Wo die Störche fliegen - Claudia Ley - E-Book

Wo die Störche fliegen E-Book

Claudia Ley

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Beschreibung

Gerda und Thomas: Eine Liebe in Westpreußen. Kann sie Hass und Krieg überstehen?

Westpreußen, 1918: Umgeben von weiten Wiesen, Wäldern und Seen wächst Gerda von Westkamm auf Gut Lapienen auf. In den Sommern ihrer Kindheit träumt sie sich gemeinsam mit ihrem besten Freund Thomas in eine Welt aus Märchen und Geschichten. Zehn Jahre später wird aus der Kinderfreundschaft die große Liebe. Doch die Nachbarsfamilien trennt nicht nur der Stand, sondern auch die politische Gesinnung, denn Gerdas preußisch-protestantischer Vater möchte seine Tochter keinesfalls mit einem Polen verheiraten. Als die Situation eskaliert, flüchtet Gerda in die Freie Hansestadt Danzig, um als Schreibkraft bei einem Reeder ihr Glück auf anderen Wegen zu finden. Aber ihre Sehnsucht nach Thomas, die Wirren des Zweiten Weltkrieges und schließlich die Flucht aus Westpreußen ändern alles.

  • Gerda und Thomas: eine Liebe in Westpreußen. Kann sie Hass und Krieg überstehen?
  • Emotional, atmosphärisch und lebendig erzählt: Eine deutsch-polnische Liebesgeschichte vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkrieges
  • Für Leser*innen von Katharina Fuchs, Claire Winter und Brigitte Glaser

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Seitenzahl: 655

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Das Buch:

Westpreußen, 1918: Umgeben von weiten Wiesen, Wäldern und Seen wächst Gerda von Westkamm auf Gut Lapienen auf. In den Sommern ihrer Kindheit träumt sie sich gemeinsam mit ihrem besten Freund Thomas in eine Welt aus Märchen und Geschichten. Zehn Jahre später wird aus der Kinderfreundschaft die große Liebe. Doch die Nachbarsfamilien trennt nicht nur der Stand, sondern auch die politische Gesinnung, denn Gerdas preußisch-protestantischer Vater möchte seine Tochter keinesfalls mit einem Polen verheiraten. Als die Situation eskaliert, flüchtet Gerda in die Freie Hansestadt Danzig, um als Schreibkraft bei einem Reeder ihr Glück auf anderen Wegen zu finden. Aber ihre Sehnsucht nach Thomas, die Wirren des Zweiten Weltkrieges und schließlich die Flucht aus Westpreußen ändern alles.

Die Autorin:

Claudia Ley ist ein Pseudonym der Spiegel-Bestsellerautorin Charlotte Roth. Sie entstammt einer multinationalen Familie und wurde in Berlin geboren, hat in Neapel studiert und wohnt mit ihrer eigenen internationalen Familie seit vielen Jahren in London. Als Übersetzerin, Autorin und Lektorin lebt sie in einer Welt der Geschichten, die sie als Brücken zwischen Menschen, Kulturen und Epochen versteht und von denen sie nie genug bekommt.

Claudia Ley

WO DIE STÖRCHE FLIEGEN

Roman

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

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Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

© 2023 by Claudia Ley

© 2023 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

Dieses Werk wurde vermittelt durch die AVA international GmbH Autoren- und Verlagsagentur, München.

Umschlaggestaltung: t.mutzenbach design unter Verwendung von Trevillion Images (Ildiko Neer) und Shutterstock.com (ysuel, Werner Rebel, Patryk Kosmider, Valeriy Boyarskiy, N. N.)

Redaktion: Angela Volknant

Satz: Leingärtner, Nabburg

ISBN 978-3-641-27032-2V001

www.heyne.de

Für Henry, den Geschichtenerzähler

»Man wird wieder aus Himmel und Sternen Bilder machen und die Spinnweben alter Märchen auf Wunden legen müssen […].«

Christian Morgenstern

ERSTE GESCHICHTE

Lapienen bei Schlochau Westpreußen Februar 1918

»Seht! nun fangen wir an. Wenn wir am Ende der Geschichte sind, wissen wir mehr als jetzt.«

Hans Christian Andersen: »Die Schneekönigin«

1

Das kleine Mädchen stand auf der Galerie.

Es trug ein gerade geschnittenes marineblaues Kleid mit ein wenig Lochstickerei auf der Brust und einem schmalen weißen Kragen. Das Haar hatte man ihr in geflochtenen Zöpfen um den Kopf geschlungen. »Ein bisschen wie eine Dornenkrone«, hatte Thomas einmal gesagt, und sie hatten beide gelacht. Wenn man vor der Tür des Herrenhauses stand, konnte man durch den kurzen Windfang in die Halle und hinauf zu dem Mädchen sehen. Es reckte sich, beugte sich über das Geländer und winkte. Thomas hatte gewusst, dass seine Freundin dort auf ihn warten würde, und er hatte sich den ganzen Weg auf diesen Anblick gefreut.

Eine recht lange Weile hatte er im bitteren Februarwetter vor der Tür warten müssen, hatte die Eiszapfen angestarrt, die wie ein Vorhang aus gläsernen Klingen rings um das Vordach herunterhingen, und ihm war, als könnte er sie vor Kälte klirren hören. Seinen Wintermantel, den die Mutter ihm zu Hause hatte umlegen wollen, hatte er wieder abgeworfen.

»Den brauch ich nicht, Mamuśka! Mir ist gar nicht kalt.«

»Du bist ja verrückt, mein kleiner Ritter«, hatte seine Mutter gerufen und gelacht. »Also, lauf schon, wenn die Liebe zu deiner Gerda dir so warm macht, dass du keinen Mantel brauchst, aber pass auf, dass du dir nicht den Tod holst. Ich war ja auch einmal jung und bin in grünen samtbespannten Schühchen meinem Liebsten entgegengetanzt.«

Thomas wollte die Mutter nicht kränken, deshalb verriet er ihr nicht den wahren Grund, warum er den Mantel nicht anziehen mochte: Er war schäbig und alt. Seit vier Jahren war Krieg, der Vater stand als Offizier an der Front, und das Geld, mit dem die Mutter wirtschaften musste, war knapp. Für Thomas war der Mantel gut genug, es war der beste Mantel, den er sich wünschen konnte, denn seine Mutter hatte ihn aufgearbeitet und ein Futter eingenäht, das ihn warm hielt. Aber auf Lapienen, dem Gut des Barons von Westkamm, würde man die Flicken an den Ellenbogen und die durchgescheuerten Säume bemerken, und Thomas wollte nicht, dass man dort schlecht von seiner Familie dachte.

Er war durch den hohen Schnee gerannt, so schnell er konnte, und hatte das Buch an seine Brust gepresst, damit es nicht feucht wurde und Schaden nahm. Für das Buch hatte er das ganze Geld ausgegeben, das der Großvater ihm zu Weihnachten geschickt hatte. Seit er es in Werneckes Buchhandlung in Schlochau im Fenster hatte stehen sehen, wusste er, dass er es einfach haben musste. Der Vater hätte über eine solche Verschwendung die Stirn gerunzelt, aber die Mutter konnte Büchern selbst nicht widerstehen und war bei Wernecke Stammkundin. »Großvater Witold hat dir das Geld geschickt, um dir eine Freude zu machen«, hatte sie gesagt. »Und wenn es dir Freude macht, der kleinen Gerda ein Buch zu schenken, dann geh rein und kauf es ihr.«

Thomas war wie ein erwachsener Kunde hineingegangen, und der alte Herr Wernecke mit seiner Goldrandbrille und dem Kranz grauer Locken hatte ihn auch wie einen solchen behandelt. »Darf es sonst noch etwas sein, der Herr?«, hatte er ihn gefragt und ihm für sein Geld einen Belegzettel geschrieben, bevor er das Buch in einen Bogen elegant bedrucktes Papier einschlug. Das Papier würde auf Lapienen vielleicht Eindruck schinden, aber Thomas hätte das Buch am liebsten noch einmal ausgewickelt, weil das Bild auf dem Deckblatt so schön war.

Es zeigte eine schneeweiße, wie den Wolken entstiegene Königin, die mit wehendem Haar und glänzender Krone über einen eisblauen Himmel flog. Hier in Westpreußen, am Wangeriner See und zwischen den schwarzen Wäldern, die Thomas’ Welt begrenzten, waren die Himmel niemals so blau. Sie waren blass und hoch und unerreichbar, aber die weiße Königin würde federleicht darüber hinwegfliegen und Westpreußen samt seinen Dörfern, Gütern, Häusern und den winzig kleinen Menschen hinter sich lassen. Sie hielt ein Kind in ihren Armen, einen kleinen Jungen, der schwarzes Haar hatte wie Thomas selbst und der ihm, so fand er, überhaupt ein wenig ähnlich sah.

Natürlich wusste Thomas, dass er für solche kindischen Gedanken zu groß war. Er war ja schon zehn Jahre alt und nun, wo der Vater im Krieg war, der Mann im Haus. Als der Vater vor bald einem Jahr auf Urlaub gekommen war, hatte er Thomas zum Abschied bei den Schultern genommen und: »Du bist jetzt der Mann im Haus. Ich will, dass du deiner Mutter zur Hand gehst und auf sie achtgibst, bis ich wiederkomme.«

»Wird das noch lange dauern, Vater?«, hatte Thomas gefragt.

