Beth - Geheimnis des Herzens - Margaret Kaine - E-Book
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Beth - Geheimnis des Herzens E-Book

Margaret Kaine

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Beschreibung

Eine unvergessliche Liebesgeschichte

England, Mitte der 50er-Jahre: Die junge Beth Sherwin stammt aus einfachen Verhältnissen, dennoch macht sie in der Porzellanmanufaktur der einflussreichen Familie Rushton Karriere. Als sie Michael, den ältesten Sohn der Rushtons, kennenlernt und sich in ihn verliebt, muss Beth sich gegen Vorurteile und Intrigen zur Wehr setzen. Doch dann macht Michael ihr einen Heiratsantrag, und Beth steht vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens. Denn ein Geheimnis aus ihrer Jugend könnte dazu führen, dass sie Michael für immer verliert ...

Die Geschichte der Sherwin-Frauen geht weiter - in "Rosemary - Wege des Glücks".

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.


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Inhalt

CoverWeitere Titel der AutorinÜber dieses BuchÜber die AutorinTitelImpressumDANKSAGUNGWidmung/Zitat1. KAPITEL2. KAPITEL3. KAPITEL4. KAPITEL5. KAPITEL6. KAPITEL7. KAPITEL8. KAPITEL9. KAPITEL10. KAPITEL11. KAPITEL12. KAPITEL13. KAPITEL14. KAPITEL15. KAPITEL16. KAPITEL17. KAPITEL18. KAPITEL19. KAPITEL20. KAPITEL21. KAPITEL22. KAPITEL23. KAPITEL24. KAPITEL25. KAPITEL26. KAPITEL27. KAPITEL28. KAPITEL29. KAPITEL30. KAPITELEPILOG

Weitere Titel der Autorin bei beHEARTBEAT:

Sagas über die Frauen aus den Potteries:

Rosemary – Wege des Glücks

Maureen – Zeit der Sehnsucht

Rebecca – Entscheidung aus Liebe

Über dieses Buch

Eine unvergessliche Liebesgeschichte

England, Mitte der 50er-Jahre: Die junge Beth Sherwin stammt aus einfachen Verhältnissen, dennoch macht sie in der Porzellanmanufaktur der einflussreichen Familie Rushton Karriere. Als sie Michael, den ältesten Sohn der Rushtons, kennenlernt und sich in ihn verliebt, muss Beth sich gegen Vorurteile und Intrigen zur Wehr setzen. Doch dann macht Michael ihr einen Heiratsantrag, und Beth steht vor der schwersten Entscheidung ihres Lebens. Denn ein Geheimnis aus ihrer Jugend könnte dazu führen, dass sie Michael für immer verliert …

Die Geschichte der Sherwin-Frauen geht weiter – in »Rosemary – Wege des Glücks«.

eBooks von beHEARTBEAT – Herzklopfen garantiert.

Über die Autorin

Margaret Kaine, geboren und aufgewachsen in »The Potteries«, in Mittelengland, lebt heute in Eastbourne. Ihre Karriere als Autorin startete sie mit Kurzgeschichten, die in mehreren Ländern veröffentlicht wurden. Anschließend erhielt sie für ihren Debütroman »Beth – Geheimnis des Herzens« gleich zwei literarische Preise. Seitdem schreibt sie mit großem Erfolg romantische Sagas, die vor dem Hintergrund der industriellen Entwicklung zwischen den 50er- und 70er-Jahren in ihrer Heimat spielen. Margaret Kaine ist verheiratet, hat zwei Kinder und zwei Enkelkinder.

Homepage der Autorin: https://margaretkaine.com/.

MARGARET KAINE

Beth

Geheimnis des Herzens

Aus dem Englischen von Katharina Kramp

Digitale Erstausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Für die Originalausgabe:

Copyright © 2002 by Margaret Kaine

Titel der irischen Originalausgabe: »Ring of Clay«

Originalverlag: Poolberg Press Ltd., Dublin

Für diese Ausgabe:

Copyright © 2004/2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Titel der deutschsprachigen Erstausgabe: »Geheimnis des Herzens«

Textredaktion: Britta Siepmann

Covergestaltung: Guter Punkt, München unter Verwendung von Motiven © Nejron Photo/Shutterstock © tupungato/Getty Images (Abo) © Fourleaflover/Getty Images (Abo)

eBook-Erstellung: hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-9537-2

be-ebooks.de

lesejury.de

DANKSAGUNG

An alle Mitglieder des Writers Workshop am Mittwochvormittag in der Wellington Street, Leicester, nicht nur für ihre konstruktive Kritik, die von unschätzbarem Wert war, sondern auch für ihre Freundschaft.

An meine Familie für die Ermutigung und Unterstützung, und an Poolbeg für die Chance, mein eigenes Buch in den Händen zu halten.

Für meine Mutter, der die Veröffentlichung dieses Romans so viel bedeutet hätte.

»Und aus dem strahlenden Kreis der Liebe tropfen die Edelsteine heraus.«

T. Moore

1. KAPITEL

Die Soldaten brachen in schallendes Gelächter aus und erschreckten das sechsjährige Kind, das zwischen den gedrechselten Beinen des Esstischs kauerte. Versteckt unter den schweren Falten des Chenille-Stoffes zog Beth die Knie an, um ihren riesigen schwarzen Stiefeln auszuweichen. Das abgenutzte grüne Linoleum fühlte sich an ihren nackten Beinen kalt an, aber das machte ihr nichts aus. Sie versteckte sich vor Gordon – er hatte gedroht, ihr den Arm umzudrehen. Sie hasste es, wenn er ihr den Arm umdrehte, sogar noch mehr, als wenn er ihr den Arm schmerzhaft auf den Rücken bog oder ihren Rock an einer Stuhllehne festband – alles Belustigungen, die sich ihr neunjähriger Bruder ausdachte, um sie zu quälen. Nun, hier würde er sie nicht finden, nicht solange Onkel Charlie und Onkel Bob auf ihren Tee warteten.

Sie waren natürlich nicht ihre wirklichen Onkel. Vor die Wahl gestellt, Evakuierte aus London oder Soldaten aus den nahe gelegenen Verwaltungsbaracken der Army aufzunehmen, hatte ihre Mutter sich für Letzteres entschieden.

»Dieses London ist eine Lasterhöhle«, hatte sie verkündet. »Ich werde nicht zulassen, dass ihr beide schlechte Gewohnheiten annehmt.«

Das Arrangement funktionierte gut. Die beiden Männer mittleren Alters wussten, wie glücklich sie es getroffen hatten, und machten sich in der kleinen Doppelhaushälfte nützlich.

»Sie werden nicht glauben, was uns heute mit Ihrer Tochter passiert ist, Rose«, rief Charlie in die Küche hinüber, und Beth erstarrte vor Entsetzen.

Bitte, liebes Jesuskind, lass ihn das nicht tun! Ihre Wangen brannten vor Scham, während sie sich die Faust in den Mund steckte, die blauen Augen riesig in ihrem schmalen, blassen Gesicht.

»Wir überquerten gerade die Hauptstraße, und was passiert, als wir gerade die Mitte erreicht hatten? Ihr Schlüpfer fiel herunter! Ich hab mich in meinem ganzen Leben noch nie so geschämt!«, lachte er schallend.

Bob lachte lauthals auf. Er war ein Berg von einem Mann, und Beth sah vor ihrem inneren Auge, wie sein Doppelkinn vor Heiterkeit bebte.

»Was hast du getan?«

»Ich musste stehen bleiben, nicht wahr, wo doch gerade der Bus vorbeikam. Das Mädel stand einfach wie angewurzelt mitten auf der Straße. Ich versuchte ihr den Schlüpfer auszuziehen, aber die Schnallen von ihren Sandalen haben sich darin verfangen. Ich kam mir ganz schön blöd vor! Jedenfalls habe ich sie am Ende hochgehoben, ihr den Schlüpfer ausgezogen und ihn in meine Tasche gestopft.«

»Wie schrecklich«, meinte Rose, als sie das Essen für die Männer hereintrug. »Ich schätze, ich hätte sie selbst von der Schule abholen sollen, aber das kam mir albern vor, wo Sie doch direkt am Tor vorbeikommen. Ihr Gummiband muss wohl gerissen sein.«

In Beth’ Augen brannten Tränen der Scham. Es war ein schrecklicher Tag gewesen. Er hatte schon auf dem Schulhof schlecht angefangen, als dieser fette Rabauke Sammy Platt höhnisch lachend rief »Zeig uns deinen Schlüpfer, Beth Sherwin!«. Natürlich hatte sie das nicht getan; jeder wusste, dass das unanständig war. Und dann mitten auf der Straße stehen zu müssen, von allen Leuten angestarrt!

