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Von heute auf morgen ist Leo gezwungen, sein Leben neu zu ordnen, nachdem er eine für ihn erschütternde Diagnose erhalten hat. Es fällt ihm schwer, sich helfen zu lassen und seine Krankheit anzunehmen. Nach der ersten Behandlung und der Reha lernt er auf seiner Herzensinsel Jo kennen und verliebt sich Hals über Kopf. Zudem erwacht ein alter Traum zum Leben. Aber kann er diesen mit seiner Diagnose wahr werden lassen?
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Muschelherzen
Von Nella Beinen
Buchbeschreibung:
Von heute auf morgen ist Leo gewzungen, sein Leben neu zu ordnen, nachdem er eine für ihn erschütternde Diagnose erhalten hat. Es fällt ihm schwer, sich helfen zu lassen und seine Krankheit anzunehmen.
Nach der ersten Behandlung und der Reha lernt er auf seiner Herzensinsel Jo kennen und verliebt sich Hals über Kopf. Zudem erwacht ein alter Traum zum Leben.
Aber kann er diesen mit seiner Diagnose wahr werden lassen?
Über den Autor:
Nella Beinen stammt aus Norddeutschland und hat ein bewegtes Leben hinter sich, das sie über Essen, Spiekeroog und Bonn an den Niederrhein geführt hat.
Dort hat sie begonnen den Geschichten in ihrem Kopf Leben einzuhauchen.
Ihre Protagonisten stoßen an ihre Grenzen, lernen Vertrauen zu fassen, streiten und versöhnen sich wieder.
Folgende Bücher sind bereits erschienen:
Und dann passierte das Leben
Reise in die Vergangenheit: Neues von Tobias und Florian
Wie ein Kuss alles veränderte
Das Leben ist so einfach
56 Punkte zum Glück
Sammelband "Kochlöffel, Trecker und Beziehungskiste"
Todesengel am Niederrhein
Von Nella Beinen
Baegertstr. 11
47533 Kleve
www.nellabeinen.com
. 1. Auflage, 2023
© Nella Beinen – alle Rechte vorbehalten.
Lektorat + Korrektorat:
Daniela Seiler
www.textkabinettchen.de
Cover:
A+K Buchcover
www.akbuchcover.de
Bildnachweise:[email protected]
1
Juni
Da saß Leo also, rutschte auf dem harten Plastikstuhl mit der viel zu kurzen Rückenlehne herum, die ihn unter den Schulterblättern drückte. Angeblich ein Designerstuhl, wie der Neurologe ihm bei seinem ersten Besuch versichert hatte. Leo schüttelte den Kopf und verdrängte den Stuhl aus seinen Gedanken. Stattdessen versuchte er zu begreifen, was der Arzt ihm gerade sagte. Sein Puls war in schwindelerregende Höhen gestiegen und in seinen Ohren rauschte es, als ob er unter einem Wasserfall stehen würde.
»Könnten Sie das bitte noch einmal wiederholen?«, fragte Leo Doktor Harter, der ihm in seinem reinweißen Kittel gegenüber saß. Er musste es erneut hören, um sicherzugehen, sich nicht verhört zu haben.
»Die Testergebnisse deuten darauf hin, dass Sie an Multiple Sklerose erkrankt sind.«
Leos Lippen zitterten und er biss sich auf die Unterlippe, um sie unter Kontrolle zu bekommen. Nicht hier, nicht jetzt.
»Wir werden in drei Wochen ein weiteres MRT machen, um die Diagnose zu bestätigen. In der Regel wissen wir nach etwa drei Monaten, um welche Art der MS es sich handelt, da wir Vergleichsbilder haben und sehen können, ob sich neue Entzündungsherde gebildet haben.«
Leo beobachtete den Schnauzer über der Oberlippe des weißhaarigen Arztes, der bei jedem Wort leicht wippte. Er verstand, was Doktor Harter sagte, und trotzdem war es schwer, das Gehörte in Einklang mit sich selbst zu bringen.
Bis zuletzt hatte Leo darauf gehofft, dass seine schlimmen Rückenschmerzen durch einen Bandscheibenvorfall oder eingeklemmte Nerven verursacht wurden. Das wäre eine ideale Erklärung für sein starkes Taubheitsgefühl und Kribbeln im rechten Bein. Und dem Linken mittlerweile ebenso. Aber der ihm an seinem mit Papieren übersäten Schreibtisch gegenübersitzende Neurologe hatte die Hoffnung erstickt, sie geradezu abgeschlachtet.
Leo lachte bitter auf. Doktor Harter lächelte ihm aufmunternd zu, aber das konnte er sich schenken. Leo brauchte keine Aufmunterung, sondern einen gesunden Körper. Von wegen kaputter Rücken. Die Diagnose kam aus heiterem Himmel für ihn. Wer dachte schon an eine unheilbare Krankheit, wenn man mit Rückenschmerzen, Kribbeln und Taubheit im Bein zum Arzt ging? Er saß dem Ganzen hilflos gegenüber, konnte nichts rückgängig machen durch ein paar einfache Operationen.
Er schloss die Augen, den Tränen nahe und griff in seine Hosentasche. Ertastete die kleine Muschel, die er immer bei sich trug, aber im Gegensatz zu sonst, entfaltete sie dieses Mal nicht ihre bekannte Wirkung. Spendete ihm weder Kraft noch Trost oder das Gefühl am Meer zu sein mit der Freiheit alles zu schaffen.
Wie ging es nun weiter? Brauchte er bald einen Rollstuhl? Musste er sich eine neue Wohnung suchen? War er komplett auf Hilfe angewiesen? Was war mit seiner Arbeitsstelle? Seine Kollegen im Rathaus riefen seit seiner Krankschreibung vor drei Wochen regelmäßig an und erkundigten sich, wie es ihm ging. Seine Chefin in der Tourismusabteilung hatte ihn sogar zu Hause besucht und ihm versichert, dass sein Schreibtisch auf ihn wartete, egal, wie lange es dauern würde. Immerhin konnte er dort im Rollstuhl arbeiten. Zum Koordinieren und planen der Stadtführungen brauchte er keine gesunden Beine.
»Was bedeutet das?«, fragte er schließlich, sah auf seine Hand mit der Muschel darin und schluckte den Kloß hinunter, der schmerzhaft in seinem Hals drückte. Hier wollte er dem Drang der Tränen nicht nachgeben. Er musste sich auf Doktor Harter konzentrieren und zwang sich, wieder aufzusehen. Nach der Odyssee zu Ärzten, dem ständigen Blutabnehmen, den durchgeführten Nerventests und der Entnahme der Rückenmarksflüssigkeit gab es endlich eine Diagnose.
»Sobald wir wissen, um welche Form von MS es sich handelt, zum jetzigen Zeitpunkt gehe ich von einer schleichenden aus, können wir die Medikation auf Sie abstimmen. So wie Ihre Bilder aussehen, ist die Krankheit schon vor einigen Jahren ausgebrochen und Sie haben jetzt erst die ersten Symptome.« Leo nickte. Versuchte alle Informationen zu verarbeiten. Der Arzt faltete die Hände auf Leos Akte zusammen. »Selbstverständlich werden wir sofort mit einer einwöchigen, stationären intensiven Schubbehandlung beginnen, die dafür sorgt, dass die Symptome sich zurückbilden werden.« Die Worte des Arztes schienen von ihm abzuperlen, als würde er neben sich stehen und sich aus der Ferne auf diesem Stuhl vor dem Schreibtisch des Neurologen sitzen sehen. Doktor Harter räusperte sich. »Ich kann Ihnen allerdings nicht versprechen, dass alles zurückgeht.«
Leo sackte zusammen, der Blick unstet auf der Suche nach einem Fixpunkt und ständig hallten die Fragen in seinem Kopf wider: Was zur Hölle machst du hier? Warum sitzt du da? Die müssen sich geirrt und einen falschen Namen auf die Akte geschrieben haben.
»Herr Hauber? Haben Sie verstanden, was ich gesagt habe? Möchten Sie, dass ich das noch einmal wiederhole?«, holte der Arzt ihn aus seinen Gedanken. Leo schluckte und heftete seinen Blick auf Doktor Harter.
»Nein, ich … reden Sie weiter.«
»Gut. Also, Sie bekommen von mir eine Überweisung ins Krankenhaus, in dem Sie in Absprache mit den Ärzten mit der Therapie beginnen. Außerdem werden Sie dort noch einmal intensiver untersucht. Sie bekommen alles Notwendige für die dortigen Ärzte mit.« Der Neurologe beobachtete ihn, aber Leo konnte nichts darauf erwidern, nur nicken.
Die dunklen Schränke an der Wand, die dem Raum einen düsteren Eindruck gaben, schienen ihn zusätzlich zu seinem neuen Wissen nieder zu drücken. Er kämpfte immer noch gegen die Tränen an. Die Angst griff mit großen Klauen nach ihm und ließ sich nicht abschütteln.
Der Arzt schien das zu bemerken. Er erhob sich, kam um den Tisch herum und setzte sich auf den Stuhl neben Leo. Dann legte er ihm eine Hand auf die Schulter.
