung geprägt. Das, was sie wahrnimmt, löst Wut und Enttäuschung in ihr aus. Auf der Grundlage ihrer Wahrnehmung und ihrer Emotionen will Anja den beiden großen Jungen Lukas und Markus nun sagen, was sie von ihnen und ihren Handlungen hält.

Umso erstaunlicher verhalten sich die Jungen. Lukas und Markus reagieren zwar verlegen, als die Erzieherin sie mit Namen ruft, schuldbewusst wirken sie jedoch nicht. Zur Verblüffung von Anja klärt Simon die Situation auf. Er hat von der Empörung der Erzieherin gar nichts mitbekommen. Umso mehr freut er sich, ihre Aufmerksamkeit zu besitzen, weil er ihr nun erzählen kann, was für tolle Sachen er in den letzten zehn Minuten erlebt hat. In diesem Moment wird auch der Erzieherin deutlich, dass sie die Situation mit ganz anderen Augen gesehen hat, als sie von den Kindern gemeint war. Die Jungen haben sich zwar tatsächlich geprügelt, aber nicht, weil sie miteinander in Streit geraten sind oder die Großen dem Kleinen zeigen wollten, „wo es langgeht“. Aus der Sicht der Kinder hat es sich ganz eindeutig um ein Spiel gehandelt.

Natürlich ist es die Aufgabe der pädagogischen Fachkraft, darauf zu achten, dass sich die Kinder nicht gegenseitig verletzen. Andererseits ist es auch ihre Aufgabe, den Kindern Bildungsmöglichkeiten bereitzustellen und sie in ihrer Bildungsfähigkeit zu unterstützen. Manchmal ist es deshalb hilfreich, sich nicht im Augenblick von den eigenen Reaktionen überwältigen zu lassen und allzu spontan zu reagieren. Es lohnt sich häufig, kurz innezuhalten, die Situation mit den Augen der Kinder zu betrachten und sich zu fragen: „Was tun die Kinder denn da?“ Vielleicht wäre Anja dann aufgefallen, dass die Kinder miteinander lachen und durchaus fröhlich wirken. Ihre Reaktion wäre dann sicher anders ausgefallen.

1.2 Einstellung gegenüber dem Kind

Die drei Jungen aus unserem Beispiel verprügeln sich also nicht wirklich, sondern tun nur so, als ob. Bei genauerem Hinsehen könnte man fast auf die Idee kommen, bei der Szene handle es sich um eine Art Schmusestunde. Was für einen Sinn macht das Ganze aber, was könnte es mit Bildung zu tun haben?

Nicht immer ist es für pädagogische Fachkräfte leicht zu verstehen, was Kinder tun und welchen Sinn ihr Tun hat. Die Art und Weise, wie Kinder miteinander oder mit Gegenständen umgehen, wirkt auf pädagogische Fachkräfte manchmal unangemessen und erscheint unverständlich. Wie unser Beispiel zeigt, behandeln Kinder in ihren Aktivitäten aber durchaus nicht immer nur das, was oberflächlich sichtbar ist. Nicht wechselseitige Aggression ist hier das Thema der Kinder, sondern viel eher der enge, körperliche Kontakt und das Ausprobieren der eigenen Kräfte. Aber auch wenn pädagogische Fachkräfte die Aktivitäten, Interessen oder Themen der Kinder nicht immer gleich und manchmal auch gar nicht entschlüsseln können, ist davon auszugehen, dass Kinder etwas lernen, wenn sie sich für etwas engagieren, wenn sie ganz und gar bei der Sache sind.

Kinder sind aktive Gestalter ihrer Entwicklungs- und Bildungsprozesse. Bildung geschieht somit von Anfang an. Von der Geburt an sind Kinder mit einem Aneignungsbedürfnis und entsprechenden Fähigkeiten ausgestattet, die ihnen dazu verhelfen, sich selbst im Rahmen ihrer von der Umwelt angebotenen Möglichkeiten zu entwickeln und zu bilden. Bildungsfördernde pädagogische Angebote sollten es den Kindern daher ermöglichen, ihre Themen zu bearbeiten, sich mit ihren Interessen, Wünschen und Bedürfnissen auseinanderzusetzen und in anregender Weise herausgefordert zu werden.

