Beste Freunde - Sharon Bolton - E-Book
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Beste Freunde E-Book

Sharon Bolton

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Beschreibung

Ein abgrundtief böser Thriller: »Absolut fesselnd!« (Daily Mirror)

Sechs junge Leute genießen den Sommer ihres Lebens. Die Schule liegt hinter ihnen, eine goldene Zukunft vor ihnen. Bis sie mit einer waghalsigen Wette alles aufs Spiel setzen. Für fünf von ihnen geht die lebensgefährliche Mutprobe auf der Autobahn gut aus, beim sechsten Mal kommt es zu einem tödlichen Unfall. Die achtzehnjährige Megan nimmt die Schuld auf sich und wird wegen dreifachen Mordes verurteilt. Doch sobald sie wieder auf freiem Fuß ist, darf sie von den anderen jeweils einen Gefallen einfordern, so lautet der Deal. Zwanzig Jahre später ist der Tag der Abrechnung gekommen ...

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Buch

Sechs junge Leute genießen den Sommer ihres Lebens. Die Schule liegt hinter ihnen, eine goldene Zukunft vor ihnen. Bis sie mit einer waghalsigen Wette alles aufs Spiel setzen. Für fünf von ihnen geht die lebensgefährliche Mutprobe auf der Autobahn gut aus, beim sechsten Mal kommt es zu einem tödlichen Unfall.

Die achtzehnjährige Megan nimmt die Schuld auf sich und wird wegen dreifachen Mordes verurteilt. Doch sobald sie wieder auf freiem Fuß ist, darf sie von den anderen jeweils einen Gefallen einfordern, so lautet der Deal. Zwanzig Jahre später ist der Tag der Abrechnung gekommen …

Weitere Informationen zu Sharon Bolton sowie zu lieferbaren Titeln der Autorin finden Sie am Ende des Buches.

Sharon Bolton

______________

Beste Freunde

Pass auf, was du versprichst.

Thriller

Aus dem Englischen von Marie-Luise Bezzenberger

Die englische Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel »The Pact« bei Trapeze, an imprint of The Orion Publishing Group Ltd, London.Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Deutsche Erstveröffentlichung August 2022

Copyright © der Originalausgabe 2021 by Sharon Bolton

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022

by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur GmbH

Umschlagmotiv: Pool: © ILLINA SIMEONOVA/Trevillion Images, Bäume und Himmel: © Miguel Sobreira/Trevillion Images, Haus: FinePic®, München

Redaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze

LS · Herstellung: ik

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN: 978-3-641-28858-7V003

www.goldmann-verlag.de

Für den Jahrgang 2020 der Magdalen College School in Oxford.

Es war ein düsteres Jahr, aber ihr seid Sterne und werdet umso heller leuchten.

Teil 1

1

Wenn sie an jenen Sommer dachten, dann erinnerten sie sich an den bitteren Geschmack des Flusswassers im Mund und an Bierschaumspritzer auf heißer Haut, an Tage, die nachmittags begannen und endeten, wenn der Himmel im Osten heller wurde.

Sie erinnerten sich an lange Nachmittage unter den Kastanien in den University Parks und an jenen ganz besonderen rosig-goldenen Farbton, den die Spitzen der Kirchtürme im abendlichen Sonnenlicht annahmen. Sie erinnerten sich daran, wie sie den Steampunk-Shop auf der Magdalen Bridge entdeckt und sich den Rest des Monats wie glamouröse Vampire gekleidet hatten. Wie sie zur Erheiterung – und dem gelegentlichen Schrecken – der Auslandsstudenten in der Abenddämmerung über das Kopfsteinpflaster stolziert waren.

Sie erinnerten sich daran, wie von den Staubwolken beim Reading and Truck Festival die Nasenpopel ganz schwarz gewesen waren, und an die unablässigen halblauten Fragen der Drogendealer: »Bisschen Koks? Brauchst du was?« Die Antwort hatte stets Ja gelautet, und sie hatten nie nach dem Preis fragen müssen.

Dieser Sommer war keine Zeit der Hoffnungen oder Verheißungen gewesen, sondern eine der Gewissheit: Sie waren die Auserwählten, denen die Welt gehören würde, und ihr Leben, das gerade erst begann, würde lang und golden sein.

Wie sehr sie sich doch irrten.

Wie immer in diesem Sommer hatten sie den Tag in der riesigen Villa von Talithas Eltern ausklingen lassen, einer pseudo-elisabethanischen Monstrosität ein paar Kilometer außerhalb von Oxford.

Tals Vater war nur selten zu Hause, und ihre Mutter nervte sie nie. Meistens waren sie nicht mal sicher, ob sie überhaupt da war, aber dank der Haushälterin – die nicht im Haus wohnte – war der Kühlschrank immer voll. Niemand überwachte die Bar im Poolpavillon, und Domino’s Pizza im nahe gelegenen Thame lieferte bis Mitternacht aus.

Sie hielten sich hauptsächlich draußen auf, verdösten ihren Kater im Poolpavillon oder in der kreisrunden Gartenlaube mit dem Bleidach am See. Dann wachten sie auf, wenn die Sonne aufging, und fuhren nach Hause, um ihre Eltern mit dem Nachweis ihrer fortdauernden Existenz zu beruhigen. Den Tag verschliefen sie in ihren eigenen Betten, und um vier Uhr waren sie bereit, von Neuem loszulegen. So war es den ganzen Sommer über gewesen, seit Daniels letzter Abschlussprüfung in Latein am 4. Juni.

In der Nacht, bevor die Noten bekannt gegeben wurden, waren sie wieder einmal alle bei Tal, nachdem sie den Abend in der Stadt verbracht hatten. Xav saß am Rand des Pools und ließ die Füße ins Wasser hängen. Amber ließ sich neben ihn plumpsen.

»Mir ist schlecht«, nuschelte sie und legte den Kopf auf seine Schulter.

»Kotz ja nicht in den Pool«, ermahnte Talitha sie. »Letztes Mal musste meine Mum den Filter reinigen lassen. Wenn das noch mal passiert, muss ich’s bezahlen.«

Felix kam über die Terrasse auf sie zu. Er wand sich zwischen riesigen Terrakottatöpfen und -statuen hindurch und trug dabei ein Tablett mit Drinks auf der gespreizten rechten Hand. Sein Haar war recht lang geworden, seit er mit der Schule fertig war, und schimmerte silbern im Licht des Mondes, der über seiner rechten Schulter hing. Sein lockerer, wiegender Gang verriet den Sportler, und bei näherem Hinsehen deuteten die stärkere Muskulatur des rechten Arms und der Schulter, die sehr kräftigen Schenkel und die ganz leichte Drehung seines Oberkörpers auf einen Ruderer hin. Die Außenbeleuchtung ging an, als er an den Sensoren vorbeikam, und es hatte den Anschein, als erzeuge Felix sein eigenes Licht.

»Ich bin nicht besoffen«, seufzte Amber, als Felix näher kam. »Ich meine, mir ist schlecht wegen morgen.«

»Wegen heute«, verbesserte Daniel sie von seiner Sonnenliege aus. Er war der Kleinste und am wenigsten Sportliche der Jungen und hatte nie solchen Erfolg bei Mädchen gehabt wie seine beiden Freunde, und doch war sein Gesicht vollendet schön. Insgeheim hatten die anderen schon überlegt, ob er vielleicht schwul war. Das wäre natürlich total okay, solange er nicht auf Xav oder Felix stand, weil das, na ja … voll peinlich.

»Die Schultore werden in sechs Stunden«, er sah auf die Uhr, »siebzehn Minuten und fünf Sekunden geöffnet. Vier. Drei.«

»Halt die Klappe«, knurrte Amber ihn an.

»Manhattans?« Felix hielt Dan sein Tablett hin. »Zwei Teile Bourbon, ein Teil süßer Wermut und ein Spritzer Orangenbitter, um’s ein bisschen aufzupeppen.«

Felix war als Erster achtzehn geworden. Die anderen, die wussten, wie sehr Chemie ihn faszinierte, hatten ihm ein Cocktail-Set geschenkt, und er hatte seine Leidenschaft fürs Mixen entdeckt.

Talitha lehnte die Drinks mit einem Kopfschütteln ab. Von allen in der Gruppe trank sie immer am wenigsten. Die anderen hatten einmal darüber geredet, als sie nicht dabei gewesen war, und sich gefragt, ob sie das aus Verantwortungsbewusstsein tat – schließlich waren sie ja fast immer bei ihr zu Hause. »Nö«, hatte Felix spöttisch bemerkt. »Ob wir irgendwas kaputtmachen, ist der scheißegal – die hat nur gern das Gefühl, alles unter Kontrolle zu haben.«

Die Terrassenbeleuchtung ging wieder aus, und der Garten lag bis auf den türkisblauen Schein des Pools im Dunkeln. Fünf Augenpaare senkten sich, um die schlanke Gestalt zu beobachten, die mondscheinblass über die Fliesen am Grund des Beckens glitt. Megans Badeanzug war zartrosa, und es sah aus, als schwimme sie nackt.

»Kommt das nur mir so vor, oder war sie in letzter Zeit komisch drauf?« Felix hockte sich an den Rand des Pools und sah dem sechsten und seltsamsten Mitglied der Gruppe zu. Die Art und Weise, wie sie fast ohne sichtbare Schwimmbewegungen durchs Wasser schwebte, hatte irgendwie etwas Unirdisches.

»Megan ist immer komisch«, meinte Amber.

»Ja, aber noch mehr als sonst.«

»Sie war ziemlich still«, sagte Daniel.

»Sie ist doch immer still«, beharrte Amber.

