Betrogen - Ein Fall für Sieg und Röber - Nella Beinen - E-Book

Betrogen - Ein Fall für Sieg und Röber E-Book

Nella Beinen

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Beschreibung

Ein Mord am Niederrhein - Der neue Kriminalroman von Nella Beinen. Benjamin Sieg ist seit knapp einem Jahr Kommissar für Kapitaldelikte am Niederrhein. Er und die erfahrene Hauptkommissarin Susanne Röber bilden ein schlagkräftiges Duo. Doch als ihnen für Promotionzwecke ausgerechnet die Journalistin Alexandra Bieberach an die Seite gestellt wird, gerät der sonst so ruhige und besonnene Kommissar in Wanken. Und er bleibt nicht der Einzige, bei dem sich zunehmen Privates in die Arbeit am aktuellen Fall mischt. Statt dem Mörder der toten Lehrerin vor der Presbyterkirche auf die Spur zu kommen, finden sich immer mehr Verdächtige, Tatmotive und Opfer. Bis Benjamin sich fragen muss, ob er an der falschen Stelle nach dem Täter sucht. Der erste Fall des Ermittlerduos. Atmosphärisch intensiv. Voller unerwarteter Wendungen. Mit Figuren, die sich ihren ganz eigenen Herausforderungen stellen müssen.

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Veröffentlichungsjahr: 2024

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Betrogen - Ein Fall für Sieg und Röber

Nella Beinen

 

 

 

 

 

 

Nella Beinen Betrogen - Ein Fall für Sieg und Röbernellabeinen.de Content Notes: körperliche Gewalt, Blut, Alkoholmissbrauch, Mord. 1. Auflage 2024 Copyright © Novel Arc Verlag, Fridolfing 2024 Novel Arc Verlag, Kirchenstraße 10, 83413 Fridolfing Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf im Ganzen, wie auch in Teilen, nur mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben, vervielfältigt, übersetzt, öffentlich zugänglich gemacht oder auf andere Weise in gedruckter oder elektronischer Form verbreitet werden. www.novelarcshop.dewww.novelarc.de Umschlaggestaltung: bürosüd° GmbH, München Lektorat: Svenja Kopfmann Korrektorat: Tino Falk Klappenbroschur: 978-3-98942-662-7 E-Book Ausgabe: 978-3-910238-30-5

 

Kapitel 1

»Wir sollten vielleicht auch das Laufband öfter benutzen.«

»Nicht witzig«, brachte Ben stockend und atemlos hervor und richtete sich wieder auf, als ihm Andreas, sein Kollege, amüsiert auf die Schulter klopfte. Der Schweiß lief ihm den Rücken hinunter und er wünschte sich nichts sehnlicher als eine Dusche. Mit dem Ärmel seines Sweaters wischte er sich über die Stirn und die Wangen.

»Herr Tengelmann, Sie sind wegen körperlicher Gewalt in zwei Fällen und Diebstahl vorläufig festgenommen«, erklang in dem Moment Susannes Stimme, Bens Partnerin. Gerade legte sie dem jungen Kerl, dem Ben eine gefühlte Ewigkeit hinterhergejagt war, Handschellen an.

Noch immer nach Atem ringend, betrachtete Ben seine Kollegin. Sie sah überhaupt nicht wie eine Hauptkommissarin aus. Die kurzen braunen Haare standen ihr wie immer in alle Richtungen ab, zu ihrem grünen Sweater trug sie verblichene Jeans, die an den Knien bereits fadenscheinig wurden.

Neugierige Passanten blieben stehen und lugten über die Fahrzeuge oder an den Fahrzeugen vorbei.

Susanne übergab den mutmaßlichen Täter, der nur ein Muskelshirt und Jeans trug, dünn und muskulös war, dazu nicht viel größer als sie selbst, an Andreas. »Wir sehen uns in der Dienststelle.« Dann wandte sie sich mit einem breiten Grinsen auf dem Gesicht Ben zu. »Geht’s wieder? Du wirkst leicht ramponiert.« Sie kam zu ihm herüber, umfasste ihn am Oberarm. »Soll ich dir Geleitschutz zum Auto geben?«

»Jaja, lacht ihr nur. Ich möchte euch mal sehen, wenn ihr einem Verbrecher durch die halbe Stadt hinterherhetzt.« Er befreite sich von Susannes Griff und ging zur Beifahrertür ihres SUVs. »Na los, lass uns endlich den Tengelmann vernehmen und den Fall abschließen.«

Susanne lachte und setzte sich hinter das Steuer. Bens Seitenstechen ließ endlich nach und er atmete erleichtert auf. Als er in dem Auto saß, das noch den Geruch des Neuwagens anhaftete, schnappte er sich von der Rückbank eine von Susannes vielen Halbliterflaschen Wasser und trank sie in einem Zug leer.

»Was meinst du, wird der Tengelmann gestehen? Der hat immerhin in der kleinen Buchhandlung zwei Frauen niedergeschlagen und die Kasse geplündert.«

Susanne fuhr los. »Wir werden sehen. Es wird ihn sicherlich nicht freuen, von seinem Kumpan verraten worden zu sein.« Susanne nahm eine Kurve besonders scharf.

Ben griff rasch zum Haltebügel über der Tür. Die Poller auf dem Bürgersteig kamen gefährlich nahe. »Pass auf. Irgendwann wirft es uns noch aus der Kurve«, sagte er gereizt, doch Susanne lachte nur. »In Zukunft fahre …«, begann Ben, wurde aber jäh von der nächsten scharfen Kurve abgelenkt und gegen die Beifahrertür gedrückt. »Verdammt, Susanne.« Ben zog an dem Anschnallgurt, der ihm auf den Hals gerutscht war. Statt einer Antwort drückte sie auf das Gaspedal, musste allerdings ein paar Meter weiter wieder abbremsen, da ein Auto vor ihr fuhr.

»Der Tengelmann wird nicht lange drumherum schnacken. Der gehört zu der Sorte Mensch, die gegenüber Älteren und Schwächeren eine große Klappe haben und es genießen, ihre Macht auszuspielen. Sobald es ernst wird, knickt der ein. Spätestens, wenn der Staatsanwalt hinzukommt«, prophezeite Susanne, die erneut abbog und danach direkt auf den Parkplatz zu ihrer Dienststelle fuhr.

»Dein Wort in Gottes Ohr. Dennoch wird es uns den ganzen Nachmittag kosten, den Fall abzuschließen.« Trotz seiner Worte ergriff Ben das wohlbekannte Kribbeln, sobald er einen Fall abschließen konnte, und er lächelte. Dieses Mal war es relativ schnell gegangen, da der Freund von Carsten Tengelmann, der vor dem Laden Schmiere gestanden hatte, dem Druck nicht standgehalten und zwei Tage nach dem Verbrechen freiwillig gestanden hatte.

»Freu dich doch. Danach können wir gleich Feierabend machen.« Susanne stieg aus.

Immerhin etwas, dachte Ben, sprach es allerdings nicht aus. Jedes Mal, wenn er das tat, kam ihnen doch etwas dazwischen und sie konnten nicht nach Hause. Dabei freute er sich so sehr auf die Dusche. Sein Sweater klebte ihm am Rücken und er roch nach Schweiß. Er sollte sich für die Zukunft ein Deo in seine Schublade im Büro legen.

Sie betraten die Dienststelle. Ein grauer Bau mit gelben Fensterrahmen aus den Sechzigern, der längst eine Renovierung nötig hatte. Den muffigen Geruch, den Ben am Anfang noch gestört hatte, registrierte er fast nicht mehr. Durch die Fenster zog es heftig im Winter und die Büros im Inneren waren klein und eng, bis auf das Großraumbüro.

Der ältere Kollege hinter dem Empfang nickte ihnen zu. »Habt ihr ihn?«

»Jau«, antwortete Susanne in ihrem breiten norddeutschen Dialekt, der immer wieder durchkam, obwohl sie mittlerweile fast zwanzig Jahre am Niederrhein lebte und arbeitete. »Ich kann meinen Job.«

Sie gingen weiter in das Großraumbüro, in dem die Hälfte der zehn Schreibtische besetzt war. Tastengeklapper und leise Gespräche drangen zu ihnen. An fast jedem Arbeitsplatz stand eine Tasse, aus der Kaffeegeruch an seine Nase drang. Den konnte Ben auch gebrauchen und auf halbem Weg hielt er am Sideboard an, das an der Wand stand, auf dem die Kaffeemaschine und Tassen standen.

»Bringst du mir einen mit?«, fragte Susanne, die eine der zwei Türen am Ende des Büros ansteuerte.

