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Das Buch von der Suche nach der verlorenen Kindheit Unsere Kindheit ist das Paradies, das wir alle eines Tages verlassen müssen. Mit großer Zärtlichkeit und Wehmut erzählt Maxim Biller von diesem Ort, an dem alles begann und an den wir nie zurückkehren werden. Sehnsucht durchweht diese schönen, zarten Geschichten – aber auch von verlorenen Illusionen ist in ihnen die Rede und von Hoffnungen, die nie vergehen. Da ist der achtjährige David, der den Einmarsch der russischen Panzer in seine tschechische Heimat als große, betörende Show erlebt; da ist Henry, der sich als Sohn eines jüdischen Gangsters in München seine heile Jugend erst erfinden muss; da ist Jossi, dessen Bruder als halbes Kind freiwillig in den Yom-Kippur-Krieg zieht und im Feuer der eigenen Leute stirbt. Sie alle wissen, dass die Zeit, die hinter ihnen liegt, für immer vorbei ist, und trotzdem können sie nicht aufhören, in ihr zu leben. In einer ungewöhnlich fesselnden Sprache und in Bildern von filmischer Intensität zeigt Maxim Biller, wie das Spiel von Vergessen und Hoffen funktioniert und warum Kindheit und Jugend das größte Wunder sind, das ein Mensch erleben kann. Ein Buch gegen das traurige Erwachsensein.
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Seitenzahl: 211
Maxim Biller
Bernsteintage
Sechs neue Geschichten
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Für Zelda
Vor der Abreise nach Luzienbad sah David ein letztes Mal in seinen Rucksack. Das Heft, das Jarka am Tag vorher hineingelegt hatte, war immer noch da. Beim Einschlafen hatte er gehofft, es würde über Nacht einfach verschwinden, und kaum hatte er die Augen geschlossen, träumte er davon. Er sah den dunkelblauen Rucksack mit den gelben Nähten, den er vom Vater bekommen hatte, bevor er nach Westdeutschland gefahren war. Der Rucksack lehnte am Kopfende seines Betts, er war offen, die Schnur gelöst und der Deckel hochgeklappt. Das Heft war weg, und auch alle anderen Dinge, die David für die Reise eingepackt hatte, waren verschwunden. An ihrer Stelle saß in dem Rucksack ein kleiner weißer Hund mit schwarzen Ohren und sah David an. David wußte genau, daß er träumte, und er dachte, er müsse sich nur irgendwie über die Grenze zwischen Schlaf und Wachsein mogeln, um alles, was er im Traum sah, in die Wirklichkeit hinüberzuretten. Also zwang er sich, so langsam wie möglich aufzuwachen, und hielt eine Weile die Augen fest geschlossen, bis sie wie von selbst aufgingen. Er stützte sich auf, rutschte langsam zum Rand des Betts, warf sich dann aber gleich wieder enttäuscht zurück und schlief weiter.
Während Leoš jetzt unten wartete, um ihn zum Bus zu bringen, sah David noch einmal nach. Natürlich befand sich alles an seinem Platz: der Tennisschläger, die Taschenlampe, die Wasserflasche, das gelbe Osterinselbuch von Thor Heyerdahl und auch Jarkas Heft. Sie hatte seinen Namen aufs Etikett geschrieben und darunter in Blockbuchstaben: BITTE NUR EINE KLEINE GESCHICHTE, LIEBLING. Wenn er zur ersten Seite umblätterte, entdeckte er dort, gleich in der obersten Zeile, einen zweiten Satz: DU HAST ES GESCHWOREN. Alle anderen Seiten waren leer, hundert blaukarierte Seiten, die Jarka von der ersten bis zur letzten durchnumeriert hatte. Hieß das, daß er all diese Seiten vollschreiben mußte? Während er von der Straße Leoš immer lauter und ungeduldiger rufen hörte, preßte David die Nase gegen das aufgeschlagene Heft und atmete tief ein. Das Heft roch wie ein neues, noch ungelesenes Buch.