Dieser Gedanke vom kindlichen Lernen bzw. von kindlicher Bildung ist nicht neu. Schon bei den Reformpädagogen findet man ihn, zum Beispiel in der Montessori- und Freinet-Pädagogik (vgl. dazu Voß-Rauter 1999; Klein & Vogt 1998), die Reggio-Pädagogik greift ihn auf (Dreier 2010), die Entwicklungspsychologie verfolgt ihn, und jüngste Erkenntnisse der Neurobiologie bestätigen ihn.

Erkenntnisse der konstruktivistischen Entwicklungspsychologie

In der Entwicklungspsychologie findet sich die Vorstellung vom aktiven und selbsttätigen kindlichen Lernen bereits seit den 20er-Jahren des 20. Jahrhunderts in den Theorien der geistigen Entwicklung des Entwicklungspsychologen Jean Piaget wieder. Piaget beschreibt einen Erkenntnisprozess, der nicht passiver Natur ist, sondern ein Kind voraussetzt, das sein Wissen selbst konstruiert.

„In aktiver Auseinandersetzung mit Gegebenheiten, mit selbst geschaffenen oder vorgegebenen Fragen und Problemen schafft sich der Mensch seine Strukturen des Handelns und Erkennens“ (Montada 2002, S. 440).

Piaget spricht von „kognitiven Konflikten“, denen Kinder immer wieder ausgesetzt sind, wenn ihre vorhandenen Strukturen für eine Erklärung der Welt nicht ausreichen. Einen solchen Konflikt erleben Kinder insbesondere dann, wenn sie mit anderen interagieren und in dieser Interaktion Widersprüchliches und Gegensätzliches erfahren. Die Erkenntnismöglichkeiten des Kindes stehen demzufolge in einem Austausch mit den Erfahrungen, die seine soziale Umwelt ihm anbietet. Im Bereich der Sozialentwicklung sind es nach Piaget vor allem die gleichaltrigen Spielpartner, die es dem Kind ermöglichen, unterschiedliche Standpunkte zu erkennen, zu verstehen und miteinander zu vergleichen und dadurch das eigene Verständnis von der Welt durch ein qualitativ anderes zu ersetzen.

Seine Erkenntnisse über die kindliche Entwicklung gewann Piaget nicht zuletzt durch die Beobachtung seiner eigenen drei Kinder. Für pädagogische Fachkräfte, die das frühkindliche Lernen auf der Grundlage von Beobachtungen ermöglichen und herausfordern wollen, erscheint es wichtig, einige kindliche Entwicklungsschritte zu kennen, um die Aktivitäten der Kinder zu verstehen und ihre Angebote daran auszurichten.

Ähnlich wie Piaget argumentierte in den 1920er Jahren auch der russische Vertreter der kulturhistorischen Schule Lew Wygotski. Er sah den einzelnen Menschen als aktiven Gestalter seiner Entwicklung, der sich die kulturellen Inhalte seiner Gesellschaft aneignet und infolgedessen zum Mitglied der Kultur wird. In der Interaktion mit kompetenteren Partnern werden dem Kind Bedeutungen der gegenständlichen und der sozialen Welt verfügbar gemacht. Der Sozialisationsprozess besteht allerdings nicht darin, dass das Kind die Bedeutungen der Erwachsenen einfach übernimmt. Wygotski betont, dass sich der Sozialisationsprozess im praktischen Handeln des Kindes vollzieht. Besonders förderlich ist es für das Kind, wenn Erwachsene in der „Zone der nächsten Entwicklung“ mit ihm interagieren. Die „Zone der nächsten Entwicklung“ ist unmittelbar über dem aktuellen Entwicklungsstand des Kindes angesiedelt und bezeichnet jenen Entwicklungsbereich, den sich das Kind als nächsten aneignen wird. Um in dieser Zone mit dem Kind zu interagieren, muss der kompetentere Partner erkennen können, auf welchem Niveau er dem Kind die notwendige Unterstützung geben muss. Diese Erkenntnis kann sich eine pädagogische Fachkraft durch die Beobachtung der Kinder aneignen.