»Klar.« Ben schenkte zwei Tassen ein und folgte dann Susanne in ihr gemeinsames Büro, das geradezu vollgestopft wirkte. Dabei standen nur zwei Schreibtische, die mittig an der langen Seite der Wand aneinandergeschoben waren, und zwei Sideboards links und rechts neben der Tür. Mehr passte beim besten Willen nicht hinein. Über Susannes Sideboard hing ihr Whiteboard, auf dem weniger Notizen als gedacht zu ihrem Fall standen.

Ben stellte Susannes Tasse auf einem freien Platz auf ihrem mit Akten und Papieren überfüllten Schreibtisch ab und setzte sich selbst an seinen.

»Kannst du die Jalousie bitte runtermachen?«, bat Ben seine Kollegin, als er sich in seinen Drehstuhl fallen ließ. Die Sonne schien direkt durch das Fenster und ihm ins Gesicht.

»Dabei schient de Sünn so mooi.« Sie grinste wieder, ließ allerdings die Jalousien herunter. »Ich sage mal dem Staatsanwalt Bescheid, damit er herkommt. Dieser Fall ist sicher.« Sie rieb sich die Hände und setzte sich hin. Kurz darauf führten Andreas und Heiko den jungen Carsten Tengelmann herein, der einen widerborstigen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte. Die Lippen zusammengekniffen und die Augen fest auf den Boden vor ihm gerichtet.

»Setzen Sie sich doch«, bat Susanne ihn überfreundlich und deutete auf den Stuhl, der neben Bens Sideboard stand.

Ben klärte mit ihm die Personalien und Susanne startete die Vernehmung. Die ersten fünf Minuten blockte er ab und schwieg nur.

»Wie lange möchten Sie noch das bockige Kindergartenkind spielen?«, fragte Ben genervt. »Wir wissen, dass Sie für den Überfall verantwortlich sind und die beiden älteren Damen niedergeschlagen haben.«

Zum ersten Mal blickte Carsten Tengelmann auf, funkelte Ben wütend an. »Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«

»Ihr Freund Mathias Nieder hat alles zu Protokoll gegeben. Jetzt hören Sie auf zu mauern.« Susanne lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.

Es klopfte an der Tür und keine Sekunde später betrat Staatsanwalt Gregor Lesser den Raum, begrüßte alle und lehnte sich dann abwartend gegen die Fensterbank.

Ben musterte ihn. Er sah mal wieder verdammt gut aus in seinem Nadelstreifenanzug und den grauen Schläfen.

Susanne legte nun Fotos auf Bens Schreibtisch aus. Er räusperte sich und konzentrierte sich wieder auf die Vernehmung. »Sehen Sie die Damen? Wie übel sie zugerichtet worden sind?« Susanne tippte auf eines der Fotos, auf dem eine der beiden Damen im Krankenhaus zu sehen war. Sie hatte ein gebrochenes Schultergelenk, blaue Flecken und eine Platzwunde am Kopf. »Sie haben Sie mit einem Baseballschläger geschlagen, den Sie dann in Ihrer Hektik dort liegengelassen haben. Wir haben einen Fingerabdruck. Beim nächsten Mal sollten Sie Handschuhe anziehen, die nicht kaputt sind.«

Tengelmann wagte einen Blick zu den Bildern und schreckte zurück, sagte aber nichts.

»Jetzt geben Sie es schon zu. Ihr Kumpel hat uns alle Einzelheiten geschildert.«

Carsten Tengelmann schluckte hörbar, als er auf die Bilder schaute. Dann hob er den Kopf und sah von Ben zu Susanne und zu Gregor Lesser.

»Wollen Sie uns etwas mitteilen?«, fragte Gregor Lesser. Carsten Tengelmann knetete seine Hände im Schoss, biss sich auf die Lippe.

»Ihr Cappy haben Sie auch im Laden verloren. Fingerabdrücke, DNA, wir haben genügend Beweise, um Sie auch so zu verhaften.« Ben deutete auf ein Bild aus dem kleinen Laden, den der Täter überfallen hatte. Auf dem Boden lagen Bücher, Dekozeug und zerbrochene Tassen. Mitten in dem Chaos ein rotes Cappy.

Es wurde ruhig im Raum. Carsten Tengelmann krallte seine Finger in den Oberschenkel.

»Nun kommen Sie schon«, munterte Susanne ihn freundlich auf. »Sie werden sich danach gleich viel besser fühlen.«

Carsten Tengelmann warf ihr nur einen giftigen Blick zu, presste allerdings weiterhin seine Lippen zusammen.

»Gut, da Herr Tengelmann nicht mit uns reden möchte, entnehmen Sie bitte seine Fingerabdrücke und gleichen diese mit denen vom Tatort ab.« Gregor Lesser stieß sich von der Fensterbank ab. »Danach werde ich vom Richter eine Anordnung zur Überprüfung der DNA anfordern. Wir haben ein paar Stunden Zeit, bis ich Herrn Tengelmann dem Haftrichter vorführen muss.«

Ben mochte es nicht, wenn der Staatsanwalt über Menschen statt mit ihnen sprach. Doch oft zeigte es Wirkung. Gregor Lesser strahlte dabei eine gewisse Ruhe aus, die ihre Wirkung nur selten verfehlte.

Jetzt ging er Richtung Tür, auf Höhe des Verdächtigen blieb er stehen. »Es könnte so einfach sein, wenn Sie gestehen würden. Sogar auf Ihr Strafmaß könnte es sich auswirken, aber so …« Er ließ den Rest des Satzes in der Luft hängen.

Ben unterdrückte ein Seufzen. Also doch keinen frühen Feierabend an diesem Samstag. Dabei hatte er es noch nicht mal laut ausgesprochen.

Gregor Lesser verließ das Büro und sie gingen die Formalien mit Carsten Tengelmann durch. Als dieser in eine Arrestzelle gebracht wurde, lehnte Ben sich zurück. »Von wegen, der knickt schnell ein.«

»Was? « Susanne blickte ihn amüsiert an. »Wir haben ihn. Die Fingerabdrücke werden übereinstimmen und die DNA-Analyse ebenfalls. Ich tippe schon mal den Abschlussbericht.«

Gerade, als sie sich ihrem Bildschirm zuwandte, klopfte es am Türrahmen und Ben blickte auf. Andreas stand dort und grinste. »Leute, euer Verdächtiger möchte mit euch reden. Anscheinend geht ihm endlich ein Licht auf, was ihm blüht.«

Susanne lächelte. »Siehst du? Früher oder später gestehen sie alle.«

 

Kapitel 2

Alexandra sog die warme frühabendliche Luft ein, die den Duft nach Wiesenblumen und Heu verstreute. Sie spazierte mit Tom, ihrem Freund, händchenhaltend durch die Felder und genoss die Zweisamkeit, die sie selten genug hatten. In der Ferne brummte ein Trecker, der Heu zu Ballen formte. Aus den Blühstreifen vor den Feldern summte und brummte es, die Getreidefelder reiften und nahmen langsam ihre gelblich goldene Farbe an. Die Ähren reckten ihre Köpfe der Sonne entgegen.

»Ist es nicht herrlich?«, fragte sie und strich mit dem Daumen über Toms Hand.

»Absolut. Es ist schön, mal wieder etwas anderes als das Krankenhaus von innen zu sehen.«

»Du arbeitest zu viel«, murmelte sie und betrachtete ihren Freund dann von der Seite. Seine kurzen, braunen Haare wuchsen über die Ohren und mussten dringend geschnitten werden, unter seinen Augen lagen dunkle Ringe. Er hatte nach seiner langen Vierundzwanzig-Stunden-Schicht nicht genügend geschlafen, nur um mit Alexandra diesen Spaziergang zu machen. Trotzdem sah er noch gut aus mit seinen ebenmäßigen Gesichtszügen, der kleinen Narbe über seinem Auge, die hervorstach, jetzt da seine Hautfarbe brauner wurde durch die Sonne. Wann auch immer er Zeit hatte, in die Sonne zu gehen, bei seinen vielen Diensten. Sein grünes Shirt schlotterte an ihm. Zu wenig gegessen hatte er auch in den letzten Wochen.

Sie seufzte leise.

»Ich bin Assistenzarzt. Das gehört nun mal dazu. Das wird sich ändern, sobald ich meinen Facharzt habe.« Er warf ihr einen Seitenblick zu, aus seinen braunen Augen blitzte es amüsiert. »Außerdem sagt das die Richtige.«

»Ich habe ab Montag einen neuen Arbeitgeber.«

»Auch dort wirst du dich voll einbringen.« Tom drückte ihre Hand. »Aber lieber so, als wenn du einem Job nachgehen würdest, der dir nichts bedeutet.« Nun zog er sie an sich und drückte ihr einen Kuss auf die Schläfe.