»Weinen Sie, wenn Sie möchten. Kämpfen Sie nicht dagegen an.« Er streichelte beruhigend über Leos Schulterblatt. »Das klingt jetzt alles furchteinflößend, aber es ist nichts, mit dem man nicht leben könnte.« Doktor Harter sprach ruhig auf Leo ein. Der nickte nur wieder. Die Worte kamen bei ihm an, doch er begriff sie nicht.
»Nach dem Krankenhaus werden Sie innerhalb von vierzehn Tagen eine drei- oder vierwöchige Anschlussheilbehandlung erhalten. Es gibt Reha-Kliniken, die auf MS spezialisiert sind. Dort werden Sie weitere Menschen mit Ihrer Diagnose kennenlernen und können sich austauschen. Außerdem lernen Sie dort, mit Ernährung und Sport die Krankheit positiv zu beeinflussen. Ich empfehle Ihnen auch, sich einem Psychologen anzuvertrauen.« Doktor Harter drückte noch einmal Leos Schulter. »Haben Sie Freunde, Verwandte, irgendjemanden, mit dem Sie reden können? Wo Sie jetzt hinfahren können?«, fragte er. »Wir können auch jemanden anrufen, der Sie abholen kommt.«
Stille breitete sich in dem Raum aus. Es war nur das Ticken der großen Wanduhr zu hören. Nach einigen Sekunden wurde Leo klar, dass der Arzt auf eine Antwort von ihm wartete.
»Danke, aber es geht schon«, antwortete Leo mechanisch. Er wollte nur nach Hause und versuchen, das Gehörte zu fassen zu bekommen, um dann mit seinen Eltern zu sprechen. Seine Mutter wusste, dass er heute den Termin hatte, aber sie würde warten, bis er sie anrief. Er musste sich überlegen, wie er es ihr und seinem Vater erklären sollte. Dabei wusste er selbst nichts über die Krankheit. Nur das Übliche und das konnte man wahrscheinlich nicht mal Halbwissen nennen.
Doktor Harter war aufgestanden und kramte in einer Schublade, dann richtete er sich wieder auf.
»Hier, ich habe ein paar Broschüren und Infohefte über MS. Da erfahren Sie einiges zur Krankheit. Ich weiß, das ist jetzt leichter gesagt und Sie haben sicherlich Angst, aber das wird schon. Scheuen Sie sich nicht, mich zu kontaktieren, wenn Ihnen Fragen auf der Seele brennen. Egal welche und sollten sie noch so harmlos klingen.«
Leo nahm die Broschüren entgegen und hätte fast trocken aufgelacht. Der hatte gut reden, er war gesund und musste nicht damit zurechtkommen, dass ihm eben eröffnet wurde, an einer unheilbaren Krankheit zu leiden.
»Danke.« Leo stand auf, umklammerte die Prospekte in seiner Hand und verabschiedete sich von dem Arzt. Der begleitete ihn bis zur Anmeldung, die im totalen Kontrast zum Besprechungszimmer des Neurologen stand. Sie war in einem hellen Beige gestrichen, an den Wänden hingen Bilder mit abstrakter Kunst, die bunte Farbtupfer zur Wandfarbe bildeten. Eine Glastür neben der Anmeldung führte zum Wartezimmer und Leo wünschte sich unvermittelt eine halbe Stunde zurück, als er dort gesessen hatte. Still, wie die anderen fünf Personen in dem Zimmer und die Welt für ihn noch halbwegs in Ordnung gewesen war.
Doktor Harter sagte etwas zu seiner Mitarbeiterin, die nickte und mit einem letzten Schulterdrücker verschwand der Neurologe in dem langen Flur mit den vielen weißen Türen, um dem nächsten Patienten eine Horrormeldung zu überbringen, vermutete Leo.
»Herr Hauber, wir müssen noch einen neuen Termin ausmachen«, riss die Dame hinter dem Schalter ihn aus seinen Gedanken. »Hier ist Ihre Überweisung fürs Krankenhaus.«
Leo nahm sie entgegen und machte mit mit der medizinischen Fachangestellten das Datum in der Praxis für seinen nächsten Schreckensbesuch aus.
Er konnte die Tränen so lange zurückhalten, bis er in seiner Wohnung war. Da brach er weinend auf seinem Sofa zusammen. Gerne hätte er jetzt Robbie, seinen besten Freund angerufen, aber der war arbeiten und Leo wollte ihn nicht stören. Garantiert quälte er wieder einen Patienten mit irgendwelchen Übungen zum Muskelaufbau oder massierte jemanden.
Phil fiel ihm als Nächstes ein. Er erwähnte zwar die Tage etwas davon, dass er diese Woche vor Gericht einige Verhandlungen hatte, aber wenn Leo ihm eine Nachricht schicken würde, dann wäre er garantiert sofort da. Nur was sollte Phil schon ausrichten können? Genauso wenig wie Robbie. Sie konnten ihm die Krankheit nicht aus dem Leib schneiden.
Marcel hatte im Kindergarten zu tun und sollte sich um die Kinder kümmern und Paddy wollte er nicht anrufen.
Natürlich waren da noch seine wartenden Eltern, die sofort da wären, wenn er sie anrief. Aber Leo musste erst einmal mit sich selbst klarkommen, bevor er irgendeinem der anderen seine Diagnose mitteilte.
Zumindest schrieb Leo Robbie eine kurze Nachricht, dass er ihn am Abend anrufen und ihm alles, wie versprochen, von dem Arzttermin erzählen würde.
Trotz der Wärme in der Wohnung kroch er unter die Sofadecke, schlang sie um sich und hoffte, dass sie die Kälte und Angst in ihm vertrieb. Und dass sein Zittern aufhörte. Lautlos weinte er weiter, bis er keine Tränen mehr hatte. Seine Augen brannten und er fühlte sich leer. Kraftlos griff er nach den Broschüren auf dem Tisch vor ihm und schlug die erste auf.
Inzwischen war die Sonne gewandert und schien ins Wohnzimmer genau in sein Gesicht. Leo rutschte auf dem Sofa zur Seite. Dann versuchte er, die Prospekte zu lesen, jedoch ergaben die Worte keinen Sinn für ihn. Dabei wollte er doch vorbereitet sein, wenn er seine Eltern anrief, zuversichtlich klingen und ihnen versichern, dass er mit der Diagnose klarkam. Sie sollten keine Angst um ihn haben.
Doch wie bekam er das hin? Seit der Arzt die unheilvollen Worte ausgesprochen hatte, war er wie gelähmt. Verdammt, er beruhigte sich ja selbst nicht.
Die Broschüre fiel ihm aus der Hand und er zog die Decke wieder fester um sich. Zog die Beine an, lag nur da und starrte an die Wand. Wie sah seine Zukunft aus? Er konnte sich nicht vorstellen, wie sein Leben aussah, wenn er irgendwann im Rollstuhl landete. Seine schöne, kleine Wohnung mit dem großen Balkon zum Wald musste er dann aufgeben. Mit einem Rollstuhl kam er die Treppen nicht bis in den dritten Stock und einen Fahrstuhl gab es nicht. Zudem war sie nicht behindertengerecht ausgestattet und er war sich nicht mal sicher, ob er mit einem Rollstuhl in seine schmale Küche passte.
Leo schluchzte laut. Er liebte es, im Sommer auf dem Balkon zu sitzen und den Vögeln zuzuhören. Nach einem stressigen Arbeitstag die Ruhe dort zu genießen ohne Telefon und ständig hereinplatzende Kollegen, die ihren Tratsch loswerden wollten und um herunterzukommen.
Was, wenn die Schubtherapie seine Symptome nicht linderte und sie unumkehrbar waren? Er konnte kaum zehn Minuten am Stück laufen, ohne dass er sich bei jemandem abstützen musste. Bestand sein Leben in Zukunft nur noch aus Medikamenten, Krankenhausaufenthalten und Rehakliniken?
Es klingelte an der Tür und Leo zuckte zusammen. Sollte er die Tür öffnen? War bestimmt nur ein Paketbote und er beschloss es zu ignorieren.
Erneut schellte die Türklingel. Leo bewegte sich nicht. Dann brummte sein Handy in der Hosentasche, doch auch das ignorierte er. Der Anrufer blieb hartnäckig und rief immer wieder an. Leo gab auf und holte das Telefon hervor. Robbie zeigte das Display an.
»Hallo«, meldete sich Leo erschöpft, als er endlich den Anruf entgegennahm.
»Hey Bruder, bist du durch mit dem Arzt und schon zu Hause?«, fragte sein bester Freund, der ihren gegenseitigen Spitznamen benutzte. Den Bruder hatten sie sich selbst gegeben, als sie beschlossen, keine Einzelkinder mehr zu sein. Sie kannten sich seit der ersten Klasse und waren seitdem unzertrennlich gewesen. Ihre jeweiligen Eltern hatten sie immer scherzhaft die Zwillinge genannt.
Leo zog kurz in Erwägung zu lügen, unterließ es aber dann. Das hatte sein bester Freund nicht verdient. Außerdem wollte er mit ihm reden und ihn bei sich haben.
»Ja.«
»Lässt du mich rein? Ich stehe vor der Tür.«
Leo stiegen die Tränen wieder in die Augen, dabei dachte er, es wären keine mehr übrig und seine Lippen zitterten.
