56 Punkte zum Glück - Nella Beinen - E-Book

56 Punkte zum Glück E-Book

Nella Beinen

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Beschreibung

Was tun, wenn man als Jungbauer ungeoutet in einem 1.000-Seelendorf lebt? Richtig, Casper meldet sich bei einem Dating-Portal an. Er lernt jemanden kennen, schreibt mit ihm, trifft sich das erste Mal und verliebt sich. Nun stellt er allerdings fest, dass er wieder am Anfang steht. Coming-out, und wenn, wie? Wie werden seine Familie und Freunde reagieren, wie die Dorfbewohner? Wird er der Aussätzige des Dorfes sein? Aber nicht nur diesen Fragen stellt Casper sich. Im Laufe der Beziehung kommen andere dazu. Wie funktioniert eine Beziehung? Gibt es ein richtig oder falsch, schwarz oder weiß? Und: Wie viel Punkte braucht man zum Glück?

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Buchbeschreibung:

 

Was tun, wenn man als Jungbauer ungeoutet in einem 1.000-Seelendorf lebt?

 

Richtig, Casper meldet sich bei einem Dating-Portal an. Er lernt jemanden kennen, schreibt mit ihm, trifft sich das erste Mal und verliebt sich.

Nun stellt er allerdings fest, dass er wieder am Anfang steht. Coming-out, und wenn, wie? Wie werden seine Familie und Freunde reagieren, wie die Dorfbewohner? Wird er der Aussätzige des Dorfes sein?

 

Aber nicht nur diesen Fragen stellt Casper sich. Im Laufe der Beziehung kommen andere dazu. Wie funktioniert eine Beziehung? Gibt es ein richtig oder falsch, schwarz oder weiß?

 

Und: Wie viel Punkte braucht man zum Glück?

 

 

 

 

 

Über den Autor:

Nella Beinen stammt aus Norddeutschland und hat ein bewegtes Leben hinter sich.

Von Norddeutschland zog es sie nach Essen, Spiekeroog und Bonn. Am Niederrhein ist sie sesshaft geworden.

Dort angekommen, hat sie angefangen, all den Wörtern in ihrem Kopf in die Freiheit zu verhelfen.

 

 

 

 

 

 

 

 

Bisher erschienene Titel der Autorin: Und dann passierte das Leben ... Wie ein Kuss alles veränderte Glück vom Umtausch ausgeschlossen

 

 

56 Punkte zum Glück

 

Von Nella Beinen

 

 

[email protected]

www.nellabeinen.com

 

1. Auflage, 2020

© Nella Beinen – alle Rechte vorbehalten.

Baegertstr. 11

47533 Kleve

 

Coverdesign by A&K Buchcover

www.akbuchcover.de

Verwendetes Bildmaterial:

nnudoo/depositphotos.com

nature78/depositphotos.com

 

1.

Meine Finger schwebten über der Tastatur des Laptops. Ich hatte mich durch die Palette an Fragen durchgearbeitet, jede selbstverständlich intuitiv beantwortet. Jetzt brauchte ich einen Nickname.

Während meine Finger auf und nieder tanzten, dabei aber keine Tasten berührten, dachte ich fieberhaft über einen Namen nach. Aber mein Gehirn blieb leer. Vielleicht fiel mir später einer ein. Erstmal weiter.

Vorname war einfach, Casper. Nachname Mattenwald.

«Augenfarbe ..., welche Farbe habe ich denn?», überlege ich laut.

Ich stand auf, ging zum Spiegel am Schrank und schaute mir tief in die Augen. Dann begab ich mich wieder zum Schreibtisch.

Augenfarbe braun. Haarfarbe braun. Größe 1,78m, Statur ...

Erneut stellte ich mich vor den Schrank und zog das Shirt aus. Dann betrachtete ich mich von vorne und drehte mich nach links und rechts. Ich hatte kein Sixpack und der leichte Bauchansatz, den ich mir während des Studiums angefuttert hatte, verschwand neuerdings wieder. Das Shirt anziehend, ging ich zum Laptop zurück.

Hmm, wie beschreibt man jemanden, der nicht dick, allerdings auch nicht dürr war? Normal? Ja, das war gut.

Statur Normal.

Hobbies ... das war einfach. Fußball spielen, Comics lesen, tanzen, mich um meine Tiere kümmern.

«Musste ja keiner wissen, dass damit die Kühe im Stall gemeint waren. Oder kann man sich das bereits beim Beruf Landwirt denken?», grübelte ich weiter. Egal, man sollte ehrlich sein.

Typisch für mich ist ... immer Spider-Man-Socken und Boxershorts zu tragen.

Mein Motto lautet ... was die alles wissen wollten.

... auf dem Land ist mehr los als in der Stadt.

Das war gut, jeder Stadtmensch unterschätzte das Landleben.

«Oh, warum nicht als Nickname ‚Gayfarmer95‘», fiel mir spontan ein. Hätten wir das auch.

Ich musste nur noch Fotos hochladen. Im Ordner mit den Bildern scrollte ich durch eine Menge unbrauchbarer Aufnahmen. Es sollten unbedingt Aktuelle sein. Vielleicht hatte ich eines vom Studium. Nee, das neben dem Schlepper wäre gut. Da hatte ich sogar neue und vor allem saubere Klamotten an. Das vom Karneval dieses Jahr war ein Lustiges. Da war ich als König Ludwig von Bayern verkleidet. Oh, und da wäre noch ein Drittes, von der Silberhochzeit meiner Eltern. Ich hatte einen Anzug an und sah seriös aus.

So, Fotos hochgeladen, Fragen beantwortet und Profil ausgefüllt. Hatte mich nur zwei Stunden gekostet.

Mal sehen, was jetzt passierte. Ich scrollte durch die Vorschläge, die mir angezeigt wurden. Anscheinend war ich nicht der Einzige, der neu war. Bei vielen prangte groß ‚Neu‘ dran. Ich klickte einige an, traute mich aber nicht, sie anzuschreiben oder ein Lächeln zu senden.

Während ich scrollte, erschien beim Nachrichtensymbol eine kleine rote 1. Ich hatte die erste Mail erhalten. Aufgeregt klickte ich darauf.

 

Nachricht von superdude

Siehst gut aus. Lust auf ficken? Wohne in der Nähe und könnte in einer halben Stunde da sein.

 

Woah, das war direkt. Ich löschte sie sofort. Nicht, dass ich nicht schon öfter schnellen anonymen Sex gehabt hätte, aber hier suchte ich jemanden für mehr. Mit 25 Jahren hatte ich noch nie eine echte Beziehung geführt. Wie es sich wohl anfühlte, neben dem Freund aufzuwachen? Mit ihm einzuschlafen?

Eine neue Mitteilung erschien im Posteingang.

 

Von greatman

Lust auf Sex? Sag mir wo und wann.

 

Waren hier nur Männer auf der Suche nach Sex unterwegs? Ich dachte, dafür gäbe es andere Dating-Apps. Ich klickte abermals auf den Mülleimer und beschloss, gar nicht erst auf solche Mails zu antworten.

Oh, schon wieder eine Mitteilung. Das ging flott. Andere hatten keine Hemmungen, Fremde anzuschreiben. Ich wüsste überhaupt nicht, was ich denen beim ersten Mal schreiben sollte.

 

Von RockMan

Hi Gayfarmer95. Glaubst du wirklich, dass auf dem Land mehr los ist als in der Stadt? Ich glaube nicht, dass es dort viele Gayclubs gibt. Aber ich lass mich überzeugen.

Würde mich freuen, wenn du von dir hören lässt.

 

«Yeah, endlich etwas Echtes», dachte ich und drückte auf den Antwortbutton. Was könnte ich schreiben? Er wollte überzeugt werden. Gut, wir hatten genug Feste auf dem Land, die etwas hermachten.

 

Von Gayfarmer95

Hallo RockMan. Zuerst einmal ist es auf dem Land nicht anonym. Jeder kennt jeden und man hilft sich. Dazu haben wir hier so viele Feste und Möglichkeiten zum Feiern, da kann kein Club mithalten. Von Karneval über Ernte- und Schützenfest, Weihnachtsball mit Theater und Schlachtfest. Jeder feiert seinen Geburtstag. Also langweilig wird’s hier nie.

 

Ich las die Antwort noch einmal durch, korrigierte einen Schreibfehler und sandte sie ab. Mit dem Laptop in der Hand legte ich mich aufs Bett und schaltete den Fernseher ein. Dann versuchte ich, mich auf die Serie zu konzentrieren.

Allerdings glitt mein Blick ständig auf den Bildschirm zurück. Ich hatte weitere Mitteilungen erhalten, aber keine von RockMan. Die anderen waren wieder eindeutige Angebote, die ich sofort löschte. Na ja, ich war Stunden angemeldet, da konnte ich keine Wunder erwarten.

Ein Blick auf den Wecker verriet mir, dass es fast zehn Uhr war. Um vier morgen früh musste ich wieder aufstehen und deswegen dringend schlafen.

Schweren Herzens schloss ich den Laptop und legte ihn auf dem Nachttisch ab, stellte den Timer am Fernseher ein, schlüpfte unter die Bettdecke und schlief ein.