Megan schwamm an die Oberfläche. Die Wölbung ihres Gesäßes und ihre Schulterblätter tauchten auf, den Bruchteil einer Sekunde, bevor sie sich herumdrehte und aufrichtete. Wasser lief an ihrer Haut hinunter, die im Licht des Pools türkisgrün schimmerte. Ein bisschen sah sie aus wie eine Nixe, wenn Nixen denn kurzes, silberblondes Haar hatten. Eine Sirene vielleicht? Ja, Megan mit ihrer stillen Unergründlichkeit war eher eine Sirene als eine Nixe.

»Sechs Stunden und fünfzehn Minuten«, rief Daniel ihr zu.

»Nicht so laut«, beschwerte sich Talitha. »Wenn wir Mum aufwecken, schickt sie uns ins Bett.«

»Ja, Dan, halt den Rand.« Amber eilte zur Pooltreppe. »In Theologie bin ich durchgefallen, ich weiß es.« Sie reichte Megan ein Handtuch, hielt es hoch, sodass es den Körper ihrer Freundin vor den Blicken verbarg. Möglicherweise war das nett gemeint, und vielleicht hatte sie sich auch gar nicht so hingestellt, dass Xav nicht sehen konnte, wie Megan aus dem Wasser stieg.

»Niemand fällt in Theologie durch«, widersprach Felix.

»Sie meint, sie hat eine Zwei«, erklärte Xav.

»Stimmt, das hieße durchgefallen. In Theologie.«

Amber zeigte Felix den Mittelfinger.

»Wir sollten ins Bett gehen.« Megan ging zu der Liege hinüber, auf die sie ihre Sachen gelegt hatte, und fing an, sich anzuziehen.

»Das ist das Letzte, was wir tun sollten.« Amber ließ sich wieder neben Xav plumpsen und schmiegte das Gesicht an seinen Hals. »Ich will’s so lange aufschieben, wie ich kann.«

»Ihr beide könntet Sex haben«, schlug Felix vor. »Da wären dann schon mal zwei oder drei Minuten weg.«

Daniel kicherte. Falls Megan auch lächelte, verbarg sie es gut.

»Wenn einer von uns keine guten Noten kriegt, können wir vielleicht am Samstag nicht nach Sizilien zu Tals Großeltern fliegen«, bemerkte Daniel.

»Was?« Xav hob den Kopf und schaute über Ambers Schulter.

»Dann müssen wir uns noch mal neu um Studienplätze bewerben. Von Sizilien aus geht das nicht.«

»Es gibt da Telefone.« Talitha klang beleidigt.

»Ich sage ja nur, ich glaube, wir müssen hier sein, um … ihr wisst schon … uns einen Plan B zu überlegen.«

Felix, der sein Glas bereits geleert hatte, stand auf. »Wir sind keine Plan-B-Typen«, verkündete er. »Wir kriegen schon alle gute Noten. Und ich weiß auch, wie wir die Zeit rumbringen. Dan, wie besoffen bist du?«

Daniel streckte die rechte Hand aus, die Handfläche nach unten, und wiegte sie hin und her.

»Kannst du fahren?«, wollte Felix wissen.

»Nein.« Megan blickte von ihrer Liege auf.

»Er ist der Einzige von uns, der es noch nicht gemacht hat«, sagte Felix. »Komm schon, Dan, du willst doch bestimmt nicht als der Einzige in die Geschichte eingehen, der gekniffen hat.«

Megan gab nicht nach. »Wir haben gesagt, wir hören auf.«

»Letzte Chance.« Felix fischte die Kirsche aus seinem leeren Glas und schluckte sie hinunter. »Morgen und Freitag haben wir alle Familientreffen, und Samstagmorgen fliegen wir.«

»Ich mach’s, wenn wir zurückkommen.« Dan ließ sich wieder auf die Liege sinken, aber seine Augen blieben offen und wachsam.

Felix schüttelte den Kopf. »Dann haben wir keine Zeit. Ich fahre in die Staaten, und Tal bleibt bis Ende September auf Mafia Island.«

»Wenn mein Großvater dich das sagen hört, treibst du am nächsten Morgen mit dem Gesicht nach unten im Pool«, warnte Tal.

Felix schlenderte zu ihr hinüber. »Was ja irgendwie beweisen würde, dass ich recht habe.«

Talitha war groß, aber Felix überragte sie alle. Sie trat einen Schritt zurück, um Blickkontakt zu halten. »Und bei deiner Beerdigung sagen wir in deiner Grabrede, dass du ein Klugscheißer warst.«

»Komm schon.« Felix ergriff ihre Hände und tat, als wolle er sie zur Auffahrt ziehen. »Letzte Chance, richtig Spaß zu haben.«

»Das ist keine gute Idee«, sagte Megan. »Sonst waren wir immer alle nüchtern.«

»Hab ja gesagt, sie ist in letzter Zeit komisch drauf«, brummte Felix, nachdem er ihr einen finsteren Blick zugeworfen hatte.

»Stimmt nicht ganz, ich war nicht nüchtern«, meldete sich Amber zu Wort.

»Du bist nie nüchtern«, erwiderte Felix. »Kommt schon, Leute, es dauert doch höchstens ’ne Stunde – und dann ist Dan offiziell erwachsen.«

»Ich hab aber noch keinen Führerschein«, wandte Dan ein.

»Ach, als ob das was ändern würde. ›Ist schon okay, Officer, ich weiß, ich habe gegen jede Regel im Verkehrsgesetzbuch verstoßen, von mehreren Gesetzen ganz zu schweigen, aber schauen Sie mal, hier ist mein Führerschein. War’s das dann?‹«

Amber erhob sich. »Ich muss mich irgendwie ablenken. Bleib ruhig hier, Megan. Ich komme mit, Dan.«

»Wir gehen alle, oder wir bleiben alle«, sagte Felix.

Xav stand auf. »Ich bin dabei.«

Ein eindringlicher Blick huschte zwischen Talitha, Megan und Daniel hin und her. Talitha zuckte mit den Schultern, täuschte Desinteresse vor. Daniel und Megan standen mit beklommenem Gesicht auf. Wenn Felix und Xav sich über etwas einig waren, dann geschah es auch. So war das eben damals.

In jenem Sommer hatten sie ein Geheimnis. Wenn sie in den folgenden Jahren darüber sprachen, was selten vorkam, konnten sie sich nie einigen, wie genau es angefangen hatte oder wessen Idee es gewesen war. Vielleicht hatte am Anfang niemand vorgehabt, es wirklich durchzuziehen, vielleicht war es nur witzig gewesen, darüber zu quatschen. Die coolste Mutprobe, die man sich vorstellen konnte, einfach, und doch so bizarr, so erregend gefährlich. Keiner von ihnen konnte sagen, wann aus dem Gerede Ernst geworden war, wann sie begriffen hatten, dass es tatsächlich passieren würde. Alles, was sie wussten, war, dass sie eben noch bei Talitha um den Pool gesessen hatten, und dann waren sie plötzlich mit hundertdreißig Sachen die M40 hinuntergebrettert – und zwar in die falsche Richtung.

2

Beim ersten Mal war es drei Uhr morgens gewesen. Felix – natürlich, wer denn sonst? – hatte am Steuer gesessen, und sie hatten keine anderen Autos gesehen. Es hatte etwas mehr als zwei Minuten gedauert, weil Felix wie ein Irrer die Mittelspur hinuntergedonnert war. Nach der ersten Minute, während der sie alle stumm mit weit aufgerissenen Augen und offenen Mündern in die Finsternis gestarrt hatten, war die A40 zur M40 geworden. Sie waren noch anderthalb Kilometer weitergerast, bevor Felix scharf gebremst und mit dem Wagen eine 360-Grad-Wende hingelegt hatte, um bei Ausfahrt 7 von der Autobahn abzufahren. Zwei Minuten total bescheuertes, unsinniges Risiko, und sie befanden sich wieder auf der richtigen Seite des Gesetzes.

Im Auto – dem Golf Cabrio von Felix’ Mutter – war lautes, jubelndes Gebrüll ausgebrochen. Sie hatten gelacht, geschrien und einander umarmt. Keiner von ihnen hatte sich jemals so lebendig gefühlt. Sie schliefen in dieser Nacht nicht, sondern tranken und redeten bis zum Morgengrauen und noch darüber hinaus. Es gab keine Droge, die sich damit vergleichen ließ – sie wussten, so würden sie sich nie wieder fühlen, solange sie lebten. Es war ein Initiationsritual gewesen. Sie hatten es darauf ankommen lassen und gewonnen. Sie waren gezeichnet, etwas Besonderes.

Doch selbst das tollste High verfliegt irgendwann, und es war nur eine Frage der Zeit gewesen, bevor Xav es auch tun wollte. Ganz so viel Glück wie Felix hatte er nicht gehabt. Als sie mit etwas über hundertdreißig bei der M40 ankamen, hatte Felix, der auf dem Beifahrersitz gesessen hatte, die Rücklichter eines Autos auf der Gegenspur gesehen. Es war ein Stück vor ihnen, aber sie holten auf.

»Halt an, dreh um!«, hatte Amber geschrien.

»Nein, fahr langsamer. Vielleicht denken die dann, wir sind hinter ihnen, hinter einer Kurve«, hatte Daniel geraten.

»Licht aus. Dann sehen die uns nicht.« Felix lehnte sich über den Fahrersitz und machte die Scheinwerfer aus.

Die Nacht war finster, ein wolkenverhangener Himmel und kein Mond. Sie rasten in eine schwarze Leere hinein. Amber schrie auf, und Xav schaltete das Licht wieder an.

