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Eine Theologie des Alt-Seins
Das Alter als Zeit bisher nicht ausgeschöpfter Möglichkeiten – so zeigt es die Werbung, und darauf hoffen viele, wenn sie an ihr Altwerden denken. Was aber, wenn das Altsein dann da ist? Wenn die Wege kürzer werden und man sein Leben im Schwinden der Kräfte anders gestalten muss?
Dass selbst dann das Leben noch als ein Werden und nicht als ein bloßes Vergehen erfahren werden kann, zeigt Gerhard Sauter. In diesem Buch öffnet er den Blick für ein theologisches Verständnis des Alters als Zeit vor Gott und mit Gott und auf Gott hin. Er zeigt, welches Versprechen darin liegt, wenn Menschen ihrer Vergänglichkeit vor Gott innewerden und sich darauf einzulassen vermögen, dass die Geschichte, die sie in sich tragen, nicht zu Ende ist und in Gottes Gedenken aufgehoben sein wird. So kann das Altern wirklich gelebt und muss nicht nur durchgestanden werden. Ein Buch für alle, die ihrem Altwerden mit mehr Gelassenheit begegnen möchten.
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Seitenzahl: 194
Das Alter als Zeit bisher nicht ausgeschöpfter Möglichkeiten – so zeigt es die Werbung, und darauf hoffen viele, wenn sie an ihr Altwerden denken. Was aber, wenn das Altsein dann da ist? Wenn die Wege kürzer werden und man sein Leben im Schwinden der Kräfte anders gestalten muss?
Dass selbst dann das Leben noch als ein Werden und nicht als ein bloßes Vergehen erfahren werden kann, zeigt Gerhard Sauter. In diesem Buch öffnet er den Blick für ein theologisches Verständnis des Alters als Zeit vor Gott und mit Gott und auf Gott hin. Er zeigt, welches Versprechen darin liegt, wenn Menschen ihrer Vergänglichkeit vor Gott innewerden und sich darauf einzulassen vermögen, dass die Geschichte, die sie in sich tragen, nicht zu Ende ist.
Ein Buch für alle, die ihrem Altwerden mit mehr Gelassenheit begegnen möchten.
Gerhard Sauter,
geboren1935, Prof. Dr. theol., Dr. h. c. mult., lehrte zuletzt Systematische und Ökumenische Theologie an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Er war Direktor des Ökumenischen Instituts an der Universität Bonn und ist auswärtiges Mitglied der theologischen Fakultät der Universität Oxford.
GERHARD SAUTER
Beseeltes Alter
Über Hoffnung und Zuversicht im Spätherbst des Lebens
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Copyright © 2021 Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München
Umsetzung E-Book: Greiner & Reichel, Köln
Umschlagmotiv: pixabay.com
ISBN 978-3-641-27975-2V003
www.gtvh.de
INHALT
Vorbemerkung
I. Menschen im Alter vor Gott
1. Menschen im Alter
2. »Vor Gott«
3. Das Altern annehmen
4. »Meine Geschichte«?