 

Ich tanzte gerade zu den Klängen von Summer of 69 von Bryan Adams. In den Armen hielt ich meine Schwester. Zum Refrain drehte ich sie, als daraus ein schreckliches Gebimmel wurde. Ich schaute mich verwirrt um, konnte die Quelle allerdings nicht lokalisieren. Es schien von allen Seiten gleichzeitig zu kommen. Wie riesige Boxen, in deren Mitte ich stand.

Plötzlich war es still und ich alleine im Raum. Nur das nicht enden wollende Geklingel war zu hören. Woher kam es nur ...

Eine undurchdringbare Dunkelheit, noch finsterer als die Nacht, kam auf.

Langsam öffnete ich die Augen. Ich hatte die Quelle des Gebimmels geortet. Es war mein blöder Wecker, der mir mitteilen wollte, dass es vier Uhr war und ich aufstehen musste. Mit der Hand tastete ich auf dem Nachtisch herum, bis ich den Störenfried fand und ihn ausstellte.

Mit einem Seufzer drehte ich mich noch einmal um. Die Augen waren zu müde, um schon aufzugehen. Ich zog die Decke über den Kopf und wünschte mir, dass die Kühe endlich lernten, sich selbst zu füttern, ihre Liegeboxen sauber zu machen und überhaupt.

Aber es half nichts, also erhob ich mich. Ich knipste die Nachttischlampe an, setzte mich auf und rieb mir mit den Händen durchs Gesicht. Dann blieb ich einen Augenblick, mit dem Kopf auf den abgestützten Armen liegend, sitzen.

Mein Blick fiel auf den Laptop und ich ergriff ihn.

Vielleicht hatte jemand über Nacht geschrieben. Die Neugierde weckte mich endgültig auf. «Muss mir unbedingt die App aufs Handy laden», erinnerte ich mich beim Hochfahren des Laptops.

Es waren weitere Nachrichten eingetroffen. Die meisten löschte ich sofort, aber zwei klangen nach mehr als nur nach eindeutigen Einladungen.

Nachdem ich die beiden überflogen hatte, zog ich mich rasch an und kehrte zum Laptop zurück, um die Nachrichten nochmal in Ruhe zu lesen. Von RockMan hatte ich noch keine Antwort erhalten, aber wahrscheinlich schlief der zu dieser Zeit.

 

Von Cookie22:

Hey Gayfarmer95,

wie ich lese, hast du genauso tolle Arbeitszeiten wie ich und stopfst ebenfalls hungrige Mäuler, was manchmal gar nicht so einfach ist. Haben deine auch immer Zusatzwünsche wie das Grünzeug auf einen extra Teller oder das Wasser nur in einer bestimmten Temperatur?

Wie ist das Leben als Landwirt? Ehrlich gesagt, kann ich mir als Stadtkind nicht wirklich viel darunter vorstellen. Mir ist schon klar, dass ihr aufs Feld müsst, Kühe melken, füttern und so, aber im Grunde stelle ich mir das alles sehr gechillt vor. Nicht die hektische Betriebsamkeit wie in einer Restaurantküche zur Hauptzeit. Allerdings lasse ich mich gerne belehren. Wie gesagt, ich habe keine Ahnung.

Trägst du wirklich nur Spider-Man-Socken und Shorts? Wo bekommst du die her?

Bestimmt nur im Internet, oder? Und warum magst du diesen kleinen gesprächigen roten Mann? Ich bin da eher für Iron Man. Der kann wenigstens fliegen. Also nicht, dass Spider-Man das nicht auch könnte, aber er braucht dafür seine Spinnfäden und hangelt nur von Haus zu Haus. Allerdings kenne ich nur die Filme, von daher kann ich nicht wirklich mitreden.

So, mittlerweile ist es halb drei und ich sollte schlafen. Krass, habe jetzt anderthalb Stunden für diese Nachricht gebraucht, dabei ist die gar nicht lang. Freue mich, wenn du dich melden und mir das mit der Landwirtschaft erklären würdest.

Liebe Grüße Cookie22.

 

Beim zweiten Lesen dieser Nachricht stahl sich ein Lächeln auf meine Lippen. Stadtkinder hatten sowas von keine Ahnung von der Landwirtschaft. Alle hingen einer romantischen Vorstellung nach, von Heufahrten und dem Einspänner, der das Stroh transportiert.

Immerhin hatte ich die vage Hoffnung, dass er als Koch wusste, dass die Milch nicht aus dem Supermarkt, sondern von der Kuh stammte. Außerdem schien er sich zumindest ein wenig im Marvel Universum auszukennen.

Ich schloss die Nachricht und öffnete die von MisterWu, zwei Minuten hatte ich noch. Dienstbeginn war spätestens viertel vor fünf und mein Vater hasste es, wenn seine Angestellten zu spät kamen.

 

Von MisterWu:

Hi,

wie du meinem Profil entnommen hast - solltest du es dir angeschaut haben - komme ich aus Essen, was, wenn du die richtige Postleitzahl angegeben hast, nicht weit von dir weg ist.

Ich mag es auch zu tanzen, wozu man hier im Ruhrgebiet genug Möglichkeiten hat.

Vielleicht können wir ja mal zusammen losziehen.

Mit Lesen habe ich nicht viel am Hut, außer Zeitschriften auf der Toilette. Dort sind bei mir immer die aktuellsten GQ, Men’s Health und das Mannschaft Magazin. Man muss ja wissen, worauf man heutzutage achten sollte.

Spielst du nur Fußball oder schaust du es auch? Also ich schaue gerne Welt- oder Europameisterschaften. Und Olympiade ist ebenfalls gut. Selbst gehe ich dreimal die Woche ins Fitnessstudio. Ein wenig Cardio und ein paar Geräte, nur so viel, dass ich fit bleibe. Mehr will ich nicht.

Abendliche Grüße MisterWu.

 

Ich jubilierte innerlich. Zwei Mails, die vielversprechend klangen. Aber jetzt musste ich mich augenblicklich auf den Weg machen, sonst gäbe es Ärger. Also klappte ich den Laptop zu, knipste das Licht aus, schnappte mir mein Handy und machte mich auf den Weg zum Stall. Wie gut, dass ich es nicht allzu weit hatte. Aus der Haustür raus, über den Hof und schon war ich da.

Während des Laufens installierte ich die Dating-App auf dem Handy. Im Stall angekommen, tauschte ich schnell die Schuhe gegen Stiefel. Tatsächlich war ich fünf Minuten zu spät, aber mein Vater saß bereits auf dem Schlepper und mischte die Futterration im hinteren Teil des Hofes. Da sah er mich nicht. Ich begrüßte die anderen, die schon bei der Arbeit waren, und machte mich daran, die Kühe zu versorgen.

Die ganze Zeit zierte ein Lächeln mein Gesicht und ich überlegte, was ich den beiden antworten könnte. Auf jeden Fall musste ich mir die Profile noch einmal in Ruhe anschauen. Ich schaute mich um, ob jemand mich beobachtete, und griff nach dem Handy.

Dann klickte ich MisterWu’s Profil an. Warum er diesen Namen gewählt hatte, verstand ich nicht. Er sah überhaupt nicht asiatisch aus, aber er aß es gerne. Vielleicht deswegen. Ich scrollte weiter. Bankangestellter war er. Okay, geregelte Arbeitszeiten, Wochenende und Feiertage immer frei, im Gegensatz zu mir. Die Tiere hatten jeden Tag Hunger und wollten gemolken werden. Und das Wetter fragte auch nicht nach meinen Terminen. Wenn es gut war, musste man das nutzen.

«Was machst du da? Hast du nichts zu tun? Fertig mit Fieber messen in der Krankengruppe?», ertönte die Stimme meines Vaters hinter mir. Ich zuckte zusammen und steckte das Handy schnell in die Tasche.

«Sorry, natürlich nicht. Da wollte ich gerade hin. Sind nur ein paar wenige frisch Abgekalbte. Das geht ruckzuck.» Ich stapfte durch den Gang zur Gruppe, als mein Vater mich aufhielt. Wehe er kam mir jetzt wieder damit, dass diese eine besondere Aufmerksamkeit benötigten.

«Casper, du weißt, dass ich kein Problem habe, wenn du mal auf dein Handy schaust, aber ich möchte nicht, dass das zu oft vorkommt. Du musst ein Vorbild für die anderen sein. Sollten die das mitbekommen, werden sie das irgendwann nachmachen. Die Folgen kennst du: Kühe werden nicht gemolken, die Boxen nicht saubergemacht und die Tiere bekommen nichts zu fressen», erklärte er mir ruhig.

«Ich weiß Papa, das hast du mir oft genug gesagt. Kommt nicht mehr vor. Ich gehe jetzt.»

Meine Neugier musste warten, bis ich nach dem Frühstück Zeit dafür hatte.

 

Drei Stunden später gingen mein Vater und ich endlich zum Frühstück. Wir frühstückten mit allen Mitarbeitern, die zurzeit Dienst hatten, zusammen in der Kantine. Meine Mutter bereitete das Essen vor, so dass wir uns nur hinsetzen mussten.

Es herrschte eine entspannte Atmosphäre beim Frühstück und so sehr es mir in den Fingern kribbelte, ich konnte nicht auf das Handy schauen.

Während des Essens planten wir den weiteren Tag und danach hatte ich eine halbe Stunde Zeit. Solange mussten sich meine Finger gedulden.