»Scheiß drauf«, knurrte er und trat das Gaspedal durch. Die Tachonadel kroch auf hundertvierzig, auf hundertfünfundvierzig, hundertfünfzig. Xav beugte sich über das Lenkrad, als wolle er das Auto durch schiere Willenskraft dazu bringen, noch schneller zu fahren. Die anderen waren schweigend erstarrt. Wie ein Mann hatten sie sich nach links umgedreht, als sie zu dem Wagen auf der Gegenfahrbahn aufschlossen, einem großen roten Viertürer.

Einen Moment lang sah der Fahrer, der einzige Insasse des Wagens, sie nicht, dann warnte ihn sein Instinkt, und er blickte zu ihnen herüber. Er schaute kurz weg, sah in den Rückspiegel und dann wieder zu ihnen. Sein Gesicht verzerrte sich ungläubig.

Felix hob die rechte Hand und winkte.

»Nicht überholen«, rief Megan von ihrem ungemütlich beengten Platz auf dem Rücksitz. »Bleib auf einer Höhe mit ihm.

»Warum?« Xav krümmte sich noch immer übers Lenkrad.

»Wenn du ihn überholst, sieht er unser Nummernschild.«

»Da vorn sind Lichter«, sagte Talitha. »Da kommt uns einer entgegen.«

»Verdammt!« Xav lenkte den Wagen nach rechts, auf das, was eigentlich die Überholspur sein sollte. Die Lichter, die ihnen auf ihrer Fahrbahn entgegenkamen, waren hoch über dem Boden, weit auseinander und sehr hell – die Scheinwerfer eines Schwerlasters.

»Du hast noch Zeit«, sagte Felix mit vor Anspannung heiserer Stimme. »Gleich kommt die Ausfahrt.«

Xav bremste, das Auto auf der anderen Fahrbahn fuhr weiter, und die Lichter, die auf sie zukamen, wurden größer. Eine Hupe, tief und zornig, dröhnte durch das Surren ihrer Reifen auf dem Asphalt. Das Geräusch schien die Luft im Auto vibrieren zu lassen.

»Ausfahrt!«, sagte Felix scharf, als das Schild, natürlich von hinten nicht zu lesen, vor dem Hintergrund aus Bäumen und Hecken sichtbar wurde. Xav schwang den Golf herum. Sie waren zu schnell, fuhren auf die Leitplanke zu. Amber schrie auf, Talitha barg den Kopf in den Armen. In letzter Sekunde brachte Xav den Wagen wieder auf Kurs, und sie waren von der Autobahn herunter.

Ein Monat verging, und über ihre beiden Abenteuer wurde nicht mehr gesprochen, doch dann hatten Felix und Talitha sich eines Abends darüber gestritten, warum Frauen niemals zum Militärdienst zugelassen werden dürften. Sie hätten einfach nicht den nötigen Mut, hatte Felix behauptet. Um ihm das Gegenteil zu beweisen, hatte Talitha – so wie Felix es mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit erwartet hatte – darauf bestanden, den Autobahn-Stunt zu wiederholen. Wieder hatten sie sich in das Auto von Felix’ Mutter gezwängt, das einzige, in das sie alle sechs hineinpassten. Felix hatte auf dem Beifahrersitz gesessen, Megan, die Kleinste, auf Daniels Schoß. Mittlerweile waren das ihre Stammplätze, nur der Fahrer wechselte.

Diesmal war das Ganze ohne Zwischenfälle abgelaufen, bis Talitha von der Autobahn abgefahren war und sie das Polizeiauto auf dem Parkplatz an der A329 hatten stehen sehen. Tal war in Panik geraten und hatte den Motor abgewürgt.

»Fahr weiter«, hatte Felix sie angeherrscht. »Sonst kommen die her. Mach schon.«

»Und wenn sie uns gesehen haben?« Talithas Gesicht war weiß vor Angst. »Wenn sie uns jetzt anhalten?«

»Wenn du nicht weiterfährst, tun sie das ganz bestimmt.«

Talitha war losgefahren, weg von dem Parkplatz. Sämtliche Köpfe im Wagen hatten sich nach dem Polizeiwagen umgedreht, aber der war geblieben, wo er war. Und das war das dritte Mal gewesen, dass sie damit davongekommen waren.

Amber war betrunken gewesen, so einfach war das. Doch selbst bevor sie darauf bestand, auch mal ans Steuer zu dürfen, war es zu einer stillschweigenden Übereinkunft geworden, dass diese dreiminütige Fahrt etwas war, das sie früher oder später alle absolvieren würden.

Andere Fahrzeuge hatten sie an diesem Abend nicht gesehen, was wahrscheinlich auch gut war, denn Amber hätte ziemlich sicher nicht rechtzeitig reagieren können.

Megan hatte sich am Steuer zur allgemeinen Überraschung als die Coolste von ihnen erwiesen. In den frühen Morgenstunden des Sonntags war sie auf die A40 aufgefahren und hatte Scheinwerfer direkt vor sich gesehen. Bevor irgendeiner der anderen Zeit hatte zu reagieren, war sie nach rechts auf den Randstreifen ausgewichen, mit kreischenden Reifen zum Stehen gekommen und hatte die Scheinwerfer ausgemacht.

»Runter, alle«, hatte sie gezischt, während sie den Kopf aufs Lenkrad gedrückt hatte. Kaum war das andere Auto vorbeigerast, hatte sie den Motor wieder angelassen und war mit hundertdreißig Sachen die Überholspur entlanggebrettert, um von der Autobahn herunterzukommen.

»Das war’s«, hatte sie verkündet, als sie wieder bei Tal zu Hause waren. »Wir haben vorhin verdammtes Glück gehabt. Das riskieren wir nicht noch mal.«

Verschreckt hatten sie alle zugestimmt, und es war nicht mehr darüber geredet worden. Bis heute Nacht.

Und so war jetzt schließlich Daniel an der Reihe.

Kurz nach drei Uhr morgens war die Straße, die nach Norden aus Talithas Dorf hinausführte, leer. Sie fuhren mit offenem Verdeck, weil Amber immer noch ein bisschen übel war und die Nachtluft nach Geißblatt duftete – was ein gutes Omen zu sein schien – und nach Gülle auf den Feldern roch, was wohl kein gutes Omen war.

Daniel fuhr langsam und schlecht, beschleunigte ruckelig und korrigierte beim Lenken zu stark. Auf der kleinen gewölbten Brücke über den Bach knallte er fast gegen die Mauer.

»Pass doch auf!« Wie immer saß Felix auf dem Beifahrersitz.

»Ich bin nicht an diesen Wagen gewöhnt«, maulte Daniel.

»Okay«, sagte Felix, als sie sich der Stelle nährten, wo die Straße die London Road kreuzte. »Wir wissen alle, wie’s läuft, wenn wir angehalten werden. Wir wollten zurück zu Tal, Dan war sich nicht sicher und hat sich vertan. Wir sind alle ein bisschen besoffen und haben nicht aufgepasst. ›Es tut uns allen fürchterlich leid, und wir sind sehr betroffen und machen so was ganz bestimmt nicht wieder, Officer.‹«

»Du brauchst das nicht zu tun, Dan«, sagte Megan. Niemand antwortete.

»Sind alle angeschnallt?«, wollte Xav wissen.

»Festhalten, Meg«, sagte Talitha.

»Sofort direkt auf die mittlere Spur«, wies Felix Daniel an, als dieser an der Überführung rechts abbog und auf die Auffahrt fuhr, die sie zur A40 hinunterbringen würde. »Du brauchst Tempo.«

Daniel beschleunigte auf fünfzig Stundenkilometer. Die Kurve war eng, sie fuhren nach Süden, dann nach Südwesten. Die korrekte Route – die einzig gesetzmäßige Route – führte in einem fast vollständigen Kreis auf die A40 in Richtung Oxford. Am südöstlichsten Ende teilte sich die Straße, eine Abzweigung führte auf die A40, auf der anderen konnten Autos von ihr abfahren.

Schwarz-weiße Winkelstreifen, die anzeigten, dass alle Fahrzeuge nach links abbiegen sollten, tauchten auf, dann kamen die Einbahnstraßenschilder, die rechts von der Straße standen. Eindeutiger hätte es nicht sein können, in welche Richtung sie fahren sollten. Daniel gab ein leises Stöhnen von sich.

»Immer schön die Nerven behalten.« Felix beugte sich vor, als wolle er um Daniel herum auf die Fernstraße spähen, auf die sie gleich auffahren würden.

»O Gott, das ist immer grauenvoll.« Amber drückte das Gesicht gegen Xavs Schulter. Talitha beugte sich vor und hielt sich an Felix’ Kopfstütze fest.

»Und los!«, rief Felix im entscheidenden Moment. Der Wagen bog nach rechts ab, vorbei an den Einbahnstraßenschildern und auf die falsche Gegenfahrbahn der A40. Die zweispurige, unbeleuchtete Schnellstraße vor ihnen war frei.

»O Gott sei Dank, Gott sei Dank«, sagte Talitha halblaut.

»Du musst Gas geben«, mahnte Felix. Das Auto fuhr knapp über fünfzig Stundenkilometer. »Vier Kilometer, das ist alles. Keine drei Minuten, wenn du ordentlich drauftrittst.«

Mit verspanntem Kiefer und starrem Blick trat Daniel aufs Gaspedal, und die Tachonadel kletterte auf fünfundsechzig, achtzig, neunzig. Die gestrichelte weiße Linie, die die Fahrspuren voneinander trennte, zuckte vorbei.

»Hinter uns ist nichts«, rief Megan.

»Wir müssen uns ranhalten.« Felix trommelte mit den Fingern aufs Armaturenbrett.