»Ja.« Leo erhob sich schwerfällig und betätigte erst den Knopf für die Haustüröffnung und machte seine Wohnungstür auf. Er wartete nicht, bis Robbie oben war, sondern kehrte ins Wohnzimmer auf das Sofa zurück.
Sein bester Freund musste die Treppe in Rekordzeit hinaufgestürmt sein. Leo hörte die Tür im Flur ins Schloss fallen, da saß er noch nicht einmal richtig. Schwer atmend kam der eigentlich trainierte Robbie ins Wohnzimmer. Einen Moment hielt er sich die Seiten, bis er wieder zu Atem kam, und setzte sich neben Leo. Er hob das Faltblatt vom Boden auf und betrachtete das Deckblatt.
»Oh Mann, Multiple Sklerose?« Er blickte Leo traurig an, legte den Flyer auf den Couchtisch und fuhr sich durch die dunklen, kurzen Haare. »Komm her, Bruder.« Er zog Leo in eine Umarmung, der daraufhin die Tränen nicht mehr zurückhalten konnte.
Leo war so froh, dass sein bester Freund gekommen war. Auch wenn es ihm peinlich war, wie er in dessen Armen lag und hemmungslos heulte. Robbie strich ihm beruhigend über den Rücken.
»Wie geht’s dir?«, fragte Robbie, als Leo sich beruhigt hatte. Leo zuckte mit den Schultern, während er sich in Robbies Shirt krallte und nur gehalten werden wollte.
»Habt ihr besprochen, wie es jetzt weitergeht?«
Leo löste sich aus Robbies Armen und wiederholte so ausführlich wie möglich die Erklärungen des Arztes, während Robbie still zuhörte und Leo nicht unterbrach.
»Immerhin gibt es eine Diagnose und es wird etwas getan. Es gibt dem ganzen Ungewissen einen Namen. Finde, das nimmt ein wenig den Schrecken, oder?« Robbie sortierte die Prospekte auf dem Tisch nach Größe.
»Zumindest kann ich mich jetzt über meine Krankheit schlau lesen.« Und mir alle Schreckgespinste ausmalen, die auf mich zukommen werden, fügte Leo in Gedanken hinzu. Die lähmende Angst vor dem Unbekannten, die er schon vor der Diagnose hatte, nahm im Moment nur zu statt ab.
»Also ein bisschen weiß ich von zwei Patienten, die ich in der Praxis habe. Und ich kann dir sagen, dass du dein normales Leben weiterleben kannst. Vielleicht wirst du unter Behandlung nie wieder einen Schub bekommen.«
Leo, der es nicht mehr auf dem Sofa aushielt, stand auf und pilgerte humpelnd durchs Zimmer. Riss die Balkontür auf, die sich zwischen Esstisch und Fernseher befand, und atmete die frische Luft ein. Sie half ihm allerdings auch nicht, die Beklemmung in seiner Brust zu lösen.
»Das ist ja gut und schön, aber verstehst du, was das bedeutet? Von wegen normales Leben.« Leo schnaubte. »Ich werde keine Wanderungen mit Phil mehr machen können. Unsere Bullytour, die wir eventuell irgendwann mal machen wollen, fällt flach, mal eben stundenlang durch den Wald laufen, ist auch vorbei.« Leo humpelte vor seinem Esstisch in der Mitte des Wohnzimmers auf und ab. »Vielleicht wird es besser, vielleicht auch nicht. Es gibt keinerlei Garantien. Mein Leben wird sich vollkommen ändern.« Leo ergriff die Lehne eines Stuhls und schlug sie mit aller Macht gegen die Tischkante. Der Stuhl wackelte, blieb aber stehen. Er musste seiner Angst und gleichzeitig der Wut auf seinen Körper Ausdruck verleihen und knallte ihn erneut dagegen.
Robbie erhob sich vom Sofa und umschlang Leo von hinten.
»Ganz ruhig, Bruder. Das wissen wir doch alles nicht. Lass uns einen Schritt nach dem anderen gehen. Und der Erste ist diese … diese Therapie im Krankenhaus.«
»Für dich ist das alles so einfach. In dir wütet auch nicht seit Jahren eine Krankheit, von der du nichts wusstest.« Leo befreite sich aus Robbies Armen und trat auf den Balkon. »Du kannst dein Leben weiterleben ohne irgendwelche Einschränkungen. Kinder großziehen und musst keine Angst haben, ständig im Krankenhaus zu landen oder von Medikamenten abhängig zu sein.« Leo schrie ins Wohnzimmer, von dem aus Robbie ihn betreten ansah. Er wollte nicht so gemein und unfair sein. Aber die Worte drängten nach draußen und er konnte sie nicht aufhalten. Er wandte sich ab, sah auf den Wald hinaus.
Robbie betrat den Balkon und lehnte sich gegen das Seitengitter des Geländers.
»Du hast recht, ich weiß das nicht. Aber ich kann und will dir helfen, damit umzugehen. Höchstwahrscheinlich bekommst du Krankengymnastik verschrieben, dann kommst du zu uns in die Praxis. Ich sorge dafür, dass du auf jeden Fall einen Platz bekommst.«
Leo presste seine Hände auf die Augen, in denen sich wieder Tränen bildeten. Woher kamen nur all diese Tränen?
»Ich will doch nur mein Leben leben, keine blöden Überraschungen und …« Leo sprach nicht weiter, seine Stimme versagte. Robbie trat zu ihm, strich ihm über den Rücken.
»Hast du schon mit deinen Eltern gesprochen?«
Leo schüttelte den Kopf, noch immer die Hände vor dem Gesicht und ließ sie nun sinken.
»Ich wollte erst die Prospekte lesen und sie dann anrufen. Sicher klingen und nicht so aussehen wie jetzt.« Er deutete auf sein Gesicht und wagte ein zaghaftes Lächeln.
»Lass uns anfangen zu lesen und wir fahren später gemeinsam hin.« Robbie streckte eine Faust in die Höhe. »Zwillingspower wirft die stärksten Eltern um.«
Unvermittelt lächelte Leo breiter, als er ihren Kinderleitsatz hörte. Sie hatten sich damals eingebildet, gemeinsam würden sie ihre jeweiligen Eltern von allen ihren Vorhaben überzeugen. Zum Beispiel nur noch zusammen in den Urlaub zu fahren. Sie hatten sich sogar einen Sommer durchgesetzt und die Ferien sechs Wochen lang miteinander verbracht.
»Danke dir und entschuldige bitte.« Leo atmete tief ein.
»Ich bin dein Bruder. Mir bleibt nichts anderes übrig, oder?«
Leo durchfuhr ein warmes Gefühl. Auch wenn er sich in letzter Zeit alleine gefühlt hatte und im Augenblick dachte, dass er vor einem unbezwingbaren Berg stand, den er alle paar Meter wieder hinabstürzte, war er nicht allein.
»Musst du nicht zurück zur Arbeit?«
»Ich habe mir den Nachmittag freigenommen.« Robbie lächelte. »Glaubst du im Ernst, mir war nicht klar, dass es längst nicht mehr um einen Bandscheibenvorfall ging? Ich meine ehrlich jetzt, mein Vater musste vor zwei Jahren deswegen nicht zu einem Neurologen.«
Leo umarmte Robbie fest, bevor sie ins Wohnzimmer zurückgingen. Der besorgte ihnen eine Cola und zwei Gläser aus der Küche und sie nahmen sich jeder einen Prospekt vor.
»Zwillingspower wirft die stärksten Eltern um«, sagte Leo und stieß mit seinem Flyer gegen Robbies.
2
Es klopfte an der Tür, die direkt geöffnet wurde und Leo erblickte seine Mutter, die das Krankenzimmer betrat. Seit drei Tagen lag er im Krankenhaus und bekam seine erste Schubtherapie. Zwei hatte er noch vor sich.
»Hallo mein Kind.« Seine Mutter kam ihn jeden Tag nach der Arbeit besuchen.
»Hallo Mama.« Leo musste sich zusammenreißen, um nicht jetzt schon völlig genervt zu klingen. Konnte sie ihn nicht einfach mal nur anrufen?
Maria begrüßte den anderen Mann, mit dem Leo auf dem Zimmer lag, ein weiterer war mit seiner Frau nach draußen gegangen.
»Ich habe dir Weintrauben und Bananen mitgebracht.« Maria stellte ihren Korb auf dem Stuhl neben dem Bett ab und drapierte das Obst in der Schale auf dem Nachttisch. Leo beobachtete sie und ihm fiel auf, dass aus ihren kurzen, frech frisierten Haaren die Farbe herauswuchs und sie im Ansatz grau wurden. Ihre Kleidung, in Blau und Grüntönen gehalten, verbarg die leichten Rundungen in ihrer Körpermitte.
»Mama, ich habe noch was. Du bringst mir jeden Tag was mit. Wann soll ich das denn alles essen?« Leo zeigte auf die Schüssel mit den Äpfeln, Kirschen und Himbeeren, in der nun auch das Obst von heute Platz fand. Dabei funkelte er seine Mutter an.
»Ich möchte doch nu…«
»Und ich möchte meine Ruhe haben. Musst du jeden Tag vorbeikommen?« Er lehnte sich gegen das hochgefahrene Kopfteil seines Bettes und verschränkte die Arme vor der Brust. Maria blickte sich entschuldigend zu dem anderen Mann um, der mit Kopfhörern auf den Ohren zum Fernseher starrte.