Nachdem Frühstück zog ich mich sofort ins Stallbüro zurück. Schon auf dem Weg dorthin holte ich das Handy aus meiner Hosentasche und öffnete die App. Als erstes rief ich das Profil von Cookie22 auf. Noch im Gehen begann ich zu lesen und wäre fast gegen die Bürotür gelaufen. Ich schloss die Tür hinter mir und setzte mich auf den Stuhl.

Die angezeigte Postleitzahl gab ich im Internet ein und fand heraus, dass er aus Hamburg kam. Das war ziemlich weit weg vom Niederrhein. Warum hatte er mich angeschrieben? Eine Frage, die ich ihm stellen musste.

Er mochte Wintersport und Kochen war für ihn die beste Methode, um nachzudenken. Meine Güte, ich bekam nicht einmal Rühreier zustande. Gut, jeder Jeck war verschieden. Leider gab er nicht an, ob er auch gerne selbst Ski fuhr. Das konnte ich überhaupt nicht. Das höchste der Gefühle, das ich mit Wintersport verband, war einen oder mehrere Schlitten hinter den Schlepper zu spannen und sich ziehen zu lassen.

Ich klickte wieder die Nachrichten an, um den beiden zu antworten. Bei MisterWu begann ich.

 

Von Gayfarmer95

Hallo MisterWu,

ich spiele und schaue Fußball, vor allem, wenn es möglich ist, Samstagnachmittags mit Freunden die Bundesliga. Ansonsten treibe ich keinen weiteren Sport. Da fehlt mir die Zeit für.

Das mit dem Tanzen klingt gut. Vielleicht klappt es ja mal.

Was machst du als Bankangestellter genau? Berätst du Privatmenschen oder Firmen?

Liebe Grüße Gayfarmer95

 

Jetzt Cookie22 und dann musste ich weiterarbeiten. Später sollte ich auf dem Feld beim Gras mähen helfen.

 

Von Gayfarmer95

Hallo Cookie22,

ich hoffe, du hast ausgeschlafen und bist nicht mehr zu müde.

Also Landwirtschaft ist nicht nur chillen, hin und wieder ein wenig Trecker fahren und Kühe melken. Oftmals müssen mehr Aufgaben erledigt werden, als der Tag Stunden hat. Auf einem 300 Milchkuhbetrieb mit zusätzlich knapp 160 Aufzuchtrindern wird es nie langweilig. Aber das erkläre ich dir heute Abend.

Habe jetzt leider nicht die Zeit.

Um auf die zu fütternden Mäuler zu kommen, meine haben im Gegensatz zu deinen vier Beine, sind Rindviecher und keine Menschen.

Und ja, ich trage wirklich nur Spider-Man-Socken und Boxershorts. Ich würde dir gerne ganz viele Fragen stellen, aber, meine Rindviecher warten ;-).

Liebe Grüße Gayfarmer95

 

Ich hatte gerade die Antwort verschickt, als mein Vater den Kopf durch die Tür steckte. «Bist du soweit? Dann können wir nach den Kälbern schauen», forderte er mich auf.

Obwohl ich auf diesem Hof aufgewachsen war und seit einem halben Jahr voll mitarbeitete, traute mein Vater mir immer noch nicht zu, die Kälber zu sortieren. Wobei ich den Verdacht hatte, dass er sie sich ungern aus der Hand nehmen lassen wollte. Sie waren seine Babys und er hatte sie noch nie einem anderen außer meiner Mutter anvertraut.

Unsere beiden Damen, die für die Kälber zuständig waren, durften sie nur füttern und meinem Vater Bescheid geben, wenn eines krank war.

Ich schüttelte lächelnd den Kopf und lief hinter ihm her. In der Hand hielt ich noch das Handy und schaute unterwegs immer wieder verstohlen darauf. Natürlich hatte bisher keiner geantwortet. Bevor wir bei den Kälbern ankamen, steckte ich es schnell in die Tasche.

Den gesamten Vormittag holte ich ständig das Handy hervor, um zu kontrollieren, ob wirklich keine Nachrichten eingegangen waren. Ich saß mittlerweile auf dem Schlepper und wendete Gras, als es in der Tasche vibrierte. Mein Herz vollführte einen aufgeregten Hüpfer. Ich fummelte das Telefon aus der Hosentasche, gespannt, wer geantwortet hatte, und öffnete die eingegangene Nachricht.

Von Cookie22

Hey Gayfarmer95,

ich habe mich gefreut, beim Aufwachen deine Nachricht gelesen zu haben, und bin schon ganz gespannt, was du mir über die Landwirtschaft schreiben wirst.

Ich bin mir übrigens überhaupt nicht sicher, ob da tat-sächlich immer Menschen beköstigt werden. Es gibt genügend Rindviecher auf zwei Beinen. Glaube mir, drei Jahre Lehre und ein Jahr Berufserfahrung zeigen mir das.

Ich werde die Zeit bis heute Abend mit Schlafen überbrücken, damit es nicht mehr so lang ist. Habe frei, dann kann ich all deine Fragen beantworten.

Also, gespannt wie ein Flitzebogen warte ich auf Antwort.

Liebe Grüße Cookie22

 

Ich konnte nicht anders und grinste. Schon beim Lesen schlich sich das Lächeln auf meine Lippen. Er wollte mit mir schreiben. Ich atmete tief ein und guckte auf.

Oh Shit, anstatt geradeauszufahren, fuhr ich Schlangenlinien und die Hälfte hatte ich nicht erwischt. Jetzt musste ich da noch einmal langfahren. Egal, Cookie22 hatte mir geantwortet.

«Vielleicht verkürze ich seine Zeit bis heute Abend und schreib ihm schnell zurück», überlegte ich und trat auf die Bremse.

 

Von Gayfarmer95:

Hallo Cookie22,

anscheinend hast du nicht ausgeschlafen, wenn du dich jetzt noch einmal hinlegst, um zu schlafen.

Du wolltest wissen, warum ich Spider-Man mag.

‚Aus großer Kraft folgt große Verantwortung‘.

Ich mag ihn, weil er wie der Junge aus der Nachbarschaft ist. Außerdem ist er im wahren Leben genauso schüchtern wie ich. Nur kann er sich im Gegensatz zu mir in einen Superhelden verwandeln.

Schon mal jetzt eine Frage, die mich heute Morgen als Erstes beschäftigt hat. Warum schreibst du mir, obwohl du bestimmt gesehen hast, dass ich nicht aus der Nähe bin?

Liebe Grüße Gayfarmer95

 

Nachdem ich das Handy weggesteckt hatte, fuhr ich wieder an. Was war ich froh, dass mein Vater auf einem anderen Feld mähte, von dem er mich nicht sehen konnte.

Die gesamte Zeit auf dem Schlepper hoffte ich, dass mein Handy wieder vibrieren würde, aber es blieb ganze drei Stunden ruhig.

Weder RockMan noch MisterWu hatten bis jetzt geantwortet. Aber vielleicht lag es daran, dass sie arbeiten mussten, redete ich mir ein.

Für heute war ich fast fertig mit meiner Arbeit und hatte mir in Gedanken bereits zig Möglichkeiten überlegt, die ich Cookie22 schreiben könnte.

Während ich dabei war, zum hundertsten Male gedanklich alles umzuschreiben, vibrierte es wieder in der Hosentasche. Gerade jetzt musste ich auf der Straße unterwegs sein und das noch verdammte zwanzig Minuten lang. Es kribbelte mir in den Händen, weil ich unbedingt nachschauen wollte, wer geschrieben hatte.

Kaum war ich auf dem Hof und hatte den Schlepper ausgestellt, holte ich das Handy hervor. Es war eine Nachricht von Sascha, meinem besten Freund. Enttäuscht öffnete ich sie. Er teilte mir nur mit, dass er mich morgen wie gehabt zum Training abholen würde.

«Was hängst du heute nur den ganzen Tag am Handy?», rief mein Vater zu mir hoch, während er die Tür zum Schlepper öffnete.

«Tu ich gar nicht. Sascha hatte mir nur gerade geschrieben», verteidigte ich mich und verdrehte die Augen. «Und ich weiß, Papa, ich muss ein Vorbild für die anderen Arbeiter sein.»

Ich steckte das Handy zurück in die Tasche und stieg vom Schlepper. Dann verschwand ich im Stall, wo alles ruhig war. Die Abendmannschaft war am Melken und es nahm seinen normalen Gang. Ich stempelte mich aus und schlenderte ins Wohnhaus zum Abendessen.

Das Handy hatte nicht mehr vibriert, aber vielleicht schlief Cookie22 noch oder wartete auf meine Fragen.

 

Frisch geduscht und in bequemer Kleidung legte ich mich mit dem Laptop auf den Beinen auf mein Bett und schaltete den Fernseher ein. Während ich duschte, hatte Cookie22 wieder geschrieben. Mit klopfendem Herzen öffnete ich die Nachricht.

 

Von Cookie22:

Also ich mag den Spruch von Mary Jane viel lieber:

‚Gib es zu, Tiger, du hast gerade den Jackpot geknackt.‘

Kannst du mir ein Foto von deiner Socken-und-Unterhosen-Schublade schicken? Ich glaube immer noch nicht, dass dort nur Spider-Man zu finden ist.