Erkenntnisse aus der Neurobiologie

Jüngste Bestätigung findet das Bild vom eigenaktiven, sich selbst bildenden Kind durch neurobiologische Erkenntnisse. Die Neurobiologie untersucht den Zusammenhang zwischen dem Aufbau neuronaler Verbindungen im menschlichen Gehirn und den durch die Außenwelt gegebenen Erfahrungsmöglichkeiten:

„Wer Lernen für einen passiven Vorgang hält, der sucht nach dem richtigen Trichter. Wer aber Lernen als eine Aktivität versteht, wie beispielsweise das Laufen oder das Essen, der … denkt über Rahmenbedingungen nach, unter denen diese Aktivität am besten stattfinden kann“ (Spitzer 2002, S. 4).

Die Neurobiologie verweist weiter darauf, dass Lernerfahrungen individuelle Prozesse sind:

„Eine sichere Schlussfolgerung ist, dass kein Kind dem anderen gleichen kann, und das gilt auch für eineiige Zwillinge, weil im Laufe der Entwicklung eine riesige Zahl von Verzweigungen durchlaufen werden müssen und Entscheidungen darüber, welche Gabelung gewählt wird, oft von kleinen, mitunter zufälligen Fluktuationen der Umgebungsbedingungen abhängen. Ferner gibt es gewaltige interindividuelle Unterschiede in der Entwicklungsgeschwindigkeit, selbst zwischen Geschwistern“ (Singer 2001).

Aufgrund der unterschiedlichen Anlagen und Entwicklungsgeschwindigkeiten von Kindern ist kaum damit zu rechnen, dass alle Kinder gleichen Alters auch gleiche Bedürfnisse haben und gleiche Fähigkeiten besitzen. Außerdem wird in der Neurobiologie davon ausgegangen, dass es im Leben von Menschen sogenannte „Zeitfenster“ für den Erwerb bestimmter Fähigkeiten und Fertigkeiten gibt. Damit die jeweiligen Zeitfenster für Lernerfahrungen genutzt werden, ist Kindern ein Experimentierverhalten angeboren. Kinder sind in aller Regel genügend neugierig und wissbegierig und holen sich, was sie brauchen. Dennoch ist es unerlässlich, dass den Kindern Erfahrungsangebote durch die Umwelt bereitgestellt werden, denn ein Entzug von Erfahrungen bringt den gesamten Entwicklungsprozess zum Stillstand.

Um Kindern Lernmöglichkeiten zu eröffnen, sollten pädagogische Fachkräfte die Fragen und die anstehenden Entwicklungsschritte der Kinder erspüren und die Umgebung so gestalten, dass die Kinder diese nächsten Schritte mit Erfolg gehen können. Dabei misst auch die Neurobiologie der Beobachtung eine entscheidende Rolle zu: „Da bislang nur wenige experimentelle Daten darüber vorliegen, wann das menschliche Gehirn welche Informationen benötigt, ist es wohl die beste Strategie, sorgfältig zu beobachten, wonach die Kinder fragen“ (Singer 2001). Dabei ist es hilfreich, nicht nur danach zu schauen, was die Kinder momentan gerade tun, sondern sich darüber hinaus zu fragen, was sie gerne tun, womit sie sich gerne auseinandersetzen würden. „Wahrscheinlich sind in diesem Zusammenhang Beobachtungen besonders wertvoll, die zeigen, wann Kinder den Erwartungen von Erwachsenen nicht entsprochen, unerwartet reagiert und sich ungewöhnlich verhalten haben“ (Strätz 2003, S. 212).

