Bevor der Sturm begann - Claudia Ley - E-Book
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Bevor der Sturm begann E-Book

Claudia Ley

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Beschreibung

Liebe, Verlust und Neubeginn im italienischen Restaurant an der Steinernen Brücke

Portofino, 1910: Auf ihrer ersten Reise an die Riviera trifft die lebenshungrige Bürgertochter Susanne Märzhäuser die Liebe ihres Lebens. Achille Giraudo kann Italien und seine Familie nicht schnell genug verlassen. In Regensburg eröffnen die beiden direkt an der Donau das erste italienische Restaurant Bayerns. Während zwei Weltkriege ihr Glück überschatten, sind die Osteria und der bunte Kreis, der sich dort bei Pasta, Grappa und Barolo versammelt, wie ein Fels in der Brandung. Doch mit der wachsenden Großfamilie nehmen auch die Verwicklungen zu. Denn es gibt ein Geheimnis, das zwischen Susanne und Achille steht—und einen mysteriösen Todesfall, der vor vielen Jahren im Piemont geschah.

Eine mitreißend erzählte deutsch-italienische Familiengeschichte

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Seitenzahl: 728

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ZUMBUCH

Portofino, 1909: Auf ihrer ersten Reise an die Riviera trifft die lebenshungrige Bürgertochter Susanne Märzhäuser die Liebe ihres Lebens. Achille Giraudo kann Italien und seine Familie nicht schnell genug verlassen. In Regensburg eröffnen die beiden direkt an der Donau das erste italienische Restaurant Bayerns. Während zwei Weltkriege ihr Glück überschatten, sind die Osteria und der bunte Kreis, der sich dort bei Pasta, Grappa und Barolo versammelt, wie ein Fels in der Brandung. Doch mit der wachsenden Großfamilie nehmen auch die Verwicklungen zu. Denn es gibt ein Geheimnis, das zwischen Susanne und Achille steht – und einen mysteriösen Todesfall, der vor vielen Jahren im Piemont geschah.

ZURAUTORIN

Claudia Ley ist das Pseudonym einer Spiegel-Bestsellerautorin mit deutsch-italienischen Wurzeln. In Italien hat sie auch studiert und erhält sich dort bis heute ihren zweiten Wohnsitz. Mit ihrer Familie lebt sie im brodelnden Herzen Londons, übt ihren Beruf als Lektorin und Übersetzerin immer noch mit Begeisterung aus und liebt Reisen, italienische Küche samt Rotwein und Juventus Turin.

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Copyright © 2021 by Claudia Ley

Copyright © by Wilhelm Heyne Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die

AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

Herstellung: Mariam En Nazer

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design

unter Verwendung von Ullsteinbild;

Shutterstock.com (Jan Martin Will,

Lina Kundzeleviciene, Smithy55)

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27034-6V002

www.heyne.de

Per Daniela, Rosaria, Melina e Anna,

le belle donne di Sorrento

Und für meine drei Kinder,

Klaus, Lilly, Raúl

»Die Dinge enthüllen sich uns durch die Erinnerungen,

die wir daran haben. Sich an etwas zu erinnern

bedeutet, es – erst jetzt – zum ersten Mal zu sehen.«

Cesare Pavese, Das Handwerk des Lebens

AUFTAKT

Donnergrollen

Regensburg

Februar 1900

»Wir erinnern uns nicht an Tage. Wir erinnern uns an Momente. Der Reichtum des Lebens besteht aus den Erinnerungen, die wir vergessen haben.«

Cesare Pavese, Das Handwerk des Lebens

Ein Lieblingskind gibt es in den meisten Familien, und nicht immer kennt die Familie selbst dafür den Grund.

Das Lieblingskind in Susannes Familie war vom Tag seiner Geburt an Konrad gewesen, daran war nichts zu rütteln, und nach Gründen hatte sie sich nie gefragt. Konrad war eben Konrad. Unter den fünf Märzhäuser-Kindern der Goldschatz, der eine, der nichts anderes zu sein brauchte als er selbst.

Maximilian war der Erstgeborene, der Stammhalter, der Verantwortung zu tragen, in der Schule fleißig zu lernen und sich wie ein Erwachsener zu benehmen hatte, damit das, was der Vater mühsam mit seiner Hände Arbeit aufgebaut hatte, nicht ins Wanken geriet und wie ein Streichholzhaus zusammenfiel.

Susanne war die älteste Tochter, zwar nicht so heiß ersehnt wie ein Sohn, aber ebenfalls nötig, denn ein Mädchen, das auf sich achtete, das seine Aussteuer pflegte und eine gute Partie ergatterte, konnte seine Familie ein ordentliches Stück voranbringen.

Zwischen beiden gab es noch Ludwig, der seinen Nutzen haben würde, indem er das Brauerhandwerk erlernte, um den aber niemand viel Aufhebens machte. Wenn Bekannte – vor allem Geschäftspartner des Vaters oder deren Gattinnen – verwundert ausriefen: »Ach, Sie haben noch einen Sohn!«, waren damit nie Maximilian oder Konrad gemeint, sondern immer Ludwig.

Als Nächstes war Sybille geboren worden, die Hübsche, die eines Tages eine Prinzessin werden würde. Zumindest behaupteten das die Leute. »Mit der Kleinen hat dein Vater einen feinen Köder am Haken«, sagte Riedele, der Braumeister, der niemals lachte und alles ganz genau wusste. »Die angelt sich mal einen dicken Fisch und wird ein Prinzesschen, während wir gewöhnlichen Erdenwürmer uns ins Grab schuften.«

Als dann niemand mehr mit einem Kind gerechnet hatte, war Konrad gekommen, der gar nichts zu werden brauchte, sondern einfach er selbst war, und das war genug. Konrad, der Zärtliche, Konrad, der Fröhliche, Konrad, der auf der Welt keinem Wesen übelwollte. »Das letzte Kind ist zum Lieben«, sagte Tante Lene, die gar keine Kinder hatte, und vielleicht war das ja das ganze Geheimnis: Konrad war zum Lieben auf die Welt gekommen, und so wie alle ihn liebten, liebte er alle zurück.

Das waren sie. Die fünf Märzhäusers, die Kinder vom Brauhaus, wie die Leute in Stadtamhof sie nannten. Man hätte annehmen können, es wäre Max, der Älteste, nach dessen Pfeife sie tanzten, aber der war ein ruhiger Bürger und zum Anführer nicht gemacht. Es war Konrad, der ihnen allen voranzog und dabei auf seiner kleinen Vogelpfeife spielte, die ihm die Mutter auf der Dult gekauft hatte.

Den anderen Kindern kaufte sie dort an den bunten Buden, die Karamellduft und die Musik der Dampforgel umwehte, nie etwas. Es war alles wertloser Tand, für den eine fromme, sparsame Protestantin kein Geld ausgab, aber wenn Konrad sie mit seinen runden Augen ansah und »Bitt schön, meine Maman«, sagte, konnte sie nicht widerstehen. »Soll er das Dinglein eben haben, wenn’s ihm solchen Spaß macht. Er verlangt ja nicht viel.«

Das traf zu und verwunderte Susanne. Hätte sie selbst solche Macht besessen, hätte sie sich das Blaue vom Himmel gewünscht: ein eigenes Regal voller Bücher, eine Reise nach Italien, eine Palette mit Ölfarben, einen langfelligen Hund. Konrad aber wünschte sich nie mehr als kleine Dinge und diese auch nur hin und wieder, wenn er sein Herz an etwas hängte. So wie an die Vogelpfeife, das dicke Rotkehlchen aus Ton, in dessen Schwanz man blasen musste, damit es vorn durch den Schnabel, zu pfeifen begann. Wenn man zuvor ein wenig Wasser einfüllte, wurde aus dem Pfeifen ein Trällern, und Konrad füllte Wasser ein, sooft er mit seiner Vogelpfeife unterwegs war.

Trällernd stapfte, tanzte und hüpfte er ihnen voran durch die Gassen von Stadtamhof, durch die zu dieser Jahreszeit immer Nebelschwaden wie Gespenster huschten, und die vier Älteren trotteten im Gänsemarsch hinterdrein.

»Ach Gott, ist das goldig!«, rief Else Bruchmann, die katholische Bäckersfrau, die mit ihrer Schwester aus der Messe in St. Emmeram kam. »Der süße Flötenspieler vorneweg – wie ein richtiger kleiner Rattenfänger.«

Sybille war sieben, Susanne neun, Ludwig dreizehn und Maximilian sogar bereits fünfzehn Jahre alt und damit wirklich schon zu groß für solche Kindereien. Konrad aber, der kleine Sonnenschein mit seiner Vogelpfeife, war erst fünf, und nach dem sonntäglichen Gottesdienst in der Dreieinigkeitskirche, während die Eltern noch mit Bekannten vor dem Kirchtor standen, hatte er Susanne an beiden Händen genommen, zu ihr aufgeblickt und gefragt: »Bitt schön, mein Susannchen. Können wir zur Flutmulde gehen, zum Eislaufen? Der Ludwig hat’s heute früh schon gesehen, sie ist ganz zugefroren. Ach bitte, Susannchen, wir alle zusammen!«

Mein Susannchen. Das sagte er immer zu ihr. »Ich hab dich lieb, mein Susannchen, mehr lieb als Mandelsplitter und alle kleinen Sterne.«

»Heute nicht, Konni«, hatte Max sich eingemischt und ihm den Himmel gezeigt, der schwer und düster – wie mit Blei gefüllt – über ihren Köpfen hing. »Es gibt einen Sturm. Ein Wintergewitter. Das ist gefährlich, an solchen Tagen ist man daheim im Warmen besser aufgehoben.«

»Ach bitte, mein Maxl«, rief Konrad. »Nur eine halbe Stunde. Meine neuen Schlittschuhe werden sonst ja traurig, weil sie denken, ich mag sie nicht.«

Die Schlittschuhe hatte er zu Weihnachten bekommen und tatsächlich noch kein einziges Mal benutzen können. Der Winter war zu mild und zu stürmisch gewesen, und an den wenigen Tagen, an denen es Eis genug und einen klaren Himmel gab, hatten seine Geschwister keine Zeit gehabt.