Übrigens ist für mich jeder ein Superheld, der mit Tieren, die größer als ein Labrador sind, umgehen kann. Also, ich behaupte jetzt mal, dass du dich jeden Tag in einen verwandelst.

Nun zu deiner Frage. Ich habe keine Eingrenzung der Postleitzahl eingegeben und Seite für Seite durchgescrollt. Du warst bei den Neulingen und, hey, wir haben ganze 56 von 100 Matchingpoints. Wenn das nicht ein Zeichen ist, weiß ich es auch nicht. So wenig hatte ich noch nie, also schaute ich mir dein Profil an und mir gefiel, was ich sah. Habe erst später gesehen, dass du weiter weg wohnst. Aber zum Schreiben muss man ja nicht nebeneinander leben, oder?

Jetzt bin ich ausgeschlafen und bereit, all deine Fragen zu beantworten. Schieß los.

 

Wow, er hielt mich für einen Superhelden? Nur weil ich mit Kühen arbeitete? Ich wuchs zwei Zentimeter in die Höhe. Schnell klickte ich auf Antworten, als bereits die nächste Nachricht eintraf.

 

Von Cookie22:

Ach, und vergiss nicht, mir das mit der Landwirtschaft zu erklären. Also ich meine, warum man da nicht gechillt ist.

Ich heiße übrigens mit richtigem Namen Bjarne.

 

Ich lachte auf beim Nachtrag. Das mit der Landwirtschaft würde ich als Erstes schreiben. Dann sprach ich seinen Namen leise aus. Bjarne. Das klang toll.

 

Von Gayfarmer95:

Hallo Bjarne,

mir gefällt der Name. Ich heiße Casper, und ja, ich bin nach dem Geist aus dem Film benannt. Der kam in meinem Geburtsjahr in die Kinos und meine Mutter fand ihn so toll, dass sie ihrem Erstgeborenen den Namen verpasste.

Also, Landwirtschaft. Mit Romantik hat das so viel zu tun, wie Fische auf dem Land überleben können. Von Frühling bis Herbst ist jede Menge auf dem Feld und im Stall zu tun. Am liebsten möchte man den Tag um vierundzwanzig Stunden verlängern. Wenn das Wetter gut ist, kann es vorkommen, dass man die Nächte durcharbeitet, um die Saat in die Erde oder die Ernte eingefahren zu bekommen. Oft hat man zwischen dem Regen ein Zeitfenster von maximal zwei oder drei Tagen. Auch wenn ich hauptsächlich für die Gesundheit der Tiere zuständig bin, helfe ich auf dem Acker mit.

Wenn wir Gras oder Mais häckseln, fangen wir oft um sieben Uhr morgens an und hören um dreiundzwanzig Uhr auf. Es ist schwierig zu erklären, man muss es erleben. Praktisch wäre es, sich das Wetter so zurechtzulegen, wie man es bräuchte.

Bei der Arbeit mit den Kühen hat man ebenfalls nicht viel Zeit. Man muss zwar ruhig, besonnen und vor allem mit Respekt mit ihnen umgehen, aber trotzdem zügig, ohne dabei in Hektik zu verfallen.

Ich gebe zu, im Winter ist es zumindest auf dem Acker ruhiger, aber dann werden unsere Maschinen gewartet und gereinigt. Zu tun ist immer irgendetwas.

Nun zu meinen Fragen. Warum bist du Koch geworden und ist das der Grund, weshalb du dich hier angemeldet hast? Keine Zeit, um vor Ort jemanden zu treffen?

Welche Wintersportarten magst du? Und schaust du nur solchen Sport oder interessiert dich auch anderes? Zum Beispiel Fußball?

Wie kannst du beim Kochen nachdenken? Ich kriege nicht mal Rühreier hin. Und worüber denkst du dabei nach?

Was machst du in Hamburg, wenn du nicht arbeitest oder schläfst?

Bin ich zu neugierig?

Das war gerade der längste Brief meines Lebens.

 

Ich bekam in keiner Weise mit, was im Fernsehen lief, so fokussiert war ich auf den Laptop. Nachdem ich die Antwort versendet hatte, wartete ich gespannt auf Bjarnes Reaktion.

Erneut sprach ich den Namen laut aus und lächelte. Meine Augen hafteten dabei unentwegt auf dem Posteingang. Wie bekloppt war ich eigentlich? Ich kannte den Typen überhaupt nicht und konnte es nicht erwarten, eine Mail von ihm zu erhalten.

RockMan und MisterWu hatten immer noch nicht geantwortet. Aber das war unwichtig geworden. Ich wartete auf eine Nachricht von Bjarne und zwang mich nicht die ganze Zeit auf den Posteingang zu starren, sondern schaute zum Fernseher.

Da, es ploppte! Mein Herz hüpfte vor Freude und im Bauch kribbelte es. Schnell klickte ich auf die rote eins. Aber sie war nicht von Bjarne, nur ein erneutes Sexangebot. Enttäuscht löschte ich sie.

Wieder guckte ich zum Fernseher, nicht begreifend, was ich sah. Irgendeine Krankenhausserie, die ich noch nie gesehen hatte. Also zappte ich durch die Kanäle, fand allerdings nichts, was mich fesselte. Mein Blick glitt immer wieder auf dem Posteingang.

Endlich! Erneut ploppte es auf.

 

Von Cookie22:

Casper ist doch ein schöner Name. Du hast denselben Vorteil wie ich, den hat nicht jeder.

Ich fühle mich gerade geehrt, dass ich den bisher längsten Brief erhalten habe. Stellt sich mir die Frage, wie viele hast du bereits in deinem Leben geschrieben?

Vielleicht sollte ich mir das mit der Landwirtschaft anschauen. Auf jeden Fall klingt das nach viel Arbeit. In die Nähe einer Kuh werde ich aber bestimmt nicht gehen. Ich verarbeite und esse lieber ihr Fleisch, als dass ich ihr im lebenden Zustand zu nahekomme.

Du bist überhaupt nicht zu neugierig. Dafür schreiben wir doch, um uns besser kennenzulernen. Da gehört es dazu, Fragen zu stellen.

Beim Kochen denke ich über alles nach, das mich bewegt. Zum Beispiel, wie ich meine Eltern davon überzeugen kann, dass schwul sein etwas völlig Normales ist und keine Phase oder Widerliches. Werde ich mir je eine eigene Wohnung in Hamburg leisten können? Wann lerne ich endlich einen netten Mann kennen? So was halt.

Wenn ich nicht schlafe, arbeite oder eine Serie auf Netflix durchsuchte, bin ich mit Freunden in Hamburg unterwegs. Ich wohne in der Nähe einiger Bars und Clubs.

Mit Fußball kann ich nichts anfangen. Wenn WM oder EM ist, gucke ich es und weil Public Viewing cool ist. Mit Wintersport bin ich aufgewachsen und dort hängen geblieben. Vor allem Biathlon, Skispringen und die nordischen Kombinierer schaue ich oft. Hin und wieder sehe ich andere Sportarten, wenn gerade nichts im Fernsehen kommt.

Ich höre sehr gerne laut Musik. In der Regel Oldies. Rock der 70er und 80er, so wie jetzt auch. Mein Mitbewohner ist auf irgendeiner Studentenparty, dann funktioniert das. Meistens ertönt Techno-Scheiß in der Wohnung, weil er die Musik mag. Und ich kann nichts dagegen sagen, da dummerweise seinem Vater die Bude gehört.

Was hörst du so? Wie ist das überhaupt auf dem Land mit dem Feiern?

Denkst du noch an das Foto ;-)?

 

Oh, ja, das Bild hatte ich ganz vergessen. Bei dem Gedanken, dass ich gleich die Socken- und Unterhosenschublade fotografieren würde, grinste ich. Ich griff nach dem Handy, schoss die Fotos und setzte mich wieder aufs Bett. Dann lud ich sie auf den Laptop und begann meine Antwort zu tippen.

 

Von Gayfarmer95:

Die Fotos sind angehängt. Viel Spaß beim Spannen.

Du brauchst vor Kühen keine Angst zu haben. Die haben sie mehr vor dir als du vor ihnen.

Habe ich das richtig gelesen, dass deine Eltern dich widerlich finden, weil du schwul bist? Du bist also out? Bei mir weiß keiner Bescheid, bis auf ein paar wenige, die ich in Osnabrück im GayPub kennengelernt habe. Na ja, besser gesagt, mit denen ich geschlafen habe. Wäre das ein Problem für dich? Ich bin noch nicht so weit. Im Dorf ist das nicht so leicht wie in einer Stadt.

Lernt man in Hamburg keine netten Männer kennen? Ich hätte gedacht, gerade dort ist es einfacher als auf dem Land.

Meine Eltern schauen auch Skispringen und Biathlon. Hin und wieder gucke ich mit ihnen, aber ich kenne mich da nicht so aus. Allerdings bin ich bereit, dir den Fußball näher zu bringen, wenn du mich in die Geheimnisse des Wintersports einweihst.

Während des Studiums habe ich auch in einer WG gelebt. Wir waren zu dritt. War schon ’ne geile Zeit. Haben sehr viel gefeiert.