»Ich wette, es ist nicht das erste Mal, hä, Kumpel, dass eine junge Dame ihre Hüllen für dich fallen lässt!«, stichelte Bob.

»Jetzt ist aber Schluss mit solchem Gerede«, befahl Rose. Sie bückte sich plötzlich und hob eine Ecke der Tischdecke.

»Habe ich es mir doch gedacht, junge Dame. Komm sofort da raus! Was habe ich dir über das Lauschen gesagt?« Rose griff nach Beth’ Arm und zog sie unter dem Tisch hervor.

»Warum bist du nicht draußen beim Spielen?«

Beth ließ den Kopf hängen. Sie wusste sehr genau, dass man keine Lügen erzählen durfte – außerdem reagierte ihre Mutter sehr ungeduldig auf das, was sie kindische Streitereien nannte. Sie würde nur damit drohen, sie mit den Köpfen aneinander zu schlagen, eine Aussicht, die ihr noch unangenehmer erschien als der Schmerz eines umgedrehten Arms.

Rose seufzte. »Oh, also gut, von mir aus. Du kannst hier bleiben und deinen Comic lesen, bis es Zeit ist, ins Bett zu gehen. Aber ich will keinen Mucks mehr von dir hören, denk dran!«

Beth versuchte, sich in die Abenteuer von Keyhole Kate zu vertiefen, aber es war einfach zu laut. Sie runzelte die Stirn und versuchte zu hören, was die Erwachsenen redeten. Es war sonst nicht die Art ihrer Mutter, sich einfach hinzusetzen und zu reden – normalerweise war sie immer irgendwie beschäftigt, besserte zum Beispiel die Kleidung aus, so gut es ging, so wie sie es drüben in der Familienbildungsstätte gelernt hatte.

»Morgen ist es so weit. Das habe ich jedenfalls gehört«, sagte Onkel Charlie.

»O Gott, hoffentlich hast du Recht. Ich wage einfach nicht daran zu glauben, dass alles vorbei ist. Und dass Hitler Selbstmord begangen hat, finde ich ein starkes Stück«, erklärte Rose. »Er müsste gehängt, gestreckt und gevierteilt werden, wenn es nach mir ginge.«

»Nach dir und Millionen anderen«, erwiderte Charlie grimmig.

Rose stand auf. »Beth, geh und sag Gordon, er soll reinkommen und ins Bett gehen. Los, beeil dich! Morgen wird ein großer Tag – ich möchte, dass ihr beide ausgeschlafen seid.«

»Warum, Mum, was passiert denn?«

»Das wirst du schon sehen.«

Aber Beth glaubte es schon zu wissen – alle redeten darüber. Der Krieg würde vorbei sein.

Am folgenden Tag saßen sie und Gordon auf dem geknüpften Teppich am Kamin und hörten aus dem Rundfunkgerät, wie Mr. Churchill das lange erwartete Kriegsende verkündete.

Rose, die ihre Zuneigung sonst selten zeigte, umarmte und küsste ihre Kinder und rannte dann, vor Erleichterung und Freude weinend, aus dem Haus und auf die Straße. Beth folgte ihr, alle Nachbarn waren draußen, lachten, weinten und umarmten sich.

»Hört mal alle her«, rief Mrs. Ward, die drei Türen weiter wohnte. »Lasst uns für ein Freudenfeuer sammeln.«

Bald liefen die Leute aus allen Straßen der kleinen Siedlung mit den gemieteten Häusern zusammen, in ihren Armen Holzteile, alte zerbrochene Möbel und alles, was sie sonst noch finden konnten. Dann, als es dämmerte, errichteten sie ein riesiges Freudenfeuer auf einem Feld direkt an der Mill Lane, das am Ende der kleinen Sackgasse entlanglief. Sie durfte lange aufbleiben. So überwältigt und aufgeregt wie sie war, kam es Beth so vor, als hätte sich die ganze Welt in ein Märchenland verwandelt.

Sie hatte die Straße noch nie von Lichtern erleuchtet gesehen, und als sie sie an Roses Seite entlang in Richtung Freudenfeuer lief, erhaschte sie verführerische Einblicke in die Häuser anderer Leute. Das goldene Licht schien aus vorhanglosen Fenstern. Es war, als wollten die Leute ihre Häuser für die Welt öffnen, um zu feiern, dass nach einem fast sechs Jahre andauernden Blackout das Leben wieder begann.

Aus sicherer Entfernung beobachteten die Kinder, wie die Funken hoch in den Himmel schossen, und rannten lachend um das Feuer herum, während sie mit ihren Freunden Fangen spielten.

Beth vergaß diese Nacht nie. Alle aus ihrem Viertel waren da, sogar die ganz alten Leute wie auch die Babys, und als das Freudenfeuer langsam verlosch, rösteten sie Kartoffeln in der Glut. Obwohl schwarz vom Ruß und kochend heiß, glaubte sie doch, noch nie eine solche Köstlichkeit gegessen zu haben.

»Der Krieg in Europa ist vorbei! Weißt du, was das heißt? Jetzt kommt dein Vater vielleicht nach Hause!« Rose hielt Beth’ Hüfte umschlungen und wirbelte sie herum.

Beth konnte sich an ihren Vater nicht erinnern – sie wusste nur, dass er in einem fremden Land, das Italien hieß, war.

»Meinst du, wir sind jetzt in Sicherheit, Mum?«

Obwohl sie während der Luftangriffe noch sehr klein gewesen war, erinnerte sich Beth gut an die Bedrohung. Manchmal, wenn das Wetter schlecht und es eiskalt gewesen war, hatte Rose sich geweigert, die Kinder aus ihren warmen Betten zu nehmen und runter in den Luftschutzkeller zu gehen.

»Da sterbt ihr wohl eher an Lungenentzündung als durch Hitlers Bomben«, schimpfte sie. »Sie haben es sowieso auf die Munitionsfabrik in Swynnerton abgesehen, nicht auf uns!«

Onkel Charlie meinte, dass die Jerrys sich nicht die Mühe gemacht hätten, ihre Bomben abzuwerfen, als sie über die Potteries flogen, weil der ganze Rauch der Porzellanfabriken, der über diesem Gebiet hing, und all die Tongruben in der Erde sie glauben ließen, es wäre bereits bombardiert worden! Es stimmte, dass die Zerstörung ihrer Stadt verglichen mit Coventry oder London nur geringfügig war, aber für Beth, die auf ihrer schmalen Klappliege gelegen und dem ständigen, lauten Dröhnen der Flugzeuge über sich gelauscht hatte, war die Angst, eine Bombe könnte das Haus treffen, sehr real gewesen.

Die Euphorie hielt über die nächsten Monate an. Es gab Straßenpartys zur Feier des Sieges der Alliierten, die Frauen gaben sich immer die größte Mühe, für ein gutes Festessen zu sorgen, obwohl sie dafür jedes Mal die Essensration einer ganzen Woche opfern mussten. Beth liebte diese Feiern, nur die Abende, wenn das Feuerwerk begann, mochte sie nicht so gerne. Sie hasste einfach jede Art von Knallkörpern. Deshalb versteckte sie sich auch die meiste Zeit vor Gordon und einer Gruppe anderer Jungen, die einen Mordsspaß daran hatten, heimlich Knallfrösche hinter den Röcken der Mädchen anzuzünden, und vor Freude über deren Schreie lauthals johlten.

Schließlich erhielten Charlie und Bob ihre Entlassungspapiere und packten ihre Armeerucksäcke. Sie machten sich fertig, Stoke-on-Trent zu verlassen und zu ihren Familien zurückzukehren. Beth und Gordon standen am Tor und sahen den beiden Soldaten nach, die zügig bis zum Ende der Straße gingen, sich noch einmal umdrehten und dann mit einem Winken aus ihrem Leben verschwanden. Beth tat es nicht Leid, sie gehen zu sehen. Sie wollte, dass ihr Dad nach Hause kam; dann würden sie endlich eine richtige Familie sein.