Auf die Idee, die Schlittschuhe könnten deshalb traurig sein, kam allerdings nur Konrad. Er wollte, dass nichts und niemand auf der Welt traurig war, kein Mensch, kein Tier, keine unscheinbare Blume, kein totes Ding. Und seltsamerweise tat es, wenn Konrad davon anfing, den anderen auf einmal auch leid um die Traurigkeit der hübschen Schuhe mit ihren blitzblanken Kufen, die vermutlich zu klein sein würden, ehe Konrad sie sich im nächsten Jahr endlich anschnallen konnte.

»Also schön«, bekundeten Suse und Max gleichzeitig.

»Aber nur eine halbe Stunde«, fügte der Bruder mit mahnend erhobenem Finger hinzu. »Bis der Sturm beginnt, sind wir alle sicher daheim, hast du gehört?«

Rasch liefen sie die paar Straßenzüge zurück zum Haus und holten alle fünf Schlittschuhpaare aus der Remise. Sybille war selbst noch ein Kind, sie freute sich auf das Eis beinahe so sehr wie Konrad, und Ludwig machte alles mit, was die anderen beschlossen. »Ist ganz schön kalt heute«, war alles, was er vorbrachte, während sie hinter Konrad und seiner trillernden Vogelpfeife herzogen und der Wind ihnen die Nebelgespenster entgegentrieb.

»Du wirst schon nicht erfrieren.« Suse lachte. Sie fror selbst, aber es war ein Abenteuer, wenn auch nur ein kleines. Von Abenteuern konnte sie nicht genug bekommen. Aus der Krone des Kastanienbaums vor ihrem Haus war sie aufs Straßenpflaster gestürzt und hatte sich zwei Zähne ausgeschlagen, als sie so alt wie Konrad gewesen war. Ein Pflaster an der Lippe und eine Tracht Prügel später saß sie schon wieder oben in den Zweigen.

»Die Susanne, die kennt keine Angst«, hatte Tereza Doubek, ihre Kinderfrau, sich beklagt. »Die treibt’s ärger als die Buben.«

Tereza Doubek war im letzten Jahr entlassen worden, weil die vier Großen keine Kinderfrau mehr brauchten und die Mutter sich um Konrad selbst kümmern wollte. »Und dann hat er ja auch noch vier Geschwister, die auf ihn achtgeben können«, hatte sie dem Vater erklärt. »Da braucht’s den teuren Lohn für die Doubek nicht mehr.«

Sie gaben auf ihn acht. Sie gingen mit ihm zum Eislaufen, während die Eltern vor der Kirche ihren Schwatz beenden und dann nach Hause gehen würden, sie taten es gern, weil es schön war, Konrad eine Freude zu machen, und schön war, wenn sie alle zusammen waren.

Wir fünf gegen den Rest der Welt.

Die Flutmulde lag ganz im Osten von Stadtamhof. Hier gab es keine Laternen mehr, keine Straßenbahnschienen, kein befestigtes Pflaster. Wenn man sich umdrehte, sah man die spitzen Türme des Domes, Regensburgs Wahrzeichen, hinter dunklen Wolken verschwinden. Je länger sie gingen, desto unwegsamer wurden die Straßen, desto vereinzelter wurden die Häuser, und als schließlich keines mehr kam, sahen sie in kurzer Entfernung vor sich den tiefen, weiten Graben, der von dichtem Gehölz umwachsen war.

Er war ausgehoben worden, um sich bei Hochwasser zu füllen und dadurch zu verhindern, dass der reißende Fluss die Stadt überschwemmte. Hunderte von Jahren war das her, hatte Maximilian behauptet, und im Laufe von all diesen Jahren hatte die Mulde sich wieder und wieder mit Wasser gefüllt, das nie ganz abgelaufen oder versickert war. Irgendwann stand das Wasser mehrere Meter hoch, und die Vertiefung konnte keines mehr aufnehmen. Inzwischen gab es jedoch andere Gräben und besseren Schutz vor Hochwasser. Die alte Flutmulde wurde nicht mehr gebraucht.

Sie gehörte den Märzhäuser-Kindern, die sie geliebt hatten, so lange sie denken konnten. Es kam sonst niemand hierher, weder sommers noch winters. Zum Baden war ihren Kameraden das Wasser zu schlammig, und beim Eislaufen wollten sie bewundert werden, nicht sich hinter Gestrüpp und verkrüppelten Bäumen verstecken, wo ihren Pirouetten und Sprüngen niemand applaudierte.

Konrad nahm die Vogelpfeife vom Mund und lachte vor Glück: »Unser Platz.«

So hatten die anderen es ihm beigebracht: »Die Flutmulde ist unser geheimer Platz.«

Warum an ihrem Ufer nichts richtig in die Höhe spross, sondern alles, von der Trauerweide bis zum Ginsterstrauch, sich seltsam niedrig um sie ballte, fragte Susanne sich nicht zum ersten Mal. Das Dickicht war wie ein Wall, der ihren Platz, ihre eigene Welt, vor den Blicken Unbefugter schützte. Sie hätte es malen wollen. All das Gestrüpp, das selbst in winterlicher Kahlheit dicht wirkte, und das Eisgrau der überfrorenen Flutmulde, das dahinter aufblitzte. Dabei konnte sie nicht einmal malen. Allein in ihrem Kopf sah sie ständig Bilder, von denen sie sich wünschte, sie hätten sich mit entschlossenen Pinselstrichen festhalten lassen.

»Mir gefällt dieser Sturm nicht«, sagte Maximilian. »Mir wäre lieber, wir würden umkehren und ein andermal wiederkommen.« Erst jetzt fiel Susanne auf, dass der Himmel sich noch einmal verdunkelt hatte. Man hätte meinen können, es wäre schon spät am Nachmittag, aber das konnte ja nicht sein, denn sie waren doch erst vor einer knappen Stunde aus der Kirche gekommen und hatten noch nicht zu Mittag gegessen.

»Ist ja noch gar kein Sturm da«, sagte Ludwig. »Jetzt lass doch dem Kleinen seinen Spaß. Er dreht ein paar Runden auf dem Eis, und ehe da was losbricht, sind wir längst zu Hause.«

Konrad hatte bei Maximilians Worten innegehalten, hatte die Vogelpfeife mit seiner kleinen Hand umklammert, und auf seinem Gesicht hatte sich Enttäuschung gezeigt. Als jedoch Ludwig sprach, hellte sich seine Miene sofort wieder auf. »Darf ich gehen, mein Lu?«

»Klar doch, Knirps. Amüsier dich. Nach Ostern kommst du zur Schule, dann ist es vorbei mit dem lustigen Leben.«

Konrad sprang los und rannte mit wirbelnden Sohlen auf die Eisfläche zu, sodass der schmutzige Schnee aufstob und die neuen Schlittschuhe, die er an ihren Schnürbändern über der Schulter trug, wippten.

»Langsam, Konrad, das Ufer fällt steil ab!«, rief ihm Max hinterdrein, jedoch nicht sonderlich laut. Sein kleiner Bruder hörte ihn nicht. Sybille rannte auch los, doch die drei Älteren gingen nur langsam weiter, als gäbe es etwas, das sie zögern ließ.

Konrad hatte den Wall aus Dickicht erreicht und setzte wie ein Fohlen über einen niedrigen Strauch hinweg. Susanne sah seine kleine Gestalt im blauen Matrosenmäntelchen in den Nebel tauchen, der vom Eis aufstieg, und das Metall der Schlittschuhkufen glänzen.

»Das Wasser ist aus Glas! Es ist aus hartem Glas«, jubelte er, ließ die Schlittschuhe von seiner Schulter ins Gras gleiten und hastete auf das schillernde Eis. Nur die Vogelpfeife hielt er noch in der Hand, reckte den Arm wie im Triumph in die Höhe, während er weiter und weiter lief, immer kleiner wurde und fast im Dunkel verschwand.

Als hätten die Wilen, die Geister verstorbener Bräute, die in den Wäldern hausten, ihn zu sich gelockt und entführt. Es hieß, sie schlichen sich an die Ufer verborgener Gewässer, um nur mit Schleiern bekleidet zu tanzen, und ihre Tanzplätze zu betreten berge tödliche Gefahr.

Susanne schüttelte die Gedanken ab und ging zwischen ihren Brüdern weiter. Sie wollte an solchen Unfug nicht glauben. Solche Märchen erzählten Erwachsene Kindern, damit sie ihnen gehorchten und nicht davonliefen, um Abenteuer zu erleben. Das Buch vom Struwwelpeter verfolgte denselben Zweck: Es sollte Kindern Angst einjagen, sie glauben machen, wenn man in einem Sturm aus dem Haus ging, könne man samt seinem Schirm vom Wind davongerissen werden.

Was für dummes Zeug!

Der Wind blies ja auch jetzt, und zwar mit mächtiger Wucht. Er pfiff so laut, dass man Konrads kleines Vogelpfeifchen so weit weg sicher gar nicht mehr hätte hören können, und doch wurden weder Susanne noch ihre Geschwister in die Luft gerissen wie jener Robert in dem dummen Buch.

Es war das einzige Buch, das Susanne je für sich allein geschenkt bekommen hatte, und sie hasste es.