II. Seele: geprägte Lebendigkeit
1. Wo findet sich die Seele?
2. Die Seele als Desiderat evangelischer Theologie
3. Der Mensch als Seele
4. Die Seele im Gebet
5. Die Hoffnung der Seele
III. Was gibt das Altern theologisch zu denken?
1. Alter(n)sbilder
2. Altersgestaltung
3. Gestaltet werden
4. Gottes bedürftig sein
5. Erinnert werden
6. Sich erinnern
7. Hoffend gedenken
8. Diesseits und jenseits der Frage »Wie kann ich bestehen?«
9. Vom Leben zum Tod geschieden werden
10. Wir werden erwartet!
11. In Vereinsamung getröstet und zuversichtlich werden
12. Gehalten werden von der Lebensform der Lebensgemeinschaft mit Gott
13. Leben auf Gott hin
14. Was dürfen wir hoffen?
Anmerkungen
VORBEMERKUNG
Die drei Teile dieses Buches sind aus verschiedenen Anlässen entstanden. »Menschen im Alter vor Gott« war ein Beitrag für das Symposion »Menschsein vor Gott: Denkerfahrungen – Spannungen – Verheißungen« der Melanchthon-Akademie Köln am 13. Juni 2015; veröffentlicht wurde er in der Zeitschrift »Evangelische Theologie« (EvTh 75,2015, 435–445). – Den Aufsatz »Seele: geprägte Lebendigkeit« schrieb ich auf Einladung des Herausgeberkreises der »Berliner Theologische[n] Zeitschrift« für das Themaheft »Seele« (BThZ 34,2017, 308–336). – Der bisher noch nicht gedruckte Essay »Was gibt das Altern theologisch zu denken?« geht auf die Skizze eines Vortrags zurück, den ich bei der theologischen Tagung der Rheinischen Genossenschaft des Johanniterordens am 4. Februar 2018 in Kaiserswerth gehalten habe. Kurz darauf musste ich mehrmals operiert werden, plötzlich brach das höhere Alter über mich herein, und erst nach einer langen Pause, die mir viel zu fragen, zu denken und zu danken gab, konnte ich versuchen, den Entwurf auszuarbeiten, der inzwischen über das Format eines Vortrags hinausgewachsen war.
Im ersten und dritten Teil führe ich aus, was ich teils im Kapitel »Altern« meiner Anthropologie »Das verborgene Leben« (2011) erst umreißen konnte, teils im Rückgriff auf die Kapitel »Erleiden – Leiden« und »Gedenken und vergessen« vertiefen wollte: Wie zeichnet sich ab, dass wir als dem Tod verfallene Menschen an der Geschichte Jesu Christi teilhaben und zu einem neuen Menschen geschaffen werden?
Im ersten Teil wird gefragt: Was kann an hochbetagten Menschen für das Menschsein deutlich werden – gerade an gebrechlichen, hilfsbedürftigen, vergreisten Alten, nicht nur an denen, die leistungsfähig geblieben sind und ihren Lebensabend tatkräftig gestalten können? Zugespitzt wird diese Frage im Blick auf Menschen, die lernen möchten, ihrer Vergänglichkeit vor Gott innezuwerden, ihre Altersleiden und ihr Leiden am Altern als Handeln Gottes anzunehmen und sich darauf einzulassen, dass die Geschichte, die sie in sich tragen, nicht zu Ende ist und in Gottes Gedenken aufgehoben wird.
Der dritte Teil ist dem Altern als spezifischem von Gott Gestaltet-Werden gewidmet, bezogen auf die heutzutage zahlreich angebotenen Gestaltungsmöglichkeiten des Alterns. Das Altern wird als Weg wahrgenommen, auf dem Menschen allmählich sich wieder an Gott abgeben, indem sie ihr Selbst Gott anvertrauen, der sie geschaffen hat, der auf sie achtet, sich ihrer annimmt und ihrer gedenkt (Ps 8,5). Im fortschreitenden hohen Alter erhält das Leben auf Gott hin seine endgültige Form. Sie ermöglicht, Erlebtes neu zu gewichten und das Altern zuversichtlich zu leben, nicht nur zu durchstehen, zu bestehen und zu bewältigen.
Das Mittelstück »Seele: geprägte Lebendigkeit« ist den beiden anderen Teilen durch die Frage zugewachsen, was den Menschen als lebendes Wesen charakterisiert. Seine Lebendigkeit verdankt er dem Anhauch Gottes (Gen 2,7), der sein Leben trägt und prägt. Menschen, mit denen Gott leben will, reden nicht nur aus voller Seele von Gottes Handeln, sondern auch mit ihrer Seele, die sie für das Reden zu Gott, zum Gebet, öffnet: »Lobe den Herrn, meine Seele!« (Ps 103,1). »Seele« als geprägte Lebendigkeit umgreift das ganze gelebte Leben und ergreift das Altern mit unabweisbarer Dringlichkeit. So ist der zweite Teil das Bindeglied zwischen dem ersten und dem dritten. Es gibt gute theologische Gründe, bis zum letzten Atemzug festzuhalten, dass wir als »Seele« lebendig sind.