Apropos Feiern. Was meinst du wohl, wo man das so richtig gut kann? Natürlich auf dem Land mit all den Dorffeiern! Bei uns steht bald wieder das Erntefest an. Da wird eine halbe Woche hauptberuflich gefeiert und zwischendurch gearbeitet. Vielleicht kann ich dir das ja mal zeigen.

Ich gestehe, ich höre gerne Schlager, aber nur, weil man auf die gut tanzen kann. Wobei es auch genügend Rocklieder gibt, die sich dazu eignen.

Kannst du tanzen?

Und lach bloß nicht über meine Socken und Boxershorts.

 

Ich gähnte herzhaft, als ich die Mail fertig getippt hatte. Laut der Uhr war es schon wieder fast neun Uhr. Die Zeit verflog in einem Wahnsinnstempo. Während ich wartete, lehnte ich mich zurück und bemerkte, dass im Fernsehen eine Quizshow lief.

Bei einem Jubelschrei schreckte ich auf. Mir waren die Augen zugefallen, aber Gott sei Dank nur zehn Minuten. Schnell checkte ich den Posteingang und lächelte über die kleine rote Eins.

 

Von Cookie22:

Meine Eltern reden nicht mehr mit mir. Bis zum Ende der Ausbildung durfte ich noch bei ihnen wohnen, dann musste ich ausziehen. Ich hatte mein Coming-out mit 18 und nie gedacht, dass das ein Problem für sie sein würde. Sie waren immer so liberal.

Ich teile ihnen alles Wichtige mit, heißt die aktuelle Wohnadresse und meine Telefonnummer. Sollten sie den Kontakt zu mir suchen, bin ich bereit.

Für mich ist es kein Problem, dass du ungeoutet bist. Du wirst es machen, wenn du so weit bist.

Ich kann überhaupt nicht tanzen. Also alleine im Club schon, allerdings nicht Walzer oder sowas. Habe ich nie gelernt. Meine Eltern haben mich als Jugendlichen gefragt, ob ich das lernen will und ich hatte es verneint.

Schlager finde ich gar nicht sooo schlimm. Da gibt es fürchterlichere Möglichkeiten wie Volksmusik.

Ach, und wegen des Sports kann ich nur sagen, Deal.

Ich habe eben den Film Casper gegoogelt. Ich kannte den nicht, werde ich allerdings nachholen. Aber der kleine Geist ist schon süß.

Grins, deine Sockenschublade ist sehr rot und blau. Bei den Boxershorts ist wenigstens noch weiß und schwarz dabei. Aber ich hätte nie gedacht, dass es so etwas gibt.

 

Während ich auf Antworten klickte, schmunzelte ich in Erinnerung an die letzten Sätze.

 

Von Gayfarmer95:

Den Film Casper habe ich ebenfalls noch nie gesehen. Als ich klein war, war ich zu jung und später wollte ich das nicht mehr.

Du musst unbedingt tanzen lernen. Wenn man es richtig gut kann und die passende Partnerin hat, macht das so viel Spaß.

Es hilft dir zwar nicht, trotzdem tut mir das mit deinen Eltern leid und ich hoffe, es regelt sich wieder. Ehrlich gesagt, kann ich absolut nicht abschätzen, wie meine reagieren würden. Bei meiner Schwester wäre ich mir zu 99% sicher, dass sie kein Problem damit hätte. In ihrem jetzigen Freundeskreis gibt es ein schwules Paar. Vielleicht sollte ich mit ihr anfangen. Irgendwann.

Hey, jeder hat einen Spleen, meiner ist Spider-Man. Mehr brauchen wir jetzt nicht mehr darüber schreiben, okay? Welcher ist deiner?

 

Mitten in der Nacht wachte ich plötzlich auf. Der Laptop war auf den Boden gekracht. Beim Warten auf die nächste Nachricht von Bjarne war ich endgültig eingeschlafen. Schlaftrunken schaute ich auf den Wecker. Es war fast zwei Uhr. Der Fernseher war inzwischen ausgegangen, meine Nachttischlampe brannte noch.

Ich beugte mich vor und hob den Laptop vom Boden auf, um ihn auf den Nachtisch zu legen. Hoffentlich war er nicht kaputtgegangen. Aber das würde ich morgen überprüfen, jetzt war ich zu müde. Außerdem hätte ich das Ladekabel holen müssen, da der Akku aufgegeben hatte. Ich zog noch die Jogginghose und das T-Shirt aus, hob die Bettdecke an und kroch darunter, um die restlichen zwei Stunden zu schlafen.

Als der Wecker um vier klingelte, fühlte ich mich wie erschlagen und hätte das Gerät am liebsten an die Wand geknallt. Dann fiel mir Bjarne wieder ein und ich griff nach dem Handy, um zu gucken, ob er mir geantwortet hatte. Es waren über Nacht drei weitere Nachrichten eingegangen, allerdings immer noch keine von RockMan und MisterWu. Ich klickte herzklopfend und mit einem Grinsen auf die Erste von Bjarne, er hatte mir zwei geschrieben.

 

Von Cookie22:

Das mit meinen Eltern muss dir am wenigsten leidtun. Ich habe mich in meinem Leben eingerichtet und das Wichtigste ist doch, es ist meines. Ich lebe es, wie ich möchte. Sie kriegen nur leider nichts davon mit und irgendwann wird es ihnen leidtun. Hoffentlich.

Ich weiß nicht, wie das auf dem Land mit dem Coming-out ist, aber ich denke, wahrscheinlich eine Spur größer als hier. Mir ging es auf jeden Fall besser. Ich fühlte mich um Tonnen erleichtert, als ich mich nicht mehr verstecken musste, trotz der Reaktion meiner Eltern. Aber es ist einzig und allein deine Sache, wem du wann, was erzählen möchtest. Allerdings klingt das mit deiner Schwester doch gut.

Du hast den Film noch nie gesehen, obwohl du nach ihm benannt wurdest? Das kann ich nicht glauben.

Selbstverständlich habe ich keinen Spleen, ich bin perfekt. Außer, dass ich immer alles gerade ausrichte. Egal, wo ich bin. Wenn ich in einem Geschäft sehe, dass Prospekte nicht richtig angeordnet sind, lege ich sie ordentlich hin. Im Buchladen rücke ich die Bücher zurecht oder sortiere sie ihrem Stapel zu, sogar im Supermarkt ordne ich alles und richte es aus.

Hast du noch mehr Geschwister als die eine Schwester? Ich hätte gerne welche gehabt. Leider bin ich ein Einzelkind und konnte meine Eltern nicht von mehr Kindern überzeugen. Sogar Adoption hatte ich vorgeschlagen. Ich war sieben, möchte ich zur Verteidigung hinzufügen. Aber weder auf einen älteren Bruder noch auf eine jüngere Schwester ließen sich die beiden ein.

 

Während der gesamten Mail hörte ich nicht auf zu schmunzeln und meine Müdigkeit verflog. Wahrscheinlich kehrte sie später mit geballter Wucht zurück.

Nach einem Blick auf die Uhr beschloss ich, dass noch Zeit für die zweite Mail war. Ich war zu ungeduldig und kam mir wie ein Süchtiger vor, der unbedingt weiterlesen musste.

 

Von Cookie22:

Ich nehme an, dein schreiberisches Schweigen ist darauf zurückzuführen, dass du eingeschlafen bist. Was ich sehr gut verstehen kann. Wenn ich jeden Morgen um vier aufstehen müsste, würde ich auch um elf Uhr abends schlafen.

Ich wünsche dir eine gute Nacht und freue mich darauf, morgen wieder von dir zu hören.

Liebe Grüße Bjarne

 

Wie konnte ein Fremder mich so berühren. Am liebsten würde ich unseren kompletten Mailverlauf von vorne lesen und jede Kleinigkeit, die ich schon wieder vergessen hatte, auswendig lernen. Ich lächelte und konnte nicht mehr damit aufhören. Erneut flüsterte ich seinen Namen. Dieser Klang, es ging mir leichtfüßig über die Lippen.

Obwohl ich eigentlich aufstehen müsste, antwortete ich ihm.

 

Von Gayfarmer95:

Guten Morgen Bjarne,

du hast richtig angenommen, ich bin eingeschlafen. Aber das lag bestimmt nicht an dir, beziehungsweise den Mails. Ich will so viel wie möglich von dir hören.

Möchtest du vorbeikommen und deinen Spleen in meinem Zimmer ausleben? Dann finde ich vielleicht mal was wieder und alles hat seinen Platz.

Ich habe leider nicht viel Zeit, wollte mich aber wenigstens kurz melden.

Es ist übrigens nur die eine Schwester und die ist jünger. Ältere Geschwister hatte ich mir nie gewünscht und die eine Schwester reicht mir vollkommen aus.

Bis später. Heute Abend bin ich erst beim Fußball Training, wenn du also nicht sofort von mir hörst, nicht böse sein.

Schlaf noch schön.

Liebe Grüße, Casper

 

Ich legte das Handy an die Seite, schlüpfte in meine Klamotten und begab mich auf den Weg zum Stall. Unterwegs überflog ich die dritte Nachricht, löschte sie allerdings sofort, da es nur wieder eine Sexnachricht war.