Sybille, die Konrad in vollem Lauf hinterhergeeilt war, blieb abrupt am Ufer stehen wie vor einer unsichtbaren Wand.

»Konni, was machst du denn?«, rief sie. »Komm zurück, du hast doch deine Schlittschuhe noch gar nicht an!«

Susanne hielt im Schritt inne, um zu lauschen, doch sie vernahm von ihrem Bruder keine Antwort. Höchstens ein fernes Pfeifen, ein Trällern wie von einem Singvogel, aber das mochte auch der Wind sein.

»Das gefällt mir nicht«, sagte Max.

Wieder sah er nach oben, und Susannes Blick folgte automatisch dem seinen. Über den Himmel jagten Wolken, grau wie Blei, schwarz wie Schwefel, ballten sich zu Klumpen, die größer schienen als die ganze Stadt.

»Was soll’s«, sagte Ludwig. »Wenn er einmal über den Tümpel geschlittert und auf die Nase gefallen ist, verliert er die Lust und kommt zurück.«

»Konni!« Sybille schrie jetzt, und in ihrer Stimme hallte Panik. »Konni, wo bist du denn, komm doch wieder zurück!«

Jetzt hörte Susanne eindeutig eine Antwort, kein Wort, aber einen der hohen, federleichten Triller, die ihr kleiner Bruder seiner Vogelpfeife entlockte. Dann war noch einmal alles still bis auf den Wind, der den verkrüppelten Bäumen in die kahlen Zweige fuhr. Lärm folgte, der sie erst erstarren und dann blindlings loslaufen ließ: der dumpfe Laut, mit dem ein Körper auf einen harten Untergrund prallte, dazu ein Splittern und Krachen, Konnis dünner, spitzer Schrei und Sybilles lauter, schriller.

Max rannte ebenfalls los und brüllte: »Sybille, bleib stehen! Geh nicht aufs Eis«, und Ludwig schrie hinter ihnen her: »Das ist nicht das Eis! Er ist nur hingefallen, ihm ist nur diese ewige Pfeife zerbrochen.«

Susanne wusste, was sie zu tun hatte. Nein, nicht sie selbst wusste es, sondern ihr Körper, der wie ein eigenständiges Wesen die Kontrolle übernommen hatte und ohne ihr Zutun agierte. Der Körper packte Sybille, die weinte und sich losreißen wollte, und hielt sie mit aller Kraft fest.

Sieh nicht nach vorn,befahl ihr der Körper. Konzentrier dich darauf, deine Schwester zu halten, schau um keinen Preis nach dem, was auf dem Eis geschieht.

Um Konni würde Max sich kümmern, Max, der so groß und klug und eigentlich schon ein Erwachsener war. Er würde ihn auf den Arm nehmen und über das Eis zurücktragen, aus den Nebeln, aus der Dunkelheit heraus und weit weg von den Händen der Wilen, den Geistern toter Bräute, die doch einem kleinen Jungen nichts zuleide tun würden, schließlich gab es sie überhaupt nicht!

Max würde das mit Konni in Ordnung bringen, er würde ihm versprechen, ihm im nächsten Advent auf der Dult eine neue Vogelpfeife zu kaufen, wenn er bis dahin nicht längst zu groß dafür wäre, und ehe der Sturm begann, wären sie zu Hause.

Es war kalt. Sybille wimmerte. Alles Licht wirkte wie verschluckt.

»Ludwig«, gellte Maximilians Stimme durchs Dunkel. »Komm hierher, hilf mir! Suse und Bille, lauft zurück in die Stadt und holt Hilfe!«

Susannes Körper, der die Kontrolle übernommen hatte, war starr wie aus Eis. Zu ihren Füßen wischte ein grauer Blitz vorbei, eine Feldmaus, die ein Fiepen ausstieß und dann wieder zurückjagte. Vermutlich verletzt oder krank. Mäuse wagten sich sonst nicht so nah an Menschen.

Irgendwie schafften sie es, irgendwie rannten sie los, und im selben Moment sprang Ludwig, der eine Art Heulen ausstieß, aufs Eis. Dreh dich nicht um,beschwor sich Susanne, doch im Loslaufen sah sie die neuen Schlittschuhe, die im zertretenen Gras lagen.

Sie werden traurig sein.

Bis der Sturm begann, waren sie und Sybille daheim, in der Andreasstraße, in Decken gewickelt, vor dem Feuer platziert und mit Tee versorgt. Ehe es richtig losging, brachten Männer mit Stangen, Seilen und Fackeln auch die Jungen nach Hause.

Einzig Konrad brachten sie erst am frühen Morgen. Von seiner Vogelpfeife war keine Scherbe mehr da.

ERSTER TEIL

Sturmwolken

Regensburg

Februar 1910

»Ginia meinte, nie zuvor begriffen zu haben, was der Sommer ist, so schön war es, jede Nacht aus dem Haus und in den Alleen spazieren zu gehen. Manchmal dachte sie, dieser Sommer werde nie ein Ende nehmen, und zugleich, man müsse ihn schnell genießen, denn wenn die Jahreszeit wechsle, werde bestimmt etwas geschehen.«

Cesare Pavese, Der schöne Sommer

1

»Seien S’ mir nicht bös, Märzhäuser. Ich hätt’s ja selbst gern gehabt, unsere beiden Familien durch Heiratsbande miteinander verknüpft. Aber die Susanne? Ein nettes Mädel, gewiss. Nur leider so gar nichts Besonderes, kein Esprit, kein Chichi, verstehen S’,was ich meine?«

Susanne, an der Tür zu ihres Vaters Arbeitszimmer, die um eine winzige Ritze offen stand, spürte, wie ihr Körper von den Schultern bis hinunter in die Waden erstarrte.

»Ach Gott, Suse!«, platzte Sybille heraus, viel zu laut, um noch als Flüstern durchzugehen. »Ach Gott, ach Gott.«

Die kleine Schwester packte Susannes Hand. »Es tut mir so leid. Dein Harro. Was für ein Verräter.«

»Pst. Sei doch still.« Susanne legte ihr die freie Hand auf den Mund. Sie fühlte sich gedemütigt, auch ohne dass die zwei Männer sie wie ein Kind beim Lauschen erwischten. Dabei war sie nicht einmal sicher, dass sie Harro Islinger, mit dem sie ein paarmal getanzt hatte, hätte heiraten wollen, doch mit derart flapsiger Nonchalance verschmäht zu werden, war eine Kränkung sondergleichen. Eine Ohrfeige links und eine rechts. Mit dem Handrücken. Unverdient und vor allen Leuten.

Nichts Besonderes.

Lieber wäre sie Mechthild Krause von der Bleistiftfabrik gewesen, von der die Jungen wiehernd vor Lachen behaupteten, sie sei hässlich wie die Nacht und ihr Vater habe ihr die Nase wie einen Bleistift angespitzt.

Hätte Harro Islinger »nicht hübsch genug«, »keine gute Hausfrau« oder etwas in der Art ins Feld geführt, hätte sie es vermutlich wegstecken können, denn all dies wusste sie ja selbst. Hübsch war sie wirklich nicht. Dafür konnte sie nichts, war schon so geboren, hatte als Mädchen die kantigen Züge und den eckigen, ungelenken Gang ihres Vaters geerbt. Mit dem Erwerb der gängigen Qualitäten, die eine Frau zur Führung eines großbürgerlichen Haushalts benötigte, hatte sie sich schwergetan, verstand sich weder auf oberflächliches Plaudern noch aufs Arrangieren imposanter Blumengestecke, besaß keine Singstimme, tanzte höchstens mittelmäßig und hatte keinen modischen Geschmack. Dass zum Ausgleich in ihr eine Neugier brannte, die so gut wie alles, was in der Welt geschah, einschloss, hätte bei einem Jungen gezählt, aber nicht bei einem Mädchen.

Aber war sie denn wirklich nichts Besonderes? Die seltsame Leidenschaft, die Lust aufs Leben, die sie oft nächtelang neben der friedlich schlummernden Sybille wach hielt, war ihr immer außergewöhnlich erschienen. Ebenso ihre Fantasie: Ihre Brüder begleiteten regelmäßig den Vater auf seinem Rundgang durch die Lokale, die Bier von ihm bezogen, während Susanne höchstens zwei- oder dreimal mitgedurft hatte. Sooft sie jedoch eines dieser biederen Gasthäuser betrat, begann das Ambiente sich vor ihrem geistigen Auge zu verwandeln: Ideen zu Einrichtung und Ausstattung wirbelten ihr durch den Kopf, Farben wechselten, Düsternis wurde zu weichem Licht, bis am Ende ein Raum entstand, dessen ganze Atmosphäre zum Verweilen einlud.

Wie gern hätte sie einen solchen Raum tatsächlich gestaltet und darin Gäste bewirtet! Schon als Kind hatte sie aus dem Salon von Sybilles Puppenstube mit Vorliebe ein Speiserestaurant gemacht und auf den winzige Tellern Menüs aus mit Mandelsplittern gespickten Korinthen und Reiskörnern in Sahnetropfen serviert.

Und ganz dumm war sie ja wohl auch nicht, oder? Sie las unentwegt. Jedes Buch, das sie sich verschaffen konnte, kam ihr vor wie ein Augenblick, in dem das Tor zur Welt sich öffnete, und an manchen Tagen fühlte sie sich, als fehlte ihr nur noch die passende Idee, um mitten hineinzuspringen.