Der Trecker kam näher, drehte und fuhr wieder davon.

»Hast du Angst davor, wenn du ihn wiedertriffst?«

Alexandra zuckte mit den Schultern. »Über kurz oder lang werde ich ihm über den Weg laufen. Da komme ich gar nicht dran vorbei. Aber Angst? Nein. Ich bekomme endlich die Chance, ihm meine Meinung über sein Verhalten mitzuteilen.« Sie sah Tom prüfend von der Seite an, doch er wirkte völlig normal und entspannt. »Du hast kein Problem damit, wenn Ben und ich in Zukunft Kollegen sind? Ich vielleicht sogar eng mit ihm zusammenarbeite?«

Tom lächelte. »Nein. Ihm haben wir es doch erst zu verdanken, dass wir zusammengefunden haben. So sehr er dich und auch mich verletzt hat.«

Alexandra fiel ein Stein vom Herzen. Sie wollte es längst angesprochen haben, hatte sich jedoch nie getraut in den letzten Wochen. Tom hatte so viel gearbeitet, die Zeit, die sie zusammen verbrachten, war rar und sie wollte sie nicht mit möglichen Streits verbringen. Mit Sicherheit hätte er auch etwas gesagt, als sie über die Bewerbung gesprochen hatten.

Die ersten Häuser kamen wieder in Sicht und ihr langer Spaziergang näherte sich dem Ende.

»Aber aufgeregt bin ich trotzdem. Es ist bei der Polizei bestimmt ein ganz anderes Arbeiten als bei einer Zeitung. Selbst meine Vorgesetzte bei der Pressestelle ist eine Hauptkommissarin.« Je näher der Montag rückte, desto mulmiger und doch gleichzeitig kribbeliger wurde sie. Sie freute sich auf die neue Aufgabe, darauf, mit ihrer Ausbildung als Journalistin in Zukunft ihre Fähigkeiten dort mit einbringen zu können. »Bin gespannt, wie es wird. Angeblich freuen sie sich auf meinen frischen Blick von außen.«

»Du wirst es gutmachen.«

Schweigend gingen sie weiter. Die Sonne begann langsam zu sinken und Alexandra streckte sich den letzten warmen Strahlen entgegen, schloss die Augen und vertraute auf Toms Führung.

Sie genoss die Nähe zu ihm, liebte ihre Gespräche und die Zeiten, in denen sie miteinander schwiegen. »Was wollen wir denn heute Abend machen?«, durchbrach Alexandra die Stille zwischen ihnen. »Wir könnten mal wieder ins Kino gehen. Oder essen gehen.«

»Oder«, begann Tom und grinste frech, »wir könnten zu Hause bleiben und etwas ganz anderes machen.«

»Das könnten wir auch hinterher.«

Sie kamen an der Siedlung an, ließen die Felder und Ruhe hinter sich und tauchten wieder in ihr Leben ein. Kinder kamen ihnen entgegengelaufen, ein Junge kickte einen Ball vor sich her und sie traten beiseite, um sie vorbeizulassen. Ein Auto fuhr hupend an ihnen vorbei. Aus dem Auto winkte ihnen ihr Nachbar entgegen. Alexandra lächelte und erwiderte den Gruß.

Sie gingen noch einmal um die Ecke und standen vor dem Mehrfamilienhaus, in dem sie im Erdgeschoss wohnten. Es wirkte zwischen all den Einfamilienhäusern um sie herum mit ihren gepflegten Vorgärten völlig fehl am Platz.

»Du hast die Chance, endlich Antworten zu erhalten«, sagte Tom völlig aus dem Nichts, als er den Schlüssel aus seiner Hosentasche zog und aufschloss.

»Falls er mit mir redet.«

»Wenn nicht, gib Bescheid, dann rede ich mit ihm.«

Alexandra lächelte leise. »Männergespräche. Wie das beim letzten Mal ausgegangen ist, wissen wir beide.«

Tom errötete leicht, während er ihr die Tür aufhielt. Alexandra trat in den klinisch weißen Hausflur, ging zwei Schritte und stand vor ihrer Wohnungstür.

»Ich kann nichts dafür, dass der Typ neulich auf einmal auf mich los ist. Ich wollte dir doch nur helfen, weil du nicht glücklich ausgesehen hast, als der Kerl dich angetanzt hat.«

Nun brach Alexandra endgültig in Lachen aus. »Dein verdutzter Gesichtsausdruck war so herrlich«, gluckste sie, während sie Tom in die Wohnung folgte. »Also, welchem Abendprogramm werden wir nachgehen?«, hakte sie nach, während sie im Flur aus ihren Schuhen schlüpfte. »Kino, Essengehen oder lieber bestellen, Sofa, Fernsehen und …«

»Das und wir ziehen es vor.« Tom legte den Schlüssel in die Klangschale auf dem weißen Schuhschrank, die bei dem Kontakt leise vibrierte, und zog sie in die große Wohnküche, in der es noch immer herrlich nach dem Curry, von dem nichts mehr übrig geblieben war, duftete.

Tom bugsierte sie in die gegenüberliegende Ecke zum großen u-förmigen Sofa und schubste sie auf den breiteren Flügel.

»Nicht so stürmisch«, sagte sie mit einem breiten Grinsen, als sie sich aufrichtete und Tom an seinem Shirt auf sich zog.

»Du scheinst es allerdings auch nicht erwarten zu können.« Er küsste sie, erst sanft, dann immer verlangender und ließ seine Hände unter ihr T-Shirt gleiten.

Im nächsten Moment lag Alexandra auf Tom, setzte sich auf und streifte sich schnell das T-Shirt über den Kopf. Mehr Kleidungsstücke folgten und unter ihr mühte sich Tom ab, sich ebenfalls aus seinen Kleidern zu schälen. Es war schon viel zu lange her, seit sie das letzte Mal miteinander geschlafen hatten, und es drängte Alexandra danach. Sie ließ sich kaum Zeit, als sie mit dem Mund über Toms Körper strich, ihn küsste, leckte und Liebesbisse verteilte. Sie schien jedoch nicht alleine zu sein, auch Tom ließ sich keine Zeit für Zärtlichkeiten oder Spielereien. Seine Hände streichelten und kneteten mehr flüchtig als ausgiebig ihre Brüste, wie sie es sonst so mochte. Trotzdem kribbelte ihre Haut, das wohlbekannte Prickeln breitete sich in ihr aus und ihre Lust wuchs. Sie wollte mehr und das schnell. Wollte sich keine Zeit lassen, wie sonst, sondern nur ihre Begierde nach Tom befriedigen.

Sie keuchten beide auf, als Alexandra Toms Penis in sich aufnahm und begann, sich zu bewegen. Immer schneller und fordernder. Viel zu rasch war es vorbei, doch sie hatte, was sie wollte. Gerade zählte nur, ihrem Bedürfnis nachzugeben und es nicht auszukosten. Das konnten sie auch später noch.

Schwer atmend sank Alexandra neben Tom, streichelte mit ihrem Finger Muster auf seine Brust, spielte mit dem spärlichen Haar und zupfte daran.

»Manchmal wünsche ich mir …«, begann Tom, stoppte allerdings mitten im Satz.

Alexandra richtete sich auf. »Was?« Sie musterte sein gerötetes Gesicht, beobachtete, wie er sich auf die Unterlippe biss und an die Decke starrte. »Was wünschst du dir manchmal?«

Er richtete seinen Blick auf Alexandra. Sein Gesicht nahm einen träumerischen Ausdruck an. »Unser erstes Mal. Manchmal wünschte ich, es wäre öfter so. Wir könnten doch …«

Alexandra verstand. Könnte sie das?

»Wir könnten ja vorher …«

»Es wäre nicht dasselbe.«

Tom nickte nur. »Ich weiß«, fügte er nach einer Weile hinzu. Alexandra setzte sich auf, suchte nach ihrer Unterwäsche und ging ins Schlafzimmer, um sich bequeme Klamotten aus dem Schrank zu holen.

