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Bettine hatte sich die Ferien absolut ereignislos vorgestellt: Zu ihrer verheirateten Schwester wollte sie aufs Land fahren um ihr bei den Haushalts- und Gartenarbeiten zu helfen. Doch als Bettine am Bahnhof auf Ulle trifft, beginnt eine Zeit voller Abenteuer, spannender Zufälle und Überraschungen, die schliesslich zu einem alten Schloss führen, in dem sich so einige Geheimnisse befinden.... – Eine spannende und mit viel Humor und Lebensklugheit erzählte Geschichte. Lesenswert!-
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Seitenzahl: 170
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Lise Gast
Saga
Bettine und das alte Schloss
German
© Lise Gast
Alle Rechte der Ebookausgabe: © 2016 SAGA Egmont, an imprint of Lindhardt og Ringhof A/S Copenhagen
All rights reserved
ISBN: 9788711508374
1. Ebook-Auflage, 2016
Format: EPUB 3.0
Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt und Ringhof und Autors nicht gestattet.
SAGA Egmont www.saga-books.com – a part of Egmont, www.egmont.com
Für Tante Winnetou
Ich hatte es ja geahnt: Die Verspätung war zu groß, mein Anschlußzug weg. Seit einiger Zeit sitze ich wahrhaftig in einer Pechsträhne, und zwar sowohl in der Schule als auch zu Hause und in der Liebe. Sowas gibt’s. In der Schule regnet es Vierer, zu Hause habe ich zwei linke Hände mit lauter Daumen und richte mehr Schaden als Nutzen an, und Peter ist im Austausch nach Amerika gereist. Einmal hat er mir eine Karte geschrieben, Bild: die Freiheitsstatue, die ich an sich schon scheußlich finde. Darunter stand: „Es lebe das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Von je hat sich hierher gesehnt Dein Peter.“ Auch das „Dein“ konnte mich nicht trösten. Natürlich wird er eines Tages wiederkommen, aber nicht gern. Und schon gar nicht zu mir.
„Auch Pechsträhnen gehen vorbei“, tröstete Mumm, als ich mich einmal über mein hartes Schicksal beklagte. „Es heißt ja schon im Gesangbuch so einsichtig: ‚Jedes Ding währt seine Zeit.‘ Nimm dir etwas vor, dann kommst du nicht zum Nachdenken.“ Mumm weiß sehr oft gute Ratschläge. Sie hat selbst eine ganze Menge im Leben durchstehen müssen, darauf einzugehen führte jetzt zu weit. Auf jeden Fall aber ist sie eine Mutter, mit der man auskommen kann. Ich nahm die Gelegenheit wahr und schlug ihr vor, der Schule mit ihren Vieren den Rücken zu drehen und kurz und schlicht mein soziales Jahr zu machen. Das tun manche in meinem Alter. Ich bin sechzehn, also so gut wie erwachsen. Mumm sah mich überlegend an.
„Das wäre nicht schlecht, Bettine. Aber eines Tages bereust du es vielleicht doch, die Schule abgebrochen zu haben. Weißt du was? Mach soziale große Ferien. Fahr zu Liselotte. Du wirst sehen, wie anders dann die Welt aussieht.“
Sie schlug das, wohlgemerkt, nur vor, drängte mich nicht etwa dazu. Das tut Mumm nie, deshalb kommen wir so gut miteinander aus. Wenn andere in meiner Klasse über die Unmöglichkeit ihrer Ahnen klagen, komme ich mir immer ganz unmodern vor. Mumm ist in Ordnung, erstaunlich für ihr Alter. Auch hier hatte sie das Richtige getroffen. Ich entschloß mich also, zu Liselotte zu fahren. Liselotte ist meine ältere Schwester, zehn Jahr älter, somit beinah eine andere Generation. Sie hat einen Gärtner geheiratet und lebt in einem Dorf. Er ist ein sehr netter Mann, still, aber voller Humor. In zwei Jahren bekam sie drei Söhne — es waren nicht etwa Zwillinge dabei, sondern sie kamen ganz einfach hintereinander. Der jüngste kam einen Tag vor dem zweiten Geburtstag des ältesten zur Welt, das war wahrhaftig ein Rekord. Da schon der zweite eine Tochter hatte sein sollen, wußten sie in der Eile nicht mal einen Namen. Ich habe ihnen dann Amadeus vorgeschlagen, erstens, weil ich Mozart liebe, und dann, weil es „der Gottgeliebte“ heißt. Für den dritten bliebe danach nur Johann Sebastian, sagte Georg, mein Schwager — er ließ den Johann aber weg. Sie rufen ihn Bastl — schön ist das ja nicht. Aber Liselotte sagt, sie habe so viel zu tun, da könne sie sich nicht auch noch mit so langen Namen abgeben.