Harro Islinger aber, der Patriziersohn, den sie, wenn sie ehrlich war, eher ermüdend als anziehend gefunden hatte, lehnte sie ab, weil sie ihm zu langweilig war. Kein Esprit, kein Chichi. Aber warum traf es sie so hart, was Harro Islinger von ihr dachte? Warum hatte sie die Aussicht auf seinen Heiratsantrag in solche Erregung versetzt, dass sie sich mit ihrer Schwester hinter einer Tür versteckte, um zu lauschen?

Das mit dem Lauschen war natürlich Sybilles Idee gewesen, aber darauf konnte sich Susanne nicht herausreden. Sie hatte schließlich nicht protestiert, sondern war regelrecht darauf angesprungen. Was trieb sie dazu, weshalb verlangte es sie nach einem Leben mit einem Mann, an dem sie nichts fand?

Irgendwie muss man ja nun einmal leben, dachte sie. Eine Ehefrau mit eigenem Haushalt war zumindest besser dran als ein ewiges Mädchen im Elternhaus. Wenn sie ein abschreckendes Beispiel brauchte, so hatte sie ihre Tante Lene vor Augen, die in einer zum Garten hinaus gelegenen Kammer hauste, über keinen Pfennig Geld verfügte und wie ein Kind nicht einmal darüber entscheiden durfte, was sie auf dem Leib trug und zu Mittag aß.

Susanne wollte ein Fenster zur Straße. Ein Haus, in das Leute kamen, die etwas erlebt, die etwas zu erzählen hatten. Kunst, Kultur, Politik, ganz egal. Sie wollte Gespräche, die wie Springbrunnen überschwappten und halbe Nächte währten, Gäste, die, wenn sie mit Weinlaub im Haar ihr Haus verließen, sagten: »So wie bei Ihnen ist es nirgendwo, liebe Susanne, bitte laden Sie uns bald wieder ein.« Und sie wollte reisen. Als Frau von Harro Islinger käme sie wenigstens zu Flitterwochen. Zwar kaum ins Ausland, das erträumte Italien blieb adligen Paaren vorbehalten, aber doch immerhin in eins der besseren Hotels von Baden-Baden.

»Einfach nichts Besonderes«, sagte Harro Islinger jetzt noch einmal. »Ich bedaure aufrichtig, Märzhäuser. Das müssen S’ mir fei glauben.«

Der Vater, durch den Türspalt betrachtet, sah aus, als wäre er selbst gekränkt und abgelehnt worden. Und im Grunde war er das ja auch. Die Islingers waren Kaufleute, echtes altes Regensburger Blut, das Alfons Märzhäuser so gern dem seiner eigenen Familie hinzufügen wollte. Seit der ewige Reichstag aufgelöst war, der einst so lukrative Fernhandel sich nach München und Nürnberg verlagerte und die stolze Stadt im Dornröschenschlaf versank, befand sich der Stern der Händlerkaste im Sinken, während findige Handwerksleute wie Alfons über Nacht gen Himmel stürmten.

Das Brauhandwerk war ein anderes geworden, jetzt, da sich dank Lindes Kältemaschine sommers wie winters untergärige Biere brauen ließen, und Alfons hatte die Gunst der Stunde zu nutzen gewusst. Aus dem vor sich hin dümpelnden Familienbetrieb seines Vaters hatte er ein Unternehmen des zwanzigsten Jahrhunderts gemacht, das mit dem fürstlichen Brauhaus derer von Thurn und Taxis konkurrieren konnte.

Märzhäusers Märzen,ein täuschend blumiges Helles mit der Wirkung einer Feldkanone,war sein Verkaufsschlager.Die Gaststätten am Kohlemarkt bezogen es in rauen Mengen, und seit Neuestem kamen sogar das alteingesessene Café unter den Linden und der Gasthof Goldenes Kreuzam Haidplatz nicht mehr umhin, das Produkt des verpönten Emporkömmlings anzubieten.

Die schmucke Gründerzeitvilla in der Andreasstraße, die Alfons sich hatte bauen lassen, gehörte zu den ersten in Stadtamhof, die mit fließendem Wasser und elektrischer Beleuchtung ausgestattet worden waren. Seine Söhne hatten das Neue Gymnasium im Minoritenweg besucht, und Maximilian, der älteste, hatte an der ehrwürdigen Ludwig-Maximilians-Universität Nationalökonomie studiert. Einen Akademiker zum Sohn zu haben erhob Alfons endgültig über den Stand eines schlichten Handwerkers. Alles, was nun noch fehlte, war der Schwiegersohn, der der Familie des Bierbrauers die Tür zu den höheren Etagen aufstieß.

Die wirtschaftliche Lage der Islingers war im Vergleich dazu seit Jahren brenzlig, und das Handelshaus hätte die Finanzspritze, die Susannes Vater zu zahlen bereit war, gut brauchen können. Alfons Märzhäuser mochte sich seiner Sache sicher gewähnt haben. Der arrogante Erbsohn aber erdreistete sich, sein Angebot zurückzuweisen, weil ihm die Braut nicht reizvoll genug erschien.

»Mit der Susanne also, das wird nichts«, hob er neuerlich an. »Wenn S’ sich hingegen entschließen könnten, Ihr jüngeres Fräulein Tochter in Erwägung zu ziehen, säh die Sache anders aus. Bei der Kleinen, bei der Sybille, ja, da kämen wir zwei ins Geschäft.«

Scharf zog Sybille Luft ein. »Ich glaub, ich höre nicht richtig! Was für ein Schuft, Suse, was für ein widerlicher, ekelhafter Schuft!«

"Himmelherrgott, Bille, du Schwatzmaul, sei still!« Wieder hielt sie der Schwester, diesem Speier, aus dem es unentwegt sprudelte, den Mund zu, doch es nützte nichts mehr. Nicht Sybilles lautes Flüstern, sondern ihr eigener Ausbruch brachte die Herren dazu, die Köpfe zu drehen. Der Blick ihres Vaters traf den ihren. Susanne kannte ihn als einen herrischen, selbstgerechten Mann, der über Nichtigkeiten in Zorn geriet und neben seiner eigenen keine Meinung gelten ließ. Einen Ausdruck wie den, der sich jetzt in seinen scharfen, kleinen Augen zeigte, hatte sie darin noch nie gesehen.

Alfons Märzhäuser wirkte weder zornig noch entrüstet, sondern nichts als traurig. Enttäuscht von mir, dachte sie. Alles, was er wie in einen Spickbraten in mich hineingesteckt hat, war umsonst und zahlt sich nicht aus.

»Ja mei, Fräulein Susanne«, murmelte Islinger. »Für Ihre Ohren war unser Gespräch wahrlich nicht bestimmt. Aber da Sie nun einmal Bescheid wissen, können wir genauso gut reinen Tisch machen. Es ist schließlich niemandem geholfen, wenn man zwei zusammengibt, die’s nicht zueinander zieht.«

»Ich verstehe«, hörte Susanne sich sagen, kühl und ruhig, sogar souverän. »Und da es Sie, wie Sie deutlich bekundet haben, zu meiner Schwester zieht, will ich dem jungen Glück nicht im Wege stehen.«

»Oh, Suse, wie kannst du nur!« Sybilles Ellenbogen traf sie schmerzhaft unter den Rippen. »Selbst wenn ich auf ihn fliegen würde wie eine Motte auf die Straßenbeleuchtung, würde ich ihn nicht wollen. Einen, der dumm genug ist, mich zu nehmen, wenn er dich haben könnte – wer will denn den?«

Susannes Wangen glühten. In all der Verwirrung, die es mitbrachte, neunzehn Jahre alt zu sein, vergaß sie allzu oft, dass ihre Schwester der netteste Mensch auf der Welt war.

»In diesem Stadium der Angelegenheit ist es wohl kaum ratsam, eine Dame nach Ihrer Ansicht zu befragen«, kam es pikiert von Islinger. »Erst recht nicht, wenn sie noch so jung und unbedarft ist wie Sie, liebes Fräulein Sybille. Seien Sie dankbar, dass Männer mit Pflichtgefühl für Sie Sorge tragen.« Er wandte sich dem Vater der Schwestern zu. »Was meinen S’, Alfons? Wollen wir unsere Belange unter uns besprechen und bei einem Umtrunk besiegeln? Gehen wir ins Hofhäusl.Sie sind mein Gast, versteht sich.«

Kurz schwiegen sie alle so still, dass man die Tür, an der Sybille sich festhielt, in ihren Angeln quietschen hörte. Dann drehte der Vater sich von Susanne weg zu Harro Islinger. »Ich denke nicht, dass wir noch Belange zu besiegeln hätten«, sagte er. »Sie haben mir ja deutlich gemacht, dass Sie an einer Verbindung unserer Häuser kein Interesse haben.«

»Aber ich bitt Sie, Alfons!«, rief Islinger. »Dass wir über die Sybille reden wollten, hatten wir doch schon geklärt. Daran hat sich ja nichts geändert, und Sie kommen mir keineswegs wie ein Mann vor, der in seinem Haus nicht selbst die Hosen anhat, sondern Madeln nach ihrer Ansicht befragt.«

»Ich mir auch nicht«, erwiderte Susannes Vater. »In meinem Haus zählt meine Ansicht und sonst keine, und deshalb haben Sie in diesem Haus nicht länger etwas verloren. Mit der Sybille will ich höher hinaus und habe bessere Angebote. Also bitt schön, auf Wiederschauen. Meine Zeit ist knapp.«

2

Wenn Alfons Märzhäuser einen Beschluss fasste, war dieser in Stein gemeißelt. Eher schlug man sich die Stirn daran blutig, als dass man etwas daran änderte. Er hatte den Hausdiener gerufen, damit dieser Islinger zur Tür geleitete, und er hatte seine Töchter mit einer Handbewegung ihrer Wege geschickt. Wie schon als kleines Mädchen hatte Sybille sich an Susannes Arm geklammert. »Puh, das ist noch einmal gut gegangen, was? Hätte ich Vater gar nicht zugetraut, dass er den Lumpenkerl so abserviert.«

Wie gewohnt hatte Sybille geredet, ohne Atem zu holen, als beruhige es sie, ihre eigene Stimme zu hören. Nicht selten beruhigte es auch Susanne, aber nicht heute. Sie wollte allein sein. Wollte sich Gedanken darüber machen, was aus ihr werden sollte.