»Du bist nicht schnell genug, Dan.« Xavs Stimme klang gepresst vor Anspannung.

Das Getriebe kreischte, als Daniel ungeschickt in den höchsten Gang schaltete.

»Da ist ein Fuchs. Pass auf, der Fuchs!« Amber packte Daniel an der Schulter.

»Scheiße noch mal, Am!«, fauchte Talitha.

»Es geht schon, alles klar.« Daniel lenkte den Wagen in die Spur gleich neben dem Mittelstreifen.

»Gleich kommt die Autobahn«, verkündete Xav.

»Das mach ich nie wieder«, stöhnte Talitha.

»Wir sind fast da«, meinte Felix. »Fahr auf die mittlere Spur, wenn du kannst. So kriegst du die Kurve leichter.«

Vielleicht überraschte die Biegung der Straße sie ja alle. Eben noch war vor ihnen nur Dunkelheit gewesen, und im nächsten Moment kamen blendend helle Lichter auf sie zugerast. Wie aus dem Nichts war ein anderes Auto aufgetaucht.

Amber schrie los.

»Randstreifen!«, brüllte Felix.

Der plötzliche Beschleunigungsverlust schleuderte sie alle nach vorn, während der ätzende Geruch von Bremsflüssigkeit über sie hinwegwaberte. Felix entriss Daniel das Lenkrad, und der Wagen schwenkte hart nach rechts. Das hätte reichen müssen.

Doch das andere Auto führte genau dasselbe Manöver aus, als wäre ein riesiger Spiegel vor sie gestellt worden. Sie waren nur noch wenige Meter von ihm entfernt. Daniel war erstarrt, seine Augen waren weit aufgerissen und starr.

Felix zog das Lenkrad in die Gegenrichtung. Der Wagen schaukelte und schien sie anzuschreien. Sie konnten Bremsen kreischen hören, das Gellen einer Hupe. Licht überflutete den Golf, beleuchtete ihre entsetzten Gesichter. Den Bruchteil einer Sekunde lang war es still, dann war das andere Auto weg, und sie standen auf der Schnellstraße. Die Welt hatte aufgehört, sich zu drehen.

3

Leise Wimmerlaute erfüllten die Nacht, und sie brauchten einen Moment, um zu begreifen, dass sie vom Motor des Wagens kamen, dessen Einzelteile gegen diese Zumutung protestierten. Ein vom Scheinwerferlicht angelockter Nachtfalter prallte gegen die Windschutzscheibe, und in der lastenden Stille konnten sie sein leises, anklagendes Klopfen hören. Was habt ihr getan?, schien es zu sagen. Was habt ihr getan?

»Scheiße!« Felix ließ den Kopf in die Hände sinken und sprach zwischen den Fingern hindurch. »Weg hier, Dan. Sofort.«

»Wir … wir haben den nicht gerammt«, stammelte Daniel. »Das Auto eben. Wir haben es verfehlt, oder? Sag doch jemand, dass wir’s verfehlt haben.«

»Die haben einen Unfall gebaut«, flüsterte Megan, als wäre es vielleicht nicht wahr, wenn sie es nur leise genug sagte. »Sind gegen einen Baum oder so was geknallt.«

Keiner der anderen rührte sich.

»Dan, wir müssen hier weg.« Felix packte Daniel an der Schulter. »Steig aus, ich fahre.«

Daniel wehrte sich nicht gegen Felix’ Schütteln. Er war schlaff geworden, reagierte nicht mehr.

Xav beugte sich zum Fahrersitz vor. »Hier können wir nicht bleiben, Dan. Bestimmt kommt gleich wieder einer.«

Sachte löste Talitha Felix’ Hand von Daniel. »Dan, bitte«, sagte sie. »Wir gehen alle drauf, wenn wir hierbleiben.«

Daniel drehte den Zündschlüssel. Nichts geschah.

»Noch mal, mach’s noch mal«, schrie Felix.

Beim zweiten Mal sprang der Motor an. Daniel fuhr auf den Randstreifen und hielt an.

»Was zum Teufel machst du denn?«, fuhr Felix ihn an. »Wir müssen hier weg.«

Der Geruch von verbranntem Gummi wallte über das Auto hinweg. Die Nacht war still.

»Wir müssen doch nachsehen, ob die okay sind«, sagte Amber.

»Hast du sie noch alle?«, blaffte Felix sie an. »Dafür landen wir im Knast. Dan, gib mir den Schlüssel.«

»Amber hat recht«, sagte Xav. »Wir müssen nachsehen.«

Daniel schaute einmal in den Rückspiegel und kniff die Augen fest zu. Auf der anderen Seite der Straße fuhr ein Wagen auf die Autobahn auf und brauste davon.

»Ich steig aus.« Megan stemmte sich hoch, sodass sie hinten auf dem zusammengelegten Verdeck saß. Sie schwang die Beine nach draußen.

Langsam, mit etwas ziellosem Blick und unsicheren Gliedern öffnete Xav seine Tür. Auf der anderen Seite tat Talitha dasselbe.

»Ich schwör’s euch, Leute, wenn ihr aussteigt, lass ich euch hier«, warnte Felix. »Meg, steig wieder ein.«

»Ich gehe«, erbot sich Xav. »Lasst ja nicht zu, dass er mich hierlässt.« Noch immer rührte er sich nicht.

Mit einer jähen Bewegung, die sie alle überrumpelte, stieg Daniel durch die Fahrertür aus. Dann stand er da und blickte die Schnellstraße hinunter. Felix sah seine Chance, sprang aus dem Auto und lief um den Kühler herum, aber bevor er den Fahrersitz erreichte, griff Xav nach vorn und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss. Dann stieg er endlich aus. Amber rutschte über den Rücksitz und folgte ihm. Auf der anderen Seite kletterte auch Talitha aus dem Wagen.

Verstört starrten die sechs die Katastrophe an, die sie verursacht hatten.

Das andere Auto, ein weißer Vauxhall Astra, war dreißig Meter entfernt. Die Hinterräder waren noch auf dem Randstreifen, das vordere Ende jedoch war im Unterholz verschwunden. Seine Scheinwerfer beleuchteten ein Pflanzengewirr und den Stamm eines Baumes.

Der Baum schien sie anzuklagen, als könnten sie ihn vor Schmerzen stöhnen hören, wenn sie die Augen schlossen. Dann durchbrachen Schreie aus dem Innern des verunglückten Wagens die Stille. Dünn, hoch, voller Angst.

»Ich glaube, das ist ein …« Amber stockte, brachte den Satz nicht zu Ende. Xav ging auf den Astra zu.

»Her mit dem Schlüssel«, verlangte Felix. »Xav, gib mir den verdammten Schlüssel.«

Xav beachtete ihn nicht und machte noch einen Schritt vorwärts. Megan tat es ihm nach, als sich im Scheinwerferlicht des Unfallwagens etwas bewegte. Etwas kaum Sichtbares, Nebulöses, Aufsteigendes. Das Schreien verstummte, wurde von Hämmern gegen Scheiben abgelöst.

Xav zückte sein Handy.

»Was zum Teufel hast du vor?«, fragte Talitha.

»Wir brauchen Hilfe!«

Sie umfasste seine Hand mit dem Telefon. »Wir können die Polizei nicht anrufen.«

»Dan kann den Wagen wenden«, erklärte Xav ihr. »Wir sagen, wir wären in die richtige Richtung unterwegs gewesen, und es hätte einen Unfall gegeben. Wir wüssten nicht, wie es passiert ist.«

»Dan hat zu viel getrunken«, wandte Amber ein. »Die buchten ihn ein.«

»Nicht unbedingt.« Xav machte sich von Talitha los. »Und auch nur ganz kurz. Es geht nicht anders. Mit dieser Nummer kommen wir nicht durch.«

»Rauch«, flüsterte Megan. »Da kommt Rauch aus dem Kühler. Das Auto brennt.«

»Okay, okay.« Felix ging mit großen Schritten voraus und drehte sich zu ihnen um, die Hände erhoben, als wolle er sich ergeben. »Der Plan ist folgender. Wir vergewissern uns, dass die da drin okay sind, dann steigen wir wieder ins Auto. Wir fahren zur nächsten Telefonzelle und rufen den Notarzt. Unsere Namen nennen wir nicht.«

»Wir können sie doch nicht hier zurücklassen«, entgegnete Megan.

Felix streckte die Hand aus, und seine Augen wurden dunkel, als Megan zurückzuckte. »Denen ist wahrscheinlich gar nichts passiert.« Er schaute von einem zum anderen. »War ja bloß ein Rumpler. Die sind nicht mit uns zusammengestoßen. Xav, wir beide, wir gehen jetzt und schauen nach. Okay?«

Ohne den Blick von dem Astra abzuwenden, nickte Xav.

»Schaltet die Zündung aus«, sagte Talitha. »Das müsst ihr tun, die Zündung macht Funken.«

»Wird schon alles nicht so schlimm, Leute. Alles cool.« Felix legte Xav die Hand auf die Schulter. »Steigt ins Auto und wartet auf uns. Dan, setz dich nach hinten. Ich fahre uns nach Hause.«

Daniel und die Mädchen blieben, wo sie waren, als Felix und Xav auf das Auto zugingen. Sie hatten etwa die Hälfte der Entfernung zurückgelegt, als ein grelles Flammenknäuel auf der Kühlerhaube des Astra erschien.

Talitha wimmerte auf. Gleich darauf explodierte der Tank des Wagens.