In Luzienbad war es nicht so heiß wie in Prag. Die Sonne war keine richtige Sommerferiensonne, sie schien klarer und kälter, außerdem wehte von den Bergen oft ein kühler Wind ins Tal. Wenn David vom Tennis oder von seinen Übungen verschwitzt war, fröstelte es ihn jedesmal. Er zog dann den Pullover an, den er um die Hüften geknotet hatte, und während er den Kopf durchsteckte, sah er an den Häusern und Hotels Luzienbads vorbei zu den dichtbewaldeten Hängen hoch, die die Stadt von allen Seiten umschlossen. Der Wind fuhr durch die Bäume, und wann immer David später in Deutschland an früher dachte, fielen ihm zuerst die windgebeugten Fichten seines letzten tschechischen Sommers ein.
Im Sanatorium teilte er sich das Zimmer mit zwei anderen Jungen. Einer von ihnen hieß auch David. Er hatte feste, lockige Haare wie er, trug ebenfalls eine dicke schwarze Brille, und sein Vater war wie Davids Vater als Jude und Kommunist im Krieg in Rußland gewesen. David verstand sich mit dem anderen David ganz gut, obwohl es ihm auf die Nerven ging, daß der ständig mit seinem Vater angab. Aber das hätte er auch getan, wenn sein Vater der Direktor des Prager Zoos gewesen wäre. Davids Vater arbeitete als Ökonom, und obwohl sein Name oft in den Nachrichten auftauchte, hatte sich David nie dafür interessiert, was genau er machte. David wußte nur, daß Vater zu den Leuten gehörte, die Novotný gestürzt hatten, und daß viele politische Entscheidungen der letzten Monate und Jahre nicht ohne seinen Rat getroffen worden wären.
David haßte es, wenn jemand so hieß wie er. Darum fragte er den anderen David gleich, in welcher Straße in Prag seine Familie wohnte, und weil es die Nerudastraße war, sagte er von nun an Neruda zu ihm. Der dritte Junge, der sich mit ihnen das Zimmer teilte, bekam auch einen Spitznamen. Er hieß Bodo, und da er aus Deutschland kam, nannten ihn die beiden anderen Hitler. Er ließ es sich eine Weile gefallen, weil er kein Tschechisch verstand und nicht wußte, daß sie ihn meinten, wenn sie minutenlang laut und hysterisch lachten und dabei ständig den Namen des deutschen Diktators ausstießen. »Hitler hat sein Bett heute noch nicht gemacht!« rief David. »Ob Hitler unten schon Haare wachsen?« kreischte Neruda. »Haare?« schrie David. »Der hat ja noch nicht mal welche im Gesicht!«
Sie lagen auf ihren Betten, ihre Wangen waren rot, die Augen tränten, und sie warfen sich herum vor Lachen. Plötzlich sprang Neruda auf und stellte sich vor Bodo, der am Tisch saß und sie halb neugierig, halb neidisch beobachtete. Er kitzelte Bodo unter der Nase und sagte: »Unser Hitler hat gar keinen Schnurrbart!«
»Er ist auf der Flucht«, sagte David leise. »Er hat ihn sich abrasiert!« Dann prusteten sie wieder los, aber im nächsten Augenblick stockten sie, weil Bodo mit der flachen Hand auf den Tisch schlug. »Warum redet ihr dauernd von Hitler?« sagte er auf deutsch. »Meint ihr mich damit?«
Obwohl er ihn genau verstanden hatte, antwortete David nicht. Er ging seit der dritten Klasse in die deutsche Schule in der Kladská, aber daß er dort wirklich etwas gelernt hatte, wußte er erst, seit er in Luzienbad mit Bodo deutsch sprechen mußte. Doch jetzt schwieg er.
»Natürlich meint ihr mich«, sagte Bodo. »Aber ich habe damit überhaupt nichts zu tun!«
»Alle Westdeutschen haben«, sagte David auf deutsch.
»Wir nicht. Mein Vater hat gegen die Faschisten gekämpft. Im Untergrund. Und später war er im Lager. Er ist Kommunist. So wie alle bei euch.«
David dachte nach, während Neruda ihn gespannt ansah.
»Mein Vater«, sagte Bodo, »ist der wichtigste Kommunist von ganz Westdeutschland!«
David stand auf, setzte sich neben ihn und legte ihm den Arm um die Schulter. »Es ist nur ein Witz«, sagte er.
»Unser Hitler ist empfindlich wie ein Mädchen, was?« sagte Neruda, und David übersetzte es Bodo ins Deutsche.