»Du bist mein Kind. Ich mache mir Sorgen um dich.«
»Mir geht’s gut.« Leo schnaubte. Ihm ging es gar nicht gut. Diese Therapie, bei der jeden Tag ein Beutel mit Cortison in ihn gepumpt wurde, machte ihn zu einem Menschen, der er gar nicht sein wollte. Dennoch konnte er sich nicht dagegen wehren. Er schlief schlecht, vom Einschlafen wollte er gar nicht erst anfangen und sich das Zimmer mit zwei anderen zu teilen, von denen einer fürchterlich schnarchte, half auch nicht.
»Hast du an die Ohrstöpsel für die Nacht gedacht?«
»Ja, die habe ich hier.« Maria reichte sie Leo, stellte den Korb auf den Boden und setzte sich auf den Stuhl. »Ist es denn jetzt schon etwas besser? Merkst du, dass die Therapie anschlägt?«
Leo verdrehte die Augen. Musste sie wirklich jeden Tag dieselben Fragen stellen? Sie wusste doch, wie es ihm ging. Immerhin hatte sie ihn heute in ihrer Frühstückspause angerufen. Mühsam erhob er sich aus seinem Bett.
»Ich muss mal auf Toilette.« Leo humpelte, zog mehr sein rechtes Bein hinter sich her, unter dem prüfenden Blick seiner Mutter zum Badezimmer und knallte hinter sich die Tür zu. Vielleicht sollte er hierbleiben. Hatte er wenigstens seine Ruhe. Er zögerte seinen Toilettengang extra lange raus, dabei wollte er nur wieder ins Bett. Seine Augen brannten vor Müdigkeit und er hatte heftige Kopfschmerzen. Die Schmerztabletten wirkten nur halb so gut, wie sie sollten.
Als er wieder ins Zimmer trat, war seine Mutter nicht mehr alleine. Sie unterhielt sich mit einem seiner besten Freunde. Sein Zimmergenosse sah noch immer zum Fernseher.
»Phil, was machst du denn hier?«, fragte Leo, sich wieder zum Bett schleppend. Wie schwer konnte ein Körper sein? »Musst du nicht auf der Arbeit sein?« Es konnte nicht später als fünf Uhr am Nachmittag sein. Phil war elegant in einem gestreiften braunen Zweiteiler mit beigem Hemd und zum Anzug passender Krawatte gekleidet. Seine dunkelblonden, kurzen Haare saßen wie immer perfekt.
»Hey Süßer.«
Leo trat zu Phil, gab ihm einen Kuss zur Begrüßung und ließ sich auf sein Bett fallen. Zurzeit sein allerbester Freund. Erleichtert seufzte er und sogar das erste Lächeln des Tages huschte über sein Gesicht.
»Ich war heute den ganzen Tag im Gericht und habe nach der Verhandlung beschlossen, Feierabend zu machen und herzukommen.«
»Sei vorsichtig, er ist heute bissig«, warnte Maria Phil und suchte ihre Sachen zusammen. Leo schnaubte. Sie hatten doch alle keine Ahnung. »Bis morgen, mein Kind. Vielleicht bist du dann besser drauf.«
»Tschüss«, antwortete Leo, ließ die Umarmung über sich ergehen, bevor Maria Phil ebenfalls in die Arme nahm und winkte im Hinausgehen dem Zimmergenossen zu.
»Was’n los mit dir?«, fragte Phil, nachdem die Tür hinter Leos Mutter ins Schloss gefallen war, und setzte sich auf den freigewordenen Stuhl.
»Nichts.« So gern Leo seinen Freund hatte, auch mit ihm hatte er keine Lust zu reden. Zu seinem perfekten Unglück fehlte nur, dass Marcel und Paddy durch die Tür kamen.
Phil hob eine Augenbraue und verzog den Mund.
»Ah ja. Deswegen bist du auch so gut drauf, als würdest du sofort auf eine Party mit mir gehen.«
»Könnt ihr mich nicht einfach in Ruhe lassen?«
»Habe ich. Fast eine Woche.« Phil verschränkte die Arme vor der Brust. Leo schnaubte und verdrehte die Augen.
»Das geht mir hier alles auf den Sack. Ich will laufen, bin aber zu müde und es ist anstrengend. Immerhin ist mein Arm wieder voll einsatzfähig.«
Phil setzte sich auf.
»Wie dein Arm ist wieder einsatzfähig? War er es denn nicht? Du hast doch nur von deinem Rücken und Bein gesprochen.«
Leo hörte die Sorge heraus und verfluchte sich, etwas gesagt zu haben. Das war heute eindeutig nicht sein Tag.
»Ich wollte es nicht noch mehr dramatisieren.« Er griff nach seinem Handy und schrieb Robbie eine Nachricht, dass er ihn heute nicht mehr besuchen musste. Seine Mutter und Phil reichten ihm. Ihm war klar, dass sie es nur gut meinten, trotzdem hätten sie auch zu Hause bleiben können.
»Warum nicht?«
»Genau deswegen.« Leo sah vom Handy auf und machte eine unbestimmte Geste Richtung Phil. »Weil ich keine Lust habe, dass ihr euch noch mehr Sorgen um mich macht.«
Phil beugte sich vor, ergriff Leos Hand und hielt sie fest, als dieser versuchte, sie wegzuziehen.
»Und wenn wir das wollen? Wenn wir uns um die Menschen, die uns wichtig sind, sorgen wollen?«
Leo ließ sich gegen seine Matratze sinken und starrte an die Decke.
»Was ist, wenn ich das nicht will? Wir wissen doch noch gar nicht, welche Form ich habe und wie es weitergeht. Wozu sich schon verrückt machen, wenn es gar nicht nötig ist?« Dass er selbst eine Heidenangst vor seiner Zukunft hatte, verschwieg er. Er wollte nicht, dass es jemand mitbekam. Lieber weinte er nachts heimlich in sein Kissen, als dass er die anderen unnötig mehr erschreckte. Am Ende war er es, der mit der Krankheit leben musste und nicht sie.
»Ach Leo.« Phil strich mit dem Daumen über seinen Handrücken, was ihm eine Gänsehaut bescherte. Es verwunderte Leo jedes Mal, wie sehr er noch auf Phil reagierte, obwohl sie schon seit Jahren nur befreundet waren und dieser eine glückliche Beziehung mit Marcel und Paddy führte. »Du musst nicht alles alleine tragen. Manchmal darf man sich durchaus Hilfe holen.«
»Was gibt es sonst noch Neues? Sind Marcel und Paddy sich mal wieder an die Gurgel gegangen?« Leo hatte keine Lust, weiter über sich zu reden. Das wurde in den letzten Wochen seiner Meinung nach zu oft getan.
»Es geht. Paddy arbeitet im Moment viel. Ein Kollege an der Rezeption hat gekündigt und da übernimmt er einige Spätschichten und wir sehen ihn kaum. Meistens fährt er nach der Arbeit in seine Wohnung.«
»Und wie geht’s Marcel?«
»Gut. Hat Hummeln im Hintern und will mal wieder tanzen gehen. Er sucht wieder nach Tanzkursen.« Phil grinste.
»Ihr und euer Tanzen.« Leo wollte das alles gar nicht hören. Wer wusste schon, ob er das nochmals tun konnte? Körperlich schien die Schubtherapie anzuschlagen, aber die Ärzte hatten ihm wenig Hoffnung gemacht, dass sein rechtes Bein je wieder richtig funktionieren würde. Dafür war bereits zu viel zerstört worden.
Nun zu hören, wie die anderen ihr Leben weiterlebten wie gewohnt, auch wenn er das Thema angefangen hatte, traf ihn bis ins Mark. Er kämpfte gegen den aufkeimenden Kloß im Hals an. Blinzelte mehrmals und entzog Phil seine Hand.
»Mach mich bitte nicht sofort wieder an, aber wie sieht es denn jetzt nach deinem Krankenhausaufenthalt aus? Fährst du direkt in die Reha? Sollen wir dir noch etwas besorgen? Unterhosen, Strümpfe oder so was?«
Phil griff erneut nach Leos Hand, aber dieser zog sie rechtzeitig fort und Phil verstand den Wink. Leo konnte das im Moment nicht. Wollte niemanden zu nah an sich heranlassen. Wahrscheinlich würde er dann zusammenbrechen.
»Brauche nichts. Aber ich werde in spätestens vierzehn Tagen zur Folgebehandlung eine Reha bekommen. Kommt drauf an, wo meine Krankenkasse einen Platz findet.«
»Ich kann dich hinfahren, wenn du mö…«
»Phil, kannst du aufhören, mir ständig alles anbieten zu wollen? Ich sage schon Bescheid, wenn ich Hilfe brauche.« Leo verschränkte die Hände ineinander und starrte an Phil vorbei aus dem Fenster.
Schweigen legte sich über die beiden und die Minuten tickten langsam dahin.