Die bereits erschienenen Teile wurden durchgesehen und formal einander angeglichen, einige Stellen wurden umformuliert, aber inhaltlich weder verändert noch ergänzt. Dass einige Themen an verschiedenen Stellen nochmals angeschlagen werden, dürfte die Querverbindung der drei Teile verstärken. Die Übersetzung der Bibeltexte, vor allem der Psalmzitate, folgt meistens der 2017 revidierten Fassung der Übersetzung Martin Luthers. Abkürzungen sind dem Verzeichnis in »Religion in Geschichte und Gegenwart« (RGG4, Bd. 8, Tübingen 2005) entnommen.
Herzlich danke ich für mannigfache Unterstützung und viele Anregungen besonders meiner Frau Annegrete, Heinrich Assel, Rainer Fischer, Hans-Peter Friedrich, Hans-Wilfried Haase, Ernstpeter Maurer, Caroline Schröder Field, Hans G. Ulrich und Kurt Josef Wecker.
Sankt Augustin, den 27. August 2020 Gerhard Sauter
I.
Menschen im Alter vor Gott
1. MENSCHEN IM ALTER
»Was mag da noch kommen? Das Lebensgefühl ab 80«: So hieß am 8. Mai 2015 das Thema der allwöchentlichen Sendung »Lebenszeit« im Deutschlandfunk. Die Fachleute, die im Studio diskutierten, und Zuhörer, die mit ihren Erfahrungen zu Wort kamen, sprachen fast ausnahmslos nur vom tätigen, ja, schöpferischen Leben im Alter. Zwar bringe das Alter funktionelle Einbußen – Sehschwäche, Schwerhörigkeit, Gedächtnisverlust – mit sich, gleiche sie aber durch altersgerechten Unternehmungsgeist und das Gefühl aus, noch gebraucht zu werden, für andere da zu sein, sich um sie und für sie sorgen zu können. Weil soziale Beziehungen hülfen, nicht aus der Welt zu fallen, gelte es, sie zu festigen und auszubauen, denn nur auf sie sei Verlass. Sie ersetzten sogar in gewissem Maße den Verlust, den Alternde durch das Ableben ihrer Angehörigen und Freunde erfahren. Soziale Beziehungen glichen auch manches von eingeschränkter Selbstständigkeit aus. Sie erbrächten persönliche Wertschätzung und hielten so menschliche Würde im hohen Alter aufrecht; sogar ein Fortleben versprächen sie: im Gedenken der Menschen, denen Alternde etwas weitergeben konnten.
Ein Seelsorger, eine Seelsorgerin oder für kirchliche Pflegeberufe Verantwortliche waren zu diesem Rundgespräch nicht eingeladen worden; auch unter den Hörerinnen und Hörern, die anriefen, fehlten sie. Was hätten sie beitragen können, ergänzend, theologisch vertiefend? Vielleicht sogar im Widerspruch zu dem beherrschenden Motto »Da gibt es aber noch mehr!«: mehr sinnstiftend zu bewirken, mehr Selbstbestimmung einzufordern, mehr und tiefere Spuren zu hinterlassen! Viel war von der »Gestaltbarkeit des Alters« die Rede, nicht aber auch von Gebrechlichkeit und Siechtum. »Unsere Gesellschaft blendet heute die Erfahrung von Bedürftigkeit und Angewiesenheit weitgehend aus.«1 Mediziner bedauern dies nicht nur im Blick auf ihre Patienten, die von wachsender oder plötzlich eintretender Hinfälligkeit, Hilfsbedürftigkeit und Einsamkeit gezeichnet sind und ins gesellschaftliche Abseits gedrängt werden. Sie beklagen auch einen Bewusstseinswandel, der alle Altersstufen erfasst: Zeitgenossen schätzen mehrheitlich bei anderen und bei sich selbst vorwiegend, was sie können, nicht aber, was sie sind und durch ihr gelebtes Leben geworden sind. Auch im Alter bewerten sie sich nach dem, was sie noch zu leisten vermögen, danach, wie stattlich ihr Biokapital ist und wie sie es vermehren, auch mit einer Lebensweise, die früher begangene Sünden bei Ernährung und Gesundheitspflege so weit wie möglich abbüßen soll. Sie möchten »das aktive und tätige Lebensalter festzurren und dabei stehen bleiben«2. Der biologische Verfall soll verlangsamt, die Lebenszeit verlängert werden.