Tom folgte ihr und setzte sich nackt aufs Bett, das in der Ecke am Fenster stand. Die Abendsonne schien hinein und Staubpartikel tanzten in den Strahlen. »Aber du wärst nicht abgeneigt?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Es wäre nicht dasselbe und vollkommen erzwungen. Ich will die Leichtigkeit von damals. Es … ist einfach passiert und hat sich richtig angefühlt.« Sie zog ihr Shirt über den Kopf und schob die Schranktür zu. »Außerdem kannten wir uns.«

»Du hast recht.« Tom ließ sich rücklings aufs Bett fallen. Das Bettzeug raschelte unter seinem schlanken Körper. »Es war was Besonderes.«

»Stimmt.« Alexandra legte sich neben ihn, Tom breitete einen Arm aus und sie kuschelte sich an ihn. »Fehlt es dir?«

Tom schüttelte den Kopf. »Nein. Ich mag, was wir haben.«

»Scheinbar sind wir heute beide ein wenig nostalgisch.«

Tom strich ihr eine Strähne aus dem Gesicht und lächelte. »Wenn du Ben gegenüberstehst, was wirst du ihm sagen? Ihn anschreien? Ihm eine pfeffern?« Er grinste. »O nein, das bitte erst bei der Weihnachtsfeier oder so. Da möchte ich dabei sein.«

Alexandra lachte leise. »Mal sehen, was ich mache.« Sie wusste es tatsächlich nicht. Einerseits war ihr mulmig zumute, ihm wieder gegenüberzustehen, vor allem, da sie sich überhaupt nicht im Klaren war, was sie noch für ihn empfand, andererseits kochte noch immer die Wut über sein Verhalten in ihr hoch. »Ben scheint dich ziemlich zu beschäftigen. Eifersüchtig, dass ich ihn wiedersehe?«

Tom sah sie ernst an. »Nein. Ich mache mir nur Gedanken, was es mit dir macht, wenn du ihn wiedersiehst.«

»Du bist süß.« Sie küsste ihn. Es rührte sie, wie viel Gedanken er sich um sie machte. »Keine Sorge, ich bin schon groß und komme klar. Hatte genügend Zeit, um mich an den Gedanken zu gewöhnen, mit ihm zu arbeiten.«

»Okay.« Tom streichelte ihre Wange und Alexandra lehnte sich ihm entgegen.

 

Kapitel 3

Alexandra saß noch in ihren Schlafsachen am Esstisch, vor sich den aufgeklappten Laptop, und studierte ein letztes Mal die Seite der Polizei Niederschwicht. Auf weiteren Tabs hatte sie die einzelnen Social-Media-Seiten geöffnet, auf denen ihr neuer Arbeitgeber vertreten war. Sie nippte an einer Tasse Kaffee.

Nebenan hörte sie die Dusche rauschen, unter der Tom stand. Sein Dienst begann um sieben Uhr und sie war ihm zuliebe früher aufgestanden. Sie gähnte ausgiebig. Auf dem Herd stand eine Pfanne mit heißem Rührei, welches sie eben zubereitet hatte. Tom liebte es, vor der Arbeit in Ruhe zu frühstücken, und sie hatte Zeit.

Sie scrollte weiter nach unten, klickte auf den Link zu der Internetwache. So interessant, was heute schon alles möglich war, ohne persönlich auf die Dienststelle zu müssen. Erneut trank sie einen Schluck und sah auf die Uhr. Viertel nach sechs schon. Tom blieben nur fünfzehn Minuten, bis er los musste. Mit Ruhe hatte das nichts mehr zu tun. Sie hätten doch sofort aufstehen sollen, als der Wecker geklingelt hatte, und nicht noch eine Runde kuscheln sollen.

Fünf Minuten später betrat er die Wohnküche, öffnete eine der zahlreichen altmodischen Dosen, die Alexandra sammelte und die überall verteilt standen, und packte ein paar Centstücke hinein. »Immer noch so nervös?« Er kam auf sie zu, trug heute sein neuestes Lieblingsshirt, auf dem das Logo der New England Patriots prangte. Wie Tom im letzten halben Jahr so schnell Fan der NFL hatte werden können, würde für sie auf immer und ewig ein Rätsel bleiben. Vorher hatte er damit überhaupt nichts am Hut gehabt. Sie gab den ewigen Vierundzwanzig-Stunden-Diensten die Schuld daran. Da hatte er anscheinend nachts Zeit, Football zu gucken. Dabei behauptete er immer steif und fest zu arbeiten oder zu schlafen.

»Ich muss doch vorbereitet sein.« Sie drehte die Tasse in ihrer Hand. Ein freudiges Kribbeln breitete sich in ihrem Bauch aus und sie lächelte.

Tom beugte sich zu ihr hinunter und küsste sie. Dann griff er nach ihrer Tasse. »Hm, das riecht richtig gut hier.« Er holte sich das Rührei und setzte sich zu ihr an den Tisch. »Und es schmeckt so lecker.« Er hielt ihr eine Gabel hin. »Du wirst bestimmt vor lauter Arbeit das Essen wieder vergessen. Besser, wir teilen uns das Frühstück.«

Alexandra schnaubte. Doch ganz unrecht hatte ihr Freund nicht. Es kam oft genug vor, dass sie den ganzen Tag nichts aß, weil sie zu vertieft in ihre Arbeit war oder nur noch schnell dieses oder jenes erledigen wollte, und ruckzuck vergingen die Stunden und sie bemerkte es gar nicht. Also nahm sie den Bissen entgegen, den er ihr hinhielt. Dabei hatte sie noch gar keinen Hunger und bekam selbst die wenigen Bissen, die ihr Tom immer wieder in den Mund stopfte, schwer hinunter. Dies war eindeutig nicht ihre Zeit zum Essen.

»Es reicht, danke dir«, wehrte sie schließlich ab.

»Bleibt mehr für mich.« Tom drehte sich um und sah auf die Uhr. »Fünf Minuten noch«, murmelte und schaufelte sich die restlichen Rühreier rein, während sich Alexandra wieder in die Texte auf dem Laptop vertiefte. »Kannst du sie bald auswendig?«, fragte Tom, als er aufstand, den letzten Rest Kaffee aus ihrer Tasse trank und den Teller in die Spülmaschine stellte.

»Bestimmt.« Sie lächelte ihn an.

»Na dann. Ich muss los.«

Er kam zu ihr, sie küssten sich, und Alexandra drehte sich auf dem Stuhl, damit sie Tom die Arme um den Hals schlingen konnte.

»Was hältst du davon, wenn wir beide krankmachen?«, schlug sie mit einem schiefen Grinsen vor.

Tom lachte. »Als ob du es zu Hause aushalten würdest. Höchstens fünf Minuten über die Zeit. Du bist viel zu neugierig, wie es bei der Polizei wirklich abläuft.« Er küsste sie auf die Nasenspitze. »Außerdem freust du dich viel zu sehr auf die neue Stelle.« Nun verteilte er Küsse auf ihre Stirn, die linke und rechte Wange, das Kinn und endete am Mund. »Wir sehen uns heute Abend.«

Alexandra seufzte wohlig und entließ Tom aus der Umarmung. »Bis heute Abend. Viel Spaß auf der Arbeit und rette viele Leben.«

»Ich gebe mein Bestes.« Tom winkte und verschwand aus dem Wohnzimmer. Alexandra lehnte sich zurück, klappte den Laptop zu. Sie hatte noch eine knappe Stunde Zeit, bis sie selbst losmusste, Zeit genug, um zu duschen und sich anzuziehen.

 

Eine Stunde später, um kurz vor acht Uhr, betrat Alexandra die Polizeidienststelle Niederschwicht – ihren neuen Arbeitsplatz. Ihre Vorgesetzte hatte sie erst um halb neun hergebeten, doch Alexandra wollte ohne großes Klimbim begrüßt werden.

Es kribbelte ihr in den Fingern, endlich loslegen zu können. Eine Woche hatte sie zu Hause gesessen, gelesen und sich ausgeruht, nachdem sie ihre letzte Stelle beendet hatte. Nun war sie bereit, sich dem Social-Media-Team anzuschließen und sich in die neue Arbeit zu stürzen. Eine genaue Vorstellung hatte sie noch nicht. Es hieß nur, sie wollten jemanden haben, der hautnah von der Arbeit der Polizei in kurzen Storys, Postings und Videos berichtete. Was das genau bedeutete, würde sie heute erfahren. Auf jeden Fall sollte sie auch mal mit auf Einsätze fahren. Was mit Sicherheit ungeheuer spannend werden würde.

»Guten Morgen«, grüßte sie den Polizisten am Informationstresen direkt hinter dem Eingang. »Ich bin Alexandra Bieberach, die neue Kollegin in der Pressestelle.«

»Guten Morgen, Roland Gräfe. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Er lächelte, wirkte allerdings auch überrascht. »Es wurde gar nicht angekündigt, dass eine neue Kollegin anfängt. Soll ich jemanden für Sie anrufen, damit Sie abgeholt werden?«

»Niemanden, danke.« Sie erwiderte das Lächeln.

»Sie wissen, wohin Sie müssen?«, fragte er freundlich.