»Tja, ich denke, ich gehe mal. Meld dich und gib Bescheid, wenn du etwas brauchst.« Phil merkte sofort, was er gesagt hatte und biss sich auf die Lippe. »’Tschuldigung«, schob er hinterher. »Bis bald. Marcel und Paddy würden dich auch gerne sehen, aber ich sag ihnen, dass sie vorher fragen sollen.« Phil hatte die Schultern gesenkt und Leo konnte das gezwungene Lächeln erkennen. Er kannte dieses Gesicht so gut, hatte bereits jede Regung darin gesehen.
Leo nickte. »Danke«, rang er sich ab. Er war erleichtert, gleich seine Ruhe zu haben und trotzdem tat es ihm leid, wie er Phil behandelt hatte. Ihm war bewusst, dass er unfair zu allen war, und dennoch konnte er sich nicht durchringen, sich zu entschuldigen. Er hatte keinen von ihnen darum gebeten, hier aufzukreuzen.
Phil stand etwas hilflos herum, nicht wissend, ob er Leo wie gewohnt einen Abschiedskuss geben sollte oder nicht. Leo nahm ihm die Entscheidung ab und drehte sich auf die Seite mit dem Rücken zu ihm. Er hörte, wie Phil am Bett vorbei zur Tür ging. Beobachtete ihn, als er in sein Blickfeld kam. An der Tür drehte er sich noch einmal um und winkte. Leo hob zumindest die Hand und dann schloss sich die Zimmertür hinter Phil.
Sein Zimmergenosse nahm seine Kopfhörer ab, blickte aber weiterhin auf den Fernseher.
»Vielleicht solltest du eine WhatsApp-Gruppe machen und allen schreiben, dass sie auf keinen Fall vorbeikommen sollen. Dann haste deine Ruhe.« Ohne eine Antwort abzuwarten, setzte er die Kopfhörer wieder auf und schaute weiter. Leo war egal, welche Meinung der Typ hatte. Er würde diesem Mann wahrscheinlich nie mehr begegnen.
Leos Handy piepte, aber er blickte nicht drauf, sondern drehte sich auf die andere Seite, sah nach draußen, ohne etwas zu sehen. Der Knoten in seinem Hals löste sich und die Tränen liefen ihm lautlos über die Wangen. Nur am Rande bekam er mit, wie sein Bettnachbar wiederkam und ein Gespräch mit dem anderen Zimmergenossen begann. Er hatte sich nicht mal die Namen der beiden gemerkt. Sie waren nur zwei Nächte da und würden wieder gegen andere ausgetauscht werden. Sie würden in ihr normales Leben zurückkehren und müssten sich nicht überlegen, wie es weiterging.
Er griff unter sein Kissen und holte ein Taschentuch hervor, mit dem er seine Tränen abwischte. Gleich gab es Abendessen. Bis dahin sollte ihm keiner ansehen, dass er geweint hatte. Die immer gut gelaunten Pfleger und Pflegerinnen würden ihn bestimmt wieder ausfragen und anbieten, dass er mit jemandem sprechen könnte. Dabei wollte er doch nur schlafen und seine Ruhe haben. Keine Kopfschmerzen mehr haben wollen und nach Hause. Sich in seinem Bett verkriechen und selbst entscheiden können, wer sein Zimmer betrat und wer nicht.
Zwei Tage später wurde Leo entlassen. Bis auf sein rechtes Bein war er so weit wieder hergestellt und konnte sich beinahe normal bewegen, aber lange Touren waren nicht mehr möglich. Dafür war zu viel im Nervensystem zerstört worden. Sein Vater trug seine Tasche, während seine Mutter ihm die Tür des Krankenzimmers aufhielt. Sie hatten sich heute beide freigenommen, um Leo jederzeit abzuholen. Wofür er durchaus dankbar war. Trotzdem hatte es einen faden Beigeschmack für ihn. Er wollte so viel Normalität wie möglich aufrechterhalten und nicht wie ein rohes Ei behandelt werden.
Auf dem Weg zur Tür knurrte sein Magen laut und vernehmlich. Beschwerte sich darüber, dass er seit dem Frühstück nichts mehr zu tun bekam. Die Medikamente der Therapie kurbelten den Appetit ebenfalls an, aber das war aushaltbar.
Leos Vater schmunzelte und die Lachfältchen um seine blauen Augen traten hervor. Er fuhr sich mit der Hand über seine Glatze und kratzte sich an seinem spärlichen grauen Haarkranz.
»Ich glaube, wir halten zwischendurch, um dir was zu essen zu besorgen. Hast du kein Mittagessen bekommen?«
»Nein.« Es klang fast wie ein Knurren, als Leo das Wort ausstieß. Statt selbst eine Mahlzeit zu erhalten, durfte er während der Mittagessenszeit dem verbliebenen Zimmergenossen zusehen und darauf warten, dass endlich der Arzt mit seinen Entlassungspapieren kam. Nun war es fast zwei Uhr und er konnte gehen.
»Ach Kind, warum hast du nichts gesagt? Ich hätte dir doch etwas mitgebracht.«
Leo atmete ein. Ganz ruhig. Sie wollen nur dein Bestes. Sie machen das nicht mit Absicht. Er setzte ein Lächeln auf, verabschiedete sich von dem Mitpatienten und trat mit seinen Eltern auf den Flur.
»Weil ich nicht wollte, dass du dir noch extra Arbeit machst. Außerdem war ja nicht klar, wann ich endlich gehen konnte.«
»Möchtest du etwas von dem Takeaway vom Chinesen bei dir an der Ecke?«
»Das wäre gut. Danke.«
Sein Vater schloss hinter ihnen die Tür und sie gingen zum Auto im Parkhaus.
»Wann beginnt deine Reha?«, fragte seine Mutter.
»Ist noch nicht klar. Die Krankenkasse hat sich bisher nicht gemeldet. Aber ich sollte es in den nächsten Tagen erfahren.«
»Du solltest gleich mal in den Schrank schauen, ob du noch etwas benötigst. Jogginganzug, Unterhosen und so. Ich kann dir unsere Liste geben.«
»Mama, keiner zieht mehr Jogginganzüge an in Rehakliniken. Ich nehme meine normale Sportbekleidung mit.«
»Aber dein Vat…«
»Mir ist egal, was Papa mitnimmt. Ich brauche deine Liste nicht, ich habe meine eigene. Glaubst du, ich habe im Krankenhaus nur herumgelegen?«
Sie erreichten das Auto und stiegen ein, Leo hinten und seine Eltern vorne. Es wurde still während der Fahrt und Leo guckte aus dem Fenster. Sah den Autos auf der Gegenfahrbahn entgegen, Bäume und Häuser an ihm vorbeirauschen. Auf den Fußgängerwegen liefen die Menschen und gingen ihren Tätigkeiten nach, während er zurzeit kaum aus dem Bett kam. Er musste sich unbedingt in den Griff bekommen, ansonsten verprellte er noch alle, die ihm nur helfen wollten. Aber es war so schwierig. Er fuhr sich über sein Gesicht. Immerhin war er gleich zu Hause.
»Was möchtest du denn essen?«, fragte sein Vater, kurz bevor sie an dem kleinen Imbiss ankamen.
»Such du was aus. Aber nimm davon die doppelte Menge.« Leo klopfte seine Taschen ab. Seine Mutter bekam das mit und drehte sich zu ihm um.
»Nee, lass mal stecken. Das bekommst du von uns spendiert.«
Leo rang sich ein Lächeln ab und unterdrückte ein Gähnen. Er hätte sofort einschlafen können. »Dankeschön.«
Bei ihm angekommen, nahm er langsam die Stufen der Treppe. Laut dem Arzt würde sein rechtes Bein in den nächsten Tagen noch besser werden, aber er musste sich darauf einstellen, dass es nie wieder ganz in Ordnung käme. Außerdem wurde ihm eingeschärft, dass er mit seinem behandelnden Arzt alles besprechen sollte, egal wie peinlich es ihm war. Selbst Erektionsstörungen, die sich tatsächlich vor einigen Wochen als eines der ersten Symptome eingestellt hatten und er zähneknirschend zugegeben hatte, konnten ein Zeichen für einen neuen Schub oder Überanstrengung sein.
»Kannst du die Tasche bitte ins Schlafzimmer bringen?«, fragte Leo, als sie in seinem kleinen Flur standen.
»Alles klar.« Sein Vater öffnete die Tür und stellte die Tasche ab, während seine Mutter mit dem Essen ins Wohnzimmer vorging und sich an den großen Esstisch am Fenster setzte. Leo atmete auf. Endlich wieder zu Hause. Der vertraute Geruch seiner Wohnung, gemischt mit abgestandener Luft aufgrund seiner Abwesenheit, begrüßten ihn. Seine Sachen um ihn herum. All das ließ Leos Laune etwas steigen. Er folgte seiner Mutter, öffnete die Balkontür und nahm am Kopf des Tisches Platz. Seine Mutter holte aus der Papptüte kleine Esskartons.
»Holst du bitte Besteck?«, fragte Maria ihren Mann, als er das Wohnzimmer betrat.
»Klar.«
Leo hätte am liebsten seine Eltern direkt vor die Tür gesetzt, aber er wollte nicht noch undankbarer erscheinen, als er sowieso schon war. Er unterdrückte ein Seufzen und genoss die warme Sommerluft, die in den Raum strömte.