Die »Generation 50Plus«, die sich gern Best Ager nennt, lässt nicht davon ab, ihre Leistungsfähigkeit unter Beweis zu stellen und ihre Lebensentwürfe zu bilanzieren, sie zu revidieren und neu auszuarbeiten, im Ruhestand womöglich noch hektischer als vorher. »Das mittlere Lebensalter wird somit nicht als Durchtrittsalter gesehen, sondern zum Modell für das ganze Leben erklärt.«3 – In einer Gesellschaft, die »alterslos altern« will, braut sich, soziologisch gesehen, ein neuer Konflikt zusammen: »Heutzutage stellt die Jugend den kategorischen Imperativ für alle Generationen dar.«4 Eine »altersübergreifende gesellschaftliche Gemeinschaft« »Junger, jung Gebliebener und jung Bleibender« findet sich gestört durch das endgültig alte, »abhängige, kranke, demente, sieche Alter«, das trotz aller Vorsorge und Fürsorge nicht aus der Welt geschafft werden kann und sich auch durch Bildungs- und Freizeitangebote nicht verjüngen lässt.5 Körperlicher und mentaler Verfall sind nahezu das Einzige, was Leuten heutzutage noch angelastet werden kann; alles andere ist gesellschaftsfähig geworden. Darum bemühen sich viele Menschen im höheren Alter nicht nur, sich möglichst gesund zu erhalten. Tagaus, tagein sind sie damit beschäftigt, ihr unvermeidliches Altern zu verzögern oder es zu überspielen und andere nicht merken zu lassen. Doch »je mehr wir unser Alter verleugnen, um als jung zu gelten, umso mehr verfestigen wir das Schreckensbild des Alters«6.
Wenn in Kirche und Theologie Stellung dazu bezogen wird – die Beiträge sind dünn gesät –, läuft dies meistens darauf hinaus, dass gegen eine Anti-Aging-Kampagne Partei ergriffen wird. Mit der theologischen Begründung und Begleitung eines Ja zum Altern steht es jedoch nicht gerade zum Besten.7 Die (wenn ich so sagen darf) Spaltung in zwei Klassen der Alternden – in Hochbetagte, die sich immer noch jung fühlen, und Vergreiste, die gerontologisch zum vierten, allerletzten Lebensalter gezählt werden – macht auch vor der kirchlichen Praxis nicht Halt. Die endgültig Alten werden diakonisch betreut, die mehr oder minder jung Gebliebenen durch dosierte Altersaktivitäten in kirchlichen Einrichtungen und Gemeinden gefördert. In der »Diakonie als Erfahrungsraum« fällt ins Auge, wie das Streben nach Erhaltung der Selbstständigkeit sich mit zunehmender Abhängigkeit von anderen Menschen arrangieren muss. Dies wird jedoch schon in der kirchlichen Öffentlichkeit kaum beachtet. Was trägt diese Erfahrung für die Forderung nach allseitiger Selbstverfügung aus, wie sie die gesellschaftspolitische Debatte beherrscht? Darf das Lebensende als letzte Handlungsmöglichkeit angesehen werden – und entspricht eine solche Frage überhaupt der Wirklichkeit des Sterbens?8