»Ja, danke. Den Flur bis zum Ende, dann links und die letzte Tür auf der rechten Seite.«

»Genau. Viel Spaß und herzlich willkommen im Team.«

»Vielen Dank.«

Sie ging weiter. Der muffige Geruch des Gebäudes, gemischt mit Kaffee und Parfümdüften, schlug ihr entgegen und sie musste sich zusammenreißen, um nicht sofort die Nase zu rümpfen. An der Tür zum Großraumbüro blieb sie stehen und linste hinein. Dort ging es geschäftig zu und auf jeden Polizisten kam mindestens eine Zivilperson, die mit an dem Tisch saß. Als sie weiterging, kamen ihr ein paar Polizisten entgegen, die sie freundlich grüßten. Am Ende des Flurs bog sie ab und las im Vorbeigehen die Schilder mit den Namen und Positionen der jeweiligen Mitarbeitenden.

Dann stand sie vor der Tür. Inga Mühlbauer – Pressesprecherin stand auf dem Schild. Alexandras Puls beschleunigte sich. Jetzt wurde es ernst. Sie rückte ihre rote Bluse zurecht, zupfte an dem passenden Rock und fuhr ihren Pferdeschwanz entlang. Tief atmete sie ein und klopfte.

»Herein«, ertönte eine helle Stimme dumpf durch die Tür.

Bewusst setzte Alexandra ihr bestes Lächeln auf, öffnete die Tür und trat ein. »Guten Morgen, Frau Mühlbauer«, begrüßte sie die Mittvierzigerin, die in Uniform hinter einem Schreibtisch am Fenster saß und nun zu ihr aufblickte, und schloss die Tür hinter sich.

Die Miene ihrer Chefin erhellte sich. »Frau Bieberach. Sie sind viel zu früh. Ich bin noch gar nicht …« Sie brach abrupt ab, fuhr sich durch ihre kurzen blonden Haare. »Egal.« Rasch erhob sich die vollschlanke Frau und kam um den Schreibtisch herum. »Herzlich willkommen im Team. Ich freue mich sehr auf unsere Zusammenarbeit.« Sie streckte Alexandra die Hand entgegen, die diese ergriff. Der Griff war fest und warm.

»Ich freue mich auch.«

»Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Büro. Sie haben hoffentlich kein Problem, es sich mit drei weiteren Kollegen teilen zu müssen?« Frau Mühlbauer öffnete die Tür und führte sie den Flur zurück. Zwei Türen weiter blieb sie stehen, klopfte kurz an und stieß die nur einen Spalt offene Tür auf, bevor sie in den Raum trat.

»Nein, überhaupt nicht.« Alexandra befeuchtete ihre Lippen. Sie hatte heute extra ihre Lieblingssachen angezogen, um sich wohler zu fühlen, wenn sie ihren neuen Kollegen gegenübertrat. Sie folgte ihrer Chefin in das Büro, das deutlich größer war als das von Frau Mühlbauer und über drei Fenster verfügte, auf deren Fensterbänken ein paar Blumen standen. Vier Schreibtische standen links und rechts verteilt, hinter dreien saß je eine Person. Ihr Gespräch erstarb, als Alexandra mit ihrer Vorgesetzten in den Raum trat.

»Darf ich vorstellen? Das ist Alexandra Bieberach, sie wird ab heute unser Team im Social-Media-Bereich verstärken.« Ihre Vorgesetzte zeigte auf sie. »Frau Bieberach, das ist Sina Krumm.« Sie ging zum ersten Schreibtisch auf der rechten Seite und die junge schlanke Frau dahinter lächelte ihr zu. »Hier ist Siro Jäger.« Sie zeigte auf den dunkelhaarigen Herren neben Sina Krumm, der ungefähr in ihrem Alter sein musste, wenn sie ihn richtig einschätzte. Auch sie lächelten sich zu. »Und zum Schluss wäre hier Ramona Lirer.«

Alexandra hob die Hand zum Gruß. »Hallo. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit.«

»Das ist Ihr Schreibtisch. Ich habe Ihnen ein Notizbuch und einen Stift bereitgelegt. Als kleines Begrüßungsgeschenk. Ihre Zugangsdaten und alles weitere besorgen wir Ihnen jetzt.«

Alexandra hatte kaum Zeit, sich alles anzusehen oder etwas zu erwidern, als ihre Vorgesetzte Mühlbauer sie wieder hinausführte. »Bis gleich«, rief sie ihren neuen Kollegen noch zu, bevor sie Tür hinter sich schloss.

Frau Mühlbauer erklärte ihr auf dem Weg, wen sie alles passierten. Hin und wieder blieben sie stehen und Alexandra wurde vorgestellt. Sie schüttelte Hände, ihr wurden Namen genannt, die sie wieder vergaß, sobald sie weitergingen. Bei jedem, der ihnen auf dem Weg entgegenkam, sah sie genau hin. Doch bis jetzt hatte sie Glück gehabt und Ben noch nicht begegnet. Trotzdem konnte sie nicht verhindern, wie ihr Puls bei jeder Person in die Höhe schnellte.

In der letzten Woche hatte sie sich mehrfach gefragt, ob es wirklich eine gute Idee gewesen war, hier anzufangen. Schließlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sie Ben gegenüberstehen würde. Das altbekannte Ziehen im Herzen, wenn Alexandra an ihn dachte, machte sich in ihr breit. Nicht mehr so schlimm wie vor einem Jahr, doch verlassen hatte es sie nie. Trotz Tom und was Ben ihr angetan hatte, fehlte er ihr noch immer. Dabei hatte sie Monate gehabt, um über ihn hinwegzukommen.

Obwohl Ben ein Argument gegen diese Stelle gewesen war, war sie jedoch viel zu verlockend für Alexandra gewesen. Tagelang hatte sie überlegt und dann doch die Bewerbung abgeschickt. Etwas Neues mitaufbauen, mit zur Imageverbesserung beitragen und dabei einer Aufgabe nachgehen, die sie gerne machte. Sie liebte es, Social-Media-Beiträge zu erstellen, hatte sich extra dahingehend weitergebildet, doch bei ihrer alten Zeitschrift hatte man ihr viel zu starre Leinen angelegt.

Kurz vor dem Ausgang steuerte Frau Mühlbauer die Treppe an und sie gingen nach oben.

»Sobald Sie Ihre Zugangsdaten haben, wird Sina Sie in unser Programm einarbeiten. Sollte eines unserer Kommissarenpaare ausrücken«, Frau Mühlbauer hielt kurz inne und grinste, »wir in der Pressestelle nennen sie so, lassen Sie es allerdings bloß nie einen von denen hören, die mögen das überhaupt nicht.« Sie räusperte sich.

»Das werde ich mir merken. Aber ein süßer Name«, erwiderte Alexandra und schmunzelte.

»Also, sobald ein neuer Fall reinkommt, werden Sie mit denen losfahren, Fotos und Videos von ihnen während der Arbeit machen und daraus ihre Beiträge zusammenstellen. Aber …«

Sie erreichten das Ende der Treppe und bogen nach rechts ab, während Frau Mühlbauer nun im Detail ausführte, worauf Alexandra achten musste und was sie auf keinen Fall zeigen durfte. Alexandra kam bei dem Wortschwall von Frau Mühlbauer kaum zu Wort, um zwischendurch Fragen zu stellen, und ins Wort fallen wollte sie ihrer Vorgesetzten am ersten Tag auch nicht. Am Ende hinterließ sie vielleicht noch einen schlechten Eindruck.

»Haben Sie das so weit verstanden?«, fragte Frau Mühlbauer, hielt vor einer offenen Tür und sah Alexandra erwartungsvoll an. Dabei musste sie zu ihr aufblicken, da Alexandra einen halben Kopf größer war. Garantiert hatte ihre neue Chefin geradeso die vorgeschriebene Mindestgröße bei der Polizei geschafft.

»Klar«, antworte Alexandra, obwohl sie alles andere als sicher war. So genau hatte sie noch immer keine Vorstellung von ihrer neuen Aufgabe, doch sie würde es herausfinden. Das Beste war eh häufig, ins kalte Wasser geworfen zu werden. So lernte sie oft am schnellsten.

Alexandra lugte in den Raum, überall standen jede Menge Monitore auf den zusammengeschobenen Schreibtischen, vor denen drei Leute saßen.

»Männer, wir haben eine neue Kollegin«, rief Frau Mühlbauer und betrat den Raum.

Alexandra folgte ihr, mit einem etwas nervösem Gefühl im Magen. Dann also mal ab ins kalte Wasser.

 

Kapitel 4

»War viel los in der Nacht?«, fragte Ben Andreas, während er sich den so nötigen Kaffee eingoss. Es war schon halb neun und seine Gehirnzellen hatten sich noch immer nicht dazu herabgelassen, richtig aufzuwachen.