»Aber ein richtig scharfes«, sagte Bodo.
David übersetzte wieder, und nun lachten alle drei.
Jarka hatte David versprochen, sie würde ihm aus Belgien zur Belohnung Filzstifte mitbringen. Sie war einen Tag vor ihm weggefahren, und noch bis zur letzten Minute hatte sie an ihrem Schreibtisch gesessen und Pläne für die neue Ausgabe ihrer Zeitschrift gemacht. Die nächste Zitronenrevue sollte im September erscheinen, und Jarka hatte ihre Autoren gebeten, etwas über die Ferien zu schreiben. Normalerweise kriegte man eine solche Aufgabe vom Tschechischlehrer gestellt. Darum hatte es unter Jarkas Freunden ein paar Unzufriedene gegeben, aber sie hatte ihnen erklärt, das sei gerade der Witz an ihrer Idee. Außerdem, sagte sie ernst, würde dieser Sommer nicht so sein wie andere, das wisse doch jeder, der die Nachrichten verfolge. Das habe auch ihr Vater ihnen geschrieben, in einem Brief aus Hamburg, den Mutter ihr und David verschwiegen und den sie in ihrem Sekretär entdeckt hatte.
David war bei dieser letzten Redaktionskonferenz vor den Ferien dabeigewesen. Er war vier, fünf Jahre jünger als Jarkas Freunde und Schulkameraden, aber das hatte Jarka nicht gestört. Sie war stolz darauf, daß ihr kleiner Bruder es mit jedem ihrer Altersgenossen aufnehmen konnte, darum schleppte sie ihn ständig mit. Während sie sprach, ließ sie ihn kaum aus den Augen, doch David wich an diesem Tag ihren Blicken aus. Er hatte genug davon, daß sie von ihm immer etwas Besonderes erwartete, so wie man im Zirkus von einem Pony verlangt, daß es immer neue Kunststücke lernt. Sonst redete er oft dazwischen und machte Witze, aber jetzt schwieg er. Als Jarka den andern von Vaters Brief erzählte, wurde er noch wütender. »Will jemand etwas fragen?« sagte Jarka zum Schluß. Die Kinder sahen sich ratlos an, einige sprangen auf, und als Jarka merkte, daß es mit der Konzentration der Runde vorbei war, rief sie in das Durcheinander hinein: »Aber keine Sonnenuntergänge, bitte! Und nicht zu viele Großmütter!«
Alle lachten.
»Eine Frage, Frau Chefredakteurin«, sagte David leise, aber immer noch so laut, daß jeder ihn hören konnte.
»Ja, bitte.«
»Könnte ich, statt was zu schreiben, dir auch mit dem Arsch ins Gesicht springen?«
Wieder lachten alle, noch lauter als vorhin, und Jarka lachte mit. Auf dem Nachhauseweg ging sie aber am Platz der Republik auf David los, sie drückte ihm mit dem Arm den Hals zu und preßte ihn auf den Boden. »Du Spinner! Du kleiner, frühreifer Idiot!« schrie sie ihm ins Ohr, während sie sich auf dem Bürgersteig wälzten.
David keuchte laut, er versuchte sich zu wehren, aber er hatte keine Chance gegen sie.
»Du machst es trotzdem!« sagte Jarka.
»Laß mich.«
»Ich weiß, daß du es machst.«
Er sah ihr in die Augen und verzog den Mund zu einem gespielten Grinsen. Erst jetzt ließ sie ihn los, und den Rest des Tages redeten sie nicht miteinander.
Als David am nächsten Morgen aufwachte, saß Jarka an ihrem Schreibtisch. Sie hielt den Rücken kerzengerade, auf ihren Schultern lagen wie zwei Osterruten ihre schwarzen Zöpfe. David stöhnte angeödet, und sie drehte sich sofort zu ihm. Sie stand schnell auf, setzte sich auf sein Bett, umarmte ihn und nannte ihn »Liebling« und »Kälbchen«. Dann mußte er ihr schwören, daß er sie nicht im Stich lassen würde. »Keiner kann es so gut wie du, Kälbchen«, sagte Jarka. Während sie ihn auf den Hals küßte, kitzelte ihr Zopf seine Brust.