Sein Vater legte Besteck und Küchentücher auf den Tisch und sie öffneten die Kartons. Schweigend begannen sie direkt aus den Schachteln zu essen.
»Vielleicht könnten wir morgen doch los und einkaufen«, brach Leo die Stille und biss danach von einer Frühlingsrolle ab. Es kostete ihn Überwindung, das zu sagen, aber er war sich nicht sicher, ob er genügend Unterhosen und Socken für mindestens vier Wochen hatte. Und da er nicht wusste, wohin er in die Anschlussreha kam, war nicht sichergestellt, dass ihn jemand besuchen konnte.
Seine Mutter lächelte, sagte aber nur: »In Ordnung.«
»Es tut mir leid, dass ich im Moment so eklig bin.« Leo legte die Frühlingsrolle auf das Küchentuch und barg seinen Kopf in den Händen. »Aber die Medikamente hauen so rein.«
Seine Mutter drückte seine Schulter.
»Ist in Ordnung. Du musst dich nicht entschuldigen.«
»Doch, das muss ich. Früher habt ihr mir solch ein Benehmen auch nicht durchgehen lassen.«
Sein Vater lachte.
»Früher warst du ein kleiner Junge, der lernen musste, dass Taten und Worte Konsequenzen haben und verletzen können. Heute bist du erwachsen und wir haben gelesen, was die Medikamente mit einem machen können.«
Leo hob den Kopf und lächelte schwach. Wie konnten seine Eltern nur so verständnisvoll sein? Er grollte, war mies drauf und schlug mit Worten um sich und sie saßen da und hatten Verständnis. Seine Mundwinkel zitterten und er hätte sofort anfangen können zu weinen. Aber er schluckte den dicken Kloß runter.
»Danke euch.«
»Du weißt, dass wir immer für dich da sind. Und jetzt essen wir mal auf und lassen dich dann in Ruhe. Aber du rufst sofort an, wenn du etwas brauchst.« Seine Mutter streckte die Hand aus, zog sie jedoch wieder zurück und Leo war froh darum. Wahrscheinlich hätte er sonst tatsächlich zu weinen angefangen und seine Eltern nähmen ihn mit zu sich. Seiner Mutter ging es eh gegen den Strich, dass er nicht bis nach der Reha bei ihnen wohnen wollte.
»Ja, mach ich.«
»Gut.« Maria griff nach der Box mit dem Gemüse und aß den Rest daraus.
Nach dem Essen verabschiedeten sie sich und Leo legte sich direkt auf sein Sofa. Er hatte keine Lust zum Fernsehen gucken oder zocken.
Sein Handy piepte. Er holte es müde aus seiner Tasche und sah, dass eine Nachricht von Robbie eingetroffen war, der fragte, ob er nach der Arbeit vorbeikommen konnte.
Das bedeutete in einer Stunde. Immerhin eine Stunde Ruhe und lange wäre er bestimmt nicht hier, da Robbie zu seiner Familie nach Hause wollte. Leo sagte ihm zu.
3
»Überraschung«, schallte es Leo entgegen, als er die Haustür öffnete.
Leo blieb in der Haustür stehen. Vor ihm auf dem Gehweg standen Robbie, Phil, Marcel und Paddy unter Regenschirmen im Nieselregen. Die Sonne hatte heute keine Chance, Licht in den Tag zu bringen und für Ende Juni war es sehr kühl. Hinter ihm im Treppenhaus warteten seine Eltern, die ihn gerade abholten, um ihn in die Rehaklinik für die Anschlussheilbehandlung zu fahren.
»Was macht ihr denn hier?« Leo traute seinen Augen nicht und schüttelte den Kopf. Er biss sich auf die Unterlippe und wusste nicht, ob er lachen oder grollen sollte. Aber dort standen eindeutig seine Freunde. Einerseits freute er sich, dass sie hier waren und ihn verabschieden wollten, andererseits wäre eine Vorwarnung toll gewesen. Sie machten sowieso im Moment ein Geschiss um ihn, das er nicht wollte. Sie hätten doch längst um diese Zeit morgens um halb acht auf der Arbeit oder auf dem Weg dorthin sein müssen.
»Na was wohl, wir bringen dich nach Lingen«, antwortete Robbie. »Glaubst du im Ernst, ich lasse dich einfach so fahren, Bruder?«
»Aber … ich dachte …« Leo drehte sich zu seinen Eltern um, die hinter ihm im Hausflur standen. »Ist das denn in Ordnung für euch?« Leo war hin- und hergerissen. Dass er mit dem Zug dorthin fuhr, was er ursprünglich geplant hatte, wurde von allen kategorisch abgelehnt. Für seine Eltern war von vornherein klargewesen, dass sie ihn hinbrachten und abholten und wenn er ehrlich war, hätte es mit dem Zug ziemlich anstrengend werden können.
»Ja, ist es«, antwortete seine Mutter. »Robbie hat es mit uns abgesprochen. Wir holen dich ab und kommen dich ein Wochenende besuchen.«
Leo fuhr sich durch die Haare und kaute nachdenklich auf seiner Unterlippe.
»Habt ihr denn alle Urlaub oder was?« Leo trat einen Schritt vor, blieb aber unter dem Vordach des Hauses stehen, um nicht nass zu werden.
»Du könntest auch sagen: Dankeschön, ihr Lieben. Wie schön, dass wir einen Vormittag gemeinsam verbringen und mal ganz ungestört quatschen können.« Marcel, der ihm gegenüber unter dem Vordach stand, knuffte ihn gegen die Schulter.
»Stimmt.« Es war Leo fast alles zu viel. Seit der Diagnose bemutterten sie ihn. Mindestens einer rief abends an. Vorgeblich natürlich nur, um mit ihm irgendwelche eigenen Sorgen zu besprechen. Aber irgendwann fiel trotzdem die Frage, wie es ihm ging, ob er Hilfe benötigte oder derjenige vorbeikommen sollte. Dabei war erst eine Woche seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus vergangen. Dass sie ihn fast mit ihrer Fürsorge erdrückten, merkten sie gar nicht und Leo mochte es nicht sagen, aus Angst, sie zu verletzen.
Es sollte ihn freuen, dass er seinen Freunden und Eltern nicht egal war. Dass sie sichergehen wollten, ob er alles hatte. Er wollte doch nur sein Leben zurück, so wie es war. Aber das konnte er sich abschminken. Das war vorbei.
»Danke euch.« Leo lächelte und schluckte seinen Unmut hinunter. Er drehte sich zu seinen Eltern um. »Vielleicht verabschieden wir uns im Trockenen.« Seine Mutter nickte und in ihren Augen schimmerte es verdächtig. Es war für sie ebenso schwer wie für ihn. Nur dass sie nicht diejenige war, die lernen musste, mit einer Krankheit zu leben.
»Eine gute Idee, Sohn.« Gerd nahm Leo in den Arm und drückte ihn fest. »Ruf an, wenn ihr angekommen seid.«
»Machen wir.« Leo löste sich von seinem Vater und zog seine Mutter in eine Umarmung.
»Wenn was Wichtiges in der Post ist, rufe ich an«, schluchzte sie und Leo lachte.
»Schon mal was von Postgeheimnis gehört?«
»Ach du wieder.« Seine Mutter ließ ihn los. »Und lass dir helfen, mein Kind.« Sie legte ihm eine Hand an die Wange. Sie standen einen Augenblick so da, dann nahm Maria die Hand herunter und Leo griff nach seinem Koffer, den Phil ihm abnahm und zum Auto brachte.
»Habt eine gute Fahrt«, wünschte Maria den Jungs.
Robbie kam mit seinem Schirm näher, hob ihn hoch und Leo trat darunter. Sie folgten den drei zu Phils Auto, ein schwarzer fünftüriger Renault Clio und Leo fragte sich, wie fünf ausgewachsene Männer und sein Koffer darein passen sollten. Phil schlug die Kofferraumtür zu und ging zur Fahrertür.
»Was ist los? Wollte ihr nicht einsteigen? Paddy, setzt du dich vorne mit hin? Du hast den besten Orientierungssinn.«
»Danke auch.« Marcel verschränkte die Arme vor der Brust und funkelte Phil an. Der zuckte mit den Schultern.
»Mein Lieber, er sagt die Wahrheit oder wer hat uns im letzten Urlaub völlig in die Irre geführt?«
Marcel schnaubte und Paddy erntete den nächsten mörderischen Blick. Leo seufzte. Manchmal war es Leo unverständlich, wie sie zusammen sein konnten, aber sie liebten sich und das nun seit drei Jahren. Phil und Marcel sogar seit zwölf.
Es war nicht immer einfach zwischen ihnen und oft genug hatte Leo einen der drei bei sich sitzen und hörte sich ihre Beziehungsprobleme an, aber bisher hatten sie es jedes Mal geklärt bekommen. Er bewunderte seine Freunde, die es schafften, mit viel Ehrlichkeit und Reden eine Dreierbeziehung zu führen. Er bekam das nicht einmal mit einer Person auf die Reihe.
»Also ich steige mal ein. Mir ist kalt«, sagte Leo, öffnete die hintere Tür und rutschte auf den mittleren Sitz durch. Marcel setzte sich links und Robbie rechts von ihm.