4

Die Nacht war verwandelt, als hätte jemand das Flutlicht eingeschaltet. Eine Wand aus Hitze prallte gegen sie, und Felix und Xav traten beide instinktiv einen Schritt zurück. Eine gefühlte Ewigkeit lang rührte sich niemand, dann machten die beiden Jungen gleichzeitig kehrt und rannten zu ihrem eigenen Auto zurück. Xav warf Felix den Schlüssel zu, und dieser sprang auf den Fahrersitz.

»Was macht ihr denn? Wir können doch nicht einfach wegfahren!«, jammerte Amber.

Talitha packte sie und stieß sie ins Auto. Sie selbst folgte so schnell, dass die beiden Mädchen als wirrer Haufen aus Haut und Gliedmaßen auf dem Rücksitz landeten. Daniel sprang in den Wagen, als Felix losfuhr, dicht gefolgt von Megan. Er fuhr dreißig Meter weit auf dem Randstreifen, ehe er auf die Ausfahrt einbog.

Die Anschlussstelle zur A329 war leer, Felix bog nach links ab, und kurz darauf waren sie wieder auf den Dorfstraßen, die zu Talithas Haus führten. Die Welt schien merkwürdig normal, als wäre gar nichts Schreckliches passiert.

Die Villa war dunkel, als sie ankamen, und wenigstens das war gut. So brauchten sie nicht gleich mit dem Lügen anzufangen. Langsam und steif stiegen sie aus dem Wagen, als wären ihre Körper im Laufe der letzten Stunde gealtert, als wäre es ihnen nicht mehr möglich, aufrecht zu stehen, vorwärtszugehen, normal zu sprechen. Instinktiv strebten sie wie eine kleine, versehrte Herde auf den Poolpavillon zu. Im letzten Moment blieb Megan stehen und starrte auf das schimmernde Wasser, doch als Felix ihre Hand nahm und sie mit sich zog, wehrte sie sich nicht.

Im Dunkeln saßen sie da und warteten. Allerdings hätte wahrscheinlich keiner von ihnen sagen können, worauf.

Endlich brach Xav das Schweigen. »Damit kommen wir nicht durch. Die finden uns.«

»Ich fasse es nicht, dass wir sie einfach zurückgelassen haben.« Ambers Make-up war ganz streifig vor Tränen. Winzige Rinnsale zogen sich über ihr Gesicht und machten keine Anstalten zu versiegen.

»Wir konnten nichts tun«, erwiderte Felix. »Als der Wagen hochgegangen ist, war Feierabend.«

Amber starrte ihn an. »Wir hätten die Polizei rufen sollen.«

Felix antwortete mit leiser, ganz untypisch sanfter Stimme. »Die wären nicht rechtzeitig da gewesen. Du hast ja gesehen, wie schnell das gegangen ist. Wir haben genau davorgestanden und konnten überhaupt nichts machen.«

»Inzwischen ist die Polizei bestimmt da«, meinte Talitha. »Der Nächste, der da vorbeigekommen ist, wird sie angerufen haben. Jetzt ist das eine Riesengeschichte. Aber machen können sie trotzdem nichts. Wenn ein Auto explodiert, dann war’s das.«

»Wir sollten zurückfahren und nachschauen«, sagte Amber.

»Bist du irre?«, fuhr Talitha sie an.

»Wir müssen uns bei der Polizei melden.« Xav nahm Ambers Hand. »Früher oder später finden die uns. Wenn wir uns nicht stellen, wird’s nur noch schlimmer.«

»Dann bin ich wegen Mordes dran.« Dan kauerte in einer Ecke des Raumes auf dem Boden, die Arme um die Knie geschlungen, als versuche er, sich zu verstecken. »Ich hab am Steuer gesessen. Ihr könnt nicht für mich entscheiden.«

»Wir sind alle schuld«, behauptete Amber. »Wir haben doch alle mitgemacht.«

»So wird das Gericht das aber nicht sehen«, widersprach Daniel. »Der Fahrer ist verantwortlich.«

»Er hat recht«, sagte Talitha.

»Ich sag’s ihnen«, stammelte Daniel. »Ich sag denen, dass ihr alle das auch gemacht habt. Ich hab einfach nur Pech gehabt, das ist alles.«

»Du hast kein Pech gehabt, du Arsch«, fauchte Felix. »Du hast dich saudämlich angestellt. Wenn du auf den Randstreifen gefahren wärst, als ich’s gesagt habe, hätten wir denen ausweichen können.«

Daniel wischte sich die Nase mit der Hand ab. Selbst im Dunkeln konnten sie den nassen Schimmer darauf sehen. »Du hast mir ins Lenkrad gegriffen, verdammte Scheiße – du hast das verbockt!«

»Hört auf«, befahl Xav. »Wir bleiben ruhig. Wir überlegen uns zusammen eine Lösung.«

»Wir können nicht zur Polizei gehen«, sagte Daniel.

»Die finden uns«, beharrte Xav. »Heute Nacht ist jemand in diesem Auto draufgegangen. Ich weiß, das will keiner hören, aber wir müssen den Tatsachen ins Gesicht sehen. Da ist jemand gestorben. Ich bete zu Gott, dass es nur einer war, aber …«

»Da war ein Kind im Auto«, stieß Amber hervor.

Einen Moment lang herrschte entsetztes Schweigen, dann ließ Xav ihre Hand los. »Das hilft uns jetzt nicht weiter.«

»Die Schreie, die wir gehört haben, das war kein Erwachsener.«

»Amber, bitte nicht.«

»Hört zu, Leute, wir können nicht ändern, was passiert ist«, sagte Talitha. »Ich wünschte, wir könnten es, aber das geht nicht. Wir müssen uns etwas ausdenken.«

»Wir sagen nichts«, meinte Felix. »Es gab keine Zeugen. Oder es gibt jetzt keine Zeugen mehr. Tut mir leid, wenn das herzlos klingt, aber wir müssen uns aufs Wesentliche konzentrieren. Niemand außer uns weiß, was passiert ist, und ich lasse nicht für nichts und wieder nichts meine ganze Zukunft sausen.«

»Das Auto auf der anderen Seite«, wandte Amber ein. »Das da auf die Autobahn aufgefahren ist. Der hat uns bestimmt gesehen.«

»Das wissen wir doch gar nicht.« Felix’ Stimme wurde lauter. »Als der vorbeigefahren ist, war das Auto noch nicht explodiert. Und wir waren alle noch im Wagen. Da gibt’s keine Straßenbeleuchtung. Vielleicht hat der gar nichts gesehen. Oder vielleicht hat er gedacht, er hätte was gesehen, konnte aber nicht erkennen, was. Die Chance, dass der unser Kennzeichen hat, ist gleich null.«

»Irgendwas muss der gesehen haben«, widersprach Daniel. »Die Polizei weiß bestimmt, dass da zwei Wagen beteiligt waren.«

»Wir haben die ja nicht mal gestreift. An unserem Auto sind bestimmt keine Spuren.«

»Die finden uns«, wiederholte Xav hartnäckig. »Das ist kein Spiel mehr, da ist jemand draufgegangen. Die Polizei wird sich voll in die Ermittlungen reinhängen. Die geben keine Ruhe, bis sie wissen, was passiert ist.«

Amber begann laut zu weinen. Talitha stand auf. »Ich gehe meine Mum suchen«, verkündete sie. »Ich kann damit nicht umgehen.«

Hastig kam Daniel von den Bodenfliesen hoch und war vor ihr an der Tür. »Warte«, stieß er hervor. »Nur noch ein paar Minuten. Uns fällt schon was ein.« Er schaute von einem Gesicht zum nächsten, und den anderen kam es vor, als sei die Zeit in den letzten paar Stunden zurückgespult worden und Daniel wäre wieder der Junge, an den sie sich undeutlich erinnerten. Klein, schüchtern, unbeholfen beim Sport, der Junge, der sich nur selten getraut hatte, seine Intelligenz im Unterricht zu zeigen, damit die größeren, cooleren Kids ihn nicht als Streber abstempelten.

»Ist einer von uns nüchtern?«, fragte er, und auch seine Stimme schien in die Zeit vor dem Stimmbruch zurückgefallen zu sein. »Wenn jemand gefahren ist, der einen Führerschein hat und nichts getrunken hatte, dann brauchen wir nur zu sagen, wir wären in die richtige Richtung gefahren, und es wäre ein Unfall gewesen. Dann gibt’s vielleicht nur ein paar Punkte für einen von uns. Wenn wir alle zusammenstehen.«

»Du willst, dass wir für dich den Kopf hinhalten?« Felix machte einen Schritt auf ihn zu. Seine Schultern strafften sich, und seine Finger zuckten, als wollten sie sich zu Fäusten ballen.

»Das Ganze war deine beschissene Idee!«, brüllte Daniel. »Ich wollte das gar nicht. Keiner wollte, außer dir und Xav. Ich nehme doch nicht die Schuld für das auf mich, was du getan hast.«

Felix trat noch näher und zeigte mit dem Finger auf Daniels Gesicht. »Du hast am Steuer gesessen, Wichser. Wir können ja sagen, wir wären unschuldige Mitfahrer gewesen und hätten dich angefleht, es nicht zu tun.«

»Du verdammter Scheißkerl!« Daniel stürzte sich auf Felix. Er war um einiges leichter, doch Felix geriet aus dem Gleichgewicht und stolperte über einen Stuhl. Beide Jungen kippten zu Boden. Völlig überrumpelt lag Felix wie betäubt da, während Daniel ein paarmal mit den Fäusten auf Kopf und Schultern des Größeren eindrosch. Xav und Talitha stürzten zu ihnen, um sie zu trennen. Das dauerte nicht lange – keiner der beiden hatte wirklich Lust auf eine Schlägerei. Mit hochrotem Gesicht sanken sie schwitzend auf die Stühle.