Von morgens bis abends war David mit Bodo und Neruda zusammen, und nur wenn Bodo seine Unterwassermassage bekam, waren sie voneinander getrennt. David und Neruda gingen dann Tennis spielen oder im großen Becken schwimmen, später holten sie ihren Freund ab und streiften mit ihm bis zum Mittagessen durch die Stadt. Eine Weile spazierten sie wie erwachsene Männer unter den Kolonnaden auf und ab und tranken – so hatte man es ihnen verordnet – in kleinen Schlucken das Heilwasser. Sie unterhielten sich oder dachten sich Spiele aus, mit denen sie sich während der Mittagsruhe, statt zu schlafen, die Zeit vertreiben wollten. Allmählich verloren sie aber die Geduld. Sie fingen an, sich aus ihren Bechern mit dem heißen Wasser zu bespritzen, und es dauerte nicht lange, bis einer von ihnen beleidigt davonlief.
Bald kannte jeder Kurgast die drei Jungen, von denen die beiden mit den schwarzen Locken und dunklen Brillen wie Zwillinge aussahen, während der dritte, ein hagerer Blondschopf, durch die schwere Metallschiene an seinem linken Fuß auffiel, die ihn aber nicht daran hinderte, humpelnd das Tempo seiner Kameraden zu halten. Manchmal sah ihnen die ganze Kurgesellschaft dabei zu, wie sie über die große Treppe sprangen und den Schloßberg hochrannten, immer einer vorneweg, während die beiden andern versuchten, ihn einzuholen, was ihnen meistens erst oben, am Ottawa-Haus, gelang. Dort standen sie dann, sprachen ernst miteinander oder gaben dem, der beleidigt war, einen Klaps auf die Wange, und erst nachdem sie hinterm Ottawa-Haus verschwunden waren, kam in den Kolonnaden der ins Stocken geratene Kurbetrieb langsam wieder in Gang.
Gleich nach seiner Ankunft in Luzienbad hatte David Jarkas Heft in seinen Schrank gelegt. Er schob es ins oberste Fach, wo er es nicht sehen konnte, und der Trick funktionierte. David vergaß Jarka, die Zitronenrevue und die Geschichte, die er schreiben sollte – er vergaß überhaupt alles, was bis zu den Ferien gewesen war. Nach ein paar Tagen mit Neruda, Bodo und den Krankenschwestern, die sich um die Kinder im Marie-Curie-Haus kümmerten, kam es ihm so vor, als hätte er sein ganzes Leben hier verbracht. Manchmal versuchte er deshalb, sein Gedächtnis zu trainieren und sich in Erinnerung zu rufen, wie es bei ihnen zuhause aussah – in der Küche, im Flur, im Schlafzimmer der Eltern. Er dachte auch an die Räume in seiner Schule oder an das Gesicht seiner Mutter, aber alles war weg. Nur wenn er am Rathaus vor dem Rudé-právo-Glaskasten in einer Traube von Erwachsenen stand und die Überschriften der Artikel las, in denen es um die ständigen Krisentreffen der tschechoslowakischen und sowjetischen Parteichefs ging, wußte er, daß es außerhalb Luzienbads eine Welt gab, in die er zurückkehren würde. Doch dann hörte er seine Freunde rufen, und schon hatte er das alles wieder vergessen.
Eines Nachts, die beiden anderen schliefen, stand David auf und öffnete leise seinen Schrank. Er war wach geworden, weil die Bauchschmerzen stärker waren als sonst und er plötzlich seinen eigenen Herzschlag spürte. Er stand auf den Zehenspitzen vor dem Schrank und tastete im obersten Fach nach Jarkas Heft, und nachdem er es zu fassen bekommen hatte, zog er es mit einer heftigen Bewegung heraus. Ohne es anzuschauen, warf er es in den Papierkorb, der neben dem Tisch stand, setzte sich hin und sah aus dem Fenster. Dann legte er den Kopf auf die gefalteten Arme und schlief ein.
Als David wieder aufwachte, saß er noch genauso da. Draußen wurde es hell, die Stadt war nächtlich grau, aber oben strich schon die aufgehende Sonne über die schwarzen Rücken der Berge. Bevor David ins Bett zurückging, holte er Jarkas Heft aus dem Papierkorb und legte es zurück in den Schrank – in ein Fach weiter unten, wo er es immer sehen würde. Er mußte, dachte er, die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen. Er lag mit geschlossenen Augen da und hielt sich wieder den Bauch, doch als ihm die Filzstifte einfielen, die er von Jarka zur Belohnung bekommen sollte, vergaß er die Schmerzen sofort. Er setzte sich auf, schob sich ein Kissen in den Rücken und sah seinen Freunden dabei zu, wie sie schliefen.