Es passierte einen Monat später, als Rose gerade zu Mrs. Ward gegangen war, um sich ein Strickmuster zu leihen. Beth hatte sich hinter das Sofa verkrochen. Sie und Gordon spielten Verstecken, da er aber schon so lange nicht mehr aufgetaucht war, vermutete sie allmählich, dass er mit seinen Freunden spielen gegangen war. Einmal war sie fast eine Stunde lang oben im Kleiderschrank gewesen! Nun, sie war vielleicht klein, aber sie war nicht dumm, und sie wollte sich gerade aus ihrem Versteck winden, als sich die Hintertür öffnete und eine tiefe Stimme fragte:

»Jemand zu Hause?«

Ein großer Mann in Uniform kam herein, ließ seinen Armeerucksack fallen, nahm seine Kappe ab, stand da und sah sich um. Im Kamin brannte kein Feuer, weil Rose Kohlen sparen wollte, und in der Stille hörte man das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims, das durch die Leere des Raums besonders laut erschien.

Beth wich zurück, als er auf die Tür zuging, die ins Treppenhaus führte, und rief:

»Wo seid ihr denn alle?«

Er wartete ein paar Sekunden, ließ sich dann mit einem müden Schulterzucken in einen Lehnstuhl fallen und zog aus seiner Tasche ein Päckchen Zigaretten. Er zündete sich eine mit einem Streichholz an und nahm einen tiefen Zug.

Hinter dem großen Rucksack verborgen wagte sie einen Blick um die Ecke des Sofas und fragte sich, wer das sein mochte.

Ihr Vater war er nicht, so viel stand fest. Dieser Mann hatte dunkle Haut und einen schwarzen Schnurrbart und sah den Fotos ihres Vaters überhaupt nicht ähnlich. Aber was tat er dann in ihrem Haus? Beth’ Herz klopfte, und Angst stieg in ihr hoch. Was sollte sie tun?

Der Soldat drückte seine Zigarette aus, ging hinüber zu dem alten Klavier in der Ecke und fingerte an dem gelben Elfenbein herum. Er begann zu klimpern. Beth erkannte die Melodie. Es war das Lied, das Vera Lynn im Rundfunkgerät sang: »We’ll meet again …«

Sie zuckte plötzlich zusammen, als der Fremde den Deckel zuschlug und herumfuhr, wild gegen den Rucksack trat und »Verdammte Scheiße!« murmelte.

Beth’ Augen weiteten sich vor Entsetzen. Ihre Mum erlaubte keine Flüche! Sie hörte, wie der Mann durch den Raum schritt, die Tür öffnete und nach oben ging. Seine schweren Stiefel polterten auf dem durchgelaufenen Teppich.

Das war zu viel! Sie kletterte aus ihrem Versteck, rannte zur Hintertür hinaus und hastete atemlos um die Ecke zu Mrs. Ward.

Sie stürzte durch deren Küchentür und blieb stehen, ihr Atem kam in abgehackten Stößen.

»Hey, was habe ich dir über das Anklopfen gesagt!«, schimpfte Rose mit ihr.

»Mum! Mum! Da ist ein fremder Soldat in unserem Haus!«, stammelte Beth mit lauter, schriller Stimme. »Er hat dunkle Haut und einen Schnurrbart, und er hat auf unserem Klavier gespielt!« Sie hielt inne und verkündete dann dramatisch: »Er ist unsere Treppe hinauf nach oben gegangen!«

Rose sah ruckartig von ihrem Strickmuster auf, die Augenbrauen zusammengezogen. Das konnte doch nicht sein, oder doch? Ihr Blick traf den von Mrs. Ward, und sie verstanden einander ohne Worte. Rose sprang auf und lief aus dem Haus. Beth wollte ihr folgen, aber Mrs. Ward hielt sie am Arm fest.

»Nein, Mäuschen, du bleibst jetzt mal besser hier bei mir.«

»Aber …«

»Kein aber! Wo steckt denn eigentlich dein Bruder?«

»Er spielt draußen Fußball.« Beth hatte ihn in der Ferne gesehen, als sie die Straße entlanggerannt war, die Kröte!

»Dann geh und hol ihn. Und sag ihm, wenn er direkt mit dir hierher kommt, mache ich euch beiden ein paar Äpfel im Schlafrock!«

Rose lief über die Straße, ihr Atem kam in flachen Stößen. Harry hier? Sie ging schnell seitlich am Haus entlang und blieb dann stehen, lehnte sich mit zitternden Beinen gegen die Wand. Vier Jahre waren es jetzt, vier lange, sorgenvolle Jahre, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte. Sie glättete sich das Haar, steckte die Haarklammern in ihrer Ponyrolle wieder fest und strich über ihr Kleid. Alle diese Stunden, in denen sie von Harrys Heimkehr geträumt hatte! Wie sie ein besonderes Essen für ihn zubereiten würde, das Haus erfüllt von appetitlichen Gerüchen, die Kinder in ihren besten Kleidern darauf wartend, ihn zu begrüßen. Sie hatte sogar ihre Kleidermarken gesammelt, um sich ein neues Kleid zu nähen, und jetzt stand sie hier mit nicht mal einem Hauch Lippenstift!

Aus einem Impuls heraus drehte sie sich um, schlich zurück zur Vorderseite des Hauses und warf heimlich einen Blick durchs Fenster. Es war Harry! Er saß im Lehnsessel und starrte ins Leere – dünner, tief gebräunt, und er trug jetzt einen Schnurrbart –, aber er war es!

In ihr stieg gleichzeitig Erleichterung, Freude, Aufregung und Beklommenheit auf. Sie konnte es nicht abwarten, ihm gegenüberzustehen, ihn zu halten, ihm zu sagen, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Ihr Puls raste, und sie wollte sich gerade in Bewegung setzen, als Harry plötzlich den Kopf in die Hände sinken ließ, seine Schultern zu zucken begannen und Rose zu ihrem Entsetzen sah, dass ihr Mann weinte.

Ihr wurde plötzlich klar, was für eine schreckliche Enttäuschung seine Heimkehr gewesen sein musste. »Lass zu Hause das Herdfeuer brennen«, hieß es in einem Lied, und Harry hatte nicht einmal das vorgefunden, nur ein leeres Haus, nachdem er einen so weiten Weg hinter sich hatte, den er sicherlich unter Bedingungen zurücklegen musste, die sie nur ahnen konnte. In einer plötzlichen Aufwallung von Liebe und Mitleid fuhr sie herum und rannte zurück zur Hintertür, ihr Gesicht nass von Tränen.

»Harry?«, rief sie, als sie die Hintertür öffnete.

Harry sprang aus dem Sessel, und sie warf sich in seine Arme, umklammerte ihn, weinte und lachte gleichzeitig.

»Oh, Harry, ich wollte dir eine so schöne Begrüßung bereiten, aber wir wussten nicht, dass du kommst. In deinem letzten Brief hieß es, es dauert noch einen Monat!«

»Ich weiß, altes Mädchen. Es spielt keine Rolle!« Harry strich sich mit dem Handrücken über die Augen und sah auf seine Frau hinunter, auf ihr freundliches, offenes Gesicht und ihre ehrlichen, blauen Augen, in denen Tränen glitzerten. Als Mann, der wenig Worte machte, wusste Harry Sherwin, wie glücklich er sich schätzen konnte, Rose zur Frau zu haben. Er hatte sich keine Sorgen gemacht, dass sie etwas mit anderen Männern anfing, während er weg war. So eine war sie nicht, nicht so wie die Frauen von einigen seiner Kameraden. Die Dinge, die er gehört hatte, ließen einem die Haare zu Berge stehen. Den ganzen lausigen Krieg über war das Einzige, was ihn hatte durchhalten lassen, der Gedanke an die Heimkehr zu Rose und den Kindern gewesen.

»Es ist alles so plötzlich gekommen, und ich wollte dir ein Telegramm schicken. Doch dann bot mir jemand eine Mitfahrgelegenheit an, und es war keine Zeit mehr, dich zu informieren«, erklärte er.

Rose trat einen Schritt zurück und fühlte sich plötzlich befangen.

»Wie geht’s den Kindern?«, fragte Harry. Er zog ein Taschentuch hervor und schnäuzte sich geräuschvoll.

»Oh, sehr gut. Gordon ist dir wie aus dem Gesicht geschnitten, und warte nur, bis du Beth siehst. Sie ist so ein kluges Kind!«

»Wo sind sie?«

»Bei Mrs. Ward.« Rose zögerte, dann sagte sie grinsend. »Beth war hier, als du ankamst. Sie hat dich mit dem Schnurrbart nicht erkannt! Du hättest sie hören müssen, als sie mir ganz aufgeregt und voller Empörung berichtete, dass ein Fremder unsere Treppe hinaufgegangen wäre!«

Er starrte sie an. »Na, da bin ich aber platt! Mach schon, Rose. Geh und hol sie.«

Gordon kam zuerst an, schoss wie ein Blitz ins Haus, blieb jedoch abrupt stehen, als er den großen, braun gebrannten Mann sah.