Konsequenzen für die pädagogische Praxis

Welche Konsequenzen haben nun die beschriebenen Theorien und Erkenntnisse für die pädagogische Praxis? Zum einen ist davon auszugehen, dass das, was das Kind engagiert und freudig tut, für das Kind Sinn macht, auch wenn pädagogische Fachkräfte diesen Sinn zunächst nicht verstehen bzw. entschlüsseln können. Aufgabe der pädagogischen Fachkraft ist es, das Kind in seinen Aktivitäten, Interessen, in der Sinnhaftigkeit seines Tuns ernst zu nehmen. Das Kind lernt in diesen Situationen etwas, es bildet sich selbst. Zum anderen braucht das Kind für seine Selbstbildungsprozesse aber auch Erwachsene, die ihm Aufmerksamkeit schenken, die ihm gegenüber achtsam reagieren und eine neugierig-respektvolle Haltung einnehmen.

Bezogen auf unser Beispiel könnte die Erzieherin Anja einen Moment warten, bevor sie eingreift. Sie könnte innehalten und das Verhalten der beiden älteren Jungen, denen sie ja vor zehn Minuten noch vertraut hat, auf sich wirken lassen. Vielleicht käme sie dann zu anderen Schlüssen als denen, die sie in ihrer spontanen Reaktion gezogen hat.

1.3 Beschreibung der kindlichen Handlungen

Wenn pädagogische Fachkräfte etwas darüber wissen möchten, womit sich Kinder intensiv beschäftigen, was sie interessiert und wofür sie sich engagieren, kann es nicht bei den spontanen Alltagsbeobachtungen bleiben. Für gezielte pädagogische Angebote, die auf die Themen der Kinder eingehen, sie erweitern und Impulse für neue Themen setzen, macht es Sinn, gezielt und regelmäßig einzelne Kinder oder Gruppen von Kindern zu beobachten. Dabei ist es notwendig, nicht sofort zu interpretieren, was man sieht. Jede Beobachtung sollte mit einer Beschreibung der kindlichen Handlungen beginnen, die zunächst wertfrei und ohne Deutungen erfolgt. Erst durch die möglichst genaue und konkrete Beschreibung dessen, was Kinder tun oder sagen, können sich pädagogische Fachkräfte einen Zugang dazu verschaffen, wie Kinder die Welt sehen und verstehen. Sie versetzen sich quasi in die Perspektive der Kinder und versuchen, mit deren Augen die Lebenswelt zu betrachten. Darüber hinaus kann die schriftliche Beschreibung dessen, was man wahrnimmt, als Erinnerungsstütze dienen und als Grundlage für den kollegialen Austausch über die beobachtete Situation.

Kommen wir zu unserem Beispiel zurück. Nehmen wir an, die Erzieherin Anja hätte nicht spontan eingegriffen, sondern sich vorgenommen, die drei Jungen einmal genauer zu beobachten. Wie könnte dann eine Beschreibung des Beobachteten aussehen? Die Erzieherin Anja notiert:

Der kleine Simon liegt bäuchlings im Sandkasten. Über ihm befinden sich die älteren Jungen Lukas und Markus. Lukas umschlingt mit seinen Armen Simons Hüfte, Markus hält Simons Beine fest. Simon versucht, sich zu befreien. Dabei lacht er und ruft: „Gleich hab ich‘s!“ Lukas und Markus schauen einander verschwörerisch an. Lukas lockert den Griff um Simons Hüfte. Simon gelingt es nun, sich zu drehen und Lukas abzuwerfen. Ein triumphierendes „Ha!“ begleitet die Befreiungsaktion. Lukas grinst Markus an, er kniet sich hin, schnappt sich Simons Arme und hält diese fest. Markus fragt Simon: „Und jetzt?“ Simon reagiert unwillig: „Ach, Mann!“ Obwohl er heftig mit den Beinen und den Armen zappelt, kann er sich nicht befreien. Simon lacht nicht mehr, er wirkt angestrengt und ein bisschen sauer.