Viel Arbeit machen diese drei Bürschchen natürlich. Dazu kommt, daß Liselotte es nicht lassen kann, in der Gärtnerei mitzuarbeiten. Sie hat den grünen Daumen, meine liebe Schwester. Alles, was sie pflanzt oder sät, gedeiht — und Kränze macht sie, die sind bezaubernd. Schon als Kind hat sie einmal einen Feldblumenstrauß so schön zusammengestellt, daß ein Maler, der uns gerade besuchte, ihn gemalt hat. Das Bild kam dann sogar in eine Ausstellung. Ja, bei Liselotte werde ich nun meine sozialen großen Ferien verbringen. Ich freue mich darauf. Um so ärgerlicher machte mich der verpaßte Zug. Nun würde ich erst spät in der Nacht ankommen und die kleinen Jungen erst morgen sehen. Drei Stunden Aufenthalt!
Was aber blieb mir übrig? Ich mußte mein Gepäck in eines jener Schließfächer tun, von denen ich immer argwöhne, sie enthalten entweder eine Leiche im Koffer — man liest ja im Vorbeigehen manchmal die Überschriften der Boulevardzeitungen —, oder sie gehen, einmal bestückt, nicht wieder auf. Es sind recht aufregende Einrichtungen der modernen Welt, und ich bin immer halb erleichtert, halb enttäuscht, wenn sie funktionieren. Das, was ich mir ausgesucht hatte, funktionierte gleich von Anfang an nicht: Es ging nicht auf, und mein Geld war weg. Jetzt hatte ich eine solche Wut, daß mir die Tränen kamen.
Das sah ein Beamter, der schräg gegenüber das Handgepäck jener Leute betreute, die von vornherein auf die Technik verzichteten, und er kam sofort plattfüßig angeschlurft. Petsch, petsch, petsch machten seine Füße auf dem Fliesenboden. Und dann zückte er den Schlüssel.
Wie der Mechanismus eines Schließfaches von innen aussieht, ist schon imponierend, aber eigentlich gehört ja dazu, daß er auch funktioniert. Auf jeden Fall: Ich bekam mein Geld zurück und konnte Köfferchen und Tasche beruhigt einschieben.
„Wenn’s nachher nicht aufgeht, holen Sie mich wieder!“ sagte der Beamte und machte Bernhardineraugen. Ich sah tief hinein und hauchte: „Aber gern, danke!“ Und nun hatte ich drei Stunden Zeit für die Erforschung einer mir unbekannten Großstadt.
Wir wohnen in einer Kleinstadt. Da kennt man alles. Hier jedoch gab es ein Bahnhofskino, und wenn man hinausging aus der Halle, stand man vor einer Rolltreppe, die nach unten führte. Dadurch sollte wohl vermieden werden, daß Provinzler wie ich auf dem freien Platz mit den hundert Straßenbahnschienen einen Verkehrsunfall verursachen. Ich schwebte abwärts und befand mich gleich darauf in einem Tunnel, der rechts und links erleuchtete Schaufenster hatte. Und rechts und links auf der Erde saßen junge Männer mit Bärten und verkauften Ketten aus Silberdraht, die sie selbst gemacht hatten. Ich wünschte mir seit langem eine richtig auffallende, barbarische, so ein wildes Geklimper auf dem Pullover. Aber ich werde mich hüten, mein gutes Geld dafür hinauszuschmeißen. Ich sehe sie mir an und mache sie dann selber, das kostet einen Bruchteil von dem, was die Sauerkrautbärte verlangen, und man kann sie dann noch als Eigenwerk bewundern lassen. In der Ecke des Tunnels hockte eine Weiblichkeit, Haare rechts und links neben der Nase herabhängend, so daß man nur einen schmalen Streifen Gesicht, eigentlich nur die Nase sah, und heulte.
