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Das Werk: Das Handbuch behandelt das gesamte Beweisantragsrecht im Strafprozess unter Auswertung der einschlägigen Rechtsprechung. Es hilft dem Strafverteidiger, auf diesem schwierigen und äußerst fehlerträchtigen Gebiet des Prozessrechts Probleme zu erkennen, Fehler zu vermeiden und Beweisanträge richtig zu formulieren. Nach einer Darstellung der theoretischen Grundlagen werden Beweisanregung, Beweisermittlung, bedingter Beweisantrag und der Beweisantrag im engeren Sinne dargestellt und voneinander abgegrenzt. Ziel, Zweck und Zeitpunkt der Antragstellung, Entscheidung über den Beweisantrag, Systematik der Ablehnungsgründe, Besonderheiten bei Sachverständigenbeweis, Augenscheinsbeweis und beim Auslandszeugen, Beweisantrag gem. § 245 i.V.m. § 220 StPO usw. sowie Stellung von Beweisanträgen außerhalb der Hauptverhandlung werden ausführlich erörtert und übersichtlich dargestellt. Die Neuauflage bringt das Werk auf den neusten Stand von Gesetzgebung und Rechtsprechung. Eingegangen wird insbesondere auf die neue Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zur Verpflichtung des Tatrichters zu besonders sorgfältiger Beweiswürdigung wenn potentielle Entlastungszeugen aufgrund der Entscheidung eines ausländischen Staates nicht gehört werden können, auf die Entscheidung des Großen Senats zu den Grenzen des Deals sowie die Rechtsprechung zu den Grenzen des § 246 StPO bei Missbrauch des Beweisantragsrechts. Überarbeitet und erweitert wurde auch die Darstellung des Sachverständigenbeweises. Durch die Aufnahme neuer Beispielsfälle und eine Darstellung der prozessualen Funktion der einzelnen Beweismittel, die bei der Formulierung von Beweisanträgen zu beachten ist, trägt die Neuauflage den praktischen Bedürfnissen der Strafverteidigung verstärkt Rechnung.
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von
Prof. Dr. Rainer HammRechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrechtin Frankfurt am Main
Jürgen PaulyRechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrechtin Frankfurt am Main
bis zur 2. Auflage mit
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Winfried Hassemer †Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts a.D.Strafrechtslehrer an der Goethe-Universität Frankfurt am MainRechtsanwalt
3., neu bearbeitete Auflage
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Beweisantragsrecht › Herausgeber
Praxis der Strafverteidigung
Band 22
Begründet von
Rechtsanwalt Dr. Josef Augstein (†), Hannover (bis 1984)
Rechtsanwalt Prof. Dr. Werner Beulke, Passau
Prof. Dr. Hans Ludwig Schreiber, Göttingen (bis 2008)
Herausgegeben von
Rechtsanwalt Prof. Dr. Werner Beulke, Passau
Rechtsanwalt Prof. Dr. Dr. Alexander Ignor, Berlin
Schriftleitung
Rechtsanwalt (RAK München und RAK Wien) Dr. Felix Ruhmannseder, Wien
Beweisantragsrecht › Autoren
Prof. Dr. Rainer Hamm ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in Frankfurt/M. Er ist Honorarprofessor für Strafprozessrecht an der Goethe-Universität in Frankfurt/M., Autor zahlreicher Veröffentlichungen sowie Mitherausgeber der „Neuen Juristischen Wochenschrift" (NJW).Kontakt: [email protected]
Jürgen Pauly ist Rechtsanwalt und Fachanwalt für Strafrecht in Frankfurt/M. Zu seinen Tätigkeitsschwerpunkten gehören strafrechtliche Revisionen und Verfassungsbeschwerden, Wirtschaftsstrafrecht, Arzt- und Medizinstrafrecht.Kontakt: [email protected]
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Vorwort der Herausgeber
Vorwort der Autoren
Abkürzungsverzeichnis
Teil 1Theoretische Grundlagen
I.Das Beweisantragsrecht – ein Fremdkörper im Strafverfahren?