Eine zweite Tante Lene – wie es aussah. Wie hatte ihr das nur passieren können, wie war sie in diese Falle getappt?

War denn nicht ein neues Jahrtausend angebrochen? In London gingen Frauen auf die Straße und verlangten, wie Männer ihre Regierung wählen zu dürfen, und in Italien, Susannes Land der Träume, publizierte ein Schriftsteller namens Filippo Marinetti ein Manifest, das er futuristisch nannte und in dem es hieß: »Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit. Wir erklären, dass sich die Herrlichkeit der Welt um eine neue Schönheit bereichert hat: die Schönheit der Geschwindigkeit.«

Bei Susanne hingegen, in ihrem eigenen Dasein, wurde alles immer nur langsamer. Sie hätte sich in diese wilde, gefahrvolle Welt hineinwerfen wollen, sich ausprobieren, um herauszufinden, wer sie war und was sie mit ihrem Leben anfangen konnte. Stattdessen schien alles vorgezeichnet und schon so gut wie zu Ende, ehe es auch nur begonnen hatte.

Sie würde in der Kinderstube, die sie sich jetzt noch mit Sybille teilte, wohnen bleiben und zuschauen, wie die Schwester und Ludwig ihrer Wege zogen, während Max sich mit Vevi, seiner Liebsten seit Kindertagen, als neuer Herr des Hauses einrichtete. Sie hingegen würde zwischen wurmstichigen Eichenkommoden vermodern, bis Tante Lene starb und sie in deren Gartenzimmer umgesiedelt wurde. Die vier Märzhäuser-Kinder riefen die Schwester ihres Vaters nur »Tante«, und genauso würde es Susanne mit Max’ und Vevis Kindern ergehen. Auf eine Tante würde nahtlos die nächste folgen, die eine so überflüssig wie die andere.

»Suse, was ist denn?« Sybille zerrte an ihrem Arm. »Gehen wir doch zum Maxl ins Bureau, holen wir Ludwig und besprechen uns. Die zwei werden ihren Ohren nicht trauen, wenn sie hören, was gerade los gewesen ist.«

So war es immer. Was einem der Geschwister widerfuhr, wurde noch brühwarm unter allen vieren besprochen. Selbst wenn die anderen nicht helfen konnten, tat es gut, mit einem Kummer nicht allein zu sein. Vevi, Maxls Verlobte, die weder Bruder noch Schwester hatte, beneidete sie: »Wisst ihr eigentlich, wie schön ihr es habt? Ihr seid in allen Lebenslagen ein Kleeblatt, die vier Märzhäusers gegen den Rest der Welt, und wer es mit einem von euch aufnimmt, bekommt es mit allen vieren zu tun.«

Mit allen vieren. Die Lücke, die sich unter diesen Worten auftat, vernahm vielleicht nur noch Susanne.

»Geh du«, sagte sie und entwand sich Sybilles Griff. »Ich brauche ein bisschen Zeit für mich allein.«

»Aber doch jetzt nicht, Suse!« Auf dem lieblichen Gesicht der Schwester malte sich Unverständnis. »Dieser widerliche Islinger hat dich behandelt wie einen Fußabtreter, da kannst du doch nicht obendrein alleine sein!« Allein zu sein kam für Sybille einer Beschreibung der Hölle gleich. Der Gedanke, man könne sich auch nur in seiner eigenen Gesellschaft wohlfühlen, war ihrem Wesen fremd.

Vielleicht hatte das Schicksal es also so schlecht gar nicht eingerichtet. Wäre Sybille statt ihrer dazu verurteilt, als neue Tante Lene im einsamen Kämmerlein zu hausen, würde sie verkümmern wie eine Zimmerpflanze, die niemand goss. Zu ihrem Glück war Bille jedoch bildhübsch, sodass der Kelch an ihr vorübergehen würde.

Susanne drückte ihre Schwester kurz, ließ sie stehen und zog sich in die Kinderstube zurück, zu Spielzeugregalen, Puppengeschirr und dem leer im Luftzug schwingenden Schaukelpferd. An einem anderen Tag wäre sie nach draußen gegangen und hätte sich im gelben Lichterglanz der Laternen beruhigt. Heute aber herrschte vor dem Fenster ein Wetter, das ihr Angst machte. Der Himmel hing dunkel und wie mit Blei gefüllt nieder. Hätte man das Fenster geöffnet, hätte der Wind, der etwas Unnatürliches hatte, die Vorhänge ins Innere des Zimmers geweht. Von ihrer Angst vor Wintergewittern wusste kein Mensch. Sie war die vernünftige Susanne, von der niemand Anflüge von Hysterie erwartete.

Obendrein war so ein Wintergewitter eine seltene Erscheinung, versuchte sie sich zu beruhigen, obwohl sie spürte, wie sich die Kälte in ihr ausbreitete. Es würde auch heute kein Gewitter geben, sondern höchstens noch einmal Schneefall, und wenn doch, so war es kein Omen dafür, dass etwas Übles bevorstand. Susanne glaubte nicht an solche Omen, und doch fragte sie sich beim Blick in den bleiernen Himmel immer wieder aufs Neue: Wäre damals das Unglück nicht geschehen, hätten wir kehrtgemacht, ehe der Sturm begann, und hätten unseren kleinen Talisman nicht verloren – wäre unsere Familie dann anders, als sie ist?

Ihre Mutter war der Melancholie verfallen und verließ ihr Zimmer nur, wenn man sie zwang. Ihr Vater hingegen hatte das Begräbnis abgehandelt wie einen geschäftlichen Termin und war an seine Arbeit zurückgekehrt. In der Stille des Hauses schien jeder Schritt zu hallen. Die vier Kinder, die darin zurückgeblieben waren, hatten allein zurechtkommen müssen, auch wenn Ilse, die Köchin, für ihr leibliches Wohl sorgte. Was fehlte, war ein Erwachsener, der ihnen zuhörte und Antwort gab. Jemand, den Susanne hätte fragen können, wie man als wenig heiratsfähiges Mädchen dem Schicksal einer Tante Lene entging.

Schließlich gab es sogar Frauen, die studierten, seit ein paar Jahren war es ihnen in Bayern gestattet, sich zu immatrikulieren. Es gab Frauen, die in Münchens Kunstareal durch Galerien und Museen zogen, nicht als staunende Zuschauer, wie Susanne es während eines Besuchs getan hatte, sondern als Künstlerinnen, Galeristinnen, Musen und Modelle. Susanne konnte nicht malen, aber an Bildern und Ideen herrschte in ihrem Kopf alles andere als Mangel.

Warum zauderte sie also vor jedem Versuch, eines dieser Traumbilder in die Wirklichkeit umzusetzen?

Sie hatte als mutiges Kind gegolten. »Die Susanne hat vor nichts Angst, die ist leichtsinniger als die Buben«, hatte Tereza Doubek, ihre Kinderfrau, sich beklagt. Wo war das hin? Weshalb nahm sie ihr Leben nicht in die Hand, sondern ließ sich von einer läppischen Sturmwolke einschüchtern?

An der Tür der Kinderstube klopfte es. Sybille,dachte sie mit einem leisen Seufzen, und Maxl und Ludwig im Schlepptau.Sie hätte sich dem Ansturm der Geschwister gern entzogen, aber es war ja lieb gemeint von den dreien.

»Ja, ja, kommt schon rein«, rief sie.

Die Tür wurde aufgeschoben. Statt Max, Lu und Bille trat ihr Vater herein, dessen Gestalt für dieses Zimmer mit all seinem nutzlosen, winzigen Krimskrams viel zu raumgreifend wirkte. Er kam nicht oft hierher. Beim letzten Mal hatte er einen Satz der zierlichen Puppenmöbel zertreten, die Sybille auf dem Boden aufgebaut hatte. Es musste Jahre her sein. Inzwischen spielte selbst Sybille nicht mehr mit Püppchen.

»Ich habe mit dir zu sprechen«, sagte er. Ludwig hatte einmal behauptet, sein Tonfall klinge, als riefe er von einem Kutschbock Befehle hinunter und knalle mit der Peitsche dazu. Als wäre er nicht Eigentümer einer über Regensburg hinaus bekannten Großbrauerei, sondern noch immer ein Bierkutscher, wie sein Großvater einer gewesen war.

Die Gardinenpredigt, die jetzt folgen würde, hörte Susanne nicht zum ersten Mal. Wiederum hatte sie mit ihrem Mangel an weiblichen Tugenden alles vermasselt und ihren Vater blamiert. Die Vorwürfe würden an ihr vorbeirauschen. Sie kannte sie mittlerweile auswendig.

Der Vater sah sie nicht an. Stattdessen spielte er mit der Kette seiner Uhr, die er sich nach veraltetem Design hatte fertigen lassen, damit sie wie ein Erbstück wirkte. »Wir werden auf eine Reise gehen«, sagte er.

Susanne zuckte zusammen. Eine Reise? Wer und wohin? Reisten der Vater und Max in Geschäften, jetzt mitten im Winter, und wenn ja, weshalb sprach der Vater darüber mit ihr? Sie würde er schließlich sowieso nicht mitnehmen, so gern sie sich angeschaut hätte, wie man außerhalb von Regensburg Gäste zu sich lockte und bewirtete.