 

Nach dem Fußballtraining alberten die Jungs in der Kabine herum. Wir waren bereits geduscht und zogen uns an. Die ganze Zeit drehte sich das Gespräch um ein Mädchen aus dem Dorf, das sich vor kurzem getrennt hatte. Jedes Mal bei solchen Themen dauerte es nicht lange und ich wurde Thema Nummer eins. Warum, wieso und weshalb ich noch keine Freundin hätte. Wenn die alle nur wüssten.

«Na, vielleicht kann Casperle sie trösten. Dann kriegt er auch mal eine ab», warf Jannik prompt ein. Ich hätte es nicht denken dürfen.

«Oh, das ist eine gute Idee. Ich habe ihre Nummer. Warte Casperle, ich schick sie dir. Und nicht zu schüchtern. Sonst wirst du nie eine Frau abbekommen», stieg ein anderer ein.

Ich verdrehte die Augen, drehte mich zu meinen Sachen um und griff zum Sweatshirt.

«Hast du überhaupt schon mal gefickt?», hakte Henrik nach. Am liebsten würde ich ihnen die Wahrheit sagen. Wenn die hörten, dass ich mit Männern schlief, wären sie endlich stumm. Aber ich traute mich nicht. Wer wusste schon, wie sie reagieren würden. Ich war noch nicht soweit, eventuell meine Freunde zu verlieren.

«Aber geküsst hast du bereits, oder? Verrate uns wenigstens mit wem», klang es aus der gegenüberliegenden Ecke.

Mittlerweile hatte ich Schuhe an, kramte die Trainingssachen zusammen und packte sie in meine Tasche. Mit dem Handy in der Hand drehte ich mich zu den anderen um.

«Ob ihr es glaubt oder nicht, ich habe sowohl geküsst als auch Sex gehabt. Außerdem habe ich jemanden kennengelernt», konterte ich laut und deutlich.

«Online, oder wie?», erkundigte sich Sascha belustigt.

«Wenn du es genau wissen willst, ja.»

Sascha und Leon, die rechts und links neben mir standen, versuchten, mir das Handy zu entreißen. Ich wehrte mich, so gut es ging.

«Zeig mal her. Wie sieht sie aus?», forderte Sascha. Während Leon meinen Arm mit dem Telefon zu fassen bekam, schnappte Sascha es mir aus der Hand. Und so etwas nannte sich bester Freund. Leon hielt mich weiter fest.

Sascha gab meinen Entriegelungscode ein, und tippte auf dem Display herum.

Mein Puls beschleunigte sich und mir wurde heiß und kalt zugleich. Wie würde Sascha reagieren, wenn er die App fand und öffnete? Würde er es den anderen verraten? Verzweifelt versuchte ich mich aus Leons Griff zu befreien.

«Er ist bei ‚Liebe fürs Leben‘ angemeldet», informierte er die anderen. «So, mal schauen, mit wem du schreibst.»

Ich hielt die Luft an und schloss kurz die Augen.

Wenn die App sich öffnete, kamen normalerweise zuerst die Vorschläge. Dieses Mal musste es sich genauso verhalten, Saschas Augen wurden größer. Auch wenn er gerade einen Vertrauensmissbrauch begangen hatte, hielt ich ihm zugute, dass er noch nichts weiter gesagt hatte.

Jetzt schaute er mich direkt an. Die anderen beobachteten ihn. Mir schnürte es endgültig die Kehle zu und ich gab jede Gegenwehr gegen Leon auf. Meine Hände begannen zu zittern und ich sah meinen Untergang mit fliegenden Fahnen herbeieilen. Das Herz klopfte mir bis zum Hals und ich hatte das Gefühl, jeder hörte den Krach in meiner Brust. Mit dem Schlimmsten rechnend, überlegte ich mir fieberhaft, was ich sagen sollte.

«Was ist nun? Ist sie so gutaussehend, dass du deine Sprache verloren hast?», meldete Jannik sich zu Wort.

«Ja, ja, sie ist wirklich sehr schön. Sollte daraus etwas werden, werdet ihr euch wundern, wen Casper kennengelernt hat», antwortete Sascha. Er schloss die App und reichte mir das Handy zurück. Ich nahm es wortlos an mich, steckte es in die Hosentasche, schnappte mir meine Tasche und verließ die Umkleide, ohne den anderen einen Blick zu widmen.

Draußen vor der Tür atmete ich mehrfach tief durch und steckte die zitternden Hände in die Hosentaschen. Langsam beruhigte sich mein Puls und ich konnte wieder frei atmen. Trotzdem hatte ich das Gefühl, gleich zusammenzubrechen.

Wie viel Schonfrist hatte ich wohl? Ich war es gewohnt, dass die anderen mich aufzogen, weil ich bisher nie von einem Mädchen erzählt hatte, geschweige denn mit einem aufgetaucht war. Aber dieses Mal war es nicht wie sonst. Fast hätten sie mein Geheimnis herausgefunden. Nun ja, Sascha hatte es.

Ich stapfte los, die Hände noch in den Hosentaschen vergraben, den Blick auf den Boden gerichtet. Gerade als ich die Autos auf dem Parkplatz hinter mir gelassen hatte, hörte ich Sascha rufen.

«Hey Casper, warte mal. Lauf nicht weg.» Seine Schritte kamen schnell näher, bis er mich eingeholt hatte. Ich ging einfach weiter.

«Willst du den ganzen Weg nach Hause laufen? Komm schon. Das war ein Spaß. Ich wollte dich nicht verletzen.» Sascha griff nach meinem Arm und zwang mich, stehenzubleiben.

«Ich fahr dich, wie immer.» Mich mit sich ziehend, ging er schnurstracks auf sein Auto zu und ließ mich an der Beifahrertür los, dann lief er um den Wagen herum und schloss es auf. Ich stieg wortlos ein.

Die Autofahrt verbrachten wir schweigend.

Zu Hause angekommen, blieb ich stumm sitzen. Sollte ich etwas zu meiner Verteidigung sagen? Ich schaute auf meine Hände, die zusammengefaltet im Schoß lagen. Hatte ich meinen besten Freund verloren? Er hatte seine Hände auf dem Lenkrad und starrte geradeaus.

«Ich werde es keinem sagen. Großes Indianerehrenwort», unterbrach Sascha die Stille nach einer Weile. «Es tut mir leid, was eben passiert ist. Wirklich. Das war nicht fair und einfach nur dumm.» Ich nickte. Dann war wieder kurz Ruhe.

Sollte ich etwas sagen? Oder doch lieber aussteigen?

«Wenn ..., wenn du nichts mehr mit mir zu tun ....»

«Was? Spinnst du? Natürlich will ich das!», fiel er mir ins Wort.

«Okay», erwiderte ich, immer noch auf die Hände starrend. Es würde sich zeigen, ob er es ernst meinte.

Wieder schweigen.

«Du bist mein bester Freund und bleibst es auch», setzte er nach. «Seit wann ..., seit wann weißt du, dass du ..., dass du schwul bist?», fragte er vorsichtig, fast stotternd. Ich merkte ihm an, dass ihm das Gespräch genauso unangenehm war, wie mir.

«Seit ich 14 oder 15 war. Es fing an, als wir die Geburtstagspartys gefeiert haben. Ich habe jedes Mal gehofft, dass ich keine Mutprobe ablegen musste. Ganz sicher war ich mir, als ihr alle mit Britney Spears knutschen wolltet und ich lieber mit Justin Timberlake», flüsterte ich fast, den Blick weiterhin gesenkt.

«Echt jetzt? Justin Timberlake? Ich hätte dir mehr Geschmack zugetraut», versuchte Sascha einen Witz zu reißen. Wobei ich mir nicht sicher war, ob er es nicht sogar ernst meinte. Seine Finger klopften nun einen unruhigen Rhythmus auf das Lenkrad.

«Warum hast du nichts gesagt? Wenigstens zu mir?», fragte er leise.

«Wann denn? Weißt du noch, wie wir mit 14 waren? Oder wie Tim fertiggemacht wurde, nur weil alle dachten, dass er schwul sei? Und dann überleg mal, wie sie immer noch herum tönen!», erwiderte ich lauter werdend, aber nicht wütend.

«Der Schiri ist ein Arschficker, ’nen Scheiß pfeift der heute. Schau dir mal den schwulen Gang des Verteidigers an. Ey, die Tunte hat sich aber aufgebrezelt. So, wie der tanzt, ist er bestimmt ein Hinterlader. Soll ich weitermachen?», zählte ich auf.

«Schon gut, habs verstanden. Hast ja Recht», wiegelte er ab. Dann drehte er sich zu mir. Nicht nur den Kopf, den ganzen Körper. «Hattest du denn jetzt dein erstes Mal wirklich im Urlaub mit siebzehn? Und mit einem Mädchen?», fragte er neugierig nach.

Ich lächelte, als ich daran dachte. Der erste richtige Urlaub mit meinen Eltern. Wir waren für eine Woche nach Mallorca geflogen. Dort hatte ich am Strand einen anderen Jungen kennengelernt und wir verstanden uns sofort. Sowohl seine als auch meine Eltern ließen uns viel alleine unternehmen.

Am letzten Abend hatten wir getrunken, sodass wir mutiger wurden und küssten uns. Aus dem anfänglichen Kuss entstand eine Knutscherei und plötzlich lagen wir nackt in seinem Bett und probierten uns aus. Am Ende der Nacht schliefen wir miteinander. Dann flogen wir nach Hause.