David dachte nie darüber nach, ob er Jarka mochte oder nicht. Sie war seine Schwester, daran gab es nichts zu ändern. Vom Tag seiner Geburt an hatte sie ihn nicht aus den Augen gelassen, und obwohl sie nur fünf Jahre älter war als er, umsorgte sie ihn wie eine erfahrene Amme. Sie durfte ihn wickeln, füttern und manchmal allein im Park spazierenfahren. Nachts streichelte sie heimlich seine kleinen Hände oder roch an seinem verschwitzten Nacken. Wenn er gebadet wurde, stand Jarka neben ihrer Mutter und gab Ratschläge. Und sie war im ganzen Viertel berühmt dafür, daß sie jeden, der auch nur mit einem flüchtigen Blick den Kinderwagen streifte, anhielt und zwang, sich David genau anzuschauen. Oft holte sie ihn raus, ob er schlief oder nicht, und legte ihn dem überraschten Passanten in den Arm. Sie sagte keinen Ton, betrachtete gerührt Davids zerknautschtes Gesicht, und noch bevor der Fremde etwas begriffen hatte, nahm sie ihm den Bruder wieder weg.
Als David älter wurde, kümmerte sich Jarka eine Zeitlang weniger um ihn. Es ging ihr auf die Nerven, daß er nicht mehr so leicht zu bändigen war; kaum konnte er sprechen und laufen, machte er, was er wollte. Jede Sekunde war er woanders, jede Minute hatte er einen neuen Einfall, und ständig machte er etwas in ihrem gemeinsamen Zimmer kaputt. Außerdem kränkte es sie, daß er morgens nie zu ihr ins Bett wollte, sondern immer zu den Eltern. Sie hatte ihn deshalb ein paarmal, während er schlief, zu sich gelegt, und wenn er dann wach wurde, hielt sie ihn mit Gewalt bei sich fest – so lange, bis Vater die Tür aufmachte, den weinenden David hochhob und ins Schlafzimmer trug.
Eines Tages entdeckte Jarka, daß David sich selbst das Lesen beigebracht hatte. Er saß mit einem von seinen Büchern im Wohnzimmer auf dem Sofa, und obwohl der Fernseher lief, schaute er nicht hin. Davids Kopf steckte zwischen den großen Seiten des Buchs, er bewegte ihn langsam von links nach rechts und wieder zurück, und mit den Augen machte er die gleiche Bewegung. Jarka blieb überrascht in der Tür stehen. Sie beobachtete David, bis sie sich ganz sicher war, schließlich trat sie von der Seite an ihn heran, umfaßte mit beiden Händen seinen Kopf und gab ihm einen zarten Kuß auf sein schwarzes Haar. Dann legte sie die Wange auf seinen warmen Kopf und drückte sie fest dagegen. Jetzt erst hob David den Blick. Es war so viel Ruhe darin, und obwohl er lächelte, wirkte er ernst.
An diesem Tag begann Davids Erziehung. Jarka, die nichts lieber machte als Lesen und Schreiben, konnte sich nicht vorstellen, daß ihr kleiner Bruder für etwas anderes einen Sinn haben könnte. Am Anfang verlangte sie von ihm nur, daß er sich ihre Gutenachtgeschichten anhörte, ohne einzuschlafen, und ihr hinterher sagte, was ihm gefallen hatte und was nicht. Später mußte er dieselben Bücher wie sie lesen und ihr, wenn er fertig war, den Inhalt genau nacherzählen. Irgendwann, er ging inzwischen zur Schule, kam der große Moment. Jarka drückte David feierlich einen Bleistift und ein Blatt Papier in die Hand und forderte ihn auf, das aufzuschreiben, was ihm gerade einfiel. Als sie sich eine halbe Stunde später über ihn beugte und auf dem Zettel nur ein Haus, eine Sonne und ein Flugzeug entdeckte, gab sie ihm eine Ohrfeige. Während er weinte, hielt sie ihn in ihren Armen, dann schob sie ihm ein neues Blatt hin. Die Geschichte, die David an diesem Tag schrieb, handelte von einem Jungen, der einen Freund hat, mit dem er nie spielen kann, weil der immer krank in seinem Bett liegt. Es war seine allererste Geschichte, und sie gefiel Jarka so gut, daß sie David versprach, sie in der Zitronenrevue abzudrucken, und das hatte ihn gefreut.