»Dad! Du siehst anders aus!«

»Dann erinnerst du dich an mich?«

»Natürlich tue ich das. Bleibst du jetzt für immer hier?«

»Nein, noch nicht, Junge. Habe nur eine Woche Urlaub.«

Harry zerzauste seinem Sohn das Haar, und Stolz erfüllte ihn beim Anblick des kräftigen kleinen Jungen. Rose hatte Recht; er sah mit seinem runden Gesicht und den braunen Haaren genauso aus wie er selbst in dem Alter.

Beth kam schüchtern herein und hielt Roses Hand umklammert.

Harry sank auf die Knie, und klare blaue Augen blickten in müde braune.

Er betrachtete voller Staunen das zierliche kleine Mädchen, streckte die Hand aus und berührte einen ihrer dunklen, glänzenden Zöpfe.

»Ich wusste nicht, das ich eine kleine Prinzessin zur Tochter habe.«

Sie wurde rot vor Freude.

»Gib deinem Vater einen Kuss!«, forderte Rose sie auf.

Beth hob ihr Gesicht und kicherte dann. »Das kitzelt!«

»Hast du viele Deutsche getötet, Dad?«, wollte Gordon wissen, und seine Augen glänzten bereits voller Verehrung für seinen Helden.

Rose sah, wie Harrys Gesicht sich veränderte, wie das Lächeln verschwand und sich die angespannten Linien um die Augen vertieften, die sich vom offenen Blick des Jungen abwandten.

Es entstand eine unangenehme Stille, bevor Rose schnell meinte: »Dein Vater will nicht mit so vielen Fragen über den Krieg belästigt werden, Gordon. Ich wette, ihm wäre jetzt nichts lieber als eine Tasse Tee – bei mir ist das jedenfalls so.«

In dieser Nacht, als sie neben ihrem Mann lag und seinem regelmäßigen Atem lauschte, wusste Rose, dass schwierige Tage vor ihr lagen. Oh, sie und Harry hatten lange gesprochen, als die Kinder im Bett waren, sie hatte ihm alle Neuigkeiten aus der Familie, von Nachbarn und Freunden erzählt. Aber es gab da eine Befangenheit, eine Kluft von vier Jahren Trennung. Sie hatte sich daran gewöhnt, als Oberhaupt der Familie ihre eigenen Entscheidungen zu treffen. Und Harry? Als normaler Arbeiter, dessen Horizont nur so weit gereicht hatte, Stoke City am Samstagnachmittag Fußball spielen sehen zu wollen, war er in eine Welt der Brutalität katapultiert worden, deren Existenz er sich niemals hätte vorstellen können.

Als er in ihr Doppelbett stieg, beugte er sich nur vor, küsste sie auf die Stirn. »Ich bin so müde, Rose, so verdammt müde!«, sagte er.

Sie hatte seine Wange geküsst und ihn einen Moment ganz fest gehalten.

»Geh schlafen, Harry – lass uns einfach dankbar sein, dass du zu Hause bist.«

Am Montag verlangte Beth lautstark danach, von ihrem Vater von der Schule abgeholt zu werden, und sah mit heißer Freude seine große, uniformierte Gestalt am Zaun warten. Sie fühlte sich um drei Köpfe größer, als sie an seiner Seite die Straße hinunter ging und mit ihren Füßen in den braunen und goldenen Herbstblättern raschelte. Zu Hause gab es zunächst Milch und Biskuit und dann, während Rose das Abendessen vorbereitete, nahm Harry beide Kinder mit zu einem Besuch bei Großmutter Sherwin, die ebenfalls in dem kleinen Stadtteil Minsden wohnte. Ihr Reihenhaus lag zehn Minuten entfernt in einer winzigen Straße direkt hinter dem kleinen Bahnhof. Sie liefen vorsichtig über das glitschige, moosbedeckte Pflaster der Gasse, die an den Rückseiten der Häuser vorbeiführte. Sie gingen über den vollkommen mit Wäscheleinen bespannten Hinterhof in die dunkle Waschküche. Für Großmutter Sherwin hing ihr Leben davon ab, den Hinterhof stets sauber gewischt zu halten und die Schwelle der Haustür regelmäßig rot nachzupolieren. Immer, wenn Beth sie besuchen kam und an der Haustür klopfte, durfte sie um Himmels willen nicht auf die Schwelle treten! Das kleine Haus roch stark nach Kohl und Desinfektionsmittel, und die Kinder durften nie den kalten Salon betreten, der nur Weihnachten und zu besonderen Gelegenheiten benutzt wurde.

Beth hatte ein kleines bisschen Angst vor Großmutter Sherwin, die keinen Hehl aus ihrer Überzeugung machte, dass man Kinder sehen und nicht hören sollte. Nun saß sie steif neben einem zappeligen Gordon auf dem Rosshaarsofa und wappnete sich gegen die Tortur, die vor ihr lag.

»Wie geht es dir, Elisabeth?«

»Gut, danke, Großmutter. Wie geht es dir?«

Die alte Frau genoss es, Zuhörer zu haben, und beklagte sich ausführlich über ihr schlimmes Knie, ihre Nachbarn, ihre völlig unzureichende Witwenrente und die Tatsache, dass Rose sie nicht oft genug besuchte.

»Ich bin froh darüber, dass du mehr Pflichtgefühl hast, Harry«, schniefte sie. »Ich hoffe nur, dass du das auch aufrechterhältst, wenn du entlassen wirst. Du kannst dir ja gar nicht vorstellen, wie es ist, hier ganz allein zu sitzen«, jammerte sie.

Beth sah, wie sich Dads Lippen verzogen, und wünschte, sie könnten gehen.

»So alt bist du nicht, Mutter. Warum gehst du nicht mehr raus, nimmst zum Beispiel einen Job an.«

»Oh, so ist das also, ja? Du willst, dass ich in meinem Alter rausgehe und mich abrackere – nun, dann will ich dir mal eins sagen …«

Jetzt geht’s los, dachte Beth unglücklich und stieß Gordon an.

»Dad«, warf er dazwischen, »mir ist schlecht!«

»Du bringst ihn besser nach Hause.« Sie unterbrach ihre vorwurfsvolle Rede mitten im Satz, und um die zu befürchtende Schweinerei auf jeden Fall zu vermeiden, schob sie alle drei schnell zur Hintertür hinaus.

»Diesem Jungen ist immer schlecht. Du solltest mit ihm zum Arzt gehen!«, rief sie ihnen nach, als sie sich durch flatternde Wäsche ihren Weg bahnten.

Harry starrte Gordon misstrauisch an, während sie nach Hause gingen, und gab ihnen dann mit schmunzelnden Lippen eine Drei-Pence-Münze. »Fragt eure Mutter morgen nach ein paar Süßigkeiten-Marken.«

Oh, Beth lief bei dem Gedanken an eine Tüte Brausepulver und vielleicht sogar an eine Lakritzstange das Wasser im Mund zusammen.

Aber so sehr sie sich auch darauf freute, von ihrem Dad nachmittags abgeholt zu werden, so sehr fürchtete sich Beth langsam vor der Schule, nicht wegen der Unterrichtsstunden, sondern wegen dem, was auf dem Schulhof passierte.

»Oh, Beth, du siehst so lustig aus,

hast eine Nase wie eine eingelegte Zwiebel,

hast ein Gesicht wie eine zerquetschte Tomate

und Beine wie Streichhölzer!«, rief eine Bande von Mädchen, älter und viel kräftiger als sie selbst.

»Warum ist dein Name Beth? Warum heißt du nicht Lizzie oder Betty wie alle anderen? Du glaubst wohl, du bist was Besseres als wir!«

Harry war es gewesen, der seine kleine Tochter nach einer der jungen Prinzessinnen nennen wollte, und Rose war mit Elisabeth einverstanden gewesen, aber nur unter der Bedingung, dass sie sie Beth rufen würden.

»Es wird sowieso abgekürzt«, hatte sie argumentiert.