Diakonie ist ein Erfahrungsraum aber auch dafür, dass augenscheinlich immer weniger Menschen sich vor Gott verstehen, gerade im höheren Alter. Auch darauf ansprechen lassen wollen sich viele nicht. In welchen Grenzen bewegt sich dann der diakonische Dienst? Welchem Fundus können Pflegende und Geistliche das rechte Wort für andere und für sich selber entnehmen und ihr Handeln darauf aufbauen? Für die Altenpflege und die Begleitung Schwerkranker und Sterbender wird, wie weithin auch in der akademischen Theologie, auf Brückenbegriffe ausgewichen, die als universal angesehen werden, um an sie theologisch anzuschließen: insbesondere an Endlichkeit, Menschenwürde und das soziale Netz, das Menschen unaufhörlich knüpfen und das sie tragen soll. Summarisch wird gesagt: Alle Menschen müssen sterben, ihr Leben ist endlich – dem schließt sich der Glaube an, von Gott so geschaffen zu sein. Geschaffen ist der Mensch als Gottes Ebenbild – dies kommt zur Geltung in der Menschenwürde als angeborenem, unantastbarem Selbstwert, den jeder Mensch an und für sich hat, auch dann, wenn er, wie es gnadenlos heißt, »austherapiert« ist und nur noch dahindämmert.9 Menschliches Leben kann nur in einem sozialen Beziehungsgefüge gedeihen – auch Gottes Verhältnis zu ihm wird dann als Relation verständlich gemacht: als schlechthin grundlegende Beziehung, die jedem menschlichen Leben tiefsten und letztgültigen Halt verleiht und auf der die Tragkraft zwischenmenschlicher Begegnungen beruht.10
Solche Sprachregelungen vernebeln die Deutlichkeit theologischer Sprache und stumpfen ihre klärende Trennschärfe ab. Der universalistische Zugriff öffnet nicht den Blick für Menschen im Alter vor Gott, sondern versperrt ihn. Darum musste er hier kritisch gestreift werden. Dass menschliches Leben endlich ist, kann theologisch nur in der Hoffnung gesagt werden, dass Gott Menschen, die vergehen, dennoch nicht »fahren lässt«, sie, das Werk seiner Hände (vgl. Ps 138,8). Weil Gott sie als sein Ebenbild erschaffen hat, will er sich in ihnen wiedererkennen, auch wenn dieses Bild getrübt, verzerrt und zutiefst versehrt ist. Er würdigt sie, mit ihm zu leben und achtsam zu werden für sein schöpferisches, bewahrendes, aufrichtendes und ausrichtendes Handeln an ihnen und an denen, in deren Gemeinschaft sie existieren.11 Sie sind aufeinander angewiesen, nicht nur die Hilflosen auf die Hilfsbereiten, die Schwerkranken und Sterbenden auf die, die sie betreuen. Nicht weniger brauchen diejenigen, die noch bei Kräften sind, die anderen, denen die Kräfte entschwinden. Denn deren Bedürftigkeit macht sie auf ihre eigene aufmerksam, und zwar nicht nur auf ihre fragile physische und psychische Bedürftigkeit, sondern auch darauf, wovon und woraufhin sie leben – sie alle, wenn auch in verschiedenen Stadien eines Lebenslaufes.
So kann das endende Leben zu einer Quelle der Einsicht in das Menschsein werden, ohne dass nun das hohe Alter zum Maßstab für den gesamten Lebenslauf erhoben würde.12 Was an Menschen im Alter für ein Menschenleben deutlich werden kann, sei in dreifacher Hinsicht zu erläutern versucht: im Blick auf Menschen, für die es dringlich wird, ihre Vergänglichkeit zu erkennen, die lernen, ihr Leiden am Altern anzunehmen, und die mit der Geschichte beschäftigt sind, die sie in sich tragen.