»Wie lange es dauert, ist gleichgültig«, hatte der Vater erwidert. »Ich kämpfe für mein Vaterland, da stellt man keine solchen Fragen. Von meinem Jungen weiß ich, dass ich mich auf ihn verlassen kann, und deine Mutter weiß das auch. Ich liebe euch beide. Vergiss das nie.«

Andere Väter, wie der von Gerda, überließen solche Gefühle ihren Frauen, und selbst die gingen sparsam damit um. Thomas’ Eltern hingegen erklärten einander und dem Sohn ihre Liebe wieder und wieder, und manchmal, wenn Dinge schwierig waren, sagte der Vater: »Was soll’s? Dies ist ein Haus, in dem die Liebe wohnt, da werden wir mit ein paar Stolpersteinen schon fertigwerden.«

Thomas war stolz, dass der Vater ihm die Sorge für die Mutter übertragen hatte, und er war entschlossen, ihn nicht zu enttäuschen. Dennoch konnte er nicht verhindern, dass er sich tief im Innern noch immer nach der Welt der Kinder sehnte, nach Geschichten, in denen man sich verlieren konnte, um irgendwann ein wenig benommen wieder daraus aufzutauchen.

Seiner Mutter verriet er von alldem nichts, sondern behauptete, er habe das Buch gekauft, weil Gerda schließlich fast anderthalb Jahre jünger und ein Mädchen sei. Die Mutter sollte sich auf ihren Mann im Haus verlassen können. Bei Gerda aber, seiner allerliebsten Freundin Gerda, durfte er ein Zwerg oder ein Riese sein, ein Prinz oder ein Bettler, Gelehrter oder Possenreißer, ganz wie ihm gerade zumute war.

Gerda verstand ihn nicht nur. Sie war wie er. Auch sie liebte es, in Geschichten zu versinken, mit Königinnen, Zauberern und Spielleuten um den Erdball zu reisen und seltsam verändert wiederzukehren. Deshalb hatte Thomas auf der Stelle gewusst, dass er das Buch mit der weißen Königin für Gerda kaufen musste. Hans Christian Andersen. Sämtliche Märchen stand in silberner Schrift auf dem Einband. Es war ein dickes Buch, bald so dick wie Thomas’ Daumen, sodass sie lange daran zu lesen haben würden.

Vor Aufregung hatte er in der letzten Nacht kaum geschlafen und sein Frühstück – Buchweizengrütze mit Rahm und eingekochten Fliederbeeren –, das ihm die Mutter jeden Morgen richtete, heute stehen lassen.

»Ich will gleich loslaufen. Es ist doch Gerdas Geburtstag.«

Das Lachen der Mutter hatte geklungen wie Schlittenglocken und so, als gäbe es auf der Welt keine Sorgen. »Na dann lass dich nicht aufhalten. Ich hab’ dich lieb, mein kleiner Dachs. Wünsch deiner Gerda von mir alles Gute und einen herrlichen Tag.«

»Ich hab’ dich auch lieb, Mamuśka! Ich richte es ihr aus.«

Im nächsten Moment war er aus der Tür und stürzte durchs Schneegestöber. Früher, als er auf Apoll, seinem schwarzen Pony, vom heimischen Gut Blaes bis zum Herrenhaus des Barons geritten war, hatte er keine Viertelstunde gebraucht. Apoll aber war wie alle Pferde, die für den Gutsbetrieb nicht unentbehrlich waren, zum Einsatz an der Front beschlagnahmt worden. Da das Gut seines Vaters Nahrungsmittel produzierte und damit als kriegswichtig galt, hatte man ihnen das Gespann Estnischer Klepper gelassen, aber diese zwei schweren Wallache waren zum Arbeiten da, nicht zum Ausreiten.

Thomas war so schnell gerannt, als hätte er ein Pferd unter sich, und hatte mindestens so viel Schnee aufgewirbelt. Die Allee entlang und zwischen den kahlen Kastanienbäumen hindurch war er schier geflogen, immer dem weiß verputzten, von einer hohen, jetzt blütenlosen Rosenhecke umrankten Herrenhaus entgegen. Mit seinen Erkern, Zinnen und Türmen, die in merkwürdigem Gegensatz zu den verspielten Schweifgiebeln standen, erweckte es den Eindruck, es wäre einst zur Verteidigung des Landes errichtet worden. Das traf natürlich nicht zu. Thomas hatte seinen Vater einmal sagen hören, das Haus sei ein Monstrum, bei dem hinten und vorne nichts zusammenpasse. Auf Thomas selbst aber hatte es immer imposant gewirkt, wie ein Schloss aus einem Märchen.

Schwer atmend und das Buch an sich pressend stand er nun also unter dem Vordach mit den Eiszapfen, spähte an der einschüchternden Gestalt von Barduhn, dem Hausdiener, vorbei und sah Gerda winkend am Geländer stehen.

So hatte er sie unzählige Male gesehen.

Dennoch war es jedes Mal schöner als erwartet, dieses Erkennen, dass sie da war, dass sie noch immer seine liebste Freundin war und dass sie gleich wieder zusammen in ihrer gemeinsamen Welt verschwinden würden.

Das Leben auf den Gütern Westpreußens war voller Abenteuer, weil das Land mit seinen Wiesen, Wäldern und Seen so weit war und einem Kind keine Grenzen setzte. Aber es war auch ein einsames Leben, zumindest wenn man wie Thomas keine Geschwister hatte. Die einzelnen Gehöfte lagen weit auseinander, und Spielkameraden waren rar. Dass er und Gerda sich gefunden hatten und ihre Kinderjahre beinahe wie Bruder und Schwester verbrachten, war für ihn das größte Geschenk.

Nicht so allerdings für Barduhn, den Hausdiener. »Ah, das kleine Herrchen von Blaes«, sagte er von oben herab zu Thomas und gab ihm das Gefühl, noch kleiner zu sein, als er war. »Leider wirst du dich gleich wieder trollen müssen. Der Herr Baron empfängt niemanden. Schon gar keine Kinder.«

»Aber zum Herrn Baron will ich ja gar nicht!«, rief Thomas. »Nur zum Fräulein Gerda. Sie hat doch heute Geburtstag.«

»Die gnädigen Fräulein empfangen auch nicht«, wies ihn Barduhn zurecht. »Und Geburtstage werden nicht gefeiert. Falls es dir entgangen sein sollte – die Familie befindet sich in Trauer.«

»Ich weiß, aber …« Verlegen brach Thomas ab und wusste nicht, wie er seinen Fehler hätte wiedergutmachen können. Gerdas Brüder, nicht nur der älteste, Crispin, sondern auch Eduard, der immer lustige Zweite, waren im Herbst als vermisst gemeldet worden. Kurz darauf hatte es in Russland eine Revolution gegeben, die Ostfront war zusammengebrochen, und die Familie auf Lapienen hatte Hoffnung geschöpft. Doch gleich nach Weihnachten war die Nachricht eingetroffen, dass Crispin gefallen war. Die gesamte Gegend, von Schlochau bis Bergelau, trauerte mit dem Baron um seinen Erstgeborenen und bangte um den Jüngeren, der nun Erbe von Gut Lapienen sein würde. Thomas hatte nicht taktlos sein wollen. Gerda hatte am Krieg schließlich keine Schuld! Sie war ja auch traurig, und ihr Geburtstag durfte nicht einfach übergangen werden, als wäre sie – das jüngste Kind des Barons – im Vergleich zu den älteren gar nichts wert.

All das Barduhn zu erklären würde jedoch nichts nützen. In seiner Verzweiflung versuchte Thomas, sich an dem Hausdiener vorbeizuschieben, aber der trat augenblicklich zur Seite und versperrte ihm erneut den Weg. »Wenn ich sage, du sollst dich trollen, Freundchen, dann meine ich das auch.«

»Nicht doch, Barduhn! Sie können doch meinen lieben Thomas nicht draußen in der Kälte stehen lassen!« Gerdas Schritte hallten wie ein kleiner Hagelsturm, als sie die Treppe hinunter und durch die Halle fegte. »Wir werden auch niemanden stören, Barduhn, das versprech’ ich.« Schon hatte sie den großen Mann erreicht, schob sich neben ihn und nahm seine Hand. »Wir machen überhaupt keinen Lärm, sind leiser als die Haselmäuse. Bitte, seien Sie nett, Barduhn. Geben Sie uns ein ganz kleines Weilchen.«

Sie blickte zu ihm auf, und als Barduhn den Kopf neigte und zu ihr hinuntersah, schöpfte Thomas Hoffnung. Gerda hatte etwas an sich, dem Menschen schwer widerstehen konnten, doch als er gerade aufatmen wollte, sah er, wie Barduhn den Kopf schüttelte. »Ich habe meine Anweisungen. Und Sie haben die auch, Fräulein Gerda.«

»Nun lassen Sie doch den kleinen Leutchen das bisschen Vergnügen, Barduhn. Viel Freude haben die Kinder ja nicht in diesen finsteren Tagen.« Aus der Tür, die in den linken Flügel des Hauses führte, war ein Mann getreten, der einen dick gefütterten Mantel trug und in der Kälte regelrecht dampfte. Sliwitzky, der Verwalter des Gutes, der mit seiner Frau und etlichen Kindern und Enkeln in einem Haus beim Tor wohnte. Gerda liebte ihn wie einen leiblichen Onkel. Von klein auf hatte er sie auf den Bock des großen Schlittens gehoben und sie an seiner Seite sitzen lassen, wenn er die zwei schweren Pferde mit den unzähligen Glöckchen am Geschirr durch aufwirbelnden Schnee lenkte. Im Spätsommer, wenn die Wagen mit der Heuernte abfuhren, ließ er Gerda und Thomas ganz oben auf der duftenden Pracht thronen. Er sprach seltsam altertümlich, rollte und dehnte dabei das R, was lustig klang. Sein rechtes Auge bedeckte eine schwarze Klappe – wie bei einem Piraten.