II.Die Etablierung des Beweisantragsrechts in der Geschichte der StPO
III.Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts
1.Vorurteil und Sinnerwartung
2.Konvergenzphilosophie
3.Konsensustheorie der Wahrheit
4.Wahrnehmungsphysiologie, Wahrnehmungspsychologie
5.Hermeneutik
6.Konsequenzen
7.Justizförmigkeit der Wahrheitssuche
Teil 2Die Stufen der petitativen Einflussnahme auf den Umfang der Beweisaufnahme
I.Formlose Informationsweitergabe und Beweiserbieten
II.Beweisanregung
III.Beweisermittlungsanträge
IV.Der bedingte Beweisantrag
1.Bedingung aus der Sach- oder Prozesslage
2.Der Hilfsbeweisantrag
V.Beweisanträge im engeren Sinne
1.Definition
a)Zur prozessualen Funktion der einzelnen Beweismittel
aa)Zeugenbeweis
bb)Sachverständigenbeweis
cc)Augenscheinsbeweis
dd)Urkundenbeweis
b)Die Bezeichnung des Beweismittels
aa)Zeugenbeweis
(1)Individualisierung des Zeugen, Angabe der Anschrift
(2)Anforderungen bei Benennung einer Vielzahl von Zeugen
(3)Praktische Konsequenzen
bb)Sachverständigenbeweis
cc)Urkundenbeweis
dd)Augenscheinsbeweis
ee)In der StPO nicht benannte Beweismittel
c)Die Beweisbehauptung
aa)Bestimmtheit der Beweisbehauptung
bb)Zeugenbeweis und „Negativtatsachen“
cc)Kenntnisstand des Antragstellers
d)Die Verknüpfung zwischen Beweismittel und Beweisbehauptung („Konnexität“)
2.Fakultative Bestandteile und Formulierungshinweise
Teil 3Beweisanträge in der Hauptverhandlung
I.Der Antrag
1.Zweck und Ziel
2.Zeitpunkt des Beweisantrages
a)Reichweite des § 246 StPO
b)Bedeutung der Neuregelung in § 244 Abs. 6 S. 2-4 StPO
3.Form des Beweisantrages
4.Rechtliche Grenzen bei der Formulierung von Beweisanträgen
II.Entscheidung über den Beweisantrag
1.Theoretisches zur Ablehnung von Beweisanträgen
a)Grundlegendes
b)Verbot der Beweisantizipation
aa)Das Antipationsverbot als „Herzstück“ des Beweisantragsrechts
bb)Plausible Ausnahmen vom Antizipationsverbot
cc)Problematische Eingriffe in das Antizipationsverbot
2.System der Ablehnungsgründe
3.Inhalt und Form der Entscheidung
a)Bedeutung der Begründungspflicht
b)Reichweite der Begründungspflicht bei den einzelnen Ablehnungsgründen
c)Verstöße gegen die Begründungspflicht
d)Keine Beanstandungspflicht der Verteidigung
4.Zeitpunkt der Entscheidung
a)Keine Verpflichtung zur sofortigen Entscheidung
b)Bedeutung der Neuregelung in § 244 Abs. 6 S. 2-4 StPO
5.Der Austausch von Beweismitteln
a)Zur Rechtsprechung
b)Folgerungen für die Praxis
6.Die einzelnen Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 StPO
a)Allgemeines
b)Beweiserhebung unzulässig
aa)Unzulässigkeit und Beweisantragsbegriff
bb)Unzulässigkeit und Beweisverbote
(1)Beweisthemaverbote, Beweismittelverbote und Beweismethodenverbote
(2)Unselbständige und selbständige Beweisverwertungsverbote
cc)Unzulässigkeit und Grenzen des Beweisantragsrechts
(1)Keine Beweisaufnahme über inländisches Recht
(2)Beweisaufnahme über die Strafpraxis anderer Gerichte
(3)Beweisanträge auf Vernehmung von Richtern
(4)Anwendung des Polygraphen („Lügendetektor“)
c)Verschleppungsabsicht
aa)Verfahrensverzögerung als Folge der Beweiserhebung
bb)Überzeugung von der Aussichtslosigkeit
cc)Verzögerungsabsicht
(1)Von der Rechtsprechung entwickelte „Fristenlösung“
(2)Änderung des § 244 Abs. 6 StPO im Jahr 2017
(3)Weitere Anwendungsvoraussetzungen
dd)Generelle Bedeutung des Ablehnungsgrundes
d)Ungeeignetheit des Beweismittels
aa)Ungeeignetheit und Verbot der Beweisantizipation
bb)Anwendungsbereich des Ablehnungsgrundes beim Zeugenbeweis
(1) Ungeeignetheit auf Grund persönlicher Gegebenheiten
(2)Zeugenbeweis zum Nachweis innerer Tatsachen
(3)Zeugenbeweis für lange zurückliegende Vorgänge
(4)Fehlender Wille zur wahrheitsgemäßen Aussage
(5)Besonderheiten bei kommissarischen Vernehmungen