2. »VOR GOTT«
Wie kommen Menschen dazu, ihre eigene Vergänglichkeit vor Gott wahrzunehmen? Und wie können sie davon sprechen?
Dies zeigen zwei Psalmen, in denen Gott um die Weisheit gebeten wird, das eigene Leben recht anzunehmen und es ihm, Gott, anzuvertrauen.
In Ps 90 wird das Menschenleben physiologisch in den Blick genommen: Wie eine Pflanze sprosst und verdorrt es. So ergeht es auch den Menschen: Sie werden zu Staub. Ihre Lebenszeit schrumpft im Vergleich zu Gottes Zeit jämmerlich zusammen: »Tausend Jahre sind vor dir wie der gestrige Tag, der vergangen, wie eine Wache in der Nacht.« Mehr noch – und nun wechselt der Blick zur Selbstbeurteilung, die sich auf die göttliche Strafgerechtigkeit beruft: Wenn das befristete Menschenleben und alles, was es vollbracht hat, unwiederbringlich vergeht, dann dürfte dies doch wohl von den Sünden der Menschen herrühren, mit denen sie vor Gottes Angesicht nicht bestehen können! Unter Gottes Nein, mit dem er sich vom schuldigen Menschen abwendet, muss der Mensch zunichte werden. Die siebzig, höchstens achtzig Jahre, die Menschen (damals, zur Zeit des Psalmisten) erfahrungsmäßig zugemessen sind, enden beschwerlich und flüchtig (Ps 90,3–10). –
Jetzt hält der Beter inne. Er greift nicht etwa nach Maximen eines frommen Lebens, die Vollendung und Fortdauer versprechen. Seiner eigenen Sicht von Gott und Mensch fällt er ins Wort.1 Er fragt nach wahrhafter Gottesfurcht und möchte von Gott lernen, seine Tage zu zählen (Ps 90,11–12): nicht sie abzuzählen wie nach einem Kalender, sondern sie zu würdigen, ihren Gehalt als Gabe zu ermessen und so weise zu werden. Wenn Gott lehrt, belehrt er nicht. Er bringt dem Beter seine Tage dermaßen nahe, dass er dafür aufmerksam wird und darauf achtet, wie sein zeitlich strukturiertes Leben täglich von Gott gestaltet, beschenkt und befrachtet wird. Wenn Gottes Erbarmen es frühzeitig füllt, wird es nicht in einem Leerlauf enden (Ps 90,13–17). Gott lehrt durch sein Handeln, mittels aller Einsichten, die menschenmöglich sind, und mit allen offenen Fragen, die sich uns stellen, immer wieder von neuem, und die uns vorantreiben. Menschen, denen sich ihre Lebenszeit so erschließt, werden ein weises Herz einbringen, nicht erst am Ende ihrer Tage. Das Herz ist das Zentrum aller Lebensäußerungen, und das weise Herz lässt sich davon bewegen, dass wir am Leben sein und handeln können, so Gott es will (Spr 16,9; 27,1; Jak 4,15). Es weicht dem Faktum, dass alle Menschen sterben müssen, nicht aus, aber es kalkuliert dieses Ende auch nicht als naturgegeben ein, ohne sich weiter darum zu kümmern. Das weise Herz lässt es nicht bei dem Paradox bewenden, dass wir im »Wissen«, der Tod könne uns jeden Augenblick treffen, dennoch so handeln, als hätten wir hinreichend Zeit, unsere Vorhaben auszuführen. Das Gebet, Gott möge uns lehren, dass wir sterben müssen, bewegt sich jenseits dieses Paradoxes.
So wird das Ich, das sich beobachtet und darüber reflektiert, in das betende Ich aufgehoben, das lernt, neu zu sehen: seine Tage und darin sich selbst.