Zum Heulen ist so eine Frisur ja wirklich geeignet, denn man sieht, wie gesagt, vom Gesicht fast nichts. Sonst aber argwöhne ich immer, daß es keine Venus ist, die sich so frisiert — ein hübsches Gesicht zeigt man ja gern. Ich trage mein Haar so, daß es das Gesicht möglichst nett umrahmt, denn das hat es nötig; ich finde mich nicht bezaubernd. Auch nicht potthäßlich, das nicht. Zum großen Glück sind Sommersprossen Mode. Ich hätte sie allerdings auch sonst.
Ich ging ein Stück weiter, sah mir andere Ketten an, bummelte zurück. Die Vorhangbesitzerin hockte noch immer in ihrer Ecke und ließ die Tränenfließen. Ein warmes Gefühl stieg in mir auf. Das kenne ich schon, es bedeutet erst Mitleid und dann Raserei. Ich bin nämlich mit meinem schnell erweckten Mitleid schon ziemlich hereingefallen und mißtraue ihm deshalb von vornherein. Aber trotz dieses Wissens wurde das Gefühl stärker. Ich drehte zum dritten Mal um. Beim vierten Mal sprach ich sie an. Ich hätte es gleich tun sollen. Immer sperre ich mich, obwohl ich weiß, daß ich ja doch nicht widerstehen kann. Aber erst dreimal vorbeigehen und dann doch schwach werden — ich hätte genau so reagiert, wie sie es nun tat. Nämlich: „Was geht dich das an! Hau ab!“ Es klang mehr geschluckt als gerufen. Nun hätte ich ja mit gutem Gewissen gehen können.
Natürlich tat ich es nicht. Der warme Klumpen in meiner Brust verhärtete sich zu einem zornigen Kristall, und ich raunzte:
„Sei froh, wenn dich jemand fragt. Brauchst du Geld?“
„Das auch“, sagte sie schnippisch.
„Wieviel? Willst du wegfahren?“ Da sie im Hauptbahnhof saß, lag das nahe.
„Ja. Aus der Haut“, fauchte sie.
Da mußte ich lachen. „Das kostet nichts. Das kannst du so. Komm, ich hab’ meinen Zug verpaßt und deshalb Zeit. Und Hasenbrote. Willst du ein Hasenbrot?“
Ich hockte mich neben sie und packte Mumms Proviant aus. Mumm macht hervorragende Hasenbrote, sie ist geradezu ein Genie in dieser Beziehung. Ich sah, wie die Guste — so nannte ich die Dame mit dem Vorhanghaar bei mir selbst, das habe ich von Robert übernommen, der Guste als Standardnamen für alle weiblichen Individuen nimmt, genau wie Max für die männlichen — ich sah, wie es in ihren Augen zu blinkern begann. Dann wischte sie sich die Nase, eine symbolische Handlung, und dann muffelten wir beide.
Ich hatte Käse erwischt und sie Wurst. Außerdem gab es noch Schinken, Lachs und Ei. Ich bot ihr an, und sie nahm. Wir sprachen nichts.
Es gibt ein Zitat — aus Wallenstein ist es, glaub’ ich. Mumm wendet es manchmal an. ‚Vor Tische las man’s anders.’ Und das stimmt, hungrig sieht man die Welt ganz anders als satt. So die Guste. Als sie fertig gegessen hatte, schob sie die Haare rechts und links hinter die Ohren, seufzte tief auf und fragte: „Wie heißt du?“
„Bettine. Und du?“
„Ulle.“
„Schön. Das paßt zu dir. Und wohin wolltest du eigentlich?“
„Jedenfalls nicht nach Hause. Wenn du von der Inneren Mission bist und mir das einreden willst, spar dir den Atem“, sagte sie.
Ich winkte ab. „Sehe ich aus wie Innere Mission? Na also. Ich fahre auch nicht nach Hause, sondern von zu Hause weg.“ Mochte sie denken, was sie wollte, jedenfalls etwas Falsches. „Ich fahre zu meiner Schwester. Aufs Land. Babysitten. Bis auf weiteres.“ Das Letzte klang so, als hätten sie mich zu Hause in hohem Bogen hinausgeworfen. Das mußte doch tröstlich wirken. Außerdem hatte ich es möglichst grimmig herausgestoßen. Sie reagierte aber nicht auf dieses Letzte, sondern auf das Vorletzte. Manchmal ist das so.