Barduhn fuhr zu ihm herum. Der Hausdiener und der Verwalter waren einander nicht grün, das war unschwer zu erkennen. Sie waren Rivalen um die Gunst des Barons. Als Vorstand des Haushalts hatte Barduhn eine hohe Stellung inne, doch es war der Verwalter, der mit seinem Herrn auf vertrautem Fuß stand. Zudem schien Sliwitzky immer gut gelaunt und wagte sogar, auf seine betuliche Art mit Baron Westkamm zu scherzen.

Auch jetzt lächelte er. »Na, lauft schon, Kinder. Wenn jemand euch eine Predigt halten möchte, sagt ihm, der alte Sliwitzky hat euch seine Erlaubnis gegeben.«

Barduhn warf ihm einen Blick zu, in dem Gift waberte, dann wandte er sich wieder Gerda zu. »Also schön«, brummte er, um sein Gesicht zu wahren. »Weil nun einmal Ihr Geburtstag ist, mache ich eine Ausnahme. Aber wirklich nur ein kleines Weilchen, verstanden? Und wenn ich einen Mucks höre und Ihr Herr Vater sich gestört fühlt, setze ich den Kavalier eigenhändig vor die Tür.«

»Versprochen. Danke, lieber Barduhn.« Gerda schmiegte sich an den Arm des Hausdieners, dann ließ sie seine Hand los und griff nach der von Thomas. »Gott im Himmel! Deine Hand ist ja wie aus Eis«, rief sie und zog ihn an Barduhn vorbei in die Wärme des Windfangs. »Komm schnell, verkriechen wir uns an unserem Platz.«

Thomas’ Glieder waren steif gefroren. Es kam ihm vor, als könnte er sie nicht bewegen, als müssten sie erst einmal auftauen, aber Gerda ließ ihm keine Zeit, sondern zog ihn weiter, durch die Halle mit der getäfelten Decke aus Ulmenholz und den gewaltigen Kronleuchtern, in den Gang zur Rechten hinein und in Richtung Wirtschaftstrakt. Die Küchenräume samt der Räucherkammer, dem Backhaus, der Meierei und der Speisekammer mit den bis unter die Decke gefüllten Regalen waren ein herrlicher Ort. Schon auf dem Gang strömten Thomas Düfte entgegen, die ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen: Majoran und Thymian zum Würzen der Krautwurst, gebackene Pflaumen und Äpfel zum Füllen der Schweinerippe, feine Schärfe von Mostrichsoße und Zucker, der mit Zimt und Nelken karamellisierte. Dazu das Geklapper von Töpfen, Pfannen, Geschirr und Besteck, das reinste Konzert.

In der großen, mit Dampf gefüllten Küche herrschte immer Leben. Da wurden Backwaren geknetet und Kompotte eingekocht, in hohen Töpfen brodelten Schwarzsauer, Pfefferkraut und Zusammengekochtes, über den Hackbrettern flogen Messer und Fleischklopfer, und am Tisch schuppte das Mädchen einen fettleibigen Barsch, der im gutseigenen Aufzuchtbecken gefangen worden war. Die Wärme war überwältigend. Lapienen beschäftigte eine Köchin, eine Kaltmamsell, zwei Küchenmädchen und einen Laufburschen, und sie hatten alle Hände voll zu tun.

Nicht selten hatte Thomas sich gefragt, wer all die Speisen, die hier tagein, tagaus zubereitet wurden, verzehrte. Aber Leben und Betrieb auf dem herrschaftlichen Gut, zu dem die Felder und Wälder bis zum Horizont gehörten, ließ sich mit dem beschaulichen Alltag auf Blaes nicht vergleichen. Lapienen war eine kleine Stadt für sich, und seine Küche musste gewiss eine Hundertschaft von Menschen verköstigen.

Gerda winkte Pauline, der Köchin, hastig zu, ehe sie mit Thomas weiter in die Speisekammer eilte. Von dort gelangte man durch eine Klappe im Boden und über eine Stiege in den Weinkeller, wo zwischen den Regalen mit unzähligen Einweckgläsern eine niedrige Tür in einen schmalen Anbau führte.

Dieser Raum wurde für gewöhnlich benutzt, wenn zu festlichen Anlässen viele Besucher erwartet wurden und zusätzliche Vorräte eingelagert werden mussten. Er war nicht wärmeisoliert, denn er hatte den Herren von Lapienen ein Jahrhundert hindurch als Eishaus gedient. Seit das Gut jedoch über eine der neuen Kältemaschinen verfügte, war kein eingelagertes Eis mehr nötig, und seit der Krieg den Festen ein Ende gesetzt hatte, diente der kleine Raum überhaupt keinem Zweck mehr.

Zumindest diente er keinem Zweck, von dem die Erwachsenen wussten, denn hier hatten Gerda und Thomas ihren geheimen Ort.

In einem Winkel hatte Gerda ihnen mit alten Pferdedecken und Polstern, die im Haus nicht länger benötigt wurden, eine Art Nest gebaut, eine Höhle, in die sie sich so tief verkrochen, bis sie die Kälte nicht mehr spürten. Es war so behaglich darin, so sicher, so weit von der Welt und ihren Sorgen entfernt.

Dort, in ihrem Versteck, bewahrten sie ihre liebsten Bücher auf: den uralten Sagenschatz Westpreußens, bei dem man die Seiten vorsichtig umblättern musste, weil das Papier schon bröckelte, Eduard Freybergs Pommersche Sagen-Balladen, Romanzen und Lieder und den prächtigen Bildband über die Stadt Danzig.

Mehr als drei Zugstunden weit von Schlochau entfernt lag Danzig, das legendenumwobene Zentrum der Hanse, Stadt des Deutschen Ordens und Perle des preußischen Reiches. Vor dem Krieg war Gerda einmal mit ihrer Familie in einem nahe gelegenen Seebad zur Sommerfrische gewesen und hatte Thomas wieder und wieder erzählt, dass sie niemals glücklicher gewesen sei als dort, und so war Danzig in seiner vom Meer umspülten Bucht für sie zu einer Art Märchenreich geworden, zu der Stadt, von der Gerda und Thomas träumten.

Wann immer sie in einem ihrer Bücher von einem besonderen Ort lasen, an dem es schöner und herrlicher sein sollte als sonst auf der Welt, sahen sie einander wortlos an und wussten:

Das muss in Danzig sein.

Der Bildband, den Gerda aus der Bibliothek des Gutes stibitzt hatte, half ihnen, sich an ihren Sehnsuchtsort zu träumen, in die verwinkelten Gassen, zwischen die Giebel und Türme, die Marktplätze und Denkmäler. Über die Seiten gebeugt, glaubten sie, das Salz des Meeres zu riechen, das Kreischen der Möwen zu hören und die majestätischen Schiffe vor sich zu sehen, die in den Hafen einfuhren. Zu diesem kostbaren Buch und den anderen geliebten Bänden würde sich nun Thomas’ Geschenk gesellen.

»Schau, was ich habe«, rief Gerda und streckte ihm ihre kleine Hand entgegen. »Damit ich meinen Geburtstag richtig mit dir feiern kann.« Thomas war nicht entgangen, dass sie im Vorbeilaufen in das Glas gegriffen hatte, in dem Pauline den Bruch von Pfefferkuchen aufbewahrte. Später verwendete die Köchin diesen für Saucen und braune Fische oder gab ihn zur Verfeinerung an Rotkohl, doch sie schimpfte nie, wenn Gerda eine Handvoll mitgehen ließ.

Paulines Pfefferkuchen mit Sirup, Rosenwasser und neunerlei Gewürzen waren ein Gedicht. Thomas fand, sie schmeckten, als wäre das ganze Jahr Weihnachten.

»Ich habe auch etwas für dich«, raunte er und kroch hinter Gerda in ihre Höhle. »Zu einem richtigen Geburtstag gehört ja nicht nur Kuchen. Dazu gehört auch ein Geschenk.«

Er nahm ihr den Pfefferkuchen ab und schob ihr das Buch in beide Hände.

»Für mich?«

Er nickte.