In einer methodistischen Familie aufgewachsen, hatte Rose als Kind regelmäßig die Sonntagsschule besucht, wo sie einmal ein Exemplar von Louisa M. Alcotts »Little Women« als Preis für besonders gutes Benehmen bekommen hatte. Eine der Schwestern im Roman hieß Beth, und sie hatte den Namen immer gemocht. Aber Beth wünschte, man hätte sie Jean oder Mary genannt oder ihr sonst irgendeinen Namen gegeben, der nicht anders war.

»Stöcke und Steine brechen mir vielleicht die Knochen, aber Beschimpfungen werden mich nie verletzen!«, rief sie zurück.

Eines der Mädchen stürzte nach vorn und riss ihr grob die Bänder aus den Zöpfen, wobei sie ihr schmerzhaft den Kopf zurückzog. Beth warf sich auf sie und versuchte, das Haar ihrer Peinigerin zu fassen, aber die anderen Mädchen hielten ihr Handgelenk fest, bogen ihr den Arm auf den Rücken und hielten ihn mit eisernem Griff fest. Beth trat vergeblich um sich, wurde aber dennoch gegen die Wand der Toiletten geschubst.

»Schwächling, Schwächling«, sangen ihre Peinigerinnen im Chor.

»Lasst sie in Ruhe, ihr Tyrannen«, riefen zwei von Beth’ Freundinnen.

»Oh, ihr wollt wohl auch ’ne Abreibung, ja?«

Die kleinen Mädchen zogen sich angesichts dieser Drohung vorsichtig zurück.

Es war immer dasselbe, in jeder Pause. Sie schien einfach nicht die Kraft zu haben, sich gegen diese Mädchen zu wehren, und außerdem stimmte es – ihre Beine waren wie Streichhölzer.

Dann kam sie eines Tages aus der Schule und sah, wie ihr Dad mit Father O’Neill sprach. Und während sie nach Hause gingen, meinte er: »Ich habe dich heute Nachmittag auf dem Schulhof beobachtet.«

Beth wurde rot. Jetzt würde ihr Vater glauben, sie könnte sich nicht selbst verteidigen, aber sie versuchte es, das tat sie wirklich! »Ich bin nicht so stark wie die anderen«, erklärte sie.

»Du wirst den Vorsprung der anderen bald aufgeholt haben. Dass du noch ein bisschen kleiner als sie bist, kommt daher, dass du eine Frühgeburt warst.«

»Was ist eine Frühgeburt?«

Harry erklärte, dass Rose einen Monat vor Beth’ Geburtstermin ausgerutscht und gefallen war, weil sie dem für seine Austritte bekannten Pferd ausweichen wollte, das den Milchwagen zog.

»Deshalb, Beth, warst du sehr klein, als du geboren wurdest, du hast noch nicht mal fünf Pfund gewogen.«

In der wöchentlichen Messe am nächsten Morgen, der die ganze Schule beiwohnte, stand Father O’Neill am Altar, sein goldenes Ornat glänzte in den Sonnenstrahlen, die durch das Fenster fielen, und er hatte die Hände in die Aufschläge seines Chorrocks gesteckt.

»Kann mir nun irgendjemand sagen, wie das zweite Gebot lautet?«

»Liebe deinen Nächsten wie dich selbst«, erwiderten die Kinder im Chor.

»Und warum tut ihr das dann nicht!«, wetterte er. »Damit sind nicht nur die Leute im Nachbarhaus gemeint, oder, Kinder?«

»Nein, Father!«, kamen einhundertzwanzig geflüsterte Antworten.

»Damit ist gemeint, dass man jeden gut behandeln soll und niemanden jemals willentlich verletzt, nicht einmal mit Worten. Soll ich euch die eine Sache nennen, die unseren geliebten Herrn unglücklicher als alles andere macht? Wenn Kinder hässlich zueinander sind.« Er machte eine dramatische Pause, und seine Augen wanderten die Reihen der Kinder entlang, die ihn alle mit weit aufgerissenen Augen anstarrten.

Die Atmosphäre war aufgeladen, jedes schuldbewusste Kind war überzeugt davon, dass er direkt in ihre Seelen sehen konnte.

»Also, ich denke, dass es an dieser Schule kein Kind gibt, dass unseren geliebten Herrn wissentlich unglücklich machen will, oder?«

»Nein, Father!«

Der kleine, bebrillte Priester blickte ernst auf die Menge kleiner Gesichter. »Gut! Und vertut euch da nicht, weder ich noch Miss Colclough werden Drangsalierereien an dieser Schule dulden. Wenn jetzt also irgendein Kind zur Beichte gehen möchte, ich werde nach der Messe warten!«

Es war eine gedrückte Truppe, die nach dieser Standpauke in die Klassenräume zurückströmte!

Oh, sie mochte Father O’Neill wirklich sehr, dachte Beth glücklich, als sie in der Pause beim Seilspringen mitmachte. Jetzt würde sie auf dem Schulhof keine Probleme mehr haben, und es gab für sie keinen Zweifel, dass Dad ihr Retter gewesen war. Oh, würde das Leben nicht wundervoll sein, wenn er erst aus der Armee entlassen wurde!

2. KAPITEL

Aber, Dad«, jammerte Gordon, »Stan Matthews hat eine Versetzung beantragt – ich habe vielleicht keine Chance mehr, ihn nochmal spielen zu sehen!«

»Es ist mir egal, ob der König persönlich spielt, du bewegst dich nicht aus diesem Bett raus!«, fuhr Rose ihn an, die Stirn vor Sorge gerunzelt, während sie in die fiebrigen Augen ihres Sohnes blickte, die tief in sein blasses Gesicht eingesunken waren. »Typisch! Du überlebst einen der schlimmsten Winter dieses Jahrhunderts mit nicht mehr als einem Schnupfen, und sobald das Wetter besser ist, wirst du krank!«

»Du bleibst liegen, wie deine Mutter gesagt hat. Ich bringe dir ein Programm mit.«

Beth folgte ihrem Vater die Treppe hinunter.

»Kann ich an seiner Stelle mitkommen, Dad?«, fragte sie hoffnungsvoll.

»Sei nicht albern, Liebes – Mädchen gehen nicht zu Fußballspielen.« Harry zog am Ende ihres Zopfes und ging, sein Stoke-City-Schal wehte im Wind. Es war sein ganzer Stolz, dass er noch nie ein Heimspiel verpasst hatte, seit er 1946 aus der Armee entlassen worden war, und dass er und Gordon egal bei welchem Wetter auf der Boothen End-Tribüne standen und ihr Team anfeuerten. Es war eine Welt, die für Beth verschlossen blieb, und sie hasste es, aus ihrer männlichen Kameraderie ausgeschlossen zu sein. Warum spielte es eine Rolle, dass sie ein Mädchen war?

Weil Gordon am nächsten Morgen immer noch krank im Bett lag, übernahm Beth es an diesem Tag, die Wochenration salziger Haferkekse zu holen. Das machte ihr nichts aus. Sie liebte es, in die Bäckerei zu gehen, die eigentlich nur ein Anbau an eines der in ihrer Straße liegenden Reihenhäuser war.

Als sie durch die Tür kam, sog sie den wunderbaren warmen Hafergeruch ein, beobachtete voller Bewunderung das Geschick, mit dem die großen Teigkreise auf die heißen Backplatten gelegt und dann gekonnt gewendet wurden. Sie beschloss, dass sie das gerne tun würde, wenn sie groß war: Haferkekse in ihrem eigenen Laden zu backen! Rose hatte ihr gesagt, dass nur die Leute in North Staffordshire solche salzigen Haferkekse aßen, aber Beth konnte das kaum glauben. Sie lief mit der warmen Tasche fest vor die Brust gepresst schnell nach Hause und freute sich schon sehr auf den Geruch von Schinken, der auf dem Grill knusprig gebräunt wurde.

Der Sonntag bedeutete bei den Sherwins nicht nur Schinken, Haferkekse und Eier, sondern auch den Besuch der Messe. Normalerweise ging die ganze Familie, denn Rose war mit ihrer Heirat Katholikin geworden, aber heute, wo Gordon so krank war, gingen sie abwechselnd. Beth wollte mit Harry gehen, denn obwohl er schon vor fast einem Jahr aus der Armee entlassen worden war, empfand sie noch immer Freude darüber, ihren Vater zu Hause zu haben. Zumindest durfte sie diejenige sein, die ihm die Splitter entfernte, dachte sie mit stiller Freude. Harry hatte seinen alten Job als Packer in einer Porzellanfabrik wieder aufgenommen, packte Ware, die in die ganze Welt verschickt wurde, in grobes Stroh, was seine Hände rau und wund werden ließ. Beth’ Aufgabe war es jeden Abend, nachdem er draußen seinen Overall ausgezogen und das Stroh abgeschüttelt hatte, seine großen, schwieligen Hände nach Splittern abzusuchen und diese dann mit einer Nadel vorsichtig aus dem offenen Fleisch zu ziehen. Seine Haut war an den Stellen, wo die Wunden verheilt waren, völlig zerfurcht, aber es schien ihm nichts auszumachen.