„Babysitten.“ Ihr Gesicht wurde weich. Es war an sich ein rundes Gesicht, rund und ein bißchen weichlich, daher vielleicht der Haarvorhang. Wenn ich so aussähe, würde ich eventuell auch einen tragen — ein Pfannkuchengesicht, weit entfernt von schmaler Rassigkeit, aber sympathisch. „Unsere Nachbarn haben Zwillinge — ein Jahr alt. Ich habe sie manchmal versorgt, die Mutter geht arbeiten. Junge und Mädchen. Süß.“
„Wie heißen sie?“ fragte ich.
„Petra und Oliver. Blöd, nicht? Wenn schon Zwillinge, dann auch Zwillingsnamen, finde ich.“
„Ja, Petra und Peter wäre doch nett.“ Der Name Peter drückte mich in der Kehle. Deshalb sprach ich schnell weiter: „Die Kinder meiner Schwester heißen Jockel — eigentlich Georg, nach dem Vater —, Amadeus und Bastl. Den zweiten nennen sie Deus, richtig mit eu wie Freude. Und die will ich nun ein bißchen versorgen, ihnen die Nasen putzen und was so nötig ist, auf den Topf setzen und baden und schlafen legen. Liselotte — das ist meine Schwester — kommt nicht ganz nach mit dem allem. Sie tut viel in der Gärtnerei. Manchmal denke ich, sie hat die Gärtnerei geheiratet und den Mann halt mit in Kauf genommen.“
„Aber —“
„Natürlich nicht. Aber es ist schon selten, wenn der Beruf des Mannes so auf die Frau paßt. Ich möchte mal einen Kinderarzt heiraten. Oder — na, jedenfalls einen Arzt.“
„Arztehen sind fast immer unglücklich“, sagte Ulle weise. „Ich hab’ viele Arztbücher gelesen. Sie gehen schief, weil der Mann so viel von zu Hause weg ist — und schnuckelige Patientinnen hat...“
„Das liegt doch an den Frauen. Da würde ich eben mitfahren. Und ihm helfen. Und alles wissen. Und —“ „Er darf doch nichts erzählen. Es gibt doch das Arztgeheimnis!“
„Auch, wenn seine Frau sich um die Patienten kümmert? Dann darf er wohl etwas sagen. Was denkst du, wie nötig das manchmal ist, daß man nach den Leuten sieht, nach solchen, die allein sind, Rentnern und so...“
Wir waren im eifrigen Gespräch weitergegangen. Ulle ist jemand, mit dem man sich unterhalten kann, das gefiel mir gleich. Sie hat einiges gelesen und darüber nachgedacht. Wir schlenderten durch den Tunnel und tauchten dann über die Treppe hinauf in die wirbelnde Helle der Großstadt. Autos, Straßenbahnen, Kinoreklamen, Menschen.
„Komm, wir machen einen Schaufenster-Bummel“, sagte ich begierig. „Ich bin nämlich aus der Kleinstadt, weißt du. Da kennt man jede Auslage. Und wenn ein Kleid verkauft ist, mit dem man eine Woche lang liebäugelte, begegnet man ihm auf der Straße und ist enttäuscht: „Die hat das jetzt an? Das paßt doch gar nicht zu ihr.“
„Bei Kleidern ist das nicht so schlimm“, fiel Ulle mir eifrig ins Wort, „aber bei schönen Sportmänteln! Mit Pelz, der am Hals zu sehen ist, und großen geräumigen Taschen“.
„Magst du die auch so sehr? Oder Jacken —“ Dann kam ein Softeis-Stand.
„Komm, ich lade dich ein. Soviel hab’ ich noch“, sagte Ulle und kramte nach zwei Fünfzigern. Wir schleckten. Softeis schmeckt wunderbar, vor allem auf der Straße. Später standen wir eine Weile vor einer Buchhandlung. Als ich dann zufällig auf die Uhr sah, war ich ganz erstaunt.
„Du, die drei Stunden sind wahrhaftig bald um. Ich muß fahren. Und du?“
Sie sah mich an und zuckte die Achseln. Klarer konnte sie es wirklich nicht ausdrücken.