»Kannst du mir mal bitte die Adresse geben?«, bat Paddy und Leo reichte einen kleinen Zettel mit den Eckdaten an ihn weiter, der sich an einer Seite schon wellte, so fest hatte er ihn seit Verlassen der Wohnung gehalten. Währenddessen startete Phil das Auto und fuhr los. Bis zur Autobahn kam er auch ohne Navi und Paddy begann bereits die Adresse einzugeben.
»Da es hier um mich geht, darf ich mir die Musik aussuchen?«, fragte Leo, als sie unterwegs waren und viel Gerede, aber wenig Musik aus dem Radio kam.
»Dafür, nur bitte keine Schlager. Ich kann sie nicht mehr hören.«
Leo sah Robbie überrascht an.
»Wieso?«
»Weil Paul im Moment voll auf die Musik abgeht.« Robbie holte sein Handy hervor und rief ein Video auf. Darauf war sein kleiner zweijähriger Sohn zu sehen, der zu Beatrice Egli auf seine tapsige junge Art tanzte.
»Warum hast du mir das noch nicht geschickt?«, beschwerte Leo sich, der Pauls Patenonkel war.
»Weil ich nicht dran gedacht habe. Sorry. Aber ich habe in letzter Zeit mehr überlegt, wie ich dir helfen könnte.«
Leo kniff die Lippen zusammen.
»Mit solchen Videos hilfst du mir. Sie lenken mich von dem ganzen Mist ab«, rief er, seine Stimme erklang überlaut in dem kleinen Auto und er zeigte auf Robbies Handy.
Es wurde mucksmäuschenstill. Selbst Paddy und Phil unterbrachen ihr Gespräch. Leo traten die Tränen in die Augen. Er wollte das gar nicht sagen und schon gar nicht so anklagend klingen. Wollte seinen Freunden nicht zeigen, wie sehr es ihm an die Nieren ging, was mit ihm geschah und was er nicht aufhalten konnte.
Leo legte eine Hand zwischen Hals und Schlüsselbein und rieb sich darüber. Früher hing dort eine Kette mit einem Kompass, die er zum zwölften Geburtstag von seinen mittlerweile verstorbenen Großeltern bekommen hatte. Sie sollte ihm ein Wegweiser im Leben sein, doch er hatte sie an einem Wochenende vor fast zehn Jahren verloren, an dem er sich hatte volllaufen lassen. Trotzdem war der Reflex, nach ihr zu greifen und den Kompass an der Kette hin und her zu schieben, immer noch da.
»Was möchtest du denn hören?«, fragte Marcel und hatte sein Handy gezückt. Er ging nicht weiter auf Leos Äußerung ein, griff aber nach seiner Hand und verschränkte ihre Finger miteinander. Leo schluckte.
»Du weißt doch, was ich gerne höre.« Seine Stimme zitterte, aber er war dankbar, dass Marcel das Thema wechselte.
»Paddy, kannst du eine Playlist der Imagine Dragons anschmeißen?«
»Schon dabei.«
Leo sah nach vorne und begegnete Phils Blick im Spiegel. Dieser lächelte ihm zu. Leo kannte Phil und Marcel beinahe zehn Jahre. Sie hatten sich in einem Club kennengelernt und die Chemie stimmte sofort zwischen ihnen. Es folgten viele aufregende und heiße Abende miteinander und sie hatten sich angefreundet. Bis Leo seinen Ex-Freund traf und eine monogame Beziehung eingegangen war. Damit war ihre Dreier-Beziehung, wie seine Mutter es immer genannt und Leo vehement abgestritten hatte, vorbei.
Der Radiosprecher wurde mitten im Satz unterbrochen und die ersten Klänge von Thunder erklangen.
»Tut mir leid, Robbie.« Leo stupste das Knie seines besten Freundes mit seinem an. Der hatte sein Handy weggesteckt und sah aus dem Fenster. Phil fuhr soeben auf die Autobahn, auf der der Morgenverkehr sich langsam voran schob. Es würde noch dauern, bis sie freie Fahrt hatten.
»Schon gut. Ich habe einfach nicht dran gedacht.«
»Nicht schlimm.« Zum ersten Mal dämmerte Leo, dass nicht nur er lernen musste, mit seiner Krankheit umzugehen, sondern auch sein Umfeld. In all seiner Wut auf seinen Körper, der ihn immer noch beherrschenden Angst vor der Zukunft und die Fürsorge seiner Familie und Freunde hatte er nicht begriffen, dass es sie ebenso treffen würde, wie ihn.
Leo lehnte sich bei Robbie an.
»Doch schlimm. Ich bin ein Arschloch und ihr lasst mir das alles durchgehen.«
»Es ändert sich auch eine Menge für dich«, sagte Phil von vorne, den Verkehr nicht aus den Augen lassend beim ständigen Anfahren und Bremsen.
»Ich weiß. Ist ja nicht so, als ob ich es nicht jeden Tag spüren würde.«
Paddy klatschte in die Hände und schreckte damit alle auf.
»Herrgott noch eins, spinnst du? Ich fahre und will keinen Unfall bauen«, schimpfte Phil.
»’Tschuldigung. Aber lasst uns über etwas anderes reden. Leo, was hast du an den Wochenenden vor? Wirst du das Nachtleben von Lingen auf Trab bringen? Sollen wir kommen und es mit dir gemeinsam erkunden?«
Leo lächelte, beugte sich nach vorne und drückte Paddys Schulter. Der liebte es, zu feiern. War ja klar, dass der Vorschlag von ihm kam.
»Ich denke nicht. Also nicht, dass ihr mich nicht besuchen kommen sollt, aber ich werde die Wochenenden eher in der Klinik verbringen.«
»Och, schade. Und wenn dir ein gut aussehender Lingener unter die Augen tritt?«
Dann würde ich ihn trotzdem nicht abschleppen, denn mein Schwanz hat beschlossen, den Dienst auf unbestimmte Zeit, vielleicht für immer, einzustellen. Leo sprach es nicht aus. Er hatte noch keinem von dieser Auswirkung seiner Krankheit erzählt. Wozu auch, er ging mit keinem von ihnen mehr ins Bett. Mit Robbie und Paddy sowieso nicht. Außerdem waren Feiern und Sex das Letzte, was auf seiner To-do-Liste stand. Erst einmal musste er sich wieder wohlfühlen in seiner Haut.
»Wir spielen jedes Wochenende Quiz Duell gegeneinander. Am Ende der Reha sind wir so schlau, dass wir jeden schlagen werden«, schlug Marcel vor. »Dir wird nicht langweilig.«
»Du hast doch bestimmt deinen Laptop eingepackt, oder? Wir könnten Forge of Empire spielen. Haben wir schon lange nicht mehr gemacht.«
»Oh ja, das ist eine gute Idee.« Phil nickte begeistert.
»Die Wochenenden sind gesichert, wenn du keinen Besuch bekommst.«
Hoffentlich war Leo auch in der Stimmung. Zur Not konnte er ihnen immer noch absagen. Aber erst einmal musste er überhaupt in der Klinik ankommen und so wie die Autoschlange vor ihnen dahinkroch, konnte das dauern.
Phil fuhr auf den Parkplatz der Klinik und Leo blickte durch das Fenster auf den fünfstöckigen Klinkerbau, der halb um ein bepflanztes Rondell gebaut war. Auf der einen Seite konnte Leo den beginnenden Wald erkennen, von dem er wusste, dass er sich hinter dem Klinikgelände fortführte. Auf einem der umliegenden grünen Felder lagen Grasschwaden und ein Häcksler fuhr begleitet von einem Trecker mit Hänger, darüber. Ein Mann und eine Frau kamen gerade aus der Klinik heraus und neben ihnen parkte ein Auto aus.
Hier würde er also die nächsten vier Wochen verbringen und in seinem Magen entstand ein Klumpen, der schwer wog.
»Sieht gut aus«, sagte Robbie, der den besseren Blick hatte. »Und sogar pünktlich geschafft. War doch zehn Uhr, oder?«
Leo nickte.
»Wirkt wirklich sehr einladend. Könnte glatt ein Hotel sein.«
Über Paddys Kommentar musste Leo schmunzeln. War klar, dass er als Rezeptionsleiter eines Hotels das Ganze aus der Perspektive sah.
»Wenn du dich rechtzeitig anmelden willst, solltest du aussteigen und hingehen. Ich bring deinen Koffer nach.« Phil hatte sich zu Leo umgedreht und lächelte ihm aufmunternd zu.
»Wartet ihr noch, bis ich so weit bin?«
»Klar. Wir bringen dich noch zum Zimmer und kontrollieren, ob auch keine Monster unter dem Bett warten.« Marcel, der Leos Hand während der Fahrt nicht losgelassen hatte, drückte sie. Robbie stieß die Tür auf und stieg aus. Leo folgte ihm und gemeinsam gingen sie im Nieselregen auf den Eingang zu. Der Wind trug den Duft des frischen Grases zu ihnen und die Pflanzen im Rondell verströmten einen süßlichen Geruch.
Mit jedem Schritt, den sie der Tür näherkamen, fiel es Leo schwerer. Ihm sollte hier geholfen werden, trotzdem hatte er Angst vor dem, was ihn erwartete. Die Konfrontation mit seinem kaputten Körper war etwas, dem er gerne länger aus dem Weg gegangen wäre. Vor der Eingangstür blieb er abrupt stehen und stierte auf die Glasschiebetür.