»Eine Erholungsreise«, beantwortete der Vater die Frage, die Susanne nicht gestellt hatte. »Dr. Hähnlein rät mir seit Jahren, mit eurer Mutter die Wintermonate in wärmeren Gefilden zu verbringen, um zu sehen, ob ihr Leiden sich dadurch bessert. Wir fahren Anfang März, da ist der Winter zwar so gut wie vorbei, aber ansonsten ist der Zeitpunkt günstig. Zum ersten Mal ist es mir möglich, die Geschäfte für ein paar Wochen in den Händen des Prokuristen zu lassen.«

»Du fährst mit Mutter?«, fragte Susanne. Dr. Hähnlein, der Arzt der Familie, widmete sich seit Jahren ausschließlich dem Krankheitsbild der Mutter und hatte sich auf die Leiden der Seele spezialisiert. Dass ihr Vater sonderliches Interesse am Zustand seiner Frau hegte, hatte Susanne bisher nie bemerkt.

»Wir alle«, erwiderte er. »An die Riviera in Oberitalien, wie es sich inzwischen nicht nur die Hochwohlgeborenen leisten können, sondern auch Männer, die ihr Geld mit ihrer Hände Arbeit verdienen. Portofino ist mir wärmstens empfohlen worden. Nicht weniger idyllisch als dieses Santa Margherita Ligure, wo von Waldhausens im letzten Winter waren, aber noch nicht von Krethi und Plethi überlaufen.«

Krethi und Plethi. Susanne hütete sich, ihrem Vater zu sagen, dass die Hochwohlgeborenen Leute wie ihre Familie mit diesem Schimpfnamen belegten. »Soll das heißen, wir fahren nach Italien?«, rief sie fassungslos. »Ich auch?«

»Warum sollten wir nicht?«, fragte ihr Vater zurück. »Steht uns etwa weniger zu als einem Islinger oder einem von Waldhausen? Der Unterschied ist lediglich, dass ich für die Reise bezahlen kann, während es den beiden anderen an Liquidität mangeln dürfte. Was natürlich nicht bedeutet, dass sie nicht reisen, denn ihresgleichen gewährt man ja Kredite. Aber was soll’s. Alfons Märzhäuser braucht von niemandem einen Pfennig zu borgen, ich habe die Anzahlung für das Hotel soeben über meine Hausbank kabeln lassen.«

Sie fuhren also tatsächlich. Gerade noch hatte sie einem Schicksal als zweite Tante Lene ins Auge geblickt, und jetzt würde sie Italien sehen. Das Land, von dem sie sich in manchem ihrer Tagträume gefragt hatte, ob es überhaupt existierte oder ob sie es sich zusammenfantasiert hatte.

Hatte ihr Vater tatsächlich ihren geheimsten Traum erahnt? Erfüllte ausgerechnet er, dem doch nichts an ihr lag, ihr den größten Wunsch?

Der Vater ließ die künstlich gealterte Uhr zurück in seine Westentasche gleiten. »Und natürlich fährst auch du mit«, sprach er weiter. »Nun, da Islinger aus dem Rennen ist, bin ich ja leider von Neuem in der Pflicht, nach einem passenden Mann für dich Ausschau zu halten. Die Grandhotels an dieser Riviera sollen regelrechte Tummelplätze für geeignete Kandidaten sein, und einer dieser ausgebluteten Zieraffen wird sich da wohl erbarmen. Schließlich biete ich ihm dafür gutes Geld.«

3

März

Meraviglia hieß das Hotel.

Der Name bedeutete Wunder, und er hätte nicht treffender gewählt sein können. Wundervoll war alles hier, wundersam und im Grunde zu groß für das enge Herz eines Mädchens aus Stadtamhof. Drei Suiten hatte der Vater gemietet – eine für die Eltern, eine für Maximilian und Ludwig und eine dritte, die kleinste, für Sybille und Susanne. Selbst jene kleinste kam Susanne lächerlich riesenhaft vor.

»Sieh dir das an!«, rief Sybille hingerissen. »Als wir in Regensburg in den Zug geklettert sind, waren wir noch die nicht weiter bemerkenswerten Schwestern Märzhäuser. Seit wir aber in diesem Ventimiglia ausgestiegen sind, sind wir auf einmal zu Prinzessinnen geworden.« Sie packte Susanne bei den Händen und tanzte mit ihr durch die Weite der Zimmerflut.

Salon, Schlafzimmer und ein in Marmor gehaltenes Bad mit vergoldeten Armaturen. Auf allen Tischen standen Blumen und silberne Schalen mit Konfekt und Früchten, von denen Susanne manche nur von Bildern kannte. Die Pracht aus Messing, Samt, Walnussholz, Mosaikintarsien und Kristall mündete in einen Balkon mit schmiedeeiserner Brüstung und Kästen voller Bougainvilleen, die selbst jetzt, am Ende des Winters, rot leuchtend blühten. Der Blick über die Brüstung hinweg nahm Susanne den Atem.

»Ist das schön!«, rief Sybille und drehte sich einmal um sich selbst, doch selbst ihr fehlten die Worte. Tief unter ihnen, am Fuß des bewaldeten Hangs mit seinen Pinien und Zypressen, faltete sich die Bucht auf, und das Meer, auf dem die Boote tanzten, glitzerte übersät von Lichtfunken. Entlang des Strandes reihten sich Häuser in bunten, wie vom Meerwasser ausgewaschenen Farben, an Verkaufsbuden im Schatten von Palmen boten Händler wortreich ihre Waren feil, während am Straßenrand müde Esel vor beladenen Karren dösten.

Das Licht des Tages war gestochen scharf, und als ein paar Stunden später ihre erste italienische Nacht heraufzog, war sie tatsächlich blau, mit einem Himmel aus Samt und so vielen Sternen, dass Susanne zu zählen aufhörte. In dem Duft, der sie umfing, mischten sich das Salz des Meeres, die harzige Würze der Pinienwälder und die bittere Süße reifer Zitrusfrüchte.

Dieser Duft war ihr sofort in die Nase gestiegen, als sie in Ventimiglia aus dem luxuriösen, aus Teakholz gefertigten Schlafwagen des Riviera-Express in einen Regionalzug umgestiegen und drei Stunden lang die Küste entlanggezockelt waren. Ihre Eltern und Geschwister waren erschöpft von der nächtlichen Fahrt in ihren Sitzpolstern eingeschlafen. Susanne hingegen hatte auf dem Gang am Fenster gestanden und nicht fassen können, dass sie es war, die sehenden Auges das Paradies durchquerte.

Und jetzt konnte sie nicht fassen, dass sie es sein würde, die dieses Schloss inmitten des Paradieses bewohnen sollte!

Sybille hingegen fügte sich ein, als hätte sie schon immer in solchen Verhältnissen gelebt. Sie tanzte in den Salon, pflückte sich aus einer der Schalen eine Traube und fischte aus einer anderen ein Stück Konfekt. »Ich bin so aufgeregt, Suse. Ich habe das Gefühl, es ist alles möglich, wir brauchen nur zu warten, und etwas Wunderbares wird geschehen.«

Sie wirbelte weiter ins Schlafzimmer, und ein wenig langsamer folgte ihr Susanne. Sybille ließ sich rücklings auf das hohe Himmelbett plumpsen. »Ich kann gar nicht mehr glauben, dass ich eigentlich nicht fahren wollte.«

Tatsächlich war anfangs neben Susanne nur Ludwig von der Reise begeistert gewesen. Er steckte in der Ausbildung zum Bierbrauer, die er hasste, und war heilfroh, den Schikanen des Braumeisters sechs Wochen lang zu entkommen. Max hingegen wusste nicht, wie er es so lange ohne seine Vevi aushalten sollte. »Statt nach Italien zu fahren, hätte ich lieber allmählich begonnen, mich mit der Planung für unsere Hochzeit zu befassen«, hatte er gesagt.

Vevi selbst hatte dazu gelacht und ihm einen Kuss auf die Wange gegeben. »Jetzt sei kein solcher Stoffel, sondern freu dich, dass du mit deinen Geschwistern auf so eine schöne Reise gehen darfst. Mich hast du noch dein ganzes Leben, aber mit Suse, Bille und Lu wirst du vielleicht nie wieder gemeinsam Ferien machen.«

Sie war einfach ein Glücksfall, diese Vevi, goldblonde Augenweide, Alleinerbin einer Privatbank und obendrein eine rundherum liebenswerte Person. Kein Wunder, dass halb Regensburg Max um sie beneidete, und kein Wunder, dass er sie zur Antwort an sich gedrückt und ihr gestanden hatte: »Mit Suse, Bille und Lu verreise ich ja gern – ich hab doch nur Angst, dich schnappt mir unterdessen einer weg.«

Das würde nicht geschehen. Vevi Schierlinger, die jeden hätte haben können, wollte seit ihrem sechsten Lebensjahr keinen anderen als Max.

Sybille hingegen hatten gegenteilige Sorgen umgetrieben: »Suse hat doch auch gehört, wie Vater zu Islinger gesagt hat, er hätte für mich schon ein Angebot. Und wisst ihr auch, wer das ist? Nein? Dann beneide ich euch, denn ich weiß es leider.« Ihre Miene verfinsterte sich. »Joseph von Waldhausen.«

»Das ist nicht dein Ernst«, hatte Ludwig ausgerufen, während Max und Susanne einen Blick tauschten. Die von Waldhausens gehörten zu den ältesten Adelsgeschlechtern Regensburgs. Sie waren irgendwann im hohen Mittelalter aus dem Böhmischen zugezogen, hatten sich in der Keplerstraße eine Stadtburg samt lombardischem Geschlechterturm bauen lassen und ein paar Jahrhunderte später in die unteren Reihen derer von Thurn und Taxis eingeheiratet.