„Dann fahr doch mit. Meine Schwester hat sicher Platz...“
So sicher war ich eigentlich nicht. Überhaupt hatte ich mich da in etwas eingelassen — aber nun war nichts mehr rückgängig zu machen. Wir schoben uns durch die Menschenmenge zum Bahnhof, und am Schalter nahm ich eine Karte für sie.
„Einfach?“ fragte der Beamte. Ich sah Ulle an. „Einfach“, sagte sie. Das hieß: Ich will nicht mehr zurück.
Ich fahre ausgesprochen gern Eisenbahn. Zugegeben, das ist unmodern. Heute reist man im Wagen oder im Flugzeug und rümpft die Nase über die altmodische Puffbahn.
Vielleicht liegt es bei mir daran, daß ich Fahrschülerin bin. Durch das tägliche Fahren wird einem die Bahn so vertraut wie ein Zuhause.
Als mein Bruder Robert noch mitfuhr — er kommt gleich nach Liselotte, ist also einiges älter als ich —, trieben wir oft die verrücktesten Dinge im Zug. Am schönsten war das Zankspiel. Wir taten, als kämen wir zu spät, rasten um die Wette derselben Abteiltür zu, rissen sie auf und drängelten und schubsten hinein. Dabei schauten wir uns verstohlen um: Hoffentlich war alles bis auf einen Platz besetzt. Wenn ja, schmiß Robert seine Mappe darauf und ich irgend etwas anderes, meine Handschuhe oder die Mütze oder was ich gerade entbehren konnte. Und dann ging das Geschimpfe los, wer zuerst dagewesen sei.
Wenn wir Glück hatten, nahm jemand Partei. Ältere Herren fanden, daß ich als junges Mädchen nicht so schimpfen dürfe, zu ihrer Zeit jedenfalls hätte es das nicht gegeben. Andere wieder meinten, Robert solle Kavalier sein und mir den Platz überlassen. Da gab es dann wieder wilde Streitigkeiten über die Gleichberechtigung. Wenn der Zank so richtig seinen Höhepunkt erreicht hatte, setzte sich Robert einfach hin, ich ließ mich auf seinem Schoß nieder, und jeder von uns zog ein Schulbuch aus der Mappe und fing an zu lernen. Diese blöden Gesichter ringsum!
Dann hatten wir noch ein ausgesprochenes Langstreckenspiel. Es wurde erfunden, als Robert zur Berufsberatung fuhr und ich sowieso etwas in der Kreisstadt zu erledigen hatte. Die Fahrt dauerte etwa eine Stunde. In einer Stunde kann man viel Theater spielen.
Robert hatte sich auf dem Maimarkt Verlobungsringe für eine Mark das Stück gekauft. Die hatte er dabei. Nun suchten wir ein Abteil, in dem möglichst viele ältere Leute saßen.
„Hier“, flüsterte er, als er einen alten Herrn mit Brille und eine Dame mit Dutt und strengem Blick erspähte, die schon übelnahmen, daß wir uns überhaupt erfrechten, einsteigen zu wollen. Robert spielte diesmal den Kavalier, sehr übertrieben, aber wundervoll.
„Wollen Sie nicht hier Platz nehmen? Hier haben Sie doch die reizendste Aussicht!“ flötete er und zeigte dabei verstohlen auf das verkniffene Gesicht gegenüber.
„O danke, Sie sorgen ja wie eine Mutter für mich!“ flötete ich zurück.
Bereits unsere Unterhaltung störte die lieben Mitreisenden. Deshalb betrieben wir sie um so intensiver.
„Kommen Gnädigste auch aus den USA?“ fragte Robert, und ich mußte mir schnell etwas ausdenken, was ich an den Niagara-Fällen erlebt hatte.
Wir sprachen nicht so laut, daß es störte, aber sehr deutlich. Der verkniffene Herr und die Dame mit Dutt, beide spätes Mittelalter, horchten so aufmerksam zu, daß man förmlich sehen konnte, wie sich ihre Ohren verlängerten. ‚Tütenohren machen’ nennt Robert das.
„Ach ja. Was aber sind die Niagara-Fälle gegen die Sexwelle da drüben“, seufzte Robert, und ich sah, wie die beiden sich entrüstet nach rechts und links abwandten.