Fast gleichzeitig stehen Lukas und Markus auf, halten dabei Simons Arme und Beine fest und beginnen, ihn zu schaukeln. Nun freut sich Simon offensichtlich wieder. Als die älteren Jungen ihn auf den Boden legen, ruft er sofort: „Noch mal!“ Lukas und Markus lassen sich darauf ein und schaukeln Simon erneut. Dann legen sie ihn in den Sandkasten, laufen weg und verstecken sich hinter einem Busch. Simon steht auf, klopft sich den Sand von der Kleidung und schaut sich um. Als er die beiden älteren Jungen nicht entdecken kann, holt er sich eine Schippe und einen Eimer und fängt mit dem gleichaltrigen Sven an zu buddeln

Hier beendet die Erzieherin Anja ihre Beobachtung und steckt ihre Notizen in die Tasche. Das Aufschreiben hat ihr dabei geholfen, aufmerksam und genau hinzuschauen. Im Moment hat sie keine Zeit, weiter darüber nachzudenken. In der nächsten Teambesprechung wird sie ihre Notizen jedoch ihren beiden Kolleginnen vorlesen und gemeinsam mit ihnen versuchen herauszufinden, was genau zwischen den drei Jungen vor sich gegangen ist.

1.4 Erforschen der subjektiven Absichten der Kinder und erste Deutungen

Bleiben wir zunächst bei unserem Beispiel. In der Teambesprechung holt die Erzieherin Anja ihre Beobachtungsnotizen hervor und berichtet ihren Kolleginnen Folgendes:

„Seit einiger Zeit habe ich den Eindruck, dass der Lukas, der Markus und der Simon aus meiner Gruppe sich ganz gut leiden können, obwohl der Simon doch viel jünger ist als die anderen beiden Jungen. Gestern wollte ich mal sehen, was die drei so miteinander anstellen. Ich hatte ihnen erlaubt, gleich nach dem Frühstück schon voraus in den Garten zu gehen. Als ich dann mit den anderen Kindern nachgekommen bin, habe ich erst mal einen Schreck bekommen. Der Simon lag im Sandkasten, und Lukas und Markus über ihm. Irgendwie wirkte das Ganze aber nicht sehr bedrohlich, und deshalb habe ich mich entschlossen, erst einmal abzuwarten und zu beobachten.“

Die Erzieherin Anja liest ihren Kolleginnen ihre Notizen vor, und gemeinsam versuchen sie anschließend zu ergründen, was die Situation bedeuten könnte, was das Thema der Kinder ist, welche Absichten sie verfolgen. Sie kommen dabei zu folgendem Schluss: Simon findet es ganz wunderbar, wenn er mit den beiden älteren Jungen zusammen spielen darf. Er liebt es, von ihnen Aufmerksamkeit und Anerkennung zu bekommen. Er fühlt sich dann richtig wie ein „Großer“. Nicht immer versteht Simon das, was Lukas und Markus spielen, aber die Spiele der älteren Jungen fesseln ihn und fordern ihn zum Nachdenken heraus.

Obwohl auch die beiden älteren Jungen den kleinen Simon mögen, spielen sie doch nicht immer gerne mit ihm. Für manche Spiele finden sie ihn einfach zu klein. Er stört und behindert sie, weil er so vieles noch nicht versteht. Manchmal ist es aber auch ganz lustig mit ihm. Gegenüber dem kleinen Simon kommen sich Lukas und Markus eindeutig überlegen vor.