Theoretisch wusste er, was ihn dahinter erwartete, dafür hatte er genug Zeit im Internet verbracht und sich durch die Texte aller für MS in Deutschland spezialisierten Rehakliniken gelesen. Praktisch war es etwas ganz anderes. Was war, wenn er nicht das schaffte, was von ihm erwartet wurde? Wenn er versagte und sein Körper noch kaputter war, als alle gedacht hatten?
»Du kannst natürlich bis in alle Ewigkeit hier stehen bleiben oder hineingehen und dir helfen lassen. Wir können dich auch wieder mit heimnehmen.« Robbie legte ihm eine Hand aufs Schulterblatt und strich ihm über den Rücken.
»Nein, nicht nach Hause. Lass uns reingehen.« Leo straffte die Schultern. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Über kurz oder lang musste er sich intensiv mit seiner Krankheit auseinandersetzen. Dass der behandelnde Arzt im Krankenhaus sich zwischendurch sehr viel Zeit für ihn genommen hatte, war zumindest ein Schritt in die Richtung gewesen.
Mit Robbie an seiner Seite durchschritt er den Windfang und fand sich in einer hellen, mit Tageslicht durchfluteten Halle wieder. Er trat zur Anmeldung, an der eine Frau im mittleren Alter mit kurzen blonden Haaren saß und ihm entgegenblickte. Als er vor ihr stand, erhob sie sich.
»Guten Morgen, wie kann ich Ihnen helfen?«
»Hallo, ich bin Leopold Hauber und habe ab heute eine Anschlussheilbehandlung.«
»Herzlich willkommen. Haben Sie Ihre Unterlagen dabei?«
»Ja, einen Moment.« Leo drehte sich um, um nach Phil Ausschau zu halten, der in diesem Moment die Halle betrat und auf ihn zusteuerte. Leo nahm ihm seinen Koffer ab, den Phil hinter sich her rollte und holte seine Dokumente heraus.
»Bitteschön.« Er legte einen großen Umschlag auf den Tresen, in den er alles gepackt hatte. Die Dame am Empfang öffnete ihn und holte die Dokumente heraus. Dann tippte sie auf der Tastatur und sah auf den Bildschirm.
»Ganz schön hier«, flüsterte Marcel, der bei Phil und Paddy hinter Leo stand. Leo ließ den Blick durch die Halle schweifen, deren Wände gelb gestrichen waren. An einer gegenüber der Anmeldung hingen Fotos mit Ärzten und darunter kleine Tafeln. Links und rechts gingen Gänge ab und gegenüber der Eingangstür war der Zugang zum Restaurant, wie ein Schild darüber informierte.
»Ich brauche Ihren Personalausweis und die Krankenkarte.«
»Klar.« Leo holte sein Portemonnaie hervor und legte beide Karten auf den Tresen. Weitere Minuten vergingen, in denen Leo mit der Dame die Unterlagen durchging.
»Sie beginnen gleich mit dem Mittagessen um zwölf hier im Restaurant und das Erstgespräch findet um vierzehn Uhr statt. Steht auch alles hier noch einmal aufgelistet.« Sie legte ihm einen Zettel hin, den Leo an sich nahm. »Und hier habe ich noch einen Plan für Sie, damit Sie sich zurechtfinden. Führen Sie am besten immer Ihren Behandlungsplan mit sich. Sollten Sie sich verlaufen, können die Kollegen Ihnen sofort helfen.«
»Alles klar.«
Leo bekam seinen Zimmerschlüssel und eine detaillierte Beschreibung, der Paddy genau lauschte und sie machten sich auf den Weg. Leo war froh, dass er sich nicht alleine auf die Suche nach dem Zimmer machen musste. Im Moment war alles so einschüchternd für ihn und er kam sich klein und unwichtig vor. Leo stellte fest, dass jede Etage in einer anderen Farbe gestrichen war. Sein Zimmer lag auf dem schweinchenrosafarbenen Stock. An den Flurwänden hingen jede Menge Informationen zur Klinik, Bilder von Landschaften oder sie waren kahl. Ihnen kamen immer wieder Patienten oder Angestellte im Klinikdress entgegen, die freundlich grüßten.
»Hier müsste es sein.« Paddy blieb vor einer Tür stehen. »Gib mal deinen Schlüssel.«
Leo reichte ihn ihm und Paddy öffnete. Er stieß die Tür nach innen auf und ließ Leo den Vortritt. »Bitteschön der Herr. Ihr Domizil ist bereit für Sie.« Er grinste Leo an, der nur den Kopf schüttelte und sein Zimmer betrat. Der Aufbau ähnelte einem Hotelzimmer. Kleiner Flur, von dem das Badezimmer abging, bevor sich der Raum ganz öffnete. Alles in klinischem Weiß gehalten. Leo drehte sich auf der Stelle und strich über die Lehne des Stuhls, der vor dem Schreibtisch stand. Immerhin waren fast alle Möbel aus Holz.
Marcel setzte sich auf das medizinische Bett und stieß sich dreimal vom Boden ab.
»Die Matratze ist in Ordnung. Scheint nicht durchgelegen zu sein.«
»Ich bin beruhigt«, meinte Leo trocken und ging zum Fenster. Robbie kam hinterher und öffnete die Balkontür.
»Cool. Schau mal was für ein Ausblick.« Er trat auf den kleinen Balkon, auf dem ein Tisch und zwei Stühle gerade so Platz hatten. »Was für ein Garten.« Phil, Marcel und Paddy drängten sich mit hinaus.
»Wow, wirklich.« Phil kam wieder ins Zimmer, damit Leo rausgehen konnte.
»Der ist wirklich krass.« Leo sah über ordentlich geschnittene Hecken auf einen See, um den herum wie kleine Wellen Wege angelegt waren, zwischen denen wiederum Hecken gepflanzt waren.
»Ziemlich gute Klinik, finde ich.« Paddy ging rein und strich mit dem Finger über die Möbel. Dann öffnete er den Schrank, der gegenüber der Balkontür an der Wand stand. »Sehr sauber.«
»Macht der das immer?«, fragte Robbie, der sich an das Balkongeländer gelehnt hatte und ins Zimmer blickte.
»Jupps, fahr bloß nie mit dem in Urlaub. Wir dürfen nichts anfassen, bis er alles kontrolliert hat.«
»Sei nicht so giftig, Marcel. Es hat uns schon mal zwei viel bessere Zimmer eingebracht«, verteidigte Paddy sich.
»Bevor das jetzt ausartet und weil Leo bestimmt auch noch ausräumen möchte, bevor er zum Mittagessen muss, würde ich sagen, machen wir uns mal auf den Rückweg.« Phil küsste Marcel, ging zu Paddy und gab ihm ebenfalls einen Kuss.
»Wir verabschieden uns besser hier, oder?« Robbie kam ins Zimmer, verschloss die Balkontür und schob die Hände in die Hosentaschen. »Dann musst du nicht erst ganz mit raus und wieder zurück.«
Leo, der sich bisher nur umgesehen hatte und sich nach Hause in sein Bett wünschte, nickte. Der Weg zum Zimmer, trotz Fahrstuhl war anstrengend gewesen und er zog sein Bein schon wieder nach.
»Ist vielleicht auch besser.« Außerdem entging er so der Versuchung, sich doch mit nach Hause nehmen zu lassen. Er ging zu Robbie und umarmte ihn. »Mach’s gut, Bruder. Wir telefonieren und schick mir Videos und Fotos von Paul.«
»Mach ich.«
Auch Phil, Marcel und Paddy umarmten Leo nacheinander und küssten ihn zusätzlich zum Abschied. Nach vielen Versprechungen, dass sie telefonierten, miteinander zockten und zu Besuch kamen, schloss sich die Tür hinter ihnen endgültig und Leo war allein. Sein Koffer stand vor dem Schrank und wartete darauf, ausgepackt zu werden. Er sollte seine Eltern anrufen und Bescheid geben, dass er angekommen war.
Aber alles, zu dem Leo fähig war, war, sich aufs Bett zu legen und den Tränen, die, seit er das Zimmer betreten hatte, hinter seinen Augen brannten, freien Lauf zu lassen. Er rollte sich zusammen, umschlang seine Knie und weinte. Fragte sich zum tausendsten Mal, warum es unbedingt ihn treffen musste. Leo schluchzte bitterlich und zog die Nase hoch.
Fast eine halbe Stunde lag er da, dann humpelte er ins Bad und wusch sich das Gesicht. Im Spiegel blickte ihm ein Fremder entgegen, der seine Gesichtszüge hatte, aber die verheulten Augen, die roten Flecken und der bittere Zug um den Mund passten so gar nicht zu dem Mann, der ihm noch vor einigen Wochen entgegengeblickt hatte.
Er hatte nicht mehr viel Zeit, bevor er zum Mittagessen musste. Dabei hatte er nicht mal Hunger und wollte sich noch weniger so in der Öffentlichkeit zeigen. Er seufzte.
Seinen Koffer ignorierend griff er zum Handy und wählte die Nummer seiner Eltern. Er musste sich endlich bei ihnen melden, bevor er ins Restaurant ging.
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