»Wir sind erledigt, stimmt’s?« Die Farbe wich beim Sprechen aus Felix’ gerötetem Gesicht. »Auch wenn nur Dan angeklagt wird – tut mir leid, Dan, aber wir können uns genauso gut den Tatsachen stellen –, wir sind alle beteiligt. Wir haben alle Fahrerflucht begangen.«

In dem Schweigen, das darauf folgte, sah mehr als einer wieder den Feuerball vor sich, spürte die Hitze, die ihnen ins Gesicht schlug.

»Alle werden uns hassen«, sagte Talitha.

»Keine Uni wird uns nehmen«, flüsterte Amber. »Das wird in sämtlichen Zeitungen stehen.«

»Wieso denn?« Xav schaute in die Runde. »Es war ein Autounfall. So was passiert andauernd, das kommt doch nicht alles in den Nachrichten.«

»Wach auf, Xav. Wir sind die Oberstufensprecher von All Souls«, entgegnete Talitha. »Megan ist Schulsprecherin, Herrgott noch mal! Wir haben alle Studienplätze an Eliteunis, oder jedenfalls so gut wie. Der Rest der Welt fährt voll darauf ab, Leute wie uns fertigzumachen. Mach dir nichts vor – die Zeitungen werden ihren Spaß mit uns haben.«

»Mein Dad könnte seinen Parlamentssitz verlieren«, sagte Amber halblaut. Ihr Vater war der Abgeordnete von Buckingham.

»Wir haben alles versaut.« Auch Talitha schien den Tränen nahe. Keiner von ihnen hatte sie jemals weinen sehen.

Felix hob die Hände, als wolle er sie alle davon abhalten, auf ihn loszugehen.

»Nicht unbedingt«, sagte er. »Es braucht ja nur einer von uns heute im Auto gesessen zu haben. Der kann sagen, dass es ein Versehen war, dass er einen Fehler gemacht hat. Wir hatten einen Plan, wisst ihr noch? Also, genauso machen wir’s. Wir halten uns daran. Ein Fahrer, der allein unterwegs war, hat Mist gebaut, und es hat einen furchtbaren Unfall gegeben.«

»Schau bloß nicht mich an, verdammte Scheiße«, knurrte Daniel. »Ich lass dich nicht ungeschoren davonkommen.«

Im Raum entstand kaum wahrnehmbar Bewegung. Vier von den anderen – Felix, Xav, Talitha und Amber – hatten einen Kreis um Daniel gebildet. Er starrte von einem Gesicht zum anderen wie ein in die Enge getriebenes Tier, das verzweifelt nach einem Fluchtweg sucht.

Von ihrem Platz bei der Tür aus sah Megan zu, die dunklen Augen weit aufgerissen.

»Denk doch mal nach, Dan.« Felix Stimme war ruhig, seine Bewegungen beschwichtigend. »Einer von uns muss für das bezahlen, was heute Nacht passiert ist. Da führt kein Weg dran vorbei. Aber nicht wir alle. Du bist noch jung. Du hast keinerlei Vorstrafen, du bist ein Musterschüler; möglicherweise kriegst du ein oder zwei Jahre. Vielleicht auch nicht, vielleicht kommst du mit Sozialstunden davon. Ganz gleich, was passiert, wir machen’s wieder gut.«

Daniel starrte Felix an, und in seinen Augen lag so etwas wie Hass.

»Was schlägst du vor?«, fragte Talitha, und Daniel warf ihr einen gequälten Blick zu.

»Folgendes ist passiert«, erklärte Felix. »Wir haben hier abgehangen, und Dan ist gegangen. Er war nervös wegen morgen und wollte allein sein. Er hat, ohne zu fragen, den Wagen meiner Mutter genommen, weil er anders nicht nach Hause gekommen wäre. Und weil er müde und ein bisschen betrunken war und außerdem kein sehr geübter Autofahrer ist, ist er durcheinandergekommen und falsch abgebogen. Als das andere Auto explodiert ist, ist er in Panik geraten und nach Hause gefahren.«

»Ich glaub’s nicht, dass du so was …«, begann Daniel.

»Sei still, Dan. Lass ihn ausreden«, unterbrach ihn Megan.

»Ganz früh heute Morgen kommt er her und erzählt uns, was passiert ist.«

»Dann rufe ich meinen Dad an, der kann in nicht mal einer Stunde hier sein«, sagte Talitha. »Er erklärt sich bereit, Dan zu vertreten – bestimmt, Dan, da bin ich mir ganz sicher –, und ihr beide fahrt zum Polizeirevier.«

Tränen liefen Dan übers Gesicht. »Nein. Das mache ich nicht.«

»Vielleicht haut mein Dad dich ja sogar raus«, meinte Talitha. »Er ist super, das sagen alle.«

»Ich lande im Knast. Das war’s mit meinem Leben. Game over. Warum soll ich der Einzige sein, der bezahlt? Warum?«

»Ist es nicht besser, fünf Freunde zu haben, die Erfolg haben, die sich um dich kümmern und dafür sorgen können, dass du kriegst, was du brauchst, wenn’s vorbei ist, als fünf Freunde, die in den Zellen nebenan sitzen?«, fragte Felix.

Daniel ließ den Kopf in die Hände sinken. »Nein. Ich tu’s nicht.«

»Wir könnten ja losen«, schlug Xav vor.

Daniel blickte auf. »Was?«

»Felix hat recht«, meinte Xav. »Es ist doch blöd, wenn wir alle die Schuld auf uns nehmen. Wieso das Leben von sechs Leuten ruinieren? Nur einer von uns muss es tun. Die Frage ist, wer?«

Niemand sagte etwas.

»Wir sind alle gleichermaßen schuld«, fuhr Xav fort. »Wir haben es alle verbockt. Jeder von uns hätte auf dem Fahrersitz sitzen können, wenn was passiert. Hast du Strohhalme, Talitha?«

»Das ist nicht dein Ernst«, stieß Felix hervor.

»Wieso denn nicht?«, wollte Daniel wissen. »Bist wohl doch nicht so scharf darauf, dass einer von uns den Kopf hinhält, wenn du’s sein könntest, wie?«

»Du hast den Unfall gebaut, Sackgesicht, nicht ich!«

»Ich mach’s«, sagte Megan.

Möglicherweise hatten die anderen vergessen, dass sie da war. Seit sie zurückgekommen waren, war sie so still gewesen. Auf ihrem Klappstuhl neben der Tür wirkte sie unnatürlich regungslos, die Arme um den Körper geschlungen, den Blick auf den Boden geheftet.

»Wie meinst du das?«, fragte Felix.

Sie schaute auf. »Ich sage, ich bin gefahren.«

Alle sahen zu, wie sie tief Luft holte. Sie schloss die Augen und schien einen Moment lang fast zu Stein geworden zu sein. Dann öffneten sich ihre dunklen Augen, fixierten jedoch etwas, das keiner der anderen sehen konnte.

»Ich sage, ich war allein«, fuhr sie fort. »Dass ich es satt hatte, mit euch rumzuhängen, dass ich wegen morgen total nervös war und dass ich nach Hause wollte.«

»Das ist aber gar nicht dein Nachhauseweg«, wandte Felix bedächtig, fast argwöhnisch ein. »Und wieso solltest du das Auto von meiner Mum nehmen?«

Wieder eine lange Pause. »Ich sage, ich hätte euch alle echt richtig sattgehabt«, fuhr Megan schließlich fort. »Ihr hättet euch benommen wie die totalen Arschlöcher.« Ihr Blick hielt dem von Felix stand. »Und dann hätte ich mich an der Auffahrt vertan. Ich sage, ich war durcheinander und habe mich nicht richtig konzentriert, und als ich das andere Auto gesehen habe, konnte ich nichts mehr machen.«

Noch ein paar Sekunden Schweigen.

»Warum?«, fragte Xav. »Warum willst du das tun?«

»Lass sie doch, wenn sie’s will«, knurrte Daniel.

»Ihr habt recht, du und Felix«, antwortete Megan. »Es wäre bescheuert, wenn uns allen das Leben versaut wird. Einer von uns kann die anderen retten. Wir haben immer gesagt, wir sind die besten Freunde, die wir jemals haben werden. Jetzt zeigen wir, dass wir das ernst meinen.«

»Ich fasse es nicht, dass du das tun würdest«, sagte Xav.

»Einer von uns muss es tun, und Dan ist einfach nicht stark genug. Nichts für ungut, Dan, aber ich glaube, das hast du gerade bewiesen.«

»Und wo ist der Haken?«, wollte Felix wissen.

Megan stand auf. »Der Haken ist, dass ihr mir alle etwas schuldig seid. Ihr schuldet mir euer Leben, denn das, was ich tue, wird es retten. Seht ihr das auch so?«

»Ja«, sagte Daniel.

»Meg«, setzte Amber an, »ich weiß nicht …«

»Was willst du?«, fragte Felix.

»Tal«, sagte Megan, »du bist unsere Jura-Expertin, hol mal Papier und einen Stift.«

Talitha erhob sich halb von ihrem Stuhl. »Aber was …«

»Tu’s einfach. Dan, geh mit ihr. In ihrem Zimmer ist eine Kamera. Normalerweise hat sie die im Nachtschränkchen. Guck nach, ob der Akku geladen ist, und bring sie mit.«

Talitha und Daniel wechselten einen nervösen Blick und verließen den Pavillon.

»Was hast du vor?«, fragte Felix.

»Dafür sorgen, dass ihr nicht im Knast landet«, antwortete Megan. »Du warst doch gern bereit, Dan das übernehmen zu lassen, also was hast du jetzt für ein Problem?«

Felix öffnete den Mund.