»Aber Thomas. Du sollst doch nicht dein Geld für mich ausgeben, sondern es für dich selbst aufheben.«

Gerda wusste, dass das Geld auf Blaes knapp war. Vor ihr schämte Thomas sich nicht. Und sie wusste auch, dass er später einmal zum Studieren in die Stadt wollte, am liebsten natürlich nach Danzig. »Geh in die Stadt und werde ein kluger Gelehrter«, ermutigte sie ihn immer wieder. »Sliwitzky sagt, wenn alle Menschen klug wären, würden sie sich weniger streiten, und mir ist alles recht – solange du nur hierher zurückkommst.«

»Aber natürlich komme ich zurück. Was soll ich denn anderswo als hier?«

»Wer weiß?«, hatte Gerda erwidert. »Meinen Bruder Eduard, den zieht’s in die Welt, der will überall lieber sein als hier.«

»Ich bin aber nicht dein Bruder Eduard«, sagte Thomas, und sie umarmten sich, wie um einander zu versichern, dass sein Studium nun beschlossene Sache sei. Zum Studieren würde er Geld brauchen, vielleicht mehr, als sein Vater aufbringen konnte, und Gerda wollte, dass sie gemeinsam dafür sparten. Thomas aber schüttelte mit einem Lachen den Kopf. »Heute ist dein Geburtstag, da denke ich nicht ans Sparen, sondern nur an dich.«

»Ich hab’ dich so lieb.«

»Ich dich auch. Jetzt komm schon – pack endlich aus.«

Langsam und andächtig wickelte Gerda das Buch aus dem Papier. »Oh, lieber Gott«, rief sie und schlug eine Hand vor den Mund. »Wie schön das ist. Ach, Thomas, wie schön.«

Thomas senkte verlegen den Kopf. Er blickte auf Gerdas Hand, die behutsam über den Einband des Buches streichelte. »Heute beim Frühstück hat meine Mutter gesagt, dass die ganze Welt hässlich ist«, murmelte sie. »Und ich war traurig, weil es doch mein Geburtstag ist … auch wenn ich natürlich nicht an etwas so Dummes wie meinen Geburtstag denken sollte, wo doch Crispin nicht mehr lebt und Eduard irgendwo da draußen herumirrt und friert …«

»Gerda«, unterbrach Thomas sie und legte den Arm um ihre Schultern. »Dein Geburtstag ist nichts Dummes, und die Welt ist nicht hässlich. Schon gar nicht hier bei uns.« Wie konnte jemand die Welt, die sie umgab, hässlich finden? Unwillkürlich sah er den Wangeriner See vor sich, an den er im Sommer mit Gerda zum Schwimmen ging. An seinem Ufer wucherte hohes Schilf, und wenn man sich zwischen den Halmen ins Wasser hineingleiten ließ, sah es aus, als tauchte man in Silber. Um die gesamte Westseite des Sees zog sich ein Wald aus Föhren, und an den endlosen Sommerabenden spiegelte sich im Wasser nicht nur die Schwärze der Bäume, sondern auch das Rotgold über ihren Wipfeln.

Sooft Thomas sich bedrückt fühlte, wann immer ihm der Mut sank, dachte er an die Schönheit um ihn herum, und etwas in ihm war wieder sicher, dass auf irgendeine Weise alles gut ausgehen würde und er in seiner Welt geborgen war.

»Nein«, sagte Gerda. »Jetzt, wo du hier bist und mir das Buch geschenkt hast, ist gar nichts mehr hässlich. Ach, Thomas, das muss das schönste Buch auf der Welt sein.«

»Dann ist es genau das Richtige«, sagte er. »Für dich.«

»Für uns beide.« Mit blitzenden Augen sah sie zu ihm auf. »Es ist unser Geheimnisbuch, ja?«

Still vor Spannung schlugen sie das Blatt mit dem Inhaltsverzeichnis um und blätterten weiter zum Beginn des ersten Märchens. Das Bild der weißen Königin füllte die gesamte Seite, die zu einer Hälfte im Blau des Himmels gefärbt war und zur anderen im Weiß einer verschneiten Landschaft. In verschlungener Schrift stand zwischen Weiß und Blau der Titel des Märchens:

Die Schneekönigin

2

März

Gerda von Westkamm war das jüngste Kind ihrer Familie. »Ein kleines Nachschrapsel an meinem Rockzipfel, den es nun wirklich nicht noch gebraucht hätte«, pflegte die Mutter ihren Freundinnen zu erzählen, wenn sie von den Nachbargütern zum Kaffee kamen. Dabei stöhnte sie leise.

Gerdas Schwestern, Adele und Leonie, mit denen sie sich das Zimmer teilte, waren fünfzehn und siebzehn Jahre alt. Sie spielten nicht mehr mit dem Puppenhaus oder dem Kasperletheater, sie lasen auch keine Märchenbücher, sondern unterhielten sich über erwachsene Dinge: Adele sprach gern über ihre Verehrer, über Frisuren und die Wäsche in ihrem Aussteuerschrank, und Leonie sprach am liebsten über Pferdezucht und die zahlreichen Probleme, die es dabei zu bewältigen galt. Wenn Gerda Adele und Leonie reden hörte, bekam sie ein bisschen Angst vor dem Erwachsenwerden, so ausgemacht langweilig war es, ihnen zuzuhören.

Zumindest für Mädchen.

Das Leben ihrer Brüder fand sie bei Weitem interessanter. Eduard, der zwanzig war, hatte einmal gesagt, er würde gern durchbrennen und zum Theater gehen, und überhaupt sei er für die Ruhe auf dem Land nicht gemacht, sondern liebe den Trubel in der Stadt. Vor dem Krieg, wenn der Vater ihn zu den Getreidemärkten in Stettin und Danzig mitgenommen hatte, war Edi aus dem Schwärmen gar nicht mehr herausgekommen.

Crispin hingegen war ein großer Reiter gewesen, ein Schwimmer und Wagenlenker, der beim alljährlichen Ernte-Rennen der Zweigespanne den Siegerpokal davontrug. Er hatte sich darauf gefreut, auf Lapienen Gutsherr zu werden, war, wie der Vater und sämtliche Nachbarn sagten, für diese Aufgabe wie gemacht. Er war zweiundzwanzig Jahre alt gewesen, achtzehn, als der Krieg begann, und älter würde er nun nicht mehr werden.

Das bedeutete, dass Gerda eines Tages mehr Jahre zählen würde als ihr ältester Bruder, und das war unvorstellbar traurig. Wenn sie daran dachte, wünschte sie sich, sie könnte immer ein Kind bleiben, das sich mit seinem besten Freund in der hintersten Speisekammer verkroch und Märchen las.

Thomas hatte keine Geschwister, keine lebenden und keine toten, und Gerda war nicht viel besser dran, weil sie ein Nachschrapsel war, mit dem die älteren nichts anfangen konnten. Aber sie hatten einander. So wie es im Märchen von der Schneekönigin stand: »Sie waren nicht Bruder und Schwester, aber sie hatten sich ebenso lieb, als wenn sie es gewesen wären.«

Thomas schwor Stein und Bein, er habe ihr das Buch gekauft, ohne zu wissen, dass das erste Märchen darin – ihr liebstes – von ihnen handelte. Er hatte nicht gewusst, dass der Junge und das Mädchen in der Geschichte ebenfalls Nachbarskinder waren, dass sich die Zweige der Rosenstöcke genauso um die Fenster ihrer Häuser schlängelten und sie im Sommer mit einem Sprung beieinander waren, während es im Winter mit all dem Schnee viel schwieriger war. Am meisten verblüffte beide, dass das Mädchen aus dem Märchen auch den Namen Gerda trug.

Gerda und Kay, so hießen die zwei.

Kay, fand Gerda, war ein ebenso hübscher Name wie Thomas, beide klangen nach einem Burschen, der klug und mutig, manchmal geradezu leichtsinnig und ein bisschen vorschnell war, aber durch und durch anständig – einfach der beste, den es gab.

Seit Thomas ihr das Buch geschenkt hatte und seit sie zusammen das Märchen von der Schneekönigin gelesen hatten, waren sie beide gefangen im Zauber der Geschichte. Sie hatten sich schon in manche hineingedacht und ihr im Spiel ein neues Ende erfunden, aber jetzt beschäftigten sie sich nur noch mit dieser einen. Mit der Geschichte von Gerda und Kay, die Nachbarskinder waren, gemeinsam am Fenster saßen und durch ein Guckloch in der winterlich beschlagenen Scheibe dem wirbelnden Tanz der Schneeflocken zusahen. Bis Kay eines Tages Gerdas Großmutter fragte: »Die Schneeflocken, die so schwärmen wie Bienen – haben die auch eine Königin?«

Es war eine Frage, wie Gerda und Thomas sie hätten stellen können, obwohl sie gar keine Großmutter hatten. Thomas hatte einen Großvater in Graudenz, der nur selten zu Besuch kam, aber wundervolle Briefe schrieb. Gerda hatte den lustigen Onkel Hutz, ihren Taufpaten, der dem Alter nach ein Großvater hätte sein können, doch ihre wirklichen Großeltern hatte sie nie gekannt. Die Großmutter im Märchen hatte Kay zur Antwort gegeben: »Freilich haben sie eine. Sie ist die größte von ihnen, und nie bleibt sie ruhig auf Erden, sie fliegt weiter in die schwarze Wolke hinauf.«

Als Gerda und Thomas in ihrem Versteck im alten Eishaus diese Zeilen zum ersten Mal gelesen hatten, hatte Gerda gespürt, dass die schwarze Wolke nichts Gutes bedeutete und dass auch um die Schneekönigin etwas war, das nichts Gutes verhieß. Im Märchen hatte der vorwitzige Kay sich nicht einschüchtern lassen.

Gerda aber – die Gerda in der Geschichte und die echte in den Decken – wusste, dass es so einfach nicht war. Die Schneekönigin musste etwas mit dem Spiegel zu tun haben, der im ersten Kapitel des Märchens zersprungen war, und jenen Spiegel hatte der Teufel gemacht. Was er spiegelte, wurde hässlich, so schön es zuvor auch gewesen sein mochte, und irgendwann gab es kein Land und keinen Menschen mehr, den der Teufelsspiegel nicht verzerrt zurückgegeben hätte. Als aber der Spiegel zersprang, da wirbelten die Splitter umher wie Schneeflocken und trafen Menschen ins Auge oder ins Herz. Wer einen solchen Splitter ins Auge bekam, konnte künftig keine Schönheit mehr sehen, sondern nahm alles abscheulich und entstellt wahr wie durch den teuflischen Spiegel.