„Der Theolog sitzt abgewandt
und horcht auf jedes Wort gespannt“,
schrieb Robert auf einen Zettel und schob ihn mir hin. Ich prustete, versuchte, das Kichern in ein Niesen umzufälschen, verschluckte mich und fing an, fürchterlich zu husten. Robert klopfte mir donnernd auf den Rücken, so daß ich fast starb vor Lachen, und nun rückte er näher und näher an mich heran, so richtig in Tuchfühlung.
Eine halbe Stunde war vergangen, da konnte die Dame nicht mehr still sitzen. Eine weitere Viertelstunde, und der Herr räusperte sich pausenlos. Da hatte Robert schon den Arm um meine Schultern und drückte mich an sich. Kurz ehe der Zug bremste, sagte er:
„Richtig, ich hab’ ja die Verlobungsringe schon da. Komm —“
Wir sagten schon seit einiger Zeit nicht mehr Sie. Er steckte mir den einen Talmiring an den Finger, sich den anderen, spitzte den Mund und schmatzte mir einen Kuß auf, und dann flohen wir in den Gang hinaus, so schüttelte es uns vor Lachen. Die beiden blieben zurück, stocksteif und sprachlos.
Solche Dinge kann man im Zug treiben. Deshalb fahre ich so gern Eisenbahn. Auch jetzt mit Ulle fand ich es sehr lustig. Wir hatten eine Kreuzworträtsel-Fanatikerin im Abteil. Das ist immer lohnend, noch dazu, wenn sie von selbst fragt. Wir taten sehr interessiert und gaben die blödesten Antworten.
„Eine Waffe mit sechs Buchstaben —“ Ich rief: „Puffer!“ und puffte Ulle, daß sie beinah auf die Raterin fiel. Ein Ort mit fünfen: „Lokus.“ Fehlte nur der Körperteil mit vier Buchstaben. Wir benahmen uns sehr daneben. Als eine mittelalterliche Dame einstieg, hatte ich das Gefühl, etwas zurückstecken zu müssen.
Es gibt Leute, die fordern einen dazu heraus, Unsinn zu treiben. An anderen scheint alles abzuprallen. Diese sah eigentlich aus, als wolle sie uns mit ihren Blicken durchbohren. Als ich aber bei „kirchliche Handlung, fünf Buchstaben, zweiter ein E“ „Gelee!“ rief, noch in unserer Albernheit befangen, verbiß sie ein Lachen und senkte den Kopf, damit man es nicht sah. Die Raterin bemerkte es nicht.
„Und jetzt ein Beruf, weiblich, sieben Buchstaben“, sagte sie und sah in die Luft, als sollte ihr die Erleuchtung von oben beschert werden. „Zweiter Buchstabe O.“
„Clofrau“, sagte die Dame so ernsthaft, daß die Raterin es wirklich hinschrieb. Jetzt war es an uns, Ulle und mir, uns auf die Lippen zu beißen. Natürlich stimmten nun die anderen Wörter nicht.
Während die Unglückliche mit dem Kreuzworträtsel sich mühte, Kugelschreiber auszuradieren, was ja nicht geht, hatte ich mich einigermaßen gefaßt und sah mir unser neues Gegenüber genauer an. Die Dame war bestimmt nicht mehr jung, sah aber sehr gut aus. Sie trug ihr Haar schlicht; es lag wie ein Helm um ihren Kopf, und daher wirkte ihr Gesicht eigentlich wie das eines Mannes, nein, eines Jünglings. Ich kannte es übrigens, dieses Gesicht. Es gehört einem Knappen am Ulmer Rathaus; dorthin haben wir einmal einen Schulausflug gemacht, und von ganz Ulm ist mir dieses Knappengesicht das einzige Unvergeßliche geblieben. Ich habe alles andere darüber vergessen. Ein schmales, gescheites Gesicht — ein wenig — ja, wie beschreibt man so etwas? Ein wenig in die Länge gezogen, die Senkrechte betont. Der Knappe trug eine Mütze, die dieses Merkmal noch unterstrich. Manchmal sieht man solche Kappen auf Hanswurstdarstellungen. Sie gleichen den Teufelsmützen mit nach oben gezogenen Ecken, die man beim Schilaufen trägt.
Diese Dame trug natürlich keine solche Kopfbedeckung. Ich sah sie verstohlen an, aber eindringlich,