Die Eltern waren natürlich stolz auf ihre Kinder. Es rührte sie, daß Jarka den größten Teil ihrer Zeit mit ihrem Bruder verbrachte und sich nicht schämte, ihn mitzunehmen, wenn sie sich mit ihren Freunden traf. Selten, darüber waren sich die Eltern einig, gab es Geschwister, die sich so gut verstanden wie die beiden, und noch seltener solche, die so begabt waren. Sie schrieben Geschichten und verfaßten Theaterstücke, die sie mit anderen Kindern aufführten, sie sprachen über die Bücher, die sie lasen – und sie nahmen jedes Jahr an den Gedichtwettbewerben von ABC teil. Ihre Gedichte wurden zwar nie veröffentlicht, aber sie bekamen jedesmal als Belohnung von der Redaktion den gleichen Dankesbrief und das gleiche Skácel-Buch geschickt. Dann saßen die beiden Wunderkinder in ihrem Zimmer an Jarkas Schreibtisch über dem Paket von der Zeitschrift und lachten, und die Eltern gesellten sich bald zu ihnen und lachten mit. Ab und zu gab es natürlich Streit zwischen David und Jarka, aber das, fanden die Eltern, war normal. Normal schien es ihnen auch zu sein, daß David, als der Jüngere, manchmal sehr wütend auf seine große Schwester wurde und sie mit der Verzweiflung des Unterlegenen so lange provozierte und beschimpfte, bis ein kleines Unglück geschah. Die Eltern ließen die beiden aber immer allein mit ihrem Streit, Prachtkinder wie sie wurden mit so etwas schließlich selbst fertig. Wenn sie Jarka und David am nächsten Tag wieder zusammen sahen, pausenlos redend und lachend, waren sie noch ein wenig stolzer auf sie.
Über das alles hatte David erst Jahre später nachgedacht und geschrieben, und weil er zur Einseitigkeit neigte, ging er sehr vorsichtig mit seinen Erinnerungen um. Es konnte ja sein, dachte er, daß er vor lauter Wut mal wieder vollkommen übertrieb. Seine tschechische Kindheit war von seinem Gedächtnis so fest umschlossen wie ein winziger Käfer von einem Bernsteinblock – er selbst war der Käfer, aber er war auch derjenige, der ihn von außen betrachtete, und das verzerrte vielleicht seinen Blick.
Nach einigen Wochen ging es David und Neruda viel besser. Davids Bauchschmerzen machten sich immer seltener bemerkbar, das Herz schlug wieder ruhig und gleichmäßig, und er hatte nachts kein Nasenbluten mehr. Nerudas Bronchien waren so frei wie am Tag seiner Geburt, er hatte aufgehört zu husten und im Schlaf zu röcheln. Bloß Bodo machte keine Fortschritte. Die Übungen, Elektrotherapien und Umschläge mit heißem Schlamm, die er über sich ergehen lassen mußte, führten dazu, daß er nur noch an sein krankes Bein dachte und ständig darüber redete.
»Wenn du nicht endlich die Klappe hältst«, sagte David zu ihm, als er wieder einmal davon anfing, »wird es sowieso nie besser.«
Sie saßen vor dem Kasino auf dem Rasen und sahen zu den Kolonnaden herüber, wo gleich das Nachmittagskonzert anfangen sollte.
»Als ob das damit etwas zu tun hätte«, sagte Bodo beleidigt.
»Natürlich hat es das.«
»Das mußt du mir erklären!«
»Ist doch völlig klar«, sagte David langsam. Er sah hilfesuchend zu Neruda herüber, aber dann fiel ihm ein, daß der sie gar nicht verstehen konnte, weil sie deutsch sprachen.
»Heute gibt’s bestimmt wieder nur diese bescheuerte Blasmusik«, sagte Neruda und grinste.
»Ja, bestimmt«, antwortete David.