Ein anderer Psalmist bittet Gott ebenfalls, ihn zu lehren, sein Ende zu bedenken:
HERR, lehre doch mich, / dass es ein Ende mit mir haben muss,
wie meine Tage bemessen sind, / damit ich erkenne, wie vergänglich ich bin.
Siehe, nur handbreit / hast du meine Tage gemacht,
und meine Lebenszeit / ist wie nichts vor dir.
(Ps 39,5–6)
Dieses Ende ist von Gott gesetzt, es wird von ihm bereitet, ist nicht in der genetischen Verfassung eines Menschen wie eine Bombe mit Zeitzünder vorgesehen. Das Ende wird nicht durch das gelebte Leben zwangsläufig herbeigeführt. Gott lässt das Menschenleben enden, er handelt durch das Sterben und beim Sterben. Den Unterschied zwischen diesem Beenden und der Endlichkeit als naturgegebenem Aufhören und Erlöschen werden wir im Auge behalten müssen. Luthers Übersetzung von Ps 39,5 »HERR, lehre doch mich, … dass mein Leben ein Ziel hat und ich davon muss« mag philologisch nicht ganz korrekt sein, wenn sie wechselweise von »Ende« und »Ziel« des Lebens spricht; theologisch trifft sie jedoch den Kern: Menschliches Leben ist geschaffen, nicht generiert, metaphorisch ausgedrückt: Es lebt aus dem Atem, den Gott ihm geliehen hat, und es verendet nicht, sondern kehrt zu Gott zurück, wenn er den Atem wieder zu sich nimmt.
»Sieh doch: Nur handbreit hast du meine Tage gemacht«, singt der Psalmist. »Handbreit«, »spannenbreit« ist eine Maßeinheit: »was mit einer Hand umgriffen werden kann.« Die Handbreit, mit der mein Leben gemessen wird, umfasst mein Leben. Nicht ich kann es umgreifen und in der Hand behalten. In sich und aus sich heraus hat es keinen Bestand. Ich verspüre es wie dahingehaucht: »Meine Lebenszeit ist wie nichts vor dir.« Die Zeit eines Menschenlebens steht in keinem messbaren Verhältnis zu Gottes Handeln an ihm. »Sieh doch, so hast du mich geschaffen«, ruft der Betende Gott zu, dessen Blick unfassbar weit ausgespannt ist. Daran allein hält sich der Beter. Solange er auf sein Leben blickt, ohne sich davon blenden zu lassen, erscheint es ihm vergänglich und vergeblich auch. Zugleich sieht er sich selbst – als Betender! – vor Gott, er blickt auf ihn, der ihn bildete, ihn erhält und sich mit ihm zu schaffen macht.
Nun, HERR, wessen soll ich mich trösten? Meine Hoffnung steht zu dir.
(Ps 39,8)
Das weise Herz fragt, wozu Gott mich geschaffen hat und was er mit mir vorhat, weil darin Ende und Anfang beschlossen sind: inmitten der mir zugemessenen Zeit.
»Vor Gott«: Dies ist der Ort, den sich kein Mensch aussuchen kann, an dem er sich gewöhnlich nicht sucht und den er auch nicht räumlich zu bestimmen vermag. Vor Gott sieht er sich gestellt – und nun sieht er sich anders, als er sich bisher selber sehen konnte und sehen wollte. Er sieht sich vor Gott, dem »Gott des Sehens«, wie Hagar ihn nennt (Gen 16,13), die von Abraham Verstoßene, die ihren Sohn ins Gebüsch warf, weil sie nicht zusehen konnte, wie er stirbt. Doch Gott hört das Weinen des Jungen, und er hat im Blick, warum seine Mutter klagt (Gen 21,17). Gott sieht Menschen an, er schaut ihrem Geschick und ihrem Tun und Lassen nicht nur zu. So erblicken Menschen sich vor Gott, der sie sieht: auch ihre Rückseite, auch ihre Verborgenheit für sich selbst. Er behält, was er geschaffen hat, im Blick: er, der Treue hält für immer. Dass er das Augenmerk auf seine Geschöpfe richtet, können sie sich nicht ansehen, vermögen auch andere nicht an ihnen zu ersehen. Aber vor Gott gestellt und damit sich gegenübergestellt: Dies wird ihre Selbstwahrnehmung verändern.