Bei der Szene im Sandkasten möchte Simon den beiden älteren Jungen zeigen, dass er mithalten kann. Er versucht, seine körperlichen Kräfte unter Beweis zu stellen. Vielleicht heißt „gleich stark“ für Simon „gleichberechtigt“. Das Spiel im Sandkasten hat für Simon also durchaus einen ernsten Hintergrund. Er versucht, durch körperliche Aktivität herauszufinden, wie er zu den älteren Jungen steht. Als er sich fast befreien kann, hat er den Eindruck, dazuzugehören.

Lukas und Markus nehmen Simon wahrscheinlich nicht wirklich ernst. Weil sie ihn jedoch mögen, wollen sie ihm das Gefühl geben, er hätte eine Chance, sich aus ihrer Umklammerung zu befreien. Gleichzeitig haben sie selbst dadurch aber auch das Gefühl, die Situation zu kontrollieren. Sie wissen, dass sie stärker sind als Simon. Wenn sie ihren Griff lockern, wissen sie, dass er denkt, er wäre genauso stark wie sie. Als sie ihn an Armen und Beinen festhalten, bemerken sie, dass er sich hilflos fühlt und ärgerlich wird. Damit die Situation nicht im Streit endet, bereiten Lukas und Markus dem jüngeren Simon eine Freude und schaukeln ihn. Damit demonstrieren sie jedoch auch, dass sie die Stärkeren und Wissenderen sind.

Auch aus entwicklungspsychologischer Sicht ist das, was die drei Jungen tun, zu erklären. Simon thematisiert wahrscheinlich einen Aspekt aus der Moralentwicklung: Das Prinzip der Gleichheit. Deshalb legt er sehr viel Wert darauf, sich als ebenso stark zu empfinden wie die beiden älteren Jungen. Als er bemerkt, dass dem nicht so ist, frustriert ihn das. Lukas und Markus üben sich in ihrer Fähigkeit der Perspektivenübernahme. Sie machen nicht einfach nur, was ihnen selbst Spaß macht, sondern berücksichtigen auch, wie Simon sich in der Situation fühlt, was er sich wünscht, was seine Interessen sind. Lukas und Markus orientieren sich in ihren Handlungen daran und haben eine Vorstellung davon, wie Simon reagieren wird, wenn sie ihn loslassen (da wird er sich freuen), ihn festhalten (darüber wird er sich ärgern) oder ihn schaukeln (das wird ihm Spaß machen).

Kleiner Ausflug in die Entwicklungspsychologie

Um herauszufinden, warum Kinder etwas machen, welches Thema sie gerade beschäftigt, wofür sie sich engagieren und was sie herausfordert, sind Kenntnisse über aktuelle Erfahrungen des Kindes ebenso wichtig und hilfreich wie Kenntnisse über die kindliche Entwicklung und altersspezifische Entwicklungsschritte. Im Folgenden werden einige dieser Entwicklungsschritte für Kinder im vorschulischen Alter exemplarisch thematisiert. Zur Erläuterung der Entwicklungsschritte werden absichtlich Situationen gewählt, in denen sich Kinder aus der Sicht von Erwachsenen merkwürdig oder nicht angemessen verhalten. Diese Situationen sind wahrscheinlich den meisten Erwachsenen, die mit Kindern umgehen, hinlänglich bekannt. Was jedoch oft wenig Berücksichtigung findet, ist die Tatsache, dass Kinder all diese merkwürdigen und unangemessenen Dinge tun, um etwas zu lernen, um sich zu bilden.

Kinder lernen, die Welt zu verstehen, indem sie aktiv handelnd mit ihr umgehen

Bei ihrer Geburt beginnen Kinder damit, die Welt zu entdecken und mit Bedeutung zu versehen. Sie müssen zum Beispiel herausfinden, wie sich die gegenständliche Welt von der sozialen Welt unterscheidet, und sie müssen herausfinden, wie sich Gedanken und Dinge zueinander verhalten. Die Art und Weise, wie Kinder versuchen, die Welt zu begreifen, ist gerade in den ersten Lebensjahren eng mit Handlung verknüpft. Wenn kleine Kinder einen Apfel in die Hand nehmen, dann schauen sie ihn an, riechen daran und beißen hinein. Zum Erstaunen mancher Erwachsenen rollen sie den Apfel aber auch über den Boden oder werfen ihn durch den Raum. Ebenso verhalten sie sich, wenn man ihnen einen Schaumstoffball gibt.