Einen Tag später traf ich mich mit Sascha und erzählte ihm davon.

«Ja, das stimmt. Aber Larissa war Fabian. Ich habe nie etwas mit Mädchen gehabt.» Ich lehnte meinen Kopf an und drehte ihn so, dass ich Sascha anschauen konnte.

«Zeigst du mir den Typen, mit dem du schreibst? Immerhin muss ich doch kontrollieren, ob er was für dich ist», grinste er mich an.

Ich schüttelte lachend den Kopf. Dann holte ich das Handy aus meiner Hosentasche, öffnete die App und klickte Bjarnes Profil an. Sascha streckte die Hand aus und ich reichte es ihm. Er scrollte und las sich in Ruhe alles durch. Auch bei den Fotos ließ er sich Zeit, schaute sie sich genau an.

«Cookie22 sieht nicht schlecht aus. Und er kann kochen, das ist gut, dann verhungerst du nicht. Das Blöde ist, er kommt aus dem Norden», zog er sein Resümee.

«Genauer gesagt aus Hamburg und wir schreiben seit gestern. Ich habe mich erst am Sonntag dort angemeldet.»

«Wie heißt er richtig?»

«Bjarne.»

Es war ein aufregendes Gefühl, mit Sascha über ihn zu reden. Überhaupt über das Thema zu sprechen. Es war so unglaublich befreiend. Mir purzelten gerade kiloweise die Steine vom Herzen und ich hätte vor Freude weinen können.

«Hast du, also ich meine, wie sieht das hier aus mit Jungs? Ist bestimmt nicht einfach, oder?», erkundigte er sich.

«Was glaubst du wohl, warum ich mich dort angemeldet habe? Es ist jetzt nicht so, als ob ich nie jemanden treffe, den ich interessant fände, aber ich weiß nie, ob er auch auf Männer steht.»

Im Grunde lebte ich hier auf dem Lande wie ein Mönch. Ich traute mich nie, die Typen anzusprechen. Die Angst, etwas Falsches zu sagen und dann geoutet zu werden oder vor einer Zurückweisung waren zu groß.

«In Osnabrück gibt es eine Gaybar in die ich während des Studiums hin und wieder alleine gegangen bin. Da war es einfacher, anonymer. Aber hier auf dem Lande ist es anders.»

«Standest du mal auf mich oder stehst du auf mich?», platzte er heraus.

«Das ist jetzt nicht dein Ernst, oder?», fragte ich ihn angesäuert.

«Was? In den Filmen ist das auch immer so. Der Schwule steht auf seinen besten Freund, der hetero ist.»

«Boah Sascha, das ist so ein Klischee. Du wärst es nicht mal in hundert Jahren», motzte ich ihn an. Wie kam er nur auf so einen Scheiß. Dann sah ich das Grinsen in seinem Gesicht und wusste, dass er mich verarscht hatte. Ich knuffte ihn in den Arm.

«Nee, jetzt mal ernst. Gab es jemanden auf der Schule, dem du gerne nähergekommen wärst? Immerhin weißt du von jeder bei mir.»

Oh ja, den gab es. Er ist eine Klasse über uns gewesen und konnte einfach alles. Theater, Gitarre und Fußball spielen. Die Mädchen scharrten sich um ihn und jede wollte seine Gunst erringen. Ich hingegen schmachtete ihn von weitem an und hoffte, keiner würde es bemerken.

In meinen Träumen kam er jedes Mal auf mich zu und küsste mich vor allen. Oder er stand auf der Bühne und sang nur für mich.

«Nils Gemmer. Den fand ich immer toll.»

«War ja klar. Den wollten alle haben.» Sascha lachte laut auf. Dann wurde er ernst. «Also noch mal zum Mitschreiben. Ich habe kein Problem damit und werde niemandem etwas erzählen. Es ist deine Sache. Aber in Zukunft kannst du mit mir darüber reden, ist das klar? Ich heule dir ständig die Ohren voll mit meinem Kram. Jetzt bist du dran.»

Ich hatte einen Kloß im Hals und brachte kein Wort heraus. Es tat gut, das zu hören. Und dann noch vom besten Freund. Ich nickte nur. Die Tränen stiegen mir in die Augen.

«Na komm schon her, Casperle», forderte Sascha mich auf und wedelte mit seinen Armen. Ich beugte mich zu ihm und er umarmte mich. Das machten wir nicht häufig, nur wenn es wichtig war.

«Danke», flüsterte ich. Dann ließ er los und ich schnappte meine Tasche vom Rücksitz. Ich stieg aus und bevor ich die Tür schloss, beugte ich mich vor, um eine letzte Frage zu stellen.

«Sollte ich ihm meine Nummer schicken?»

«Na klar. Hallo, was für eine Frage. Ihr schreibt doch schon die ganze Zeit. Telefonieren ist viel zeitsparender. Boah, Casper, muss ich dir jetzt beim Freund angeln helfen?» Sascha hob die Arme verzweifelt in die Luft und stieß dabei ans Autodach. Ich grinste ihn an.

«Okay, schon verstanden.» Er grinste zurück.

«Schreib mir, wie es weitergeht bei euch, in Ordnung?», forderte er mich auf.

«Klar, du bist der Erste, der etwas erfährt», versprach ich ihm.

Er lachte. «Das ist nicht schwierig. Bis morgen Abend beim Tanzen üben», verabschiedete er sich.

«Bis dann und bitte auch kein Wort zu Becki», bat ich ihn noch. Becki war seine Freundin, mit der er normalerweise über alles sprach.

«Natürlich nicht. Meine Lippen sind versiegelt.»

Ich nickte ihm ein letztes Mal zu und schloss die Tür.

 

2.

Bjarne erhielt gestern Abend noch nicht meine Nummer. Irgendwie fand ich es merkwürdig, sie jemandem zu senden, den ich nicht kannte.

Den gesamten Morgen überlegte ich hin und her. Aber was könnte mir Schlimmes passieren? Zur Not sperrte oder löschte ich ihn wieder und das war’s dann.

Gegen Mittag fasste ich mir ein Herz und sendete ihm meine Nummer.

 

Von Gayfarmer95:

Hallo Bjarne,

wollen wir nicht mal telefonieren? Immer nur schreiben ist blöd. Nicht, dass ich das nicht gerne mache, aber in einem Gespräch bekommt man mehr mit, oder?

Also lange Rede kurzer Sinn, hier meine Handynummer. Schreib mich an, dann speichere ich deine Nummer bei mir ab.

Freue mich darauf, von dir zu hören.

LG Casper

 

Abgeschickt. Mein Herz klopfte wie wild. Ich wischte die Hände an der Hose ab und atmete tief durch. Dann ging ich ins Wohnhaus, wo meine Mutter bestimmt schon das Mittagessen fertig hatte.

«Warum bist du denn so hibbelig, Casper? Kannst du keine zwei Minuten still sitzen? Wie alt bist du eigentlich?», rügte meine Mutter mich beim Essen.

«Ich glaube, unser Sohn hat jemanden kennengelernt. Er hängt zurzeit ständig am Handy», erklärte mein Vater mit einem Tonfall, der Mama sagte: Ich weiß dieses Mal mehr als du.

Ich verdrehte die Augen. «Nichts ist.» Warum zum Teufel mussten Eltern nur so sein?

«Bist du dir sicher? Ich nicht», meinte Mama jetzt.

«Könnt ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen? Löchert Julia, warum sie noch keinen Freund hat», wehrte ich die beiden ab und griff automatisch in der Hosentasche nach dem Handy, um einen Blick darauf zu werfen. Am Rande bekam ich mit, wie meine Eltern sich bedeutungsschwer anschauten und die Augenbrauen dabei hoben.

Kopfschüttelnd stand ich auf. «Ich mach dann mal weiter. Ich sollte jetzt Schwaden, richtig?» Eine Antwort wartete ich erst gar nicht ab, sondern machte mich direkt auf den Weg zum Schlepper.

Bjarne hatte noch nicht geantwortet. Leider konnte man bei den Nachrichten in der blöden App nicht sehen, ob sie bereits gelesen wurden. Nicht, dass ich zu früh war und ihn dadurch abgeschreckt hatte. Ich fuhr mir mit den Fingern durch meine kurzen Haare.

Aaaah, warum war das mit diesen Dingen immer so kompliziert? «Ich bleibe einfach alleine, dann habe ich solche Probleme nicht», grummelte ich vor mir her. «Sex kann ich auch so bekommen.»

«Was hast du gesagt?», fragte Georg, einer unserer Mitarbeiter für den Acker.

«Nichts. Schon gut», wiegelte ich ab.

Er grinste mich frech an. «Probleme mit einem Mädchen? Ich geb‘ dir ’nen Tipp, die haben immer Recht. Kannst mir glauben, bin seit fast 28 Jahren verheiratet.»

«Danke dir. Werde ich mir merken.» Er nickte mir zu und ging zu seinem Schlepper rüber.

Als ich mich hinsetzte, vibrierte das Handy. Aufgeregt fummelte ich es aus der Hosentasche und ließ es fallen. Ungeduldig verdrehte ich die Augen und schüttelte den Kopf über meine eigene Blödheit. Ich fischte das Telefon aus dem Fußraum und sah, dass ich eine SMS von einer unbekannten Nummer erhalten hatte.