Einen Splitter ins Herz zu bekommen war jedoch noch weit schlimmer, denn wem das geschah, dem gefror das Herz in der Brust zu Eis.

Manchmal musste Gerda das Buch niederlegen, wenn sie an die Stelle kamen, wo dies mit Kay geschah, weil sie es kaum ertrug. Kay und Gerda aus dem Märchen hatten ein Buch angeschaut, so wie Thomas und sie, und als die Turmuhr fünf schlug, fuhr Kay ein Splitter ins Auge und ein zweiter ins Herz. Nicht lange zuvor hatte er eines Abends geglaubt, die Schneekönigin an seinem Fenster vorüberfliegen zu sehen, ihr Winken, mit dem sie ihn einlud, ihr zu folgen.

An dieser Stelle erfasste Gerda von Zeit zu Zeit eine Furcht, die allzu groß war. Furcht lebte in jedem Zimmer, auf jedem Gang des riesigen Hauses, in dem sie wohnte, und hier unten, wo sie mit Thomas ihren Frieden hatte, wollte sie davor sicher sein.

Aber sie war nicht sicher. Nirgendwo. Je länger der Krieg dauerte, desto unaufhaltsamer kroch die Angst in jede Ritze, und auch heute fühlte sie sich von ihr erfasst. In der Frühe hatte sie geglaubt, der weichere Wind über den Äckern würde schon eine Botschaft vom Frühling in sich tragen. Seit Mittag aber war das Wetter wieder umgeschlagen, der Wind pfiff wie eine Peitsche, und Thomas war bis auf die Haut durchnässt gewesen, als er auf Lapienen ankam. Gerdas Blick fiel auf seinen abgeschabten Mantel. Sie wusste, dass seine Mutter ihm keinen neuen kaufen konnte. Das Geld auf Blaes war noch knapper geworden, und Thomas’ Vater galt nun auch als vermisst. Zu gern hätte sie ihm einige der nicht mehr benötigten Winterkleider ihrer Brüder geschenkt, die für gewöhnlich an die Kinder des Gesindes gegeben wurden, aber Thomas war kein Gesindekind. An die Söhne von Nachbargütern verschenkte man keine abgelegte Kleidung, und als sie es ihm dennoch vorgeschlagen hatte, war Thomas gekränkt gewesen.

Warum war das so? Warum fühlte sich selbst ihr bester Freund in seinem Stolz verletzt, wenn sie ihm etwas Gutes tun wollte, warum tat sich auf einmal eine Wand zwischen ihnen auf? Gerda spürte, wie ihr die Brust eng wurde, als legte sich eine Eisenzwinge darum.

»Ach, meine Gerda.« Thomas legte den Arm um sie und lächelte sie an. »Was macht dir denn schon wieder solche Angst?«

»Das weißt du doch«, sagte Gerda und wies auf die Seite des Märchenbuchs. »Die beiden Glassplitter. Dein Herz, das zu Eis wird, und dein Auge, das in allem nur noch das Hässliche sieht.«

»Nicht mein Herz. Und nicht mein Auge.« Das Lächeln in seiner Stimme tat Gerda so wohl, dass sich die Eisenzwinge ein Stück weit öffnete. »Nur die von Kay. Ich bin ein bisschen wie er, und wir zwei haben uns ganz schön tief in die beiden hineingedacht. Aber ich könnte doch niemals unsere Rosen hässlich finden oder unsere Bücher, und weißt du, was ich am wenigsten könnte?«

»Was?«

»Von dir weggehen.«

Das nämlich tat Kay. Mit dem Splitter im Herzen begann er, Gerda zu verhöhnen, und zum Spielen lief er fortan zu den wilden Jungen. Als die Schneekönigin auf ihrem weißen Schlitten heranglitt, konnte er ihr nicht widerstehen, sondern knotete seinen kleinen Schlitten hinten an ihrem fest und brauste mit ihr davon.

»Wirklich nicht, Thomas?«, fragte Gerda. »Im Augenblick kommt es mir vor, als gingen alle weg. Mein Vater auch. Onkel Hutz meint, er ist zu alt für den Krieg, aber nun ist er doch aufs Amt gegangen, und sie haben ihn genommen. Weil sie jeden Mann brauchen. Weil sonst die Polen unser Land überrollen.«

»Die Polen?« Thomas zog die Brauen über der Nasenwurzel zusammen. »Aber Polen ist doch gar kein eigener Staat, der dem unseren den Krieg erklären könnte. Mein Vater hat mir erklärt, es gibt Polen, die auf unserer Seite kämpfen, und andere, die für Russland kämpfen mussten, aber Russland steht inzwischen ja nicht einmal mehr im Krieg.«

»Aber mein Vater sagt, die Polen wollen unser Land«, beharrte Gerda und hörte, wie ihr Herz dumpf pochte. »Und Barduhn sagt, wenn mein Vater die Polen nicht aus dem Haus wirft, ist er es, der geht, denn mit dem Pack lebt er nicht länger unter einem Dach.«

Aus Thomas’ Gesicht schwand das Lächeln. Er schien verwirrt. »Sliwitzky ist Pole«, murmelte er.

Gerda nickte. »Sliwitzky ist der Allerbeste, und es macht mich ganz traurig, wenn Barduhn ihn beschimpft. Wera aus der Küche ist auch Polin, und Pauline sagt, ohne Wera bekommt sie keinen properen Mohnstollen mehr gerollt, weil die Polen-Wera Zauberhände hat.«

»Das ist es«, sagte Thomas. »Deutsche und Polen leben hier Seite an Seite, der eine kann dieses, und der andere kann jenes. Nowak von der Löwenapotheke in Schlochau ist zum Beispiel auch Pole, und mein Vater sagt, sein Magentonikum würde er sich im ganzen Reich von keinem andern mischen lassen.«

»Mutter schickt die Anni auch zum Nowak nach ihrer Arznei«, sagte Gerda. »Und die Erntearbeiter sind alle Polen. Wenn keine Polen zur Ernte kämen, sagt Sliwitzky, würde der Weizen auf den Halmen verkommen und die Kartoffeln in der Erde.«

»Na siehst du.« Thomas zog sie dichter an sich. »Mein Großvater in Graudenz ist auch Pole. Hast du das gewusst?«

»Nein«, sagte Gerda verwundert. »Aber wenn dein Großvater Pole ist, ist dann deine Mutter nicht auch …« Sie brach ab.

»Darüber habe ich noch nie nachgedacht«, bekannte Thomas. »Meine Mutter war für mich einfach immer Mamuśka, die liebste Mutter der Welt.«

»Nun ja. Mamuśka. Besonders deutsch klingt das nicht.« Gerda musste lachen und fühlte sich erleichtert. »Aber du hast recht, deine Mutter ist die liebste der Welt, und Blaubeersuppe schmeckt nirgends so gut wie bei ihr. Was ist wichtig daran, ob jemand Pole oder Deutscher ist, wenn er so sehr zum Liebhaben ist?«

Sie lachten ein bisschen. Dann nahmen sie ihr Buch wieder auf, doch statt weiterzulesen, blätterten sie durch die Seiten und sahen sich die schönen Bilder an. Die Krähe, die der Märchen-Gerda auf ihrer Suche nach Kay zu Hilfe kam, mochte die echte Gerda besonders gern. Sie hatte große, blanke Knopfaugen über einem gebogenen Schnabel und sah neugierig und gewitzt aus.

»Wenn erst der Krieg zu Ende ist, wird es besser, glaubst du das nicht auch?«, fragte sie Thomas. »Er reißt so viele Menschen auseinander, und vielleicht ist es das, was sie böse macht. Meine Mutter hat Wera eine Ohrfeige gegeben, weil sie gezuckerte Milch verschüttet hat. ›Weißt du dummes Ding, was Zucker kostet?‹, hat sie geschrien, aber ich glaub’, in Wirklichkeit ist sie nur traurig.«

Thomas überlegte und zog dabei die Stirn in Falten, was Gerda manches Mal zum Lachen brachte. Aber nicht heute. »Meine Mutter ist auch traurig«, sagte er. »Nur wird sie davon nicht böse, sondern weint. Wenn ich ins Zimmer komme, wischt sie sich schnell über die Augen und versucht zu lächeln, aber ich bin ja nicht blind. Als mein Vater nach seinem Urlaub wieder abreisen musste, hat sie mit ihm unter dem Vordach gestanden. Sie haben sich in den Armen gehalten und geweint.«

»Dein Vater auch?«, fragte Gerda erstaunt.

Thomas nickte. »Sicher wär’s ihm nicht recht, dass ich davon weiß, aber warum denn nicht? Er hat meine Mutter doch so lieb, und wenn ich von dir wegmüsste, würde ich auch weinen.«

»Ich hab’ meinen Vater noch nie weinen sehen«, sagte Gerda. »Nicht einmal, als das Telegramm kam, in dem stand, dass Crispin nicht mehr lebt.«

»Vielleicht weint er, wenn du nicht zusiehst.«

»Ja, vielleicht.« Gerda blätterte im Buch zurück und sah ein Bild an, auf dem Kay und Gerda einander in den Armen hielten. »Er hat wohl auch meine Mutter lieb, wenn ich nicht zusehe. Und meine Brüder und Schwestern.«

Thomas senkte ebenfalls den Blick. »Und dich?«, fragte er.