Kleine Kinder kennen zunächst den Unterschied zwischen einem Apfel und einem Ball noch nicht. Sie erfahren jedoch, dass Erwachsene in der Regel nicht erfreut sind, wenn sie mit Äpfeln werfen, oder das Ausspucken verlangen, wenn sie in den Schaumstoffball beißen. Nun fangen die Kinder an zu begreifen, dass es runde Dinge zum Essen und runde Dinge zum Rollen gibt.

Sobald Kinder selbstständig sitzen und beide Arme frei bewegen können, fangen sie an, immer wieder Gegenstände auf den Boden zu werfen, wenn sie sich im Hochstuhl oder im Kinderwagen befinden. Je nach Gleichmut und körperlicher Fitness heben Erwachsene diese Gegenstände mehr oder weniger oft auf und geben sie dem Kind zurück. Gleich darauf wirft das Kind den Gegenstand jedoch wieder weg und schimpft, wenn es ihn nicht zurückbekommt. Zum einen wird daran deutlich, dass das Kind bereits erkannt hat, dass Dinge weiter existieren, auch wenn es sie nicht mehr sieht. Dieses Wissen ist durchaus nicht ab der Geburt vorhanden, sondern Kinder erwerben es in den ersten Lebensjahren. Zum anderen überprüfen Kinder in diesem Spiel die Regel, ob Dinge wirklich immer hinunterfallen und nicht hinauf; sie entdecken das Gesetz der Schwerkraft. Vielleicht übt deshalb auch der Luftballon, der, losgelassen, in den Himmel fliegt, eine solch große Faszination auf Kinder aus, weil er eine Ausnahme von der Regel bildet.

Sich selbstständig bewegen zu können, eröffnet dem Kind neue Lernmöglichkeiten

In den ersten beiden Lebensjahren gewinnen Kinder durch ihre zunehmenden motorischen Fähigkeiten immer mehr Möglichkeiten, die Welt zu erkunden. Motorische Fähigkeiten sind häufig die Voraussetzung für intellektuelle und soziale Entwicklungsschritte. Wenn das Kind krabbeln oder laufen gelernt hat, kann es auf Menschen und Dinge von selbst zugehen und muss nicht mehr darauf warten, dass diese zu ihm kommen bzw. ihm gebracht werden. Nun fängt das Kind aber vielleicht auch damit an, ein Regal voller Gesellschaftsspiele auszuräumen und sich selbst hineinzulegen. Ein anderes Mal läuft es zu einem anderen Kind und zieht dieses so fest an den Haaren, dass es schreit. Bei nächster Gelegenheit schiebt es einen Tisch vor das Regal, stellt einen Stuhl auf den Tisch, klettert selbst auf diesen Stuhl und hangelt mit dem Arm nach dem kaputten Spielzeugauto ganz oben im Regal. Diese Verhaltensweisen mögen aus Sicht der Erwachsenen nicht erwünscht sein oder sogar als gefährlich gelten; das kleine Kind aber macht die Erfahrung, dass es durch seine eigenen Handlungen etwas bewirken und erreichen kann, dass es Räume verändern und gestalten kann, dass es Reaktionen bei anderen hervorrufen und selbst gestellte Aufgaben bewältigen kann.