»Du wärst eine gute Krankenschwester«, lobte er sie jedes Mal gutmütig. »Im Gegensatz zu deiner Mutter oder Gordon – die sind einfach zu ungeschickt!«

Nach der Messe kam das Sonntagsessen, und ausnahmsweise ging Harry nicht vorher ins »Queen’s Head«, sondern saß, während Rose in der Küche beschäftigt war, stattdessen bei Gordon, dem es im Laufe des Tages zunehmend schlechter ging.

Später am Nachmittag beobachtete Beth ängstlich, wie Harry einen Scheffel heiße Kohlen nach oben brachte, um das Kaminfeuer im vorderen Schlafzimmer zu entzünden, und sie Gordon in eine Decke wickelten und von seinem eigenen Zimmer in Rose und Harrys großes Doppelbett verlegten.

»Er glüht!«, hörte sie Rose sagen, die Stimme eng vor Sorge.

»Halte Beth fern von ihm. Ich hole den Arzt.«

»Aber Harry, es ist Sonntag!«

Ihr Vater befand sich jedoch schon auf dem Weg die Treppe hinunter und rief: »Und wenn heute Weihnachten wäre! Der Junge braucht einen Arzt.«

»Ich komme mit dir, Dad«, bot sie an.

»Nein, Beth. Ich bin schneller, wenn ich allein gehe.« Sie stand am Fenster, sah ihn die Straße entlangrennen und um die Ecke verschwinden. Ihre Haut kribbelte mit einem unguten Gefühl. Oje, Gordon musste es wirklich schlecht gehen!

Harry war schon nach fünfzehn Minuten zurück, aber der Arzt ließ auf sich warten, nach anderthalb Stunden war er immer noch nicht gekommen.

»Wo bleibt er nur?« Rose kam schnell mit einem Nachttopf die Treppe hinunter und leerte ihn in der Toilette auf der hinteren Terrasse.

»Seine Frau konnte mir doch nur versprechen, ihn sofort nach seiner Rückkehr zu uns zu schicken. Sie weiß doch auch nicht, wie lange es dauert, wenn er zu einem Notfall gerufen worden ist«, wiederholte Harry zum hundertsten Mal.

»Mum!«, rief Gordon mit schwacher und angsterfüllter Stimme nach unten.

Rose eilte nach oben und rief dann: »Bring eine Schüssel und Tücher. Er hat sich wieder übergeben!«

Beth kauerte sich in einen Sessel, weil man ihr gesagt hatte, sie solle nicht stören. Sie versuchte, ein Comic zu lesen, aber selbst die Abenteuer von Keyhole Kate schafften es nicht, die Sorge zu vertreiben. Warum kam der Doktor nicht?

Harry kam wieder die Treppe herunter, stellte sich ans Fenster und spähte hinaus.

»Da kommt er endlich! Wurde auch verdammt Zeit!« Dr. Armstrong war noch nicht ganz aus dem Wagen gestiegen, da hatte Harry schon die Haustür geöffnet, womit er dem Arzt zeigte, wie dringend seine Ankunft erwartet wurde.

Der Doktor stieg schnell die Treppe hoch, und Beth lauschte mit gespitzten Ohren auf die unheilschwangeren Geräusche aus der oberen Etage. Sie konnte schwere Schritte hören, die sich im Raum bewegten, und das gedämpfte Murmeln von Stimmen und dann, nach quälender Wartezeit, kamen der Doktor, Rose und Harry hinunter ins Wohnzimmer.

»Ich habe ein sauberes Handtuch und Seife für sie neben die Spüle gelegt, Dr. Armstrong«, sagte Rose.

Schweigend ging der große, grauhaarige Mann zum Waschbecken, und in der kurzen, gespannten Stille saß Beth reglos da und wagte kaum zu atmen.

In die drei besorgten Gesichter ihm gegenüber blickend, kam Dr. Armstrong gleich zur Sache.

»Es ist Scharlach, fürchte ich, Mrs. Sherwin.«

Rose sog heftig die Luft ein, als ihr bereits gehegter Verdacht bestätigt wurde.

Dr. Armstrong sah sich in dem gemütlichen, sauberen Wohnzimmer um und meinte dann: »Sie müssen sich aber wirklich keine Sorgen machen – er hat eine gute Konstitution, dennoch wird er eine sehr sorgfältige Pflege brauchen. Sie können ihn zu Hause betreuen, ich kann aber auch veranlassen, dass er ins Hospital gebracht wird.«

»Ich schaffe das selbst«, erklärte Rose stolz. »Er bekommt im Hospital keine bessere Pflege, als ich sie ihm geben kann!«

»Gut, und ich werde regelmäßig nach ihm sehen, aber jetzt muss ich mir diese junge Dame einmal anschauen.«

Schüchtern ließ Beth seine kurze Untersuchung über sich ergehen und atmete erleichtert auf, als er sie für gesund erklärte.

»Es wäre am besten, wenn Sie sie woanders unterbringen würden. Sie hätten dann auch mehr Zeit für den Jungen.«

In Beth’ Kopf drehte sich alles. Was meinte der Doktor damit, sie woanders unterzubringen? Ihre Augen weiteten sich. Wohin sollte sie gehen? Nicht zu Großmutter Sherwin! Oh, nein, das wollte sie nicht!

Sie wartete mit fieberhafter Ungeduld, während der Doktor Rose einige Tabletten und Instruktionen gab, wie der Patient zu pflegen war.

»Machen Sie sich keine Sorgen, Doktor. Ich schaffe das schon.« Rose brachte ihn zur Tür, die Schultern gestrafft, bereit, den Kampf aufzunehmen. Im Umwenden ratterte sie Anweisungen herunter. »Harry, geh zu Mrs. Ward und frag, ob du einen Koffer leihen kannst. Beth, du gehst nach oben und fängst an, deine Sachen zu packen, aber halte dich ab jetzt nicht mehr in Gordons Nähe auf!«

»Aber, Mum, wo gehe ich denn hin?«, jammerte Beth.

»Du kannst bei deiner Granny Platt bleiben. Es spielt keine Rolle, wenn du eine Weile die Schule verpasst.«

Es begann zu dämmern, als Beth endlich zum Aufbruch fertig war. Rose stand am Schlafzimmerfenster, bis ihr Mann und ihre Tochter um die Ecke gebogen waren. Beth würde es gut gehen, in dieser Hinsicht musste sie sich keine Sorgen machen. Sie wusste, dass ihre Mutter Beth nur zu gerne eine Zeit lang bei sich haben würde. Sie war erst vor kurzem in Rente gegangen. Nachdem sie über viele Jahre als Lithografin gearbeitet hatte, beschwerte sie sich jetzt, dass ihr die Zeit lang wurde. Nun, in nächster Zeit würde ihr Beth mit ihren ständigen Fragen die Zeit schon vertreiben! Ihre Tochter war schon ein komisches kleines Ding, immer las sie etwas. Sie hatte sie letztens sogar dabei erwischt, wie sie versuchte, die Pears Cyclopaedia zu lesen, aber natürlich waren die Wörter zu schwer für sie gewesen. Gordon dagegen war total zufrieden, wenn man ihm jede Woche The Wizard und Hotspur zu lesen gab und ein Fußball-Jahrbuch zu Weihnachten.

Sie zog die Vorhänge zu und wandte sich in den abgedunkelten Raum. Da das elektrische Licht zu grell für Gordons schmerzende Augen war, wurde der Raum nur spärlich von den flackernden Flammen in dem kleinen Kamin beleuchtet. Deshalb konnte sie nicht stricken oder nähen, während sie unbequem auf dem harten Stuhl an der Seite des Bettes saß. Er schlief endlich, wenn auch unruhig, sein Gesicht gerötet und schweißnass.