»Mich bemerkt er gar nicht«, erwiderte Gerda. »So kommt es mir zumindest vor.«

»Ich brauch’ dich«, rief Thomas entsetzt und zog sie wieder an sich. »Und ob man jemanden lieb hat, hat doch nichts damit zu tun, ob man ihn braucht. Seneca, unser Jagdhund, ist zu nichts mehr nütze und liegt in der Küche vor dem Ofen herum, sodass die Stine über ihn stolpert oder auf seine langen Ohren tritt. Aber lieb haben wir ihn alle, und meine Mutter päppelt ihn mit Schabefleisch und Gänseklein, damit er bei Kräften bleibt.«

»Bei euch ist das anders.« Gerda ließ sich in seine Arme fallen und spürte einen Augenblick lang nur die Wärme der Decken und das Pochen seines Herzens. »Das mit dem Weinen und das mit der Liebe. Meine Mutter hat über Crispin kurz geschnieft, und zu mir hat sie gesagt, sie kann heulende Kinder nicht leiden. Liebe ist bei uns eine Belohnung dafür, dass man etwas besonders gut gemacht hat und besonders nützlich war. Bei euch dagegen ist sie – ach, ich weiß auch nicht, bei euch ist sie einfach Liebe.«

»Einfach Liebe, ja.« Thomas lachte. »Und bei mir ist es beides. Ich hab’ dich doppelt lieb, weil meine Liebe einfach Liebe ist und weil du alles besonders gut machst und besonders nützlich bist.«

Gerda musste jetzt auch lachen, und das Leben war wieder schön. »Wenn wir zusammen sind, kommt es mir immer vor, als ob alles gut wird. Aber für den armen Crispin, für den kann nichts mehr gut werden.«

»Das wissen wir ja nicht«, sagte Thomas tröstend. »Vielleicht ist er im Paradies, und da ist es viel schöner als hier.«

»Glaubst du das?«

Ohne zu zögern, schüttelte er den Kopf. »Nein. Nicht schöner als hier. Das kann nicht sein. Aber vielleicht ist es anders schön.«

Gerda befreite sich und blickte zu ihm auf. »Wenn ich an Crispin denke, ist mir, als wenn er nirgendwo mehr wäre«, sagte sie. »Sein fescher Landauer steht in der Remise, sein Schlitten lehnt an der Wand, und das Fohlen, das er aufgezogen hat, das ist schon ein junger Hengst. Wie kann es sein, dass er selbst einfach nicht mehr da ist? Wenn er ein Grab hätte wie das von den Großeltern auf dem Kirchhof, wäre es vielleicht anders. So aber ist es, als hätte Lehrer Sägebrecht ihn mit Kreide an die Tafel gemalt und am Ende des Unterrichts weggewischt.«

Sie spürte, wie Thomas schauderte. »So ist es nicht, Gerda«, sagte er. »So kann es nicht sein. Die fürs Vaterland gefallenen Soldaten liegen ja begraben, nur eben in Flandern oder Russland oder im Osmanischen Reich. Wenn es wärmer wird und der Boden nicht mehr gefroren ist, nehmen wir etwas, das Crispin gehört hat, und graben es auf dem Kirchhof ein, ja? Gleich neben deinen Großeltern. Damit er hier auch ein Grab hat.«

»Meinst du, das dürfen wir? Auf dem Kirchhof graben, in geweihter Erde?«

Thomas dachte nach. »Wir tun ja nichts Unrechtes«, sagte er dann. »Was sollte Gott dagegen haben, dass du dir einen Ort wünschst, an dem du an deinen Bruder denken kannst?«

Die Antwort leuchtete Gerda ein, und sie spürte ein wenig Erleichterung. Jetzt wollte sie nicht mehr reden, wollte sich nur noch mit Thomas in ihrem Nest zusammenrollen, ihre Bücher anschauen und auf Traumreise gehen.

Zum Schönsten am Zusammensein mit Thomas gehörte, dass er so oft das Gleiche wollte wie sie. Jetzt blieb er mit ihr liegen, und statt einander Fragen zu stellen, hörten sie ihren Atemzügen zu. Im Sommer würden sie nach dem Schwimmen so im Schilf liegen und die Sonne auf der Haut spüren, die die Erinnerung an die Kälte des Wassers vertrieb. Noch schien der Sommer weit weg, doch wenn erst der Schnee schmolz, würde die Zeit verfliegen. Das Leben ging weiter, und irgendwann würde auch der Krieg zu Ende sein.

Die rostige Klinke wurde heruntergedrückt, und mit einem Quietschen in den Angeln schob sich die Tür auf. Thomas und Gerda schreckten hoch, als hätten sie etwas Verbotenes getan.

»Gnädiges Fräulein.« Sliwitzky rollte das R, aber heute klang es nicht lustig. »Und Sie, mein junger Herr Thomas. Leider muss ich Sie stören.«

»Sie stören uns doch nicht, lieber Sliwitzky«, rief Gerda eilig. »Wir haben nur in einem Buch gelesen. Ist es schon Zeit, muss Thomas heim und ich hinauf zum Abendessen?«

»Wegen des Abendessens nur keine Sorge, bis dahin bleibt Ihnen noch beinahe eine Stunde«, antwortete der Verwalter mit der ihm eigenen, leicht betulichen Höflichkeit. »Aber Ihr junger Freund wird zu Hause erwartet.« Er wandte sich an Thomas: »So leid es mir tut, Sie müssen gleich mit mir kommen. Ihre Mutter hat den Burschen mit dem Wagen nach Ihnen geschickt.«

Gerdas Herz, das sich gerade beruhigt hatte, begann von Neuem hart und dumpf zu pochen. Vor ihren Augen glaubte sie, die schwarze Wolke aufziehen zu sehen, in der die Schneekönigin verschwand. Es wurde kalt im Raum. Thomas’ Mutter hatte nur noch den einen Burschen und einen uralten Knecht als Hilfe, um das Gut zu bewirtschaften. Sie hätte jenen unentbehrlichen Jacek gewiss nicht mit dem Gespann nach ihrem Sohn geschickt, wenn nicht etwas Furchtbares geschehen wäre.

Thomas war totenbleich geworden. Gerda setzte sich auf und packte seine Hand. Ihre Finger schlossen sich um seine, ertasteten die Wärme seiner Haut. »Ich bin für dich da«, flüsterte sie. »Was auch geschehen ist – ich bin hier und warte auf dich.«

ZWEITE GESCHICHTE

Lapienen bei Schlochau Westpreußen Februar 1926

»Die Schneekönigin küsste Kay noch einmal, und da hatte er die kleine Gerda, die Großmutter und alle daheim vergessen.«

Hans Christian Andersen: »Die Schneekönigin«

3

»Gefällt es dir wirklich, Leo? Findest du, dass es mir steht?«

Gerda drehte sich zwischen Bett und Spiegel und ließ den königsblauen, am Saum mit goldener Borte verzierten Rock um ihre Fesseln schwingen. Die Borte hatte Anni, das Hausmädchen, auf den blauen Seidenstoff appliziert, damit niemandem auffiel, dass das Kleid einmal einer anderen gehört hatte und für Gerda ausgelassen worden war. Gerda fand, dass es mit dieser Borte erst recht zu einem besonderen Kleid wurde, einem Märchenkleid wie aus einer ihrer Geschichten.

»Jaja, es steht dir, und nun gib endlich Ruhe, du eitler Fratz.« Leonie, Gerdas älteste Schwester, saß vor dem Frisiertisch, den die drei Westkamm-Töchter sich bis zum heutigen Tag geteilt hatten, und befestigte weiße Seidenblumen an Steckkämmen, mit denen sie selbst, Gerda und ihre Cousine Elsbeth sich das Haar schmücken wollten. Die drei würden Brautjungfern sein. Sie hätten einheitlich geschneiderte Kleider tragen sollen, doch die Zeiten waren nicht mehr wie einst. Zwei Kleider eigens fertigen zu lassen schlug heftig genug zu Buche, und ohnehin kostete die ganze Hochzeit ein Vermögen. Was für ein Glück war es da gewesen, dass sich in dem Gepäck, mit dem Cousine Elsbeth und ihre Mutter, Tante Benigna, vor sechs Jahren auf Lapienen eingetroffen waren, ein Kleid fand, das den zwei anderen halbwegs ähnelte.

»Wenn meine Töchter abgelegte Kleider auftragen müssen, wie sollen sie da eine akzeptable Partie machen?«, hatte die Mutter sich empört, aber Tante Benigna, ihre Schwägerin, hatte ihre Entrüstung beiseitegewischt. »Mach du erst einmal durch, was ich durchgemacht habe, dann regst du dich über solche Bagatellen nicht mehr auf«, hatte sie gesagt. »Außerdem kriegst du ja jetzt das erste deiner Mädchen unter die Haube, ein Glück, auf das meine arme Elsbeth wohl vergeblich hoffen wird.«

Tante Benigna und Cousine Elsbeth stammten nicht aus Westpreußen, sondern aus dem baltischen Kurland, wo auch Gerdas Mutter geboren worden war. Tante Benigna war die Frau von Mutters Bruder, und das Gut, das die Familie besessen hatte, war so groß, dass Lapienen dagegen zu einem läppischen Vorwerk schrumpfte. Jedes Mal, wenn die Mutter von dem Gut derer von Bistram erzählte, wurde es größer und prächtiger, und ihr Bruder, Julius von Bistram, war ein strahlender Offizier und Held gewesen.