Das Kind beginnt, die Dinge zu verstehen

Bereits ab dem Alter von etwa sechs Monaten beginnen Kinder, Gegenstände zu sortieren. Allerdings tun sie das nicht immer im Sinne der Erwachsenen. Beim Aufräumen legt ein zweijähriges Kind vielleicht die Bausteine nicht in den Bausteinkasten, die Teller vom Puppengeschirr nicht in die Puppenküche und die Spielzeugautos nicht in die Autokiste, sondern räumt stattdessen alle roten Bausteine, Teller und Autos in die rote Kiste, alle blauen Bausteine, Teller und Autos in die blaue Kiste und alle gelben Bausteine, Teller und Autos in die gelbe Kiste. Dies bedeutet jedoch nicht, dass es noch nicht in der Lage wäre, Ordnung zu halten. Es bedeutet lediglich, dass das Kind nicht den Ordnungssystemen der Erwachsenen folgt, sondern seine eigenen Ordnungssysteme entwickelt und erprobt, um etwas zu lernen. In unserem Beispiel ist das Kind dabei, die Grundfarben zu erlernen. In anderen Experimenten dieser Art lernt es etwas über Mengen und Größen oder über Statik, zum Beispiel, wenn es aus Bilderbüchern ein Haus baut, anstatt sie sich anzuschauen, oder wenn es aus Stühlen einen Turm errichtet, anstatt sie ordentlich um den Tisch zu stellen.

Auch in Bezug auf die Dinge der Natur entwickelt das Kind eigene Ideen. Viele Kinder erklären Naturphänomene ganz anders als Erwachsene. Sie sagen: „Ich geh nicht in den Garten. Da ist die Sonne, und die will mich ärgern. Sie blitzt mir immer in die Augen.“ Oder sie behaupten: „Pferde sind schneller als Autos, das ist ganz klar. Neulich habe ich auf einem Pferd gesessen und musste mich ganz doll festhalten, damit ich nicht runterfalle. Aus dem Auto bin ich aber noch nie gefallen, obwohl ich mich gar nicht festhalte. Also sind Pferde schneller als Autos.“ Diese Erklärungen der natürlichen Welt sind nicht nur fantasievoll, sondern sie erzählen etwas vom Denken der Kinder. Kinder erklären sich die physikalische und biologische Welt aufgrund ihrer alltäglichen Erlebnisse und ihrer Erfahrungen mit anderen Menschen. Das hilft ihnen, sich in der Welt zurechtzufinden. Und im Übrigen unterscheiden sich hierin viele Kinder nicht von Erwachsenen, wenn diese zum Beispiel als eher unwissende Laien die Vorstellung entwickeln, dass der Strom als dünnes gelbes Rinnsal durch die Leitungen fließt.

Die Nachahmung hilft Kindern, die Welt zu verstehen

Die kindliche Nachahmung erscheint vielen Erwachsenen wünschenswert, wenn Kinder nur das nachahmen, was Erwachsene als sinnvoll und angemessen erachten. Gegen kleine Kinder, die ruhig und gesittet am Tisch sitzen, weil sie sehen, wie sich Erwachsene bei Tisch benehmen, oder Kinder, die der pädagogischen Fachkraft beim Aufräumen helfen, haben Erwachsene in der Regel nichts einzuwenden. Aber Kinder ahmen eben nicht nur diese Verhaltensweisen nach, sondern alles Mögliche, was ihnen an Verhalten begegnet. Fängt ein Kind an, in der Buchstabensuppe die Buchstaben seines Namens zu suchen, haben auch alle anderen Kinder am Tisch die Finger in der Suppe. Der kleine Junge, der laut mit den Händen auf den Tisch schlägt, findet begeisterte Anhänger, die den Lärmpegel im Raum um ein Vielfaches steigern. Schon zweijährige Kinder benutzen voller Freude Schimpfwörter oder Ausdrücke, die sie von älteren Kindern gehört haben. Und auch die Nachahmung dieses unerwünschten Verhaltens macht in den Bildungsprozessen der Kinder Sinn, denn durch jede Art von Nachahmung versucht das Kind, seine Umwelt zu verstehen, indem es sich anpasst. Zur Anpassung gehört es, zu verstehen, was der andere tut, dies in eigene Handlung zu übersetzen und darauf Reaktionen zu erfahren.