Weil sie es nicht gewohnt war, dazusitzen und nichts zu tun, suchte Rose in Gedanken nach einem Problem, das sie lösen konnte. Harrys Job, ja, das war es. Jetzt hatte sie die Zeit, darüber nachzudenken. Ihr hatte der Bronchitis-Anfall, den er kurz nach Weihnachten gehabt hatte, Sorgen gemacht, zumal er den festsitzenden Husten nicht mehr richtig los geworden war. Umgeben von staubigem Stroh zu arbeiten machte es nicht besser, da war sie sich sicher. Außerdem hatte er ihr häufiger gestanden, dass ihm die Arbeit nicht wirklich gefiel und er sich viel lieber im Freien beschäftigen würde. Postbote oder Milchmann, das wäre etwas für ihn. Sie würde sich umhören, ob ein solcher Job in nächster Zeit frei würde, und dafür sorgen, dass Harry sich sofort dafür bewarb. Als sie diese Entscheidung getroffen hatte, war die Angelegenheit so gut wie erledigt, soweit es Rose betraf – Harry dazu zu überreden stellte keine größere Schwierigkeit dar.

Gordon bewegte sich, und Rose legte ein in Eau de Cologne getauchtes Taschentuch auf seine Stirn. Dann strich sie sanft über sein feuchtes, lockiges Haar. Von wegen Hospital!

Es hatte leicht genieselt, als Beth und Harry aufgebrochen waren. Mittlerweile goss es in Strömen, sodass sich Vater und Tochter eng zusammengekauert unter den großen schwarzen Regenschirm duckten. Während sie über das nasse, glitschige Pflaster gingen, fiel es Beth mit ihren kurzen Beinen ziemlich schwer, mit Harrys langen Schritten mitzuhalten. Harry trug den großen Koffer aus Karton. Granny Platt lebte fünf Kilometer entfernt, aber Beth war daran gewöhnt, die Strecke zu Fuß zu gehen.

»Gordon wird nicht sterben, oder, Dad?«, fragte sie zaghaft.

»Nicht, solange deine Mutter sich um ihn kümmert, nein«, versicherte Harry ihr.

Mit schmerzenden Füßen erreichten sie endlich ihr Ziel. Die Tür des kleinen Reihenhauses öffnete sich auf Harrys Klopfen vorsichtig, wurde dann aber schnell weit aufgestoßen, sodass ein Lichtstrahl den kleinen Vorgarten erleuchtete.

Nach Harrys Worten »Gordon hat Scharlach!« wurden sie hineingezogen wie Flüchtlinge, und Granny Platt führte sie durch den kalten Salon in die warme, gemütliche Küche, in der es appetitlich nach frisch Gebackenem duftete.

Roses Mutter liebte ihre zwei Enkelkinder abgöttisch, und während sie der kleinen, molligen Person zusah, wie sie eifrig Tee aufbrühte, hoffte Beth darauf, rundum verwöhnt zu werden.

Während ihres Aufenthalts bei Granny Platt konnte Beth zum ersten Mal einen Blick auf den nackten Körper eines Erwachsenen erhaschen. Sie hatte Rose noch niemals unbekleidet gesehen; sie ging immer vollständig bekleidet in ihr kleines Badezimmer und verließ es so auch wieder. Beth zog ihre Unterwäsche, so wie man es ihr beigebracht hatte, immer unter ihrem Nachthemd aus, und sie hatte Gordon noch nie ohne sein Unterhemd und seine Hose gesehen.

Es geschah am zweiten Morgen ihres Besuchs, als sie die Treppe hinunterschlich, ihre Füße kalt auf dem Linoleumboden, und sie den Riegel zurückschob, um die Küchentür zu öffnen.

Granny Platt trocknete ihre langen grauen Haare. Sie hatte sie in der kalten Waschküche gewaschen und war nun an das warme Feuer getreten, ohne vorher die Bluse wieder anzuziehen. Sie stand dort in einer pinkfarbenen Pumphose, ihr voller Bauch wurde von einem steifen Korsett gestützt, und während Beth zusah, glitt eine große, schlaff herunterhängende Brust aus ihrem Unterhemd und hing in der Luft wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausgelassen hatte. Das weiße, zerknitterte Stück Fleisch mit dem großen braunen Nippel zog Beth’ Blick magisch an, bis ihre Großmutter es wieder verbarg und sich anzog. Beth zog sich zurück und wusste instinktiv, dass sie bei etwas Persönlichem und Intimem gestört hatte.

Die Szene brannte sich in ihr Gedächtnis ein, und zuerst warf sie ihrer Großmutter ständig verstohlene Blicke zu. Sie musste immer wieder daran denken, was sich unter der im Rücken gekreuzten Blumenschürze verbarg. Allerdings wurde dieser Gedanke bald von der Aufregung verdrängt, die sie angesichts des in Aussicht gestellten Gangs in den Park empfand. Oh, sie liebte den Park mit seinen Seen, Booten und Enten, die man füttern konnte. Sie liebte die riesigen Rasenflächen, die Blumenbeete, das Vogelhaus und den Wünschstein. Und am allermeisten liebte sie den Spielplatz mit seinen Schaukeln und Rutschen und der Drehscheibe. Natürlich tat es ihr Leid, dass Gordon krank war, aber das hier war auf jeden Fall besser als Schule!

Das Einzige, was sie in Granny Platts Haus nicht mochte, war die Toilette. Sie stand am Ende des Hinterhofs, und es gab kein Licht, deshalb musste sie eine Kerze mitnehmen, wenn sie nach dem Tee dorthin musste. Obwohl es eine Leine gab, mit der man abspülen konnte, war kein anständiger Sitz vorhanden, nur eine lange Bank mit einem großen, runden Loch, über das man sich setzen musste. Es war viel zu groß für Beth, und sie hatte albtraumhafte Visionen, wie sie in dieses schwarze Loch fiel und niemals wieder gesehen wurde. Die Zeitungsblätter, auf eine zwischen zwei Nägeln gespannte Schnur gefädelt, hingen so hoch, dass sie sie nicht erreichen konnte, und wenn sie vergaß, sich etwas mitzunehmen, war sie in ziemlichen Schwierigkeiten.

Insgesamt jedoch hatte sie eine wundervolle Zeit, und als zu Hause keine Ansteckungsgefahr mehr bestand, wollte sie fast gar nicht gehen. Aber sobald Harry durch die Haustür spaziert kam und seine Arme ausbreitete, flog sie hinein wie eine Taube auf dem Weg zurück in den Schlag.

»Danke, dass ich bei dir bleiben durfte, Granny«, flüsterte sie, bevor sie sich auf den Heimweg machten.

»War mir ein Vergnügen, Mäuschen.« Granny Platt umarmte sie so fest, dass Beth beinahe die Luft wegblieb. Schließlich drückte sie ihr noch eine Tüte Süßigkeiten in die Hand.

»Die sind aber für Gordon, also nimm auf dem Weg ja keine raus! Und jetzt geh. Ich komme bald vorbei und sehe nach dir.« Sie stand am Tor, und Beth drehte sich, bevor sie die Ecke erreichten, noch einmal mit einem letzten Winken zu ihr um.

»Wenn ich noch einmal »Granny hat mir das aber erlaubt« von dir höre, Beth, dann schreie ich«, erklärte Rose ziemlich genervt und nahm Beth’ noch nicht einmal zur Hälfte leer gegessenen Teller vom Tisch.

»Aber Granny hat mir erlaubt, Limonade zu meinem Sonntagsessen zu trinken!«, meinte Beth rebellisch.

»Vielleicht hat sie das, aber es füllt deinen ganzen Bauch mit Kohlensäure, und du isst eh schon nicht genug.«

»Sie hat mir immer ein Stück Kuchen aus der Bäckerei gekauft, wenn ich mein ganzes Essen aufgegessen habe.«

Rose verdrehte die Augen.

»Kuchen aus der Bäckerei! Da backt die Frau den ganzen Tag und kauft dir diesen Mist aus der Bäckerei.«

»Der Kuchen ist kein Mist. Ich hatte einen mit einer pinkfarbenen Glasur und Cremefüllung«, gab Beth bei Gordon an, der sich allerdings zu ihrem Leidwesen kein bisschen dafür interessierte.

»Ich glaube, ich gehe heute Nachmittag bei Pete vorbei, Mum«, meinte Gordon, »und zeige ihm meine neuen Marken.«

»Solange du zum Tee wieder zurück bist.«

Beth blickte Gordon zornig an. Niemand interessierte sich auch nur ein bisschen für das, was sie erlebt hatte, während er krank war.

»Bei ihrer Großmutter hat sie total im Mittelpunkt gestanden, das ist das Problem«, hörte sie Rose Harry zuflüstern.