(6)Auskunfts- und Zeugnisverweigerungsrechte
cc)Anwendungsbereich des Ablehnungsgrundes beim Sachverständigenbeweis
dd)Anwendungsbereich des Ablehnungsgrundes beim Urkundenbeweis
ee)Anwendungsbereich des Ablehnungsgrundes beim Augenschein
e)Unerreichbarkeit des Beweismittels
aa)Ermittlungspflicht des Gerichts
bb)Vorübergehende Unerreichbarkeit
cc)Unerreichbarkeit bei Auslandszeugen
dd)Kommissarische Vernehmung
ee)Audiovisuelle Vernehmung
ff)Unerreichbarkeit aus Rechtsgründen (insb. Sperrerklärungen bei Vertrauenspersonen)
gg)Verteidigungstaktik
f)Offenkundigkeit
aa)Allgemeinkundige Tatsachen
bb)Gerichtskundigkeit
cc)Erörterungspflicht
g)Beweistatsache schon erwiesen
h)Bedeutungslosigkeit der Tatsache
aa)Bedeutungslosigkeit aus Rechtsgründen
bb)Bedeutungslosigkeit aus tatsächlichen Gründen
i)Wahrunterstellung
aa)Vorrang der Aufklärungspflicht
bb)Beschränkung auf erhebliche Behauptungen
cc)Begrenzte Bindungswirkung der Ablehnungsentscheidung
dd)Keine Widersprüche zwischen Beschluss und Urteil
ee)Wahrunterstellung als Warnsignal
III.Besonderheiten beim Sachverständigenbeweis (§ 244 Abs. 4 StPO)
1.Besonderheiten zum Inhalt des Beweisantrages
2.Eigene Sachkunde des Tatrichters
a)Beurteilung der Schuldfähigkeit (§§ 20, 21 StGB)
b)Besondere Verantwortlichkeiten nach dem Jugendstrafrecht (§§ 3, 105 JGG)
c)Glaubwürdigkeitsbeurteilungen
3.Der „weitere“ Sachverständige und der Beweis des Gegenteils
a)Sachkunde des früheren Sachverständigen zweifelhaft
b)Unzutreffende tatsächliche Voraussetzungen
c)Widersprüche im Gutachten
d)Überlegene Forschungsmittel
e)Die Aufklärungspflicht des Gerichts bei besonderer Schwierigkeit der Begutachtung
IV.Besonderheiten beim Augenscheinsbeweis
V.Besonderheiten beim Auslandszeugen
VI.Der Beweisantrag auf Verlesung von Ausgangsdokumenten
VlI.Der zurückgenommene Beweisantrag
VIII.Der Beweisantrag gem. § 245 i.V.m. § 220 StPO
1.Geltungsbereich des § 245 StPO
2.Zu den Voraussetzungen einer Ladung durch den Angeklagten
a)Form und Inhalt des Ladungsschreibens
b)Form der Zustellung
c)Vorankündigung nach § 222 StPO
d)Inhalt des Beweisantrages
e)Besonderheiten beim Sachverständigenbeweis
3.Zurückweisungsgründe für den Beweisantrag nach § 245 Abs. 2 StPO
a)Erwiesensein oder Offenkundigkeit der Beweistatsache
b)Fehlender Zusammenhang
c)Völlige Ungeeignetheit
d)Prozessverschleppung
Teil 4Der Beweisantrag außerhalb der Hauptverhandlung
I.Der Beweisantrag im Ermittlungsverfahren
1.Beweisanträge anlässlich der Beschuldigtenvernehmung (§ 163a Abs. 2 StPO)
2.Beweisanträge anlässlich der richterlichen Vernehmung (§ 166 Abs. 1 StPO)
3.Antrag auf Hinzuziehung eines Sachverständigen zur Augenscheinseinnahme (§ 168d Abs. 2 StPO)
II.Der Beweisantrag im Zwischenverfahren (§§ 201, 202 StPO)
III.Der Beweisantrag vor der Hauptverhandlung
IV.Der Beweisantrag in der Revisionsbegründung
1.Rügevoraussetzungen
2.Besonderheiten bei einzelnen Ablehnungsgründen
a)Unzulässigkeit der beantragten Beweiserhebung
b)Verschleppungsabsicht
c)Bedeutungslosigkeit der Beweistatsache
d)Offenkundigkeit
e)Erwiesenheit der Beweisbehauptung
f)Wahrunterstellung
g)Unerreichbarkeit des Beweismittels
h)Ungeeignetheit
3.Besonderheiten beim Sachverständigenbeweis
a)Eigene Sachkunde des Tatgerichts
b)Weiterer Sachverständiger
c)Rügevorbringen
4.Nichtbescheidung eines Beweisantrages
5.Rügeberechtigung
6.Verletzung von Hinweispflichten
7.Entscheidungsgrundlage des Revisionsgerichts
8.Fehlende Revisibilität des Verfahrens vor der Hauptverhandlung
9.Die Aufklärungsrüge (§ 244 Abs. 2 StPO)
Literaturverzeichnis
Stichwortverzeichnis
Herausgeber und Schriftleitung freuen sich ganz besonders, die dritte Auflage dieses Klassikers der Reihe „Praxis der Strafverteidigung“ vorlegen zu können.