Ganz selten spielte man auf den Kolonnaden Jazz, und nur deshalb kamen die drei jeden Nachmittag hierher. Daß sie meistens enttäuscht wurden, störte sie nicht. Fast so gut wie ein Jazzkonzert fanden sie es, vorher endlos darüber zu reden, ob sie an diesem Tag Glück haben würden oder nicht.
»Sie haben drei Stühle hingestellt«, sagte Neruda. »Vielleicht spielt wieder das Trio vom letzten Wochenende.« Er sah David herausfordernd an, aber der reagierte nicht. Neruda tippte Bodo auf die Schulter, hob beide Hände vors Gesicht und bewegte die Finger der linken Hand ganz schnell wie ein Trompeter. Dann malte er mit dem ausgestreckten Zeigefinger ein Fragezeichen in die Luft. Bodo zuckte aber nur leidenschaftslos mit den Schultern und wandte sich wieder David zu. »Also los«, sagte er, »jetzt erklär’s mir!«
»Das würdest du sowieso nicht verstehen«, sagte David, um Zeit zu gewinnen.
»Bin ich so blöd?«
»Nein – so stur.«
»Wie würdest du es denn finden, wenn du ein Krüppel wärst?«
»Weiß ich nicht«, sagte David wieder genauso langsam wie vorhin, aber dann hatte er endlich die rettende Idee. »Ich weiß nur, daß man mit einem komischen Bein noch lange nicht komisch werden muß. Einer von meinen Onkeln hat im Krieg bei den Partisanen gekämpft, und sein bester Freund hat einen Klumpfuß gehabt – dagegen hast du Beine wie eine Schlittschuhläuferin.«
»Na und?«
»Der hat nicht so gejammert wie du.«
»Großartig. Prima. Vielen Dank für die tolle Erklärung.«
»Jetzt warte doch«, sagte David. »Er hat so viele Nazis erschossen wie alle andern in seiner Gruppe zusammen, und die Nazis hatten eine solche Angst vor ihm, daß sie ihn wegen seines Fußes den Judenteufel nannten. Sie waren jahrelang hinter ihm her, sie schrieben eine Belohnung auf ihn aus und hängten überall Plakate mit seinem Foto hin. Ein Nazioffizier haßte ihn ganz besonders. Der hat seinetwegen zum Schluß alle anderen Feinde vergessen und jagte nur noch ihn. Einmal hätte er ihn fast gekriegt, weil ein Bauer der Gestapo erzählte, daß der Judenteufel ab und zu in seinem Dorf seelenruhig in der Kneipe sitzt und Bier trinkt. Der Offizier hat sich mit seinen Leuten in der Kneipe versteckt und tagelang auf den Judenteufel gewartet. Eines Abends kam er, und sie schnappten ihn. Der Offizier wollte ihn auf der Stelle erschießen, aber der Judenteufel hat ihn als Feigling ausgelacht. Mit Hundert gegen einen, hat er zu ihm gesagt, das kann jeder, kämpf doch allein mit mir, Mann gegen Mann. Der Offizier schämte sich und sagte, in Ordnung, wähl die Waffen. Weil ihr mich den Judenteufel nennt, sagte der Freund meines Onkels lachend, will ich dich nicht töten. Ich will nur deine Seele, spielen wir Karten um sie. Wenn du gewinnst, machst du mit mir, was du willst, wenn ich gewinne, läßt du mich gehen, und deine Seele gehört mir. Der Offizier sagte sofort ja. Natürlich verlor er, und obwohl ihn seine Soldaten für verrückt erklärten, ließ er den Judenteufel gehen. Als er ihn durch die Kneipentür davonhumpeln sah, schwor er aber, er würde ihn wiederkriegen.«
»Und hat er?« sagte Bodo.
»Was glaubst du?«
»Ich glaube nicht.«
»Natürlich nicht. Es kam genau andersrum. Ein paar Monate später überfiel der Judenteufel in der Nacht mit seinen Partisanen die Garnison des Offiziers. Er fand ihn in seinem Bett. Ich habe gelogen, sagte er leise, ich will nicht deine Seele, ich will dein Herz. Und dann schoß er ihm mit seiner Pistole siebenmal in die Brust.«
»Siebenmal? Warum siebenmal?« flüsterte Bodo.