 

Sorry, aber ich musste arbeiten. Telefonieren klingt richtig gut. Habe Teildienst heute. Gleich um drei Feierabend und um sechs fange ich wieder an. Bin vor halb eins nicht zu Hause. Bjarne

 

Ich jubilierte innerlich. Er hatte geantwortet. Aber jetzt hatte ich dummerweise keine Zeit und ärgerte mich. Schnell speicherte ich die Nummer ab und antwortete ihm.

 

Drei Uhr ist schlecht. Bin am Schwaden. Wie wäre es nach deinem Feierabend?

 

Ich musste nicht lange auf eine Reaktion warten.

 

Aber da schläfst du doch schon. Will dich nicht wecken. Und was ist schwaden?

 

Oh mein Gott, war der süß. Er machte sich ernsthaft Gedanken über meinen Schlaf. Konnte ein Herz noch schneller schlagen als meines? Egal, dann musste ich heute Nacht mit weniger auskommen. Das würde mich schon nicht umbringen und ich war es gewohnt.

 

Macht nichts. Ich bin heute Abend noch beim Tanzen, dauert vielleicht eh länger. Ruf einfach an, sobald du kannst. Ich werde neben dem Handy schlafen J.

Schwaden bedeutet, dass das Gras in Reihen gelegt wird.

 

«Bist du immer noch nicht weg? Und schon wieder am Handy. Casper, ich nehm dir das Ding während der Arbeit weg, wenn ich dich weiterhin so oft daran sehe!»

War ja klar, dass mein Vater mich erwischte.

«'Tschuldigung. Aber ich muss nur noch diese eine kurze Nachricht schreiben. Ehrlich. Dann schaue ich erst wieder nach Feierabend drauf.»

Er schaute mich zweifelnd an, schien sich aber einen Ruck zu geben.

«Wehe wenn nicht. In fünfzehn Minuten sehe ich dich auf dem Acker oder wir kriegen richtigen Ärger!», ermahnte er mich.

Ich nickte. Im selben Moment kam die Antwort von Bjarne.

 

SuperJ. Dann bis später und viel Spaß beim Tanzen.

 

Ich grinste und bemerkte, wie Papa mich weiter beobachtete und steckte das Handy weg. Dann fuhr ich los und konnte die Zeit bis heute Nacht nicht abwarten.

Beim Tanzen würde ich Sascha die Neuigkeiten brühwarm erzählen können.

Irgendetwas störte mich im Schlaf. Es war direkt neben mir und hörte nicht auf. Schlaftrunken und mit geschlossenen Augen griff ich neben meinen Kopf, bis ich die Quelle des Geräusches ausmachte. Das Handy, das klingelte und vibrierte. Ich ergriff es und wischte solange mit dem Finger über das Display, bis der Störenfried aus war. Immerhin dachte ich noch daran, es mir ans Ohr zu halten, völlig im Land der Träume gefangen.

«Gute Nacht», krächzte ich und drückte mit dem Finger solange auf den unteren Rand, bis ich der Meinung war, aufgelegt zu haben.

Kaum hatte ich das Telefon beiseitegelegt, klingelte es erneut. Wieder griff ich danach und wischte ungeduldig über das Display, bis es aufhörte zu klingeln. Ich rollte mich auf den Rücken und hielt mir das Handy ans Ohr.

«Stopp nicht wieder auflegen. Ich bin es, Bjarne», hörte ich eine tiefe, warme und vor allem lachende Stimme im Ohr. Im vom Schlaf benebelten Hirn klickte es. Wir wollten telefonieren. Langsam wachte ich auf, mit dem Gefühl, nicht genügend Schlaf bekommen zu haben. Meine Augenlider fühlten sich schwer an, beim Versuch sie zu öffnen und ich ließ sie einfach zu.

«Oh ja... Morgen...», murmelte ich immer noch heiser und gähnte.

«Guten Morgen, es ist echt toll, endlich deine Stimme zu hören.» Bjarne lachte nicht mehr, klang aber trotzdem fröhlich.

«Ja, gib mir einen kurzen Moment...» Ganz wach war ich noch nicht. Allerdings kehrten langsam die Lebensgeister zurück. Ich legte mich auf die Seite und klemmte das Handy zwischen Kissen und Kopf, damit ich es nicht die gesamte Zeit halten musste. Das Licht ließ ich aus, so konnte ich mir das Bild von Bjarne besser vor Augen rufen.

«Okay. Ich kann dir ja solange von meinen zweibeinigen Rindviechern erzählen», schlug er vor und begann direkt.

Nachdem ich mich bequem eingerichtet hatte, unterbrach ich ihn. «Es ist wirklich schön, endlich deine Stimme zu hören.» Meine dagegen hörte sich noch immer kratzig an. «Ich klinge nicht ständig so», schob ich schnell hinterher.

Auf der anderen Seite kicherte Bjarne leise. «Alles gut, ich mag deine Stimme.»

Irrte ich mich, oder hörte er sich aufgeregt an? Ich rieb mit einer Hand durch das Gesicht, um endgültig wach zu werden, wobei sich das Handy verschob. Also rückte ich wieder alles zurecht.

«Wie kannst du meine Stimme mögen, wenn ich noch gar nichts gesagt habe?», fragte ich ihn und stellte mir dabei vor, wie er ebenfalls im Bett lag und das Telefon ans Ohr hielt.

«Ist halt so.» Ich schmunzelte. Ob er bei den Worten mit den Schultern zuckte? Vielleicht könnten wir das nächste Mal skypen. Dann würde ich solche Dinge mitbekommen.

«Mein bester Freund hat gestern herausgefunden, dass wir miteinander schreiben. Also auch, dass ich schwul bin», erzählte ich ihm unvermittelt. Bisher hatte ich ihm noch nichts darüber geschrieben.

Bjarne sog auf der anderen Seite die Luft ein. «Und? Wie hat er reagiert? Wie ist das passiert?», fragte er besorgt nach. Wieder lächelte ich. Miteinander telefonieren war wirklich viel besser als zu schreiben. Jetzt konnte man Zwischentöne ausmachen.

«Sehr gut», sagte ich und dann berichtete ich ihm von dem Vorfall.

«Hat er den anderen etwas gesagt?», hakte er nach.

Ich schüttelte mit dem Kopf, bis mir einfiel, dass er das nicht sehen konnte. «Nein. Als er mich zu Hause absetzte, meinte er, dass er absolut kein Problem damit hätte. Und er fragte, warum ich nicht längst etwas gesagt habe. Er will alles über dich wissen. Ich soll dir ausrichten, dass du es mit ihm zutun bekommst, sollte ich deinetwegen verletzt werden.»

«Na toll, wir haben uns noch nicht mal gesehen und ich werde von nicht bekannten besten Freunden bedroht», scherzte er. Ich lachte und er fiel mit ein.

Oh mein Gott, was für ein tolles Lachen. Es kribbelte im ganzen Körper. Wie konnte ein Fremder das nur durch ein Lachen und seine Stimme auslösen?

«Tut gut, wenn es jemand weiß, oder?» Es klang mehr wie eine Feststellung statt einer Frage.

«Oh ja», antwortete ich aus tiefster Seele. «Und er hat mich heute als Erstes gefragt, ob ich dir endlich meine Nummer mitgeteilt habe.»

«Das macht ihn wieder etwas sympathischer.»

Ich lachte.

«Was war das für ein Tanzen üben heute? Ich dachte, du könntest tanzen. Das hast du zumindest geschrieben», erkundigte er sich.

«Kennst du die Ikea Werbung, bei der die um einen Maibaum tanzen?», fragte ich.

«Ja.»

«Solche Volkstänze sind das. Wir üben jedes Jahr zwei für das Erntefest ein und führen diese dann auf. Die Jungs tragen schwarze Hosen und weiße Hemden und die Mädels Dirndl.»

«Das klingt nach Oktoberfest», stellte er fest.

«Überhaupt nicht. Das hat rein gar nichts damit zu tun. Es gibt ein Erntepaar, das jeweils Gedichte lernt und aufsagt. Der Erntekönig holt seine Erntekönigin zu Hause mit der Erntekrone ab und dann geht’s zum Saal, wo wir die Tänze vorführen und das Erntepaar einen Ehrenwalzer erhält.»

«Okay, kein Oktoberfest, aber trotzdem Volksfest.»

Ich lächelte. «Ja.»

Den gesamten Nachmittag und Abend hatte ich mir Gedanken darüber gemacht, worüber wir reden könnten und jetzt war es so einfach. Wir stockten nicht einmal.

«Ich hatte etwas Angst vor dem Telefonat», gestand ich ihm leise.

«Ich auch», stimmte er mir ebenso leise zu.

«Irgendwie habe ich das Gefühl, dich einerseits schon zu kennen und dann doch wieder nicht. Wie in dem Buch Gut gegen Nordwind, dass wir in der Schule gelesen haben.» Das war über meine Lippen, ehe ich darüber nachdenken konnte.

«Das kenne ich nicht, aber das Gefühl schon. So geht’s mir auch.» Es raschelte bei ihm im Hintergrund.

«Was machst du?», fragte ich ihn.

«Hab mich ins Bett gelegt.»