»Nein, halt die Klappe«, befahl Megan. »Ich muss nachdenken.«

Sekunden verstrichen, dann Minuten. Amber vergrub das Gesicht an Xavs Schulter. Felix starrte Megan an, wie Raubtiere eine Beute anstarrten, nach der sie gieren, die sie jedoch gleichzeitig fürchten. Megan richtete den Blick auf das Wasser draußen. Nur ein einziges Mal drehte sie sich um, nur eine Sekunde, um Blickkontakt mit Xav aufzunehmen.

Die anderen kamen zurück, Daniel mit der Kamera, Talitha mit einem Klemmbrett, mehreren Blatt Papier und einem Stift. Niemand sagte etwas. Alle warteten auf Megan.

»Schreib auf, was ich sage«, wies sie Talitha an.

Talitha setzte sich.

»Schreib das Datum hin«, befahl Megan. »Das von heute, Donnerstag, der 17. August, und schreib auch die Uhrzeit auf, fünf nach halb drei.«

»Fertig.« Talithas Hand zitterte sichtlich.

»Okay, jetzt schreib Folgendes: ›Wir, die Unterzeichnenden, waren heute in den frühen Morgenstunden in einem VW Golf mit dem Kennzeichen V112 HGC unterwegs. Um ungefähr drei Uhr morgens sind wir in Richtung Südosten auf die A40 aufgefahren. Kurz nachdem die Schnellstraße zur Autobahn wird, sind wir fast mit einem Vauxhall Astra mit dem Kennzeichen S79 THO kollidiert, der in die Gegenrichtung gefahren ist.‹«

»Woher weißt du die Nummer?«, fragte Amber.

»Ich habe ein fotografisches Gedächtnis. Tal, schreib weiter. ›Der Astra ist durch unser Handeln gegen einen Baum gefahren und in Brand geraten. Wir waren außerstande, den Insassen zu helfen.‹«

Tal hörte auf zu schreiben und schüttelte ihre Hand, als wolle sie einen Krampf lösen.

»Wir sollten sagen, dass Dan gefahren ist«, warf Felix ein.

»Halt’s Maul, verdammt!«, fauchte Daniel.

»Hier geht’s um kollektive Verantwortung«, sagte Megan. »Fast fertig, Tal. ›Wir haben mit voller Absicht gehandelt und gewusst, dass unser Vorgehen potenziell gefährlich war. Es war eine Mutprobe, die wir bereits fünfmal absolviert hatten, wobei jeder von uns mit Fahren an der Reihe gewesen war. Wir übernehmen gemeinsam die volle Verantwortung für den Unfall.‹«

»Gleich ist die Seite zu Ende«, meldete Talitha.

»Ist noch Platz für sechs Unterschriften?«, wollte Megan wissen.

»Gerade eben noch«, antwortete Talitha.

»Wir unterschreiben alle«, verkündete Megan.

»Und warum machen wir das?«, fragte Felix, als ihm das Blatt gereicht wurde. »Was hast du damit vor?«

»Es sicher verwahren«, erwiderte Megan. »Ich werd’s nur benutzen, wenn ich muss.«

»Wieso?« Felix’ Miene war wie versteinert. »Wo ist der Haken?«

»Wenn ich das für euch tue, dann seid ihr mir alle etwas schuldig«, wiederholte Megan. »Ich nehme die Schuld auf mich, aber ihr schuldet mir alle einen Gefallen, wenn ich aus dem Gefängnis komme. Oder auch früher. Im Großen und Ganzen dann, wenn ich ihn einfordere, egal wann.«

Felix’ Augen wurden schmal. »Was für einen Gefallen?«

»Alles, was ich verlange.«

»Darauf lasse ich mich nicht ein«, wehrte Felix ab.

Megan lächelte verkniffen. »Dann gibt’s keinen Deal.«

»Was für einen Gefallen?«, fragte nun auch Xav. »Was willst du? Geld?«

Megan schien darüber nachzudenken. »Vielleicht«, sagte sie. »Hier sind meine Bedingungen. Jeder von euch erklärt sich zu einem Gefallen bereit. Wenn einer von euch aussteigt, reißt er oder sie die anderen mit rein.«

»Mit anderen Worten, du hast uns am Sack«, bemerkte Felix.

»Wenn dir meine Seite des Deals so gut gefällt, übernimm du doch meine Rolle«, gab Megan zurück.

»Wir müssen jetzt gleich absprechen, was das für Gefallen sind«, meldete sich Talitha zu Wort. »Ich meine, du könntest von mir verlangen, dass ich meine Mum ermorde.«

»Ich konnte deine Mum immer gut leiden.« Megan lächelte. »Vielleicht verlange ich ja von dir, dass du Felix umbringst.«

Felix Kopf fuhr von einer zur anderen herum. »Was soll der Quatsch?«

»War nur ein Witz. Wie soll ich denn dein Versprechen einfordern, wenn du tot bist?«

»Meg, das passt doch gar nicht zu dir«, sagte Xav. »Warum tust du das?«

»Ich bin mir nicht sicher, ob irgendeiner von euch mich wirklich kennt«, erwiderte sie. »Ihr habt mich in eure kleine Gruppe reingelassen, weil ich Schulsprecherin war, aber ich war nie eine von euch.«

»Das stimmt nicht«, beteuerte Amber, aber es lag keine Überzeugung in ihrer Stimme, und sie starrte weiter auf den Fliesenboden.

»Von mir aus. Heute Nacht ist jedenfalls Folgendes passiert: Wir haben rumgegammelt wie üblich, und ich hab angefangen, mich ein bisschen zu langweilen und rumzuzicken. So gegen drei Uhr hab ich mich weggeschlichen und das Auto von Felix’ Mum geklaut. Da habt ihr mich zum letzten Mal gesehen.«

Felix kritzelte seinen Namen auf das Papier und gab es an Daniel weiter, der wortlos unterschrieb. Amber unterzeichnete als Nächste, dann Xav.

»Nachher«, fuhr Megan fort, »geht ihr wie geplant zur Schule. Wenn jemand fragt, wo ich bin, wisst ihr es nicht. Nach einer Stunde oder so ruft ihr bei meiner Mum an, fahrt bei mir zu Hause vorbei. Tal, wenn ich dir Bescheid gebe, dann muss dein Dad kommen und mich vertreten.«

»Ist das mein Gefallen?«

Megans Augen blitzten. »Nein, ist es verdammt noch mal nicht. Und lass ihn ja nicht kneifen. Zwing ihn dazu.«

Das Blatt Papier wurde Megan zurückgereicht. Sie unterschrieb es ebenfalls und gab es dann Talitha.

»Stellt euch alle zusammen«, wies sie die anderen an. »Und haltet es hoch.«

Die anderen taten wie geheißen. Megan machte mehrere Fotos, dann holte sie den Film aus der Kamera und steckte ihn in die Tasche. Schließlich streckte sie Felix die Hand entgegen.

»Autoschlüssel«, befahl sie. Er gab ihn ihr.

»Viel Glück morgen«, sagte sie. »Ich wünsche euch allen ein schönes Leben. Vergesst mich nicht.«

»Meg, warte …« Amber machte einen Schritt auf sie zu, doch Felix hielt sie an der Schulter fest.

»Xav, bring mich zum Auto«, sagte Megan.

Xav warf einen letzten verzweifelten Blick in die Runde, dann verließen er und Megan den Poolpavillon.

5

»… und wird wahrscheinlich während des gesamten morgendlichen Berufsverkehrs so bleiben. Mittlerweile ist die Sperrung der M40 in Richtung Norden zwischen den Anschlussstellen 7 bei Thame und 8 bei Oxford nach dem schweren Unfall in den frühen Morgenstunden wieder aufgehoben worden. Die Polizei bittet Zeugen, sich zu melden, nachdem eine Mutter und ihre beiden kleinen Kinder bei einer Kollision ums Leben gekommen sind. Die Namen der Opfer sind noch nicht bekannt, und gegenwärtig wird nicht davon ausgegangen, dass weitere Fahrzeuge beteiligt waren. Und damit zurück ins Studio zu David Prever.«

Xav schaltete das Autoradioaus. Es fühlte sich an, als würde sein Herz bluten, ganz bestimmt, nichts anderes konnte so wehtun. Neben ihm schluchzte Amber leise vor sich hin.

Es war Viertel vor neun. Die Sonne warf goldenes Licht auf das uralte Mauerwerk der Stadt, und der Himmel war strahlend blau und mit Cartoon-Wölkchen und Kondensstreifen verziert, die aussahen wie Scherenschnitte. Xav konnte sich nicht erinnern, dass die Welt jemals finsterer ausgesehen hatte. Sein Leben hatte in den frühen Morgenstunden geendet, und jetzt stolperte er wie ein Zombie durch einen blassen Abklatsch eben dieses Lebens.

»Ich hab doch gesagt, da war ein Kind im Auto«, murmelte Amber. »Ich hab’s euch doch gesagt.«

Zwei Kinder, dachte Xav. Unseretwegen sind gestern Nacht zwei Kinder gestorben.

Der Parkplatz wurde mit jeder Sekunde voller, und eine Spannung, die überhaupt nichts mit dem Rumoren in Xavs Eingeweiden zu tun hatte und die ihm auch in jeder Hinsicht lieber gewesen wäre, hing schwer in der warmen Sommerluft.

Ach, keine anderen Sorgen zu haben als die Prüfungsergebnisse! Begleitende Eltern versuchten gar nicht, ihre Beklommenheit zu verbergen. Mit blassen Gesichtern drängten sie sich zusammen und unterhielten sich leise, ja, sie hätten sich davor gefürchtet, und nein, es würde nicht leichter, und sie wünschten, die Schule würde ihre Tore öffnen und sie könnten das Ganze hinter sich bringen.