Der russische Zar aber hatte das Vermögen baltendeutscher Adliger konfisziert, um seinen Krieg zu finanzieren. Als der dann zu Ende war, der Zar gestürzt und erst die Bolschewisten und anschließend lettische Demokraten die Macht übernahmen, hatten sie den Baltendeutschen auch noch ihr Land genommen. Onkel Julius, den Gerda nie kennengelernt hatte, war der Mutter zufolge an gebrochenem Herzen gestorben, und Tante Benigna und Elsbeth hatten auf Lapienen Unterschlupf suchen müssen.

An den zusätzlichen Essern lag es jedoch nicht, dass das Gut seit Jahren in Geldnöten steckte. Die »polnischen Landräuber« seien schuld, schimpfte der Vater, die »Novemberverbrecher« und der »Schandvertrag von Versailles«. An all diese hässlichen Tiraden, die ihr um die Ohren surrten, wollte Gerda jetzt aber nicht denken. Heute war ein Freudentag. Adele würde heiraten, aus der gesamten Umgegend würden Gäste kommen, und sie selbst trug ihr erstes erwachsenes Festkleid. Sie drehte sich noch einmal, sah sich im Spiegel dabei zu und spürte Verlegenheit in sich aufsteigen, weil sie sich in der blau-goldenen Seide regelrecht hübsch fand.

»Jetzt lach doch einmal, Leo«, rief sie ihrer Schwester zu. »Adele wird die schönste und glücklichste Braut sein, selbst unseren Vater hab’ ich noch über gar nichts schimpfen hören.«

»Dafür schimpfe ich gleich umso mehr«, erwiderte Leonie und schleuderte den zierlichen Haarschmuck zwischen die Tiegel und Flakons auf den Tisch. »Weshalb muss ich mir eigentlich an diesem elenden Fitzelkram die Finger brechen, und wo stecken Anni und Nette, wenn man sie braucht?«

»Überall gleichzeitig«, gab Gerda wahrheitsgemäß zur Antwort. »Die zwei müssten acht Arme haben, wie Meeresungeheuer, um alles zu bewältigen.« Seit die Wera entlassen worden war – angeblich hatte man sie beim Stehlen erwischt –, fehlte eine Kraft in der Küche, was den Hausmädchen noch mehr aufbürdete.

Leonie seufzte. »Es heißt nicht Meeresungeheuer, sondern Kraken, beste kleine Schwester. Du bist siebzehn Jahre alt, himmelst dich selbst im Spiegel an und liest trotzdem noch immer viel zu viele Märchen.«

Gerda hielt inne, und die Schwestern tauschten ein Grinsen. Neuerdings schreib’ ich sogar welche, wäre es ihr fast entschlüpft, aber von diesem Geheimnis sollte kein Mensch etwas wissen!

Kein Mensch außer Thomas.

Für ihn schrieb sie auf, was sie ihre Kindheit hindurch erdacht hatten: all die Geschichten von Irrlichtern, in denen die Seelen ungetaufter Kinder flackerten, von Wassernymphen und Werwölfen, von unter der Erde hausenden Zwergen und durch die Lüfte wirbelnden Geistern. Einmal hatte sie Thomas gestattet, eine Auswahl ihrer Märchen seiner Mutter zu zeigen, und Milenka von Merwitz war genauso beeindruckt gewesen wie ihr Sohn.

Thomas hatte Gerda davon erzählt: »›Mamuśka, wo nimmt sie das nur alles her?‹, habe ich sie gefragt, von woher fliegen ihr all diese Geschichten zu? Und weißt du, was sie geantwortet hat? ›Mir kommt es vor, als ob unser Land selbst sie ihr erzählt. Unser Land mit seinen schwarzen Wäldern und spiegelnden Seen, den hohen Himmeln und den sturen, starken Menschen. Deine Gerda hört zu. Deshalb kommen die Geschichten zu ihr.‹«

Gerda hatte das Gefühl gehabt, vor Stolz zu glühen. Thomas’ Mutter, die so viel las und so viel Kluges von sich gab, hatte ihre Geschichten gemocht und sie genauso verstanden, wie Gerda selbst sie verstand. Als etwas, das Land und Leute ihr und Thomas erzählten. Zuweilen waren die Leute, die es als Erste erzählt hatten, schon seit Hunderten von Jahren tot. Die Geschichten jedoch wurden von einem zum anderen weitergegeben und hielten so einen Funken von den ursprünglichen Erzählern lebendig. Gerda und Thomas spürten, dass sie mit ihnen verbunden waren.

Von Leonie war etwas Ähnliches allerdings nicht zu erwarten. Leonie war so bodenständig wie eine preußische Eiche. Mit Dingen, die man weder sehen noch anfassen und schon gar nicht riechen konnte, tat sie sich schwer. Sie war das Drittgeborene der Westkamm-Kinder, die erste Tochter und, seit die Nachricht von Eduards Tod eingetroffen war, das älteste Kind des Hauses. Demzufolge wäre es ihr, nicht der jüngeren Adele, zugekommen, als Erste zu heiraten und ihren Mann zum Erben des Guts zu machen. Als die Mutter noch vor Ablauf des Trauerjahres begonnen hatte, sämtliche ledige Söhne von den Gütern der Umgegend zu Geselligkeiten einzuladen, waren diese Leonie als mögliche Heiratskandidaten zugeführt worden.

Allzu viele waren es nicht gewesen. Beinahe die Hälfte aller jungen Männer aus diesem Teil Westpreußens waren im Krieg geblieben, auch wenn Gerda diesen Ausdruck falsch fand – als hätten sie freiwillig beschlossen, irgendwo anders zu bleiben, wo es ihnen besser gefiel als in ihrer Heimat.

Dieser Teil Westpreußens war im Übrigen der einzige, der noch zu Deutschland gehörte, denn nach dem verlorenen Krieg hatte der Vertrag von Versailles geregelt, dass das Hinterland der neu gegründeten Republik Polen zugeschlagen wurde. Gerda hatte sich als Kind nicht vorstellen können, was für eine Rolle es spielte, ob ihr Hinterland polnisch oder deutsch regiert wurde. Da ihr Vater aber nicht müde wurde, alles Übel auf den »polnischen Landraub« zu schieben, wusste sie nicht mehr, was sie glauben sollte.

Junge Leute zogen in Scharen aus Westpreußen fort, um sich anderswo eine Zukunft aufzubauen. So war für Leonie nur noch eine kleine Handvoll Anwärter infrage gekommen, und mit keinem hatte sich etwas ergeben. »Für mich hat sich eben keiner entschieden«, hatte Leonie bekundet. Aber sie klang kein bisschen traurig dabei, und Gerda wurde den Verdacht nicht los, dass es in Wahrheit die Schwester selbst gewesen war, die sich gegen all die jungen Männer entschieden hatte.

In jedem Fall hatte Bernhard Krochow zu Wallraben, einer der bevorzugten Kandidaten, nach einem Souper und zwei Tanztees um Adeles Hand angehalten. Der Vater hatte die Hoffnung, eine seiner Töchter könne dem Familiensitz durch eine günstige Heirat aus der Klemme helfen, bereits so gut wie verloren, doch umso eifriger stürzte er sich mit Bernhards Vater in Verhandlungen. Man wurde sich einig, und heute würden sich Bernhard und Adele in der Peter-und-Paul-Kapelle das Jawort geben.

Bernhards Vater war Herr über Gut Wallraben, das zwar von der Anzahl der Hufen her kleiner war, aber deutlich rentabler bewirtschaftet wurde als Lapienen. Frühzeitig hatten die Krochows die kostspielige Zucht edler Reitpferde aufgegeben und sich auf schwerere Tiere für die Artillerie verlegt. Sie betrieben Schweinemast und setzten weiterhin auf den Anbau von Weizen, Roggen und Kartoffeln. Die Transportkosten für Maschinen, Kohle, Öl und Dünger waren ins Unermessliche gestiegen, seit die Reste Posens und Westpreußens zum Grenzland geworden waren, doch das schien Rudolf Krochows Betrieb nichts anzuhaben.

Wallraben war liquide und effizient organisiert. Lapienen seinerseits besaß den Zauber der alten, verlorenen Welt, den Klang seines Namens und die Tradition. Zudem verfügte es über weitläufige Flächen ausgezeichneten Ackerlandes, die größtenteils brach lagen, weil die Mittel fehlten, sie zu bestellen. Von einer Verbindung zwischen ihnen würden beide profitieren.

Bernhard war als Zweitgeborener zwar nicht der Erbe, aber das kam Gerdas Vater zupass: Der Älteste würde Wallraben erben, das auf gesunden Füßen stand, und gewiss wünschte Rudolf Krochow auch seinem jüngeren Sohn ein prosperierendes Gut. Er würde nicht zögern, in Lapienen zu investieren.

All das freute Gerda für ihren Vater und natürlich für alle, die auf Lapienen zu Hause waren: für die Häusler und Kätner in den einstigen Fischerhütten wie für die Störche, die auf den Dächern der Gesindehäuser nisteten. Wichtiger als Geld musste jedoch die Liebe sein, selbst wenn Leonie hundertmal tönte, solches Gerede gehöre in Gerdas Märchenbücher. Und weil Liebe das Wichtigste war, freute sich Gerda vor allem für ihre Schwester Adele.

In dem schneeweißen Brautkleid, das in Danzig geschneidert worden war, würde Adele am Arm ihres Vaters ihrem Liebsten entgegenschreiten. In der Kapelle, einst allein den Bewohnern des Gutes vorbehalten, würden die Glocken läuten und den Bund besiegeln, der Adele und Bernhard bis ans Ende ihrer Tage verband. Für Gerda hatte es durchaus etwas Märchenhaftes, dass zwei Menschen beschlossen, nicht allein durch ihr Leben zu gehen. Sie wünschte Adele, dass sie mit ihrem Bernhard so glücklich wurde, wie Thomas’ Mutter Milenka mit ihrem Mann gewesen war.