»Nein, nur zwei Ruhestörungen, meinten die Kollegen, und ein Mann, der seine Frau vermisst melden wollte. War wohl erst zwei Stunden überfällig«, antwortete Andreas, während er auf seine Tastatur einhämmerte und den Aktenstapel neben sich geflissentlich ignorierte. »Die taucht eh in ein paar Tagen wieder auf und die Scheidung ist vorprogrammiert. Ist doch meistens so.« Andreas verdrehte die Augen, bevor er Ben grinsend ansah. »Hast du das Bundesligaspiel gestern geguckt? Der Müller hat ein Traumtor geschossen.«

»Ich bin eingeschlafen. Habe nur den Anfang gesehen und als ich aufgewacht bin, war es vorbei.«

»Da ist dir ein echt gutes Spiel entgangen.« Andreas gähnte herzhaft. »Ich hab die nächsten Tage frei. Hast du Lust, einen Abend mit mir ins Fitnessstudio zu gehen?«

»Wenn es passt, gerne. Ich schreib dir, sobald ich weiß, wann ich kann.« Ben stieß sich von der Anrichte ab und ging zurück in sein Büro. Im Türrahmen blieb er kurz stehen. »Treib es nicht zu wild«, rief er über die Schulter und grinste ihn frech an.

»Ich bin die Unschuld vom Lande, das weißt du doch.« Andreas hob arglos seine Arme, um seine Mundwinkel zuckte es schelmisch. »Abgesehen davon kann nicht jeder so mönchsgleich leben wie du.«

Ben verdrehte die Augen und verschwand endgültig im Büro, ließ die Tür hinter sich offen, damit er mitbekam, was nebenan passierte. Er mochte die Geräusche aus dem Nebenraum, da kam er sich nicht so allein vor. Vor allem, weil Susanne immer noch nicht da war.

Ben stellte seinen Kaffee neben der Tastatur ab und setzte sich. Wahrscheinlich musste sie ihre Tochter zur Schule fahren, weil diese den Bus verpasst hatte. Das Biest machte das garantiert jeden verdammten Morgen mit Absicht.

Er öffnete das Intranet, um zu schauen, ob es bereits eine Vorstellung der neuen Kollegin gab. Roland hatte ihm vorhin am Eingang so begeistert von ihr erzählt, dass er ihn neugierig gemacht hatte.

»Morgen«, kam Susanne mit zwanzig Minuten Verspätung ins Büro. Ein hektischer Familienmorgen stand ihr praktisch ins Gesicht geschrieben. Ihre Haare schienen mal wieder keinen Kamm gesehen zu haben. Sie trug denselben Sweater wie am Samstag und die Jeans hatte ihre besten Tage hinter sich. Unten am Saum war sie eingerissen, nicht auf die modische kunstvolle Weise, wie die Hosen heutzutage verkauft wurden.

»Guten Morgen, du bist zu spät«, sagte Ben mürrisch.

»Kommt schon mal vor«, gab Susanne im selben Ton zurück und schloss das Fenster, das Ben gerade erst wegen des muffigen Gestanks im Büro geöffnet hatte. Sie pfefferte ihre Tasche neben ihren Stuhl und setzte sich.

Na, das wird ein lustiger Arbeitstag, dachte Ben. Das Biest hat sich wieder ausgetobt. Hoffentlich verflog die Laune schnell wieder. Er vertiefte sich wieder in das Intranet, suchte unter Neuigkeiten nach einem Eintrag über die neue Kollegin.

»Irgendwas passiert, von dem ich wissen müsste?«, fragte Susanne und atmete tief durch.

»Nein. Wir haben nur eine neue Kollegin und ich kann nichts über sie finden.« Ben klickte sich mittlerweile durch die Mitarbeiter der Presseabteilung.

Susanne stand auf, umrundete ihren Schreibtisch und stellte sich hinter ihn. »Roland?«, fragte sie nur und griff nach Bens Kaffeetasse.

»Jepp.« Ben nickte und sah seiner halb leeren Tasse hinterher. »Das ist meiner. Hol dir einen eigenen und trink nicht immer bei mir mit.« Er holte sich seine Tasse wieder und kniff die Augen zusammen. »Wir sind nur Arbeitspartner, mach das mit deinem Mann. Schließlich trinke ich auch nicht aus deiner Tasse.«

Susanne schnaubte nur. »Scroll weiter und hör auf zu jammern.«

Ben verkniff sich einen weiteren Kommentar. Das konnte nur zu Streit führen und darauf hatte er an diesem Morgen keine Lust. »Da ist nichts. Ich habe schon geguckt.«

Susanne richtete sich wieder auf und stellte sich wieder in die Tür. »Hey, Andreas, weißt du was von einer neuen Kollegin?« Sie stemmte die Hände in die Hüften.

»Jepp, aber noch nicht gesehen. Soll in der Presseabteilung angefangen haben. Mehr weiß ich auch nicht.«

Susanne drehte sich wieder um. »Wir werden sie schon kennenlernen.« Sie setzte sich an ihren Platz und begann zu arbeiten. Seufzend schloss Ben ebenfalls das Intranet und öffnete stattdessen seine Mails.

In dem Moment klingelte Susannes Telefon. »Röber«, meldete sie sich. »Hm … Alles klar. Gib mir die Adresse. … Kenn ich, die neue Siedlung, richtig? … Wir sind unterwegs.« Sie legte auf.

»Was ist passiert und wo müssen wir hin?« Ben war bereits aufgestanden, steckte seine Dienstwaffe ins Holster und hängte sich seine lederne Umhängetasche um.

»Tote Frau im Garten im Neubaugebiet. Die Kollegen von der Spurensicherung sind auch auf dem Weg. Gefunden von der Inhaberin des Grundstücks. Mehr weiß ich auch noch nicht.« Susanne schnappte sich ebenfalls ihre Sachen und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zu Susannes Auto.

 

Susanne bremste vor einer roten Ampel so abrupt ab, dass es Ben nach vorne schleuderte. Nur der Sicherheitsgurt hielt ihn davon ab, durch die Scheibe zu knallen.

»Boah, Susanne, kannst du vielleicht schon etwas früher abbremsen? Ich sterbe hier irgendwann noch.«

Susanne schien ihre gute Laune wiedergefunden zu haben, denn sie grinste ihn an. »Es kommt die Zeit, da wirst du dich freuen, wenn ich rasant durch die Stadt fahre.«

»Kann ich mir nicht vorstellen.«

Die Ampel schaltete auf Grün und Susanne fuhr mit einem Ruck an. Schneller, als Ben lieb war, schloss sie zu dem vor ihnen fahrenden Wagen auf.

»Willst du dir den Hund im Kofferraum genauer ansehen? Ich kann die fahrende Person rauswinken«, meinte Ben trocken.

»Nein, brauchst du nicht. Danke für das Angebot.«

»Meine ja nur.«

Immerhin waren sie fast da und eine weitere halsbrecherische Fahrt näherte sich dem Ende.

Fünfundzwanzig Minuten nachdem sie losgefahren waren, stieg Ben in einem Neubaugebiet aus Susannes Auto. Sie hatte am Straßenrand hinter einem Streifenwagen der Kollegen geparkt. Die Sonne knallte ungehindert auf sie hinab und das Thermometer war bestimmt schon wieder ein oder zwei Grad gestiegen, seit er heute Morgen das Haus verlassen hatte. Sachter Wind fuhr durch seine Haare.

Ben sah sich neugierig um. Die Grundstücke waren großzügig geschnitten und die Vorgärten sauber und ordentlich. Jeder hätte die Titelseite einer Gartenzeitschrift zieren können. Nur die als Grenze gepflanzten Hecken wollten noch erwachsen werden und gaben den Blick auf alles frei. Vor einigen Garagen parkten große SUVs. Bei den umliegenden Häusern waren die Jalousien hochgezogen.

Ben kniff die Augen zusammen und stierte zu einem Fenster des Nachbarhauses. Beobachteten sie alles und platzten vor Neugier? Eine Seltenheit wäre das nicht, so sensationslüstern, wie die Menschen waren und oft genug ihre Arbeit dadurch behinderten. Immerhin stand niemand herum und zückte sein Smartphone.

»Da seid ihr ja endlich«, begrüßte sie Julius Brandner, ein Streifenpolizist, der hinter einem Absperrband stand und ihn aus seinen Gedanken riss.

Ben richtete seinen Blick auf den Leichnam im Vorgarten eines der Einfamilienhäuser. Die Spurensicherung schien kurz vor ihnen angekommen zu sein, sie hatten gerade erst mit der Sicherung des mutmaßlichen Tatorts begonnen.