Aber dies war das zwanzigste Jahrhundert, und selbst ein so strahlender Stern konnte sinken. Die von Waldhausens bekamen zu viele Söhne, nicht alle ließen sich mit einträglichen Gütern versorgen, und Joseph, der es liebte, auf seinem riesigen Rappen durch die Straßen zu preschen und Passanten aufzuscheuchen, war ein Drittgeborener. Wenn er sein schönes Pferd nicht verpfänden wollte, würde er seine Schäfchen durch eine glanzvolle Laufbahn beim Militär oder eine lukrative Heirat ins Trockene bringen müssen.

Beim Militär war der schlecht erzogene Adelsspross einer unehrenhaften Entlassung gerade noch entkommen, indem er sich ein Rückenleiden bescheinigen ließ. König Drosselbart nannten ihn die Regensburger, wozu Ludwig einmal bemerkt hatte: »Das ist doch viel zu viel Ehre für den Kerl. Der ist ein cholerischer Giftzwerg, nichts weiter.«

Das traf es nicht schlecht – Ludwig hatte Talent für solche Beschreibungen. Der Gift und Galle sprühende Aristokrat war kleinwüchsig wie Napoleon. Gerüchte behaupteten, er prügele seine Bediensteten mit der Reitpeitsche und habe einen Verehrer seiner Schwester aus dem Fenster der Beletage geworfen. Alles in Susanne sträubte sich dagegen, sich ein so sonniges Wesen wie ihre Schwester vereint mit einem so finsteren wie Joseph von Waldhausen vorzustellen. Sybille durfte ihn auf gar keinen Fall heiraten.

Auf dem Bahnhof von Ventimiglia hatte sie sich noch ängstlich umgeschaut, als fürchte sie, der giftige Joseph könne jeden Augenblick um die Ecke schießen. Jetzt aber, da sie in die Märchenwelt des Hotels Meraviglia eingetaucht war, schien sie vergessen zu haben, dass ein Herr von Waldhausen existierte. »Komm auch her, Suse«, bettelte sie und streckte die Hand nach der Schwester aus. Mit einem Seufzen ließ Susanne sich aufs Bett ziehen. Sich gegen Sybilles Augenaufschlag zur Wehr zu setzen war sinnlos, so gern sie ein paar Momente lang für sich allein gewesen wäre.

»Alles ist so schön hier, als wäre es gar nicht wahr«, rief Sybille und beschrieb mit den Armen den Raum. »Meinst du, wir könnten uns hier verlieben, Suse? So ganz richtig? Wie in den romantischen Geschichten in der Gartenlaube?«

Susanne seufzte noch einmal. Glaubte man ihrer Schwester, so ließ sich sämtliche Weisheit, die eine junge Frau für ihr Leben benötigte, der Gartenlaube entnehmen.

»Was hätten wir davon?«, fragte sie. »Der Mann, in den du dich verlieben würdest, wäre mit größter Wahrscheinlichkeit nicht der, den du heiraten sollst. Und dass so etwas gut ausgeht, passiert nur in deinen Gartenlauben-Geschichten.«

»Stimmt nicht!«, fiel ihr Sybille ins Wort. »Maxl heiratet Vevi, und nun sag bloß, er ist nicht in sie verliebt! Die zwei sind vor lauter rosarotem Geplinker doch kaum auszuhalten.«

»Bei Max ist das etwas anderes«, sagte Susanne. »Der ist ein Mann.«

»Aber Vevi nicht!«, rief Sybille triumphierend. »Wirklich, Suse – du bist ja sonst die Allerklügste, aber das war ein bisschen deppert, oder?«

Sie mussten beide lachen.

»Außerdem würde ich mich auch verlieben wollen, wenn ich danach den grausligen Joseph heiraten muss«, sagte Sybille. »Dann habe ich es wenigstens einmal erlebt und kann mich immer daran erinnern.«

Susanne dachte darüber nach und fand, dass diesmal eindeutig ihre Schwester sich als die Allerklügste erwiesen hatte: Was immer geschehen und selbst wenn sie doch als zweite Tante Lene enden würde – sie hätte einmal Italien erlebt, und niemand könnte es ihr mehr nehmen.

Sie strich Sybille über den Arm und stand auf. »Na komm. Ziehen wir uns um und gehen nach unten. Du kannst es nicht abwarten, dich zu verlieben, und ich will unbedingt wissen, was man uns zum Abendessen serviert.«

Nicht zum ersten Mal blickte Sybille ungläubig an ihr hinauf und hinunter. »Dass du bei deiner Begeisterung fürs Essen nicht nudeldick bist, verblüfft mich immer wieder.«

»Ich weiß«, sagte Susanne und sah ebenfalls an ihrer kantigen Figur hinunter, die dem kurvigen Frauenideal so wenig entsprach. »Für mich ist eben Essen nicht nur etwas, das ich zum Lebenserhalt in mich hineinstopfe, sondern ein Fest für all meine Sinne: Ich möchte es riechen, es betrachten, seine Textur spüren und es allmählich auf der Zunge schmecken. Und dann müsste Musik dazu gespielt werden, und die ganze Umgebung müsste dazu passen. Mir kommt Essen oft vor wie ein Kunstwerk, bei dem sich niemand die Mühe gemacht hat, es zu vollenden …«

»Schon gut, schon gut.« Sybille kicherte und sprang vom Bett. »Wenn ich dir zuhöre, denke ich an einen hübsch anzusehenden Jüngling …«

»Und wenn ich dir zuhöre, denke ich an einen köstlich angerichteten Zwiebelbraten.«

Sie lachten beide, ehe sie Hand in Hand hinüber in den Salon hüpften, wo der Gepäckträger des Hotels ihre Schrankkoffer abgestellt hatte.

Von diesem ersten Moment an ließ sich Sybille von der luxuriösen Unwirklichkeit einhüllen und tummelte sich darin wie ein Fisch im Wasser. Mit Lu und Maxl war es dasselbe. Keine Spur von Sorge mehr, keine Angst vor unerwünschten Heiratskandidaten oder anderen Gespenstern. All jene waren in Regensburg geblieben, weit weg von Portofino, dem Garten Eden, in dem die Märzhäusers ihre Ferien genossen.

Ihr Tag war gefüllt mit Tanztees, Bridgeturnieren, Kammerkonzerten und Tennisstunden auf den von Parkanlagen umgebenen Plätzen. Die Luft war so mild, Eis und Schneematsch des Regensburger Winters kaum mehr vorstellbar. Im offenen Wagen fuhren sie nach Santa Margherita Ligure, um in den eleganten Boutiquen einzukaufen. Sie besichtigten das Kloster von San Fruttuoso und das Castello Brown, das hoch über dem Ort thronte und einst der Verteidigung des Hafens gedient hatte, jetzt jedoch zu einer prachtvollen Villa umgebaut worden war. In einer Gelateria,deren Tische auf der Straße standen, aßen sie zu Kunstwerken aufgetürmtes Speiseeis, dekoriert mit Kirschen in dunklem, süßem, mit Alkohol versetztem Sirup.

Gefrorenes gab es neuerdings auch im Café Unter den Linden in Regensburg, aber viel anders als eine zu lasch gewürzte, zu stark gekühlte Vanillesoße schmeckte es nicht. Bei diesem hier hingegen löste jeder Löffel eine Geschmacksexplosion im Mund aus, wie auch jede Mahlzeit im Hotel einem Abenteuer glich. Unter der Vielfalt der Gerichte zu wählen schien unmöglich, allein der Wagen mit kalten Vorspeisen, die Körbe mit Obst und die Käseplatten enthüllten einen Reichtum an Zutaten, der Susanne sich fragen ließ, ob in Italien je ein Mensch Hunger litt.

Spritzige Weißweine und mit Zitronenscheiben aromatisiertes Wasser standen jederzeit bereit, und zum Abendessen bekamen sie einen Rotwein serviert, der sich so samtig und schwer um die Zunge legte, dass er zu schade schien, ihn herunterzuschlucken.

Susannes Vater hasste Wein. Doch selbst er verzichtete darauf, dem Kellner in seinem eleganten Frack ein Bier abzuverlangen. Ja, sogar der Vater schien in der lauen Luft und dem vergoldeten Licht ein anderer zu sein. Mehrmals lachte er und ließ sich von Hotelangestellten in Gespräche ziehen oder bedachte die anderen Gäste mit einem flotten »Grüß Gott«, wenn er zum Frühstück das Restaurant betrat. Die Mutter lachte zwar nicht, aber immerhin ließ sie sich vollständig angekleidet zu allen drei Mahlzeiten blicken, was Susanne seit Jahren nicht von ihr erlebt hatte. Statt wie daheim in ihrem Essen lediglich zu stochern, aß sie von allen Portionen, die ihr aufgelegt wurden, zumindest einen Teil.

Die Einzige, die nicht richtig angekommen ist, scheine ich zu sein, musste Susanne feststellen. Ausgerechnet sie, die einst Goethes Italienische Reise aus dem Schulranzen ihres Bruders stibitzt hatte und seither jede Zeile las, die sie über das Land in die Finger bekam, die mithilfe von Sprachführern seit Jahren heimlich Italienisch lernte und sich eine solche Reise hundertmal in ihren Träumen ausgemalt hatte.

Jetzt war es kein Traum mehr. Es war die Wirklichkeit, doch Susanne fand keinen Platz darin. Sie streifte durch die vor Duft und Farbe überquellenden Gassen und kam sich vor, als stünde sie hinter einem Zaun und betrachtete all die Wunder aus der Ferne. Italien war ein Kunstwerk, ein Gemälde, das ein Meister komponiert hatte, und er hatte Susanne Märzhäuser nicht mit hineingemalt.