»Vor Gott gestellt«: Dies mag manche verquere Assoziationen hervorrufen, auch gestützt durch biblische Sprüche, die vermeintlich an ein Gerichtsverfahren denken lassen, in dem ein Urteil über einen Straftatbestand ergeht, der erschöpfend ermittelt worden ist. Oder Gottes alles durchdringender Blick wird als allgegenwärtiges Auge vorgestellt, dem niemand und nichts entgeht, wie George Orwells »Großem Bruder« oder einer lückenlosen Überwachungstechnik. Darum ist die Wendung »vor Gott«, coram Deo, in Verruf gekommen, sie wird lieber vermieden, auch weil sie, zumal in Todesnähe, angstbesetzt ist und Abwehrreaktionen hervorruft. »Vor Gott« ist aber der Ort, der Menschen licht und klar werden lässt im Glanz von Gottes Angesicht.2 Vor Gott erhalten wir Klarheit darüber, was aus seinem Handeln in Jesus Christus für uns, an uns und mit uns entsteht: das verborgene Leben mit Christus in Gott (Kol 3,3). Gott sieht uns in Jesus Christus an: So werden wir befreit für sein Urteil, dem wir vertrauen und dem wir uns anvertrauen dürfen. Vor Gott gestellt, werden wir nicht bloßgestellt, sondern erblicken uns umhüllt vom Schutzmantel seiner Güte und Treue.
Im höheren Alter sind Menschen noch mehr als sonst versucht, Bilanz zu ziehen und zu fragen, wer sie sind, was sie geworden sind und was ihnen noch möglich ist. In anderen Lebensphasen war es unvermeidlich, vor anderen Menschen oder vor Instanzen, die Beurteilungen abgeben und Urteile fällen– coram mundo –,sich so erkennen zu geben, wie man gesehen werden möchte. Dabei war manche Verkleidung, vielleicht gar Verstellung im Spiel. Dagegen tritt bei vielen Alternden hervor, wie sie ausgeprägt sind: ohne Rücksicht darauf, was andere von ihnen halten. Daraus kann altersstarre Rücksichtslosigkeit erwachsen, aber auch die Bereitwilligkeit, sich unverstellt zu zeigen. Wenn ihre Hilfsbedürftigkeit nicht mehr verschleiert werden kann, geben Menschen sich notgedrungen so, wie sie sind, was nicht bedeutet, dass sie sich gehen lassen dürften.
Alternde werden wahrgenommen und nehmen sich intensiver als früher wahr an dem, was ihnen geschieht. Werden sie dies nur als aufgenötigte Passivität empfinden? Oder ersehen sie vor Gott aus dem, was sie trifft, einen Aufbruch anderer Art? Was ihnen von Gott her geschieht, wird sie anders ausstatten, als es die Ausrüstung vermochte, mit der sie früher eigene Wege gingen.
Wie Jesus zu Petrus sagte:
»Als du jünger warst, gürtetest du dich selbst und gingst, wo du hinwolltest; wenn du aber alt wirst, wirst du deine Hände ausstrecken, und ein anderer wird dich gürten und führen, wo du nicht hinwillst.« (Joh 21,18)
Dies will als Verheißung gehört werden: einen Weg gehen zu können, dessen Beendigung zum Neubeginn wird. Wenn Gott führt, wird es kein einsamer Gang sein.
3. DAS ALTERN ANNEHMEN