»Warum endlich? Wir sind so schnell wie möglich gekommen«, erwiderte Susanne ruhig. »Ich kann nichts für den Verkehr um diese Uhrzeit.« Mit diesen Worten bückte sie sich unter dem Absperrband hindurch.

Ben folgte ihr. Dies war erst seine sechste Mordermittlung und so morbide es klang, er freute sich darauf. Zweimal waren sie zu einem Selbstmord gerufen worden, zweimal ein Herzinfarkt und einmal tatsächlich Mord. Es war ein befriedigendes Gefühl gewesen, den Mörder festzunehmen. Wenn es dieses Mal wieder eine Mordermittlung wurde, konnte er es gar nicht erwarten, auch diese Person zu verhaften.

Am Tatort herrschte reges Treiben. Die Kollegen der Spurensicherung wuselten um sie herum und nahmen Proben. Eine Kollegin schoss Fotos, jemand anderes stellte vorher Nummern auf. Bedächtig schaute Ben beim Gehen auf den Boden, um nicht aus Versehen auf ein Beweismittel zu treten, sofern denn welche herumlagen, und hielt sich direkt hinter Susanne, wobei er in ihre zurückgelassenen Abdrücke trat. Bei dem mutmaßlichen Opfer angekommen, zog er aus seiner Tasche Einmalhandschuhe und gab ein Paar an Susanne ab.

»Danke dir.« Sie lächelte ihm zu und zog sie über.

Ben betrachtete die tote Frau vor ihm. Sie lag auf dem Rücken, das Gesicht nach oben gewandt, die Augen geschlossen. Die Arme lagen neben dem Körper.

Es sah aus, als würde sie friedlich schlafen.

»Sie ist bestimmt ermordet worden.« Er deutete auf den bräunlich werdenden Fleck, der sich auf der Bluse über die Brust und dem Oberbauch ausgebreitet hatte.

»Ja, das würde ich auch behaupten. Vielleicht ein kleines Messer. Siehst du den kleinen Schnitt auf Brusthöhe in der Bluse?« Susanne kniete sich hin und umkreiste in der Luft die betreffende Stelle.

»Sehr winzig. Haushaltsmesser? Obstmesser?« Ben sah an der Frau weiter nach unten, doch er konnte keine weitere Wunde entdecken. Die schwarze Stoffhose war zerknittert und wirkte feucht, die geöffnete Jacke lag mit den Seiten links und rechts neben ihr. »Was meinst du? Zwischen fünfzig und sechzig?«

Susanne erhob sich und wiegte den Kopf hin und her. »Den Falten am Hals nach zu schließen, bestimmt. Die Haare sind braun gefärbt, am Ansatz wächst das Grau nach.«

In dem Moment hielt ein weißer Kleinwagen am Straßenrand und Ben blickte hin. »Da kommt Doktor Hubert«, mutmaßte er, doch statt des kleinen stattlichen Rechtsmediziners stieg eine schlanke Frau mit langen, braunen Haaren, die zu einem Pferdeschwanz gebunden waren, aus. Sie trug eine leuchtend rote Bluse.

Ben kniff die Augen zusammen. Blinzelte und sah erneut hin. Das konnte doch nicht …

Die Frau kam unter das Absperrband hindurch, hielt auf sie zu. Ben konnte sie nur anstarren.

»Die Frau ist echt, oder?«, fragte er und stupste Susanne an, die nun ebenfalls in die Richtung schaute. Gerade ging Julius Brandner auf sie zu und hielt sie auf.

»Ja, wieso?«

»Ich …« Ihm verschlug es die Sprache. Die Frau in Rot zeigte Julius einen Ausweis und er kam mit ihr auf sie zu.

Das war Alexandra! Bens Herz schlug schneller und seine Handflächen wurden feucht. Sie sah noch genauso gut aus wie vor einem Jahr. Beim Näherkommen konnte er ihr Lächeln sehen. Dieses Lächeln, das …

»Moin«, begrüßte Susanne sie. »Darf ich erfahren, wer Sie sind und was Sie hier wollen? Das ist ein möglicher Tatort, da haben fremde Personen nichts zu suchen.«

Alexandra erblickte Ben und für einen kurzen Augenblick weiteten sich ihre Augen und das Lächeln verschwand aus ihren Zügen, bevor sie es erneut aufsetzte. Allerdings wirkte es nicht mehr so herzlich wie zuvor. Normalerweise erreichte es ihre Augen, doch jetzt nicht mehr.

»Hallo?«, hakte Susanne nach.

»Das ist Alexandra Bieberach, eine Journalistin. Die Presse wurde dieses Mal ja schnell informiert«, erklärte Ben, der seine Sprache wiedergefunden hatte. Allerdings konnte er den leicht aggressiven Unterton nicht verhindern. Dabei hatte er nicht einmal Grund dazu. Viel eher würde es ihn nicht wundern, wenn Alexandra auf ihn losging.

»Verschwinden Sie hier.« Susanne zischte beinahe wie eine Schlange und deutete Richtung Straße. »Wir werden nicht mit der Presse reden. Wenden Sie sich an Frau Mühlbauer.«

Alexandras Lächeln wurde breiter und wirkte noch aufgesetzter. »Von ihr wurde ich geschickt, um Sie und …«, sie stockte kurz, als sie zu Ben sah, »… Herrn Sieg während dieses Falles zu begleiten.« Aus ihrer Handtasche zog sie einen Ausweis und hielt ihn Susanne unter die Nase. »Seit heute ich bin Ihre neue Kollegin und soll hautnah über die Arbeit bei der Polizei berichten.«

»Du bist was?«, entfuhr es Ben. Er zog die Augenbrauen zusammen.

»Hautnah berichten?«, meinte gleichzeitig Susanne. »Was ist das für ein Quatsch? Sollen wir uns neben der Leiche aufstellen und Sie machen ein Foto davon, um es in den Medien zu zeigen, oder was?«

»Fotos, Videos, allerdings ohne Leichen, Tatverdächtige und Tatorte. Im Prinzip mache ich ein Video zum Beispiel, wie sie hier stehen und sich unterhalten. Der Ton wird natürlich rausgeschn…«

»Von wem stammt denn diese mistige Idee?«, unterbrach Susanne Alexandra und verschränkte die Arme vor der Brust.

Die raffte ihre Schultern. »Wenn Sie sich beschweren wollen, reden Sie mit Frau Mühlbauer oder Herrn Lakuner.«

»Keine Sorge, ich werde gleich als Erstes dem Chef einen Besuch abstatten, sobald wir wieder auf der Dienststelle sind.«

Ben brannte etwas ganz anderes unter den Nägeln. Vorsichtig trat er um die Leiche herum zu Alexandra. »Entschuldigt uns einen Moment.« Er packte sie am Oberarm und zog sie von den anderen fort.

Alexandra riss sich von ihm los. »Was soll das?«, herrschte sie ihn an.

In Bens Ohren rauschte es, als stünde er neben den Niagarafällen, sein Herz hämmerte hart und schnell in seiner Brust. All die vergrabenen Gefühle, die immer wieder an die Oberfläche drängten und die er oft genug wieder in ihre Schublade schob, ließen sich bei ihrem Anblick nicht mehr zurückdrängen.

»Was machst du hier?«, brachte er leise und gereizt hervor.

Es war Alexandra gegenüber unfair, hatte er sie doch verletzt und nicht andersherum. Er konnte dennoch nicht anders. Ihr Auftauchen hatte ihn komplett überrumpelt.

»Hast du doch gehört. Ich arbeite jetzt für die Presseabteilung«, antwortete sie ebenso leise. Mit ihrem Unterton hätte man durch Papier schneiden können.

»Weshalb hast du unbedingt bei der Polizei anfangen müssen, obwohl du wusstest, dass ich hier arbeite?« Ben schob seine zu Fäusten geballten Hände in die Taschen. Er musste sich zurückhalten, um nicht loszuschreien. Er wusste nicht, wie er seinen überrollenden Emotionen Luft machen sollte. Die Freude, sie wiederzusehen, mischte sich mit der Angst, wie sie in Zukunft miteinander umgehen sollten, wenn Alexandra bei der Polizei blieb. Was hielt sie mittlerweile von ihm? Hasste sie ihn? Er könnte es verstehen und hätte wahrscheinlich nicht anders gehandelt.

Da stand seine große Liebe endlich wieder vor ihm und all die ungeklärten Dinge standen zwischen ihnen, weil er damals buchstäblich den Schwanz eingezogen und sich aus dem Staub gemacht hatte.

»Weil es eine gute Stelle ist. Was hast du denn gedacht? Dass wir uns in einer Kleinstadt wie Niederschwicht nie wieder über den Weg laufen werden?« Sie funkelte ihn wütend an. »Und keine Sorge, du hast bei meinen Überlegungen keine Rolle gespielt.« Damit ließ sie ihn stehen und ging zurück zu den anderen und dem Mordopfer.