»Ach, ja, bald wird alles wieder seinen gewohnten Gang gehen.« Harry glaubte daran, dass sich die meisten Dinge von selbst regelten, wenn man ihnen nur ein bisschen Zeit gab.

»Granny Platt liest vier Bücherei-Romane jede Woche, nur Western«, verkündete Beth stolz.

Harry sah von seiner Zeitung auf. »Ich wusste ja gar nicht, dass deine Mutter zur Bücherei geht«, meinte er zu Rose.

»Oh, ja, ihre Nase steckte immer in irgendeinem Buch, schon als wir noch klein waren. Und es konnte sie ganz schön ärgern, wenn man sie beim Lesen störte.«

Harry grinste über das ganze Gesicht, wie immer wenn ihm ein guter Einfall kam. »Ich weiß nicht, wieso wir nicht schon früher daran gedacht haben. Morgen, Rose, nach der Schule, solltest du mit Beth in die Bücherei gehen und ihr einen Ausweis besorgen.«

»Ist sie denn schon alt genug?«

»Natürlich bin ich das!«, antwortete Beth empört. »Ich konnte fast jedes Wort in Grannys Western lesen, und ich gehöre in der Schule zu den Besten im Lesen.«

Beth dachte an all die Bücher, die nur darauf warteten, gelesen zu werden, und sie würde sich aussuchen dürfen, was sie wollte! Voller Dankbarkeit sah sie mit strahlenden Augen zu Harry hinüber. Wer wollte schon zu so einem blöden Fußballspiel gehen!

»Hab eine!«, rief Rose triumphierend, als der scharfe Stahlkamm das winzige Insekt aus Beth’ langen Haaren auf den alten Porzellanteller schabte. Sie gab ihn an Beth weiter, die das Insekt einen Augenblick lang beim Krabbeln beobachtete und es dann mit ihrem Daumennagel zerquetschte.

»Das macht fünf!«, zählte sie.

»Stimmt, ich gehe nach dem Waschen noch einmal durch. Wenn die Krankenschwester das nächste Mal kommt, wird sie in deinem Haar bestimmt keine einzige Laus mehr finden!«

»Du meinst Nora, die verrückte Läuse-Forscherin«, grinste Beth.

»Sei nicht so frech. Du bist jetzt ein großes Mädchen von zehn Jahren! Und steck deinen Kopf nicht dauernd mit jemand anderem zusammen, das meine ich wörtlich, hörst du!«

Beth beugte den Kopf gehorsam in die Küchenspüle und versuchte den ekeligen Gestank des Shampoos zu ignorieren, während Rose ihr energisch die Kopfhaut massierte und das lange dunkle Haar so lange wrang und wusch, bis es quietschte.

Als sie die ganze Prozedur, nach der Wäsche hatte Rose ihren Kopf noch ziemlich unsanft mit einem großen Handtuch trocken gerubbelt, endlich überstanden hatte, kniete Beth vor dem Kaminfeuer im Wohnzimmer. Ihre dicken Haare hingen wie ein Vorhang vor ihrem Gesicht. Ich tue es jetzt, dachte sie, dann muss ich sie nicht ansehen, wenn ich frage.

Sie wartete, bis Rose zurück ins Zimmer kam und sich mit einem Korb voller Stopfzeug gemütlich hingesetzt hatte. Gordon war unterwegs, um Zigarettenkarten zu tauschen, und Harry saß in seinem Lehnsessel in der Ecke und rauchte ruhig seine Pfeife.

Beth holte tief Luft, ihr Gesicht war gerötet, und ihre Augen blickten besorgt durch die noch nicht ganz trockenen Haarsträhnen.

»Miss Colclough will mich für ein Stipendium empfehlen!« So, nun war es raus.

»Was hast du gesagt?«, wollte Rose wissen.

»Miss Colclough will mich für ein Stipendium empfehlen. Sie sagt, ich muss erst dich und Dad fragen, ob ihr mich gehen lasst, wenn ich angenommen werde.«

Sie hielt den Atem an. Sie war sich der Ungeheuerlichkeit dieser Frage sehr wohl bewusst, aber sie wollte eine Chance. Sie wollte es wirklich! Sie drehte sich zu ihren Eltern um.

Harry nahm seine Pfeife aus dem Mund. »Und was passiert, wenn wir sagen, dass wir das nicht tun?«

»Dann werde ich gar nicht erst vorgeschlagen. Sie meinte, ich solle euch sagen, dass die Uniform und die Extras eine Menge Geld kosten und dass ich außerdem auch länger zur Schule gehen muss.«

»Aber würdest du denn gerne zur High School gehen?«, fragte Rose. »Es ist ein langer Weg – du müsstest mit dem Bus fahren und zweimal umsteigen.«

Beth senkte den Blick. »Wenn wir es uns nicht leisten können, spielt es keine Rolle.«

»Niemand hat gesagt, dass wir es uns nicht leisten können«, erwiderte Harry scharf.

Niemand hatte es gesagt, aber Beth wusste, wie knapp das Geld war. In dem kleinen Haus mit nur einem Zimmer zum Wohnen und Essen gab es nicht viel, was sie nicht wusste. Da das Lesen ihre große Leidenschaft geworden war, blieb sie häufig im Haus, während die anderen Kinder aus der Nachbarschaft draußen spielten. Sie saß dann versunken in ihre Lektüre so ruhig auf ihrem Lieblingsplatz vor dem Kamin, dass Rose und Harry oft vergaßen, dass sie da war. So hörte sie vieles, was eigentlich nicht für ihre Ohren bestimmt war. Sie hatte beispielsweise den Streit darüber mitbekommen, wie viel Harry von seinem Lohn als Postbote nach Hause brachte, wie viel er sich für seine »Ausgaben« leistete, genauer gesagt für Bier und Tabak, und wie Rose dagegen kämpfen musste, um den Haushalt am Laufen zu halten.

»Warum sollte sich ein Mann Tag für Tag bei der Arbeit abrackern, wenn er sich nicht ab und zu einen Drink und ein paar Zigaretten leisten kann?«, argumentierte Harry.

»Ein Mann arbeitet, um seine Familie zu ernähren, nicht um alles im ›Queen’s Head‹ auszugeben!«, gab Rose zurück. Sie hasste es nicht nur, wenn Harry trank, eine Angewohnheit, für die sie die Armee verantwortlich machte, noch wütender machte es sie, dass er dafür auch noch Geld ausgab.

»Miss Colclough will es bis Montag wissen.« Beth sah vorsichtig von einem Elternteil zum anderen. Ihr schoss durch den Kopf, dass sie in der Familie immer nur die zweite Geige spielte. Wenn schon Opfer gebracht werden mussten, hätten ihre Eltern es eindeutig lieber gesehen, dass es um Gordon gegangen wäre; aber Gordon, jetzt an der Realschule, hatte noch nie zu den Besten gehört.

»Nun, dann haben wir ja das Wochenende, um darüber nachzudenken. Wir lassen es dich wissen.« An Harrys Tonfall konnte Beth erkennen, dass das Thema damit für den Moment beendet war.

Als sie in dieser Nacht im Bett lag und ihre Zehen an der Steinwasserflasche wärmte, konnte Beth das Hin und Her der Stimmen ihrer Eltern im Wohnzimmer hören und wusste, dass sie über sie sprachen. Fast wünschte sie, es wäre Gordon gewesen. Alle sagten, dass eine Ausbildung für Mädchen Verschwendung sei, was sie allerdings nicht so richtig verstehen konnte. Schließlich waren die Lehrerinnen an der Schule doch auch alle Frauen. Und was würde aus ihr, wenn sie niemand heiraten wollte? Genau das befürchtete sie nämlich. Die Jungs in der Schule schienen nur die Mädchen zu mögen, die blonde Locken und schon einen Ansatz von Busen hatten. Sie tastete über ihre eigene Brust, die so flach wie ein Brett war, und fragte sich, ob sie jemals nicht mehr wie eine Bohnenstange aussehen würde.

Das ganze Wochenende wie auf glühenden Kohlen musste Rose bis Montagmorgen warten, bevor Rose sagte:

»Du kannst Miss Colclough sagen, sie soll dich vorschlagen.«

Beth’ Augen leuchteten auf, doch im nächsten Moment bewölkte sich ihr Blick. »Was ist mit der Uniform, Mum? Seid ihr sicher, dass wir uns die leisten können?«

»Darum kümmern wir uns, wenn es so weit ist. Tu jetzt einfach dein Bestes, und denk dran, dass du nichts verloren hast, falls du nicht genommen wirst.«