Worüber sie nicht sprachen, weil sie es nämlich niemals über sich brachten, so ganz ehrlich zueinander oder gar zu sich selbst zu sein, waren die enormen Summen, die sie in die Schulbildung ihrer Kinder investiert hatten. Dabei war ihnen allen sehr klar, dass sie in ein paar Minuten wissen würden, ob sich diese Investition ausgezahlt hatte oder nicht.

Die Schulabgänger machten einen glaubhaften Versuch, das Ganze mit ein bisschen halbherzigem Geplänkel abzutun, aber genau wie die ihrer Mütter und Väter huschten auch ihre Blicke immer wieder zu den Türen des Speisesaals. Von seinem Platz hinter dem Lenkrad aus konnte Xav dort drinnen Leute sehen: Catering-Personal, den Hausmeister. Sogar die Rektorin in einem leuchtend rosafarbenen Kostüm war ganz kurz zu sehen. Doch die Türen waren abgeschlossen und würden es bis Schlag neun Uhr bleiben.

»Ich kann das nicht.«

Amber zitterte neben ihm. Im Gesicht hatte sie noch immer Reste des Make-ups vom Vorabend, und ihr Atem roch in der Enge des Autos sauer. Seiner wahrscheinlich auch.

»Du musst dich zusammenreißen, Am. Wir kriegen unsere Ergebnisse, dann fahren wir zurück zu Tal und besprechen das Ganze.«

»Ich kann nicht. Zwei Kinder. Ich kann’s nicht, Xav!«

Nicht zum ersten Mal an diesem Morgen wünschte er sich, er wäre allein. Er kam kaum mit dem zurecht, was in seinem eigenen Kopf vorging, und dafür zu sorgen, dass Amber ruhig blieb, überforderte ihn. Wie hatte er vor zwölf Stunden nicht wissen können, dass sein Leben vollkommen gewesen war?

»Da sind sie.« Einen Moment lang empfand er Erleichterung, als Talitha ihren Mini auf den Parkplatz fuhr und rückwärts in einer der letzten verbliebenen Lücken einparkte. Felix saß neben ihr, und Daniel hockte auf dem Rücksitz.

Alle drei sahen völlig fertig aus, als sie ausstiegen. Daniel lehnte sich an die Autotür, als hätte er kaum genug Kraft, um aufrecht zu stehen, Felix jedoch steuerte sofort auf Xav und Amber zu.

»Habt ihr Radio gehört?«, fragte Xav, als er nahe genug war.

Felix nickte knapp. »Das macht keinen Unterschied.« Wie Xav sprach er mit gesenkter Stimme. »Zwei Kinder, zwanzig Kinder, jetzt können wir’s nicht mehr ändern. Das Wichtigste ist, sie glauben nicht, dass noch ein Fahrzeug beteiligt war. Hat einer von euch mit Megan gesprochen?«

»Sie geht nicht an ihr Handy.« Amber putzte sich die Nase. »Sie hat ja gesagt, dass sie nicht rangehen würde.«

Felix sah sich nervös um. »Ja, aber jetzt ist das was anderes. Wenn die glauben, der andere Fahrer hätte die Kontrolle über den Wagen verloren, dann suchen die doch nicht noch nach jemand anderem. Megan braucht gar nicht zu gestehen. Wir müssen sie finden.«

»Ich versuch’s noch mal.« Xav wählte Megans Nummer. »Nichts«, sagte er gleich darauf.

»Wie spät ist es?«, wollte Daniel wissen.

»Acht Uhr achtundvierzig«, antwortete Talitha. »In einer Viertelstunde müssen wir rein.«

»Ich fahre bei ihr vorbei«, beschloss Felix. »Wir haben immer noch Zeit, sie daran zu hindern, zur Polizei zu gehen. Xav, kann ich dein Auto nehmen?«

»Ich komme …«, begann Xav.

»Xav, nein!« Amber klammerte sich an seine Hand.

Xav reichte Felix die Autoschlüssel und verbiss sich, was er eigentlich hatte sagen wollen. Felix sprang in den silbernen Peugeot 205 und raste vom Parkplatz.

»Es ist zu spät«, sagte Xav und sah Felix nach. »Sie ist bestimmt schon zur Polizei gegangen.«

Er hätte es ihr ausreden sollen, als er sie zum Auto gebracht hatte. Warte doch ab, hätte er sagen sollen, lass dem Ganzen ein bisschen Zeit, schauen wir erst mal, was passiert. Aber was sie zu ihm gesagt hatte, hatte ihn umgehauen.

Zwei Lehrer, beides Sportlehrer, beide mit genau demselben mitfühlenden Lächeln, bahnten sich einen Weg durch die Menge. Sie hatten das alles schon oft erlebt.

»Ach, Herrgott noch mal, jetzt macht schon.« Finster schaute Talitha zu den Speisesaaltüren hinüber, als könne sie sie mit reiner Willenskraft zwingen, sich zu öffnen. »Bringen wir’s hinter uns.«

»Es ist mir egal«, verkündete Xav. »Mir ist wirklich egal, was für Noten ich kriege. Wenn ich überall durchgefallen bin, dann ist mir das so was von schnuppe.«

Irgendwie hoffte er ja fast, dass es so sein würde, als könne Durchfallen als Teilzahlung für das gelten, was er gestern Nacht getan hatte. Aber er war nicht durchgefallen, Prüfungen waren für ihn immer leicht gewesen.

Amber schlang die Arme um seine Taille, und Xav atmete tief durch, denn das Bedürfnis, sie wegzustoßen, war fast übermächtig.

»Du musst dich zusammenreißen«, herrschte Talitha sie an. »Du kannst da doch nicht völlig verheult reingehen.«

Dankbar, dass Talitha seine Gedanken ausgesprochen hatte und er es nicht tun musste, drückte Xav seine Freundin. »Wir sagen, sie ist so nervös«, meinte er. »Und dann erleichtert.«

»Oder entsetzt, wenn sie wirklich in Theologie durchgefallen ist«, bemerkte Daniel.

6

Er kam noch rechtzeitig, er musste einfach noch rechtzeitig kommen. Es war doch noch früh, sie hatte bestimmt noch nichts unternommen. Der Unfall war schlimm, er würde gar nicht versuchen, so zu tun, als sei es anders, und während der kommenden Wochen würde er Amber und Dan im Auge behalten müssen, und Xav möglicherweise auch. Aber sie würden das überstehen, solange Megan noch nicht bei der Polizei angerufen hatte.

Als Felix in Megans Reihenhausstraße einbog und im Halteverbot parkte, wurde ihm klar, dass er noch nie bei ihr zu Hause gewesen war. Die paar Male, wo er sie heimgefahren hatte, hatte er vor ihrer Tür angehalten, um sie aussteigen zu lassen. Er war nie hineingebeten worden, und die anderen, soweit er wusste, auch nicht.

Ein paar Sekunden, nachdem er sich zu Fuß zu ihrem Haus aufgemacht hatte, sah er das Polizeiauto.

In zweiter Reihe geparkt und mit blinkendem Blaulicht, um andere Straßenbenutzer zu warnen, stand es genau vor Megans Haustür. Das war’s dann also – er kam zu spät. Fast hätte Felix auf dem Absatz kehrtgemacht, doch der gesunde Menschenverstand ließ ihn weitergehen. Ein paar Meter näher, und er konnte einen Abschleppwagen sehen, der gerade ein Auto auf seine Ladefläche hievte. Noch ein paar Meter, und ihm wurde klar, dass es das Auto seiner Mutter war, das da gerade abgeschleppt wurde. »Noch ein einziger Strafzettel wegen Falschparken, Felix, und ich lass dich aus der Versicherung ausschließen – und das meine ich diesmal ernst!« Felix hörte die Stimme seiner Mutter laut und deutlich in seinem Kopf und ignorierte sie. Abgeschleppte Autos waren gerade sein kleinstes Problem.

Noch näher, und er konnte den Streifenpolizisten erkennen, der auf dem Gehsteig stand und zusah, wie der Wagen hochgehoben wurde. Felix machte die letzten unwiderruflichen Schritte.

»Entschuldigung.« Er schaute von dem Polizisten zu dem Mann in der gelben Signalweste, der das Aufladen des Autos dirigierte. Schwere Ketten waren um die Räder gelegt worden, und zwei Kräne fuhren aus, um es vom Boden hochzuheben. »Das ist mein Auto. Was ist hier los?«

Der Mann in der gelben Weste sah den Polizisten fragend an, der ihm mit einem Kopfnicken bedeutete weiterzumachen.

»Können Sie mir sagen, wie Sie heißen, Sir?«, fragte der Polizist. »Dieser Wagen ist auf eine Mrs Elizabeth O’Neill zugelassen.«

Die Kräne zogen an, die Ketten spannten sich.

»Das ist meine Mum. Eigentlich ist es ihr Auto, sie lässt mich damit fahren. Ich heiße Felix O’Neill.«

»Und haben Sie hier geparkt?«

Ganz ruhig. Er musste besorgt sein, aber nicht zu besorgt – noch nicht.

»Nein.« Felix richtete den Blick fest auf den Golf, der jetzt etliche Zentimeter über dem Boden schwebte. »Ich habe es gestern Abend einer Freundin geliehen, also, ich meine, so irgendwie.« Rasch schaute er zu Megans Haustür hinüber. »Ist sie da? Ich wollte sie suchen, sie müsste in der Schule sein.«

»Meinen Sie Megan Macdonald, wohnhaft Warren Road 14?«, erkundigte sich der Polizist, nachdem er kurz sein Notizbuch zurate gezogen hatte.