Ben atmete mehrfach tief ein und aus. Dann ging auch er zurück zu den anderen und stellte sich wieder neben Susanne.

»Alles geklärt?«, fragte sie zuckersüß und sah Ben mit hochgezogenen Augenbrauen an.

»Ja«, knurrte er. Nichts war geklärt. Wie sollte er mit Alexandra arbeiten? Wie sollte er sich ihr gegenüber verhalten?

»Gut. Frau …« Susanne hielt inne. »Tut mir leid, ich habe mir Ihren Namen nicht gemerkt.«

»Nennen Sie mich einfach Alexandra.«

»Ich ignoriere Sie einfach und mache meine Arbeit. Sie dürfen so viele Fotos und Videos machen, wie Sie wollen, nichts davon gelangt an die Öffentlichkeit, solange ich darauf bin.« Susannes Stimme war so eiskalt, dass sie der Arktis Konkurrenz machte.

Alexandra taxierte sie. »Alles klar.«

Ben wollte nur im Erdboden versinken. Was kam da nur auf ihn zu?

»Hast du schon herausgefunden, wer die Frau ist, Julius?«, fragte Susanne nun den Streifenpolizisten.

»Nein, wir haben nichts angerührt und warten noch auf Doktor Hubert«, antwortete er.

Ben nahm diese Information wie aus weiter Ferne war, beobachtete immer noch Alexandra, die beim Anblick der Leiche blass geworden war. Wahrscheinlich die erste Leiche, die sie in ihrem Leben sah. Die erste war für niemanden einfach. Ihm selbst war damals schlecht geworden. Dabei hatte Alexandra noch Glück. Bei ihm war es ein Mann gewesen, an dessen Hals die Spuren des Stricks zu sehen gewesen waren. Er hatte extrem nach Exkrementen gestunken, weil seine Blase und der Darm sich bei der Entspannung des Körpers, als das Leben ihn verlassen hatte, entleert hatten.

Er schüttelte sich bei dem Gedanken, wandte sich von Alexandra ab, die gerade ihr Smartphone hervorzog und anfing, Bilder zu schießen, und warf Julius einen Blick zu. »Wer hat die Leiche entdeckt?«

»Ulrike Liedtke, die Besitzerin des Grundstücks hier, sitzt völlig durcheinander in ihrer Küche.« Julius deutete auf das rot verklinkerte zweistöckige Einfamilienhaus, in dessen Vorgarten sie sich befanden. Die weiße mit Glas durchsetzte Tür stand einen Spaltbreit offen. »War auf den Weg zur Arbeit, als sie die Leiche entdeckt hat.«

»Vernehmen wir sie«, beschloss Susanne, würdigte Alexandra keines Blickes, als sie sich Richtung Haus wandte und Julius ins Haus folgte.

Ben und die bleiche Alexandra schlossen sich ihnen an.

Frau Liedtke, eine Mittvierzigerin, saß am Tisch, den Kopf gesenkt, und knetete ihre Hände. Tränenspuren durchzogen ihr ansonsten makelloses Make-up. In der Küche hing der Hauch von Knoblauch.

»Frau Liedtke? Ich bin Hauptkommissarin Röber, und das ist Kommissar Sieg. Sind Sie in der Lage, uns ein paar Fragen zu beantworten?« Susanne setzte sich ihr gegenüber an den Tisch.

Ben und Alexandra blieben stehen und Ben holte seinen kleinen Notizblock mit einem Stift aus seiner Umhängetasche, um mitzuschreiben.

Frau Liedtke nickte, dann blickte sie auf.

»Wann haben Sie das Opfer in Ihrem Garten gefunden?«, fragte Susanne sanft.

»Um … um Viertel nach acht. Ich verlasse immer um dieselbe Zeit mein Haus und fahre mit dem Fahrrad zur Arbeit.«

»Wann waren Sie gestern Abend das letzte Mal draußen?«

Frau Liedtke runzelte leicht die Stirn, sah wieder auf ihre Hände, die dazu übergegangen waren, den Blusensaum zu rollen. »Das muss gegen sieben gewesen sein. Ich habe mein Fahrrad in die Garage gestellt.«

»Kennen Sie die Frau?«, fragte Susanne weiter, aber die Zeugin schüttelte den Kopf.

»Leben Sie alleine?«, schaltete Ben sich ein.

»Ja, mein Mann und ich haben uns vor einem halben Jahr getrennt. Kinder haben wir keine.« Frau Liedtke trieb es die Tränen in die Augen. Ob wegen der Trennung, der fehlenden Kinder oder der Leiche in ihrem Vorgarten, vermochte Ben nicht zu sagen.

Alexandra ging zur schneeweißen Küchenzeile und lehnte sich dagegen. »Sie wohnen ganz alleine in dem großen Haus? Da ist es hier doch bestimmt sehr ruhig, oder?«

Sie fing sich einen wütenden Blick von Susanne ein, die ihre Lippen zusammenkniff und auf die Antwort von Frau Liedtke wartete.

Diese sah mit glasigen Augen zu Alexandra und wischte sich über die Wange. »Na ja, es ist mein Zuhause. Die Trennung war nicht geplant beim Bau.«

»Haben Sie gestern Abend oder heute Nacht etwas Ungewöhnliches gehört oder gesehen?«, hakte Susanne weiter nach.

»Nein, ich gehe immer zwischen zehn und elf Uhr schlafen. Im Frühjahr lasse ich die Jalousien noch früh herunter.« Frau Liedtke legte ihre Hände auf dem Tisch ab und schaute darauf. Ihre Fingernägel waren perfekt manikürt.

»Was heißt denn früh?«, fragte Alexandra wieder.

Susanne entfuhr ein Schnauben und Ben schloss die Augen. Hatte man ihr denn keine Verhaltensregeln mit auf den Weg gegeben? Sie konnte sich doch nicht so einfach in Vernehmungen einmischen.

»Gegen neun Uhr.«

»Sie haben also nicht mitbekommen, wie in Ihrem Garten ein Mensch ermordet wurde?« Nun klang Alexandra ungläubig.

Susanne stand abrupt auf. Die Stuhlbeine kratzten über den Fliesenboden. »Das reicht«, sagte sie gepresst zu Alexandra und wurde rot im Gesicht. Dann wandte sie sich Frau Liedtke zu. »Ich danke Ihnen. Benötigen Sie Hilfe? Sollen wir Ihren Arbeitgeber kontaktieren, dass Sie heute nicht mehr kommen werden? Oder Ihren Noch-Ehemann?«, beendete Susanne das Gespräch.

Aber Frau Liedtke schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Ich habe meinem Chef bereits eine Nachricht geschrieben. Es geht schon.« Wie ferngesteuert griff sie nach ihrem Smartphone, das auf dem Küchentisch lag, und tippte darauf herum.

»Okay, wenn Ihnen noch etwas einfällt, geben Sie uns bitte Bescheid. Mein Kollege, Herr Brandner, wird noch einige Formalitäten mit Ihnen klären. Danke für Ihre Zeit.« Susanne drehte sich um und rauschte aus der Küche.

Ben folgte ihr, allerdings langsamer, bis Alexandra neben ihm ging. »Was fällt dir ein, dich bei Vernehmungen einzumischen?«, schimpfte er leise. »Hat man dir das auch aufgetragen?«

»Nein, natürlich nicht«, entgegnete Alexandra. Sie traten aus der Haustür ins Freie. »Tut mir leid, aber die Fragen kamen mir in den Sinn und ich …«

»Wagen Sie es nicht noch einmal, sich in meine Vernehmung einzumischen!« Susanne stand mit erhobenem Zeigefinger vor ihnen, rot im Gesicht. »Ich toleriere, wenn Sie von den Vorgesetzten mit uns geschickt werden, aber Sie werden keinen Mucks von sich geben.«

»Es tut mir leid. Ich dachte …«

Ben ging weiter, nicht in der Lage, sich weiter mit den beiden streitenden Frauen zu beschäftigen. Er hatte noch immer mit Alexandras Auftauchen zu kämpfen, mehr ertrug er gerade nicht. Neben der Leiche entdeckte er Doktor Hubert, der mit einer kleinen Digitalkamera in der Hand um das Opfer wuselte und Fotos schoss.

»Guten Morgen, Doktor Hubert«, begrüßte Ben ihn, der heute wie immer außerhalb der Rechtsmedizin – wo er stets seine grüne OP-Kleidung trug – ein weißes Hemd zu einer blauen Stoffhose trug.

---ENDE DER LESEPROBE---