Sie hatte sich vorgestellt, dass sie wie eine Abenteurerin durch die Straßen streifen und sich die neue Welt erobern würde. Stattdessen musste sie erkennen, dass Italiens Wunder sie einschüchterten, dass auch hier keine Frau, kein Mädchen allein unterwegs war, und dass sie aller Sehnsucht zum Trotz in den Schutz des Hotels zurückflüchtete, wo sie sich unter ihren Geschwistern sicher fühlte.

Es war schön, so viel unbeschwerte Zeit mit ihnen zu verbringen und Sybille und Ludwig so aufgeblüht zu sehen. Nach dem Abendessen gingen sie noch zu viert in die Bar, einen vom Speisesaal durch einen Rundbogen getrennten Raum mit einem langen Tresen, in dem eine dreiköpfige Kapelle schmeichelnde Salonmusik spielte und ausschließlich Getränke serviert wurden. Auch wenn die Idee dieser Bar, die Susanne in Begeisterung versetzte, aus dem wilden Amerika stammte, war es ein eher gesitteter Treffpunkt für die Jugend unter den Hotelgästen – zu Deutsch ein Umschlagplatz für Heiratskandidaten. Somit hatte ihr Vater ihnen den Besuch dort nicht nur gestattet, sondern sie regelrecht dazu gedrängt.

»Eine solche Gelegenheit, Kontakte zu knüpfen, solltet ihr euch nicht entgehen lassen. Wir sind schließlich nicht zu unserem Vergnügen hier.«

Es gab hohe Hocker vor dem Tresen, die ausschließlich einzelne Männer mit Beschlag belegten, und es gab schmale, durch Holzwände getrennte Tische, an denen man sich drängen und die Köpfe zusammenstecken musste. Die Atmosphäre, die dadurch entstand, hatte etwas Erregendes, Verschwörerisches, auch wenn die vier Märzhäuser-Geschwister gar nichts Geheimes miteinander zu besprechen hatten. Sie redeten über das, was sie während des Tages erlebt hatten, alberten herum und zogen sich gegenseitig auf. Jemanden kennenlernen würden sie auf diese Art kaum, aber es war ein schönes Ritual, um den Abend zu beenden.

»Ich habe uns alle morgen Vormittag wieder für eine Tennisstunde eingetragen«, berichtete Max. »Dass das solchen Spaß macht, hätte ich nie erwartet. Ich wünschte, Vevi wäre hier und könnte es mit mir erleben.«

»So sonderlich sportlich ist Vevi doch gar nicht«, bemerkte Ludwig trocken. »Vielleicht ist sie ganz froh, dass sie nicht in weithin sichtbarem Weiß einem Ball hinterherjagen muss.«

»Das weithin sichtbare Weiß würde ihr wunderbar stehen«, träumte Max vor sich hin.

»Aber mir nicht!«, warf Susanne ein. »Für mich sind diese Tennisstunden Geldverschwendung, und der arme Lehrer tut mir leid. Er kam heute wieder aus dem Stöhnen kaum heraus, er sagt, mir fehlen jegliches Ballgefühl und Konzentration.«

»Aber er hat deine Beinarbeit gelobt«, rief Sybille. »Und deine Sprachkenntnisse.«

Der Tennislehrer war ein junger Franzose, und die Verständigung mit ihm war das Einzige, was Susanne an diesen Lektionen gefiel. Sie liebte fremde Sprachen. Das vielstimmige Geschnatter in gewiss einem Dutzend Mundarten, das sie jeden Morgen im Speisesaal empfing, wirkte auf sie wie das reinste Elixier.

»Meinen Humor hat er auch gelobt«, sagte sie zu Sybille. »Ich habe ihm erklärt, wenn man gezwungen ist, mit meinem Mangel an Ballgefühl Tennis zu spielen, könne man sich unmöglich auch noch Mangel an Humor leisten.«

»So viel habe ich von eurem französischen Geschwabbel nicht verstanden«, gab Sybille zu. »Ich habe mich nur gefragt, ob er wie ein Weltmeister mit dir flirtet oder ob sich Franzosen immer so anhören.«

Sie lachten alle und stießen mit ihren glitzernden, mit Zuckerrand verzierten Cocktailgläsern an. Diese bunt gefärbten Getränke, die fruchtig schmeckten und rasend schnell zu Kopf stiegen, kannte in Regensburg kein Mensch, und ihr Vater nannte es eine Schande, mit gutem Alkohol zu panschen. Susanne aber machte es Spaß. Es hatte etwas Gewagtes, Verruchtes, ein Getränk zu sich zu nehmen, von dem man nicht sicher war, was es enthielt.

Es war, als hätte er ihre Gedanken gespürt. »Schönen Abend, die Herrschaften«, ertönte es knorrig in ihrem Rücken, und dann stand auch schon ihr Vater an ihrem Tisch.

»Wie ich sehe, amüsiert ihr euch«, brummte er. »Mein hart verdientes Geld habe ich allerdings nicht ausgegeben, damit meine Kinder sich wie Mauerblümchen in einem Winkel verstecken. Morgen Abend wünsche ich jedenfalls ein anderes Betragen von euch zu sehen.«

Er warf einen Packen bedruckter Karten mit dem eleganten Briefkopf des Meraviglia zwischen die Gläser mit den Cocktails. »Das Hotel gibt morgen Abend einen großen Ball zum Ende der Wintersaison«, erklärte er. »Was Rang und Namen hat, wird sich dort einfinden. Ich habe mir sagen lassen, dass Gäste aus der gesamten Umgegend anreisen – und zwar nicht Hinz und Kunz, versteht sich. Von euch Mädchen erwarte ich jedenfalls, dass ihr die Gelegenheit zu nutzen versteht. Und von euch, Maximilian und Ludwig, dass ihr eure Schwestern darin unterstützt.«

4

»Ich glaube, ich kann das nicht«, entfuhr es Susanne. Mit ihren Geschwistern stand sie am Geländer der Galerie und blickte hinunter ins Vestibül des Hotels, das für diesen Abend in die Empfangshalle für den Ball verwandelt worden war. Livrierte Pagen standen zwischen Säulen und Kübelpalmen, um eintreffende Gäste zu begrüßen, ihnen Mäntel, Capes und Schals abzunehmen und sie in den angrenzenden Saal zu geleiten. Die Luft schien vor Erwartung zu flimmern, und das Licht, das die Kronleuchter wie Fontänen von vergoldetem Wasser verströmten, brach sich hundertfach in den Geschmeiden der Damen. Musik perlte zu ihnen herauf, helles Lachen, ein Gewirr von Stimmen in etlichen Sprachen.

»Ich kann da nicht runter«, sagte Susanne. »Wirklich nicht, Max. Geht ihr allein.«

Ihre Eltern waren bereits in den Saal vorausgegangen, taten sich am Büfett gütlich oder tanzten sogar, auch wenn ihre Mutter sich gesträubt hatte. Von den vier Kindern wurde erwartet, dass sie unverzüglich nachkamen. Das Karussell der Heiratskandidaten hatte begonnen, sich zu drehen, und wer da zögerte, traf erst ein, wenn all die glänzend bemalten Holzpferde vergeben waren.

Genau wie Sybille hatte Susanne für solche Veranstaltungen ein neues Kleid bekommen – das von Sybille in einem zarten Roséton, das ihre in gedecktem Dunkelblau. Überhaupt waren die Schwestern für die Reise mit einer fast komplett neuen Garderobe ausgestattet worden, die sich im Vergleich mit der Pracht, die sich dort unten aus Pelzen schälte, jedoch hausbacken und provinziell ausnahm.

Signor Luigi, der hoteleigene Friseur, hatte eine geschlagene Stunde lang über ihren Köpfen geschuftet, um die nach griechischem Vorbild entworfenen Hochsteckfrisuren zu kreieren, die Sybille mit ihrem schlanken Hals eine schwanenhafte Grazie verlieh. Angesichts der Fülle ihrer ins Rötliche spielenden Locken war der Italiener in hingerissenes Schwärmen ausgebrochen, hatte über Susannes mittelbraunes Haar jedoch kein Wort verloren.

Daran war sie gewöhnt. Viel problematischer war, dass sie nicht weltgewandt war. Sie hatte von nichts und niemandem die blasseste Ahnung. Weder wusste sie, wie die zarte Vorspeise aus aufgeschnittenem Kalbfleisch und Fischsoße hieß, die man ihnen zu Mittag serviert hatte, noch erkannte sie in der Marmorstatue am Portal den Gott Apollo, Schutzgott Italiens, als den Maxl ihn sofort identifiziert hatte. Sie war über die Expedition zum Südpol, die ein britischer Forscher plante, so wenig informiert wie über moderne Gesellschaftstänze, und den Film Frankenstein,über den die Gruppe aus London an ihrem Nebentisch debattiert hatte, hatte sie nicht gesehen.

Sie hatte überhaupt noch nie einen Film gesehen, war noch nie in einem Lichtspielhaus gewesen. Wenn sie fortfuhr, sich Dinge aufzuzählen, die sie noch nie getan hatte, kam es ihr vor, als hätte sie noch nie gelebt. Nicht so, wie die jungen Leute lebten, die dort unten zusammenströmten, einander lachend und leichthin begrüßten, redeten, flirteten, sich betrugen, als wäre ihre Existenz ein Kinderspiel. Jeunesse dorée. Menschen des zwanzigsten Jahrhunderts. Susanne kam sich vor, wie im neunzehnten stecken geblieben zu sein, in einem zu engen Käfig, an dessen Gitter sie mit aller Kraft rüttelte.