Bis Claudius von Merwitz in den Krieg gegangen und wie so viele nicht mehr zurückgekommen war.

»Und ich würde trotzdem nicht tauschen«, hatte die Mutter zu Thomas gesagt. »Ich bin sehr glücklich gewesen, und von so viel Glück kann unmöglich nichts übrig bleiben, also mach dir um mich keine Sorgen.«

Genau das wünschte Gerda ihrer Schwester: ein Glück, das so so groß war, dass davon immer etwas übrig blieb und nicht einmal ein Krieg es zu zerstören vermochte. Sie und Adele hatten einander nie nahegestanden, denn die sechs Jahre jüngere Schwester war für Adele ein Klotz am Bein gewesen. Jetzt aber fühlte Gerda sich ihr verbunden. Musste von einem so großen Glück, das ins Haus einzog, nicht auch etwas auf Bewohner und Besucher abfallen, die traurig waren? Gerdas Eltern, Leonie und all die anderen Familien, in deren Reihen Lücken klafften.

Und auf Thomas, dachte Gerda. Er würde zu Ostern das Gymnasium in Schlochau abschließen, zweifellos als Bester seines Jahrgangs, auch wenn er sich nie mit seinen Noten brüstete. Wenn alles gut ging, würde er im Herbst in Breslau sein Studium der Geschichte und Philosophie antreten. Gerda konnte sich kaum ein Leben ohne ihren besten Freund vorstellen, doch sie wusste, wie sehr Thomas sich dieses Studium wünschte. Und wenn er es sich wünschte, dann wünschte Gerda es sich auch.

Sie waren eben keine Kinder mehr, und die Zeit ihres Verstecks in der Eiskammer war vorbei. Sie trafen sich ohnehin nicht mehr so häufig, zum einen weil Thomas für die Schule zu lernen hatte, und zum andern weil es sich auf einmal fremd anfühlte. Wenn Gerda es recht bedachte, hatte ihre Freundschaft sich schon vor langer Zeit zu wandeln begonnen, damals im letzten Kriegsjahr, als Thomas an ihrem geheimen Ort erfahren hatte, dass sein Vater gefallen war. Fortan hatte er sich mit dem Erwachsenwerden beeilen müssen, und sie tat es mit ihm. Sie kamen weiter zusammen, doch standen sie sich oft verlegen gegenüber und wussten nicht, was sie miteinander anfangen sollten.

Menschen veränderten sich. Die ganze Welt veränderte sich, so sehr, dass Leute wie Gerdas Mutter sagten, sie fänden sich darin nicht mehr zurecht. Ihre Freundschaft zu Thomas war davon nicht ausgenommen. Gerda würde kein Stein in seinem Weg sein. Sie würde ihre gemeinsame Zeit in Ehren halten, ihm die besten Wünsche mit auf seine Reise geben, und wenn sie wieder einmal ein Märchen schriebe, würde sie es ihm vielleicht schicken.

»Für deine Gedanken gebe ich dir keinen Pfennig.« Leonies Stimme unterbrach Gerdas Grübeleien. »Das gesponnene Jung-Mädchen-Garn samt Überschwang und Märchenseligkeit ist garantiert sein Geld nicht wert.«

Gerda lachte und sprang zu ihr. »Gib schon her, ehe du dir mit dieser Bastelei die Finger brichst. Ich werde sehen, was ich tun kann, auch wenn ich mich mit solchen Arbeiten, die ein Mädchen unbedingt können muss, nicht geschickter anstelle als du.«

»Tja, dann wirst du wohl nicht heiraten können.« Leonie schob den ganzen Haufen Kämme, Drähte und Blumenschmuck zu Gerda hinüber. »Über mich haben Pauline und Lore schon den Stab gebrochen. Wie ich neulich auf dem Küchengang mitanhören durfte, sind die beiden sicher, Bernhard Krochow habe mich verschmäht, weil ich mich nicht auf die Fischzubereitung verstehe. Hechte, Zander, Karpfen, Karauschen, Ostseeschnäpel, das muss für ein Mädchen alles ein Kinderspiel sein. ›Kann ’ne Marjell keinen Fisch kochen, kann se nicht heiraten‹, meinte Pauline.«

»Ist sie etwa der Ansicht, Adele kann Fisch kochen?« Flink wickelte Gerda Draht um Blumenstängel und Kämme.

Leonie zuckte mit den Achseln. »Bei Adele ist das etwas anderes. Die ist hübsch.«

»Aber Leo!«, rief Gerda. »Du bist doch auch …«

»Gib dir keine Mühe.« Beim Grinsen entblößte Leonie ihre kräftigen Zähne. »Ich wäre hübsch, wenn ich als Pferd auf die Welt gekommen wäre, und glaub mir, dagegen hätte ich nichts einzuwenden.« Leonie liebte Pferde. Alle Zeit, die sie erübrigen konnte, verbrachte sie in den Ställen und wünschte sich nichts sehnlicher, als dass Lapienens Zucht edler Warmblüter, die der Krieg zum Erliegen gebracht hatte, wieder in Schwung käme. Dass sie mit ihrer hohen Stirn und den geblähten Nasenflügeln ein wenig an ein Pferd erinnerte, war nicht ganz von der Hand zu weisen.

Leonie musterte sie. »Du dagegen bist gar nicht so übel. Nur ist an dir leider nicht mehr dran als an einem abgenagten Hering. Womit wir wieder beim Fisch wären. Solche Hungerhaken wie du sind angeblich in Berlin der letzte Schrei. Aber hier draußen, bei uns auf dem Lande – da musst du was zum Zusetzen haben.«

»An mir bleibt eben nichts hängen.« Gerda sammelte die fertigen Kämme zusammen und stand auf. »Aber wart’s nur ab, bis ich mich nachher mit Paulines Rindfleisch in Meerrettich vollstopfe – für euch bleibt da nichts übrig.«

»Das ist ja das Problem.« Leonie stemmte sich ebenfalls in die Höhe und strich ihr Brautjungfernkleid achtlos glatt. »Du bist für einen Mann zu teuer. Stell dir das mal vor – als würde man ein Schwein von früh bis spät mästen, aber es würde nicht fett.«

»Welch reizender Vergleich«, bemerkte Gerda.

»Tut mir leid«, sagte Leonie. »Darauf hat mich der Krochow gebracht, der sich mit seiner Schweinemast ja wohl eine goldene Nase verdient. Wir dagegen hocken auf unterirdischen Getreidepreisen und warten auf die Osthilfe, die nicht kommt.«

»Irgendwann kommt sie sicher«, sagte Gerda, entschlossen, heute keinen bedrückenden Gedanken zuzulassen. »Es geht doch aufwärts mit der Wirtschaft, in Berlin halten sie diese große Landwirtschaftsmesse namens ›Grüne Woche‹ ab, und die Regierung hat Unterstützung für die östlichen Provinzen zugesagt. Und dann hat Deutschland ja auch die Aufnahme in den Völkerbund beantragt. Wenn wir erst wieder zur Gemeinschaft der Nationen gehören, wird der Handel mit dem Ausland aufleben, und die Preise für Getreide werden steigen. Jetzt aber los. Gehen wir hinüber zu Elsbeth und lassen uns frisieren. Wir wollen die Braut schließlich nicht blamieren.«

»Denkst du dir solche Ansprachen eigentlich selbst aus?«, fragte Leonie. »Oder hast du diese Weisheiten von deinem Romeo? Gemeinschaft der Nationen … auf deinem Mist gewachsen ist das doch wohl nicht.«

»Und wer soll mein Romeo sein?«, fuhr Gerda sie an. Ihr Wissen um politische Ereignisse hatte sie von Thomas, denn im Haus ihres Vaters hätte sie keine der täglich gelieferten Zeitungen lesen dürfen. Noch weniger wäre ihrem Vater einer dieser neuen Rundfunkempfänger ins Haus gekommen, durch den man von Ereignissen auf der ganzen Welt erfuhr.

»Thomas von Merwitz, dein Ritter ohne Furcht und Tadel, seit du aus den Windeln bist«, antwortete Leonie trocken. »Ich nehme an, seinetwegen zerbrichst du dir nicht den Kopf über Fischzubereitung und das ganze Lametta.«

»Thomas ist weder mein Romeo noch mein Ritter«, sagte Gerda. »Er war für mich in all den Jahren der Bruder, den ich gerne gehabt hätte.« Erschrocken hielt sie inne. Das Wort Bruder nahm auf Lapienen kein Mensch mehr in den Mund. Wie konnte sie sich einen anderen Bruder wünschen als ihre eigenen, von denen niemand wusste, wo ihre Körper verscharrt lagen?

»Entschuldige«, murmelte sie leise, ehe sie wieder einen leichteren Ton anschlug: »Um Fischzubereitung und Lametta zerbreche ich mir in der Tat nicht den Kopf – aber was hat Thomas damit zu tun?«

»Bei mir brauchst du dich nicht zu entschuldigen, dass du dir einen Bruder in deinem Alter gewünscht hättest«, sagte Leonie. »Es war bestimmt kein Spaß, von lauter todernsten, traurigen Erwachsenen umgeben zu sein. Das habe ich nicht gemeint.«

»Was dann?«