Das Beweisantragsrecht ist nach wie vor ein Kernstück der Verteidigung im Strafprozess. Seine außerordentliche Bedeutung für die Verteidigung ergibt sich schon daraus, dass im Bereich der Rechtspolitik regelmäßig eine Einschränkung dieses Rechts gefordert wird. Einen gewissen Erfolg haben diese Bestrebungen mit der Neuregelung des § 244 Abs. 6 S. 2 bis 4 StPO erlangt, der in der Neuauflage selbstverständlich gebührend behandelt wird. Ungeachtet dessen ist der Leitgedanke des Beweisantragsrechts, der erstmals durch die Rechtsprechung des Reichsgerichts dogmatisch etabliert wurde, bis heute unverändert geblieben. Das sogenannte Verbot der Beweisantizipation ermöglicht es dem Beschuldigten bzw. seinem Verteidiger, Beweiserhebungen unabhängig von vorweggenommenen Beweiswertungen des Gerichtes zu erzwingen. Dieses Recht ist von unschätzbarer Bedeutung. Es trägt zur Verwirklichung der Subjektstellung des Beschuldigten bei, weil es ihn dazu befähigt, selbstständig auf die Beweiserhebung zu seinen Gunsten Einfluss zu nehmen.
Es gehört zu den großen Verdiensten des vorliegenden Buches, dass es gleichermaßen die grundsätzliche als auch die praktische Bedeutung des Beweisantragsrechts in all seinen Verästelungen verdeutlicht und dem Leser damit eine souveräne Beherrschung dieses prozessualen Instruments vermittelt. Das Beweisantragsrecht ist, wie gesagt, ein starkes, aber auch ein kompliziertes prozessuales Recht. Seine erfolgreiche Anwendung erfordert schon in formaler Hinsicht eine präzise Kenntnis der hierzu ergangenen Rechtsprechung. Aber auch in materieller Hinsicht ist eine genaue Kenntnis der Rechtsprechung zu den gesetzlichen Ablehnungsgründen erforderlich. Der vorliegende Band lässt insoweit nichts zu wünschen übrig.
Den Autoren Rechtsanwalt Jürgen Pauly und Rechtsanwalt Professor Dr. Rainer Hamm sei herzlich dafür gedankt, dass die das von Letzterem und dem seit der letzten Auflage leider verstorbenen Hochschullehrer und Bundesverfassungsrichter Professor Dr. Dr. h.c. mult. Winfried Hassemer begründete Werk fortgeführt und auf den neuesten Stand gebracht haben. Jeder Rechtsanwender und jede Rechtsanwenderin wird aus der Lektüre und dem rechten Gebrauch dieses Buchs großen Gewinn ziehen und zur Verwirklichung des Rechtsstaats beitragen.
Im Februar 2019
Passau
Werner Beulke
Berlin
Alexander Ignor
Seit dem Erscheinen der erfreulich gut aufgenommenen 2. Auflage vor 12 Jahren hat sich vieles verändert. Der Tod unseres geschätzten Mitautors Winfried Hassemer am 9.1.2014 hat uns auch für die Neuauflage dieses Werkes hart getroffen. Insbesondere der erste Teil mit den theoretischen Grundlagen des Beweisantragsrechts trägt unverkennbar seine Handschrift, sodass wir uns hier nur zu sehr behutsamen Änderungen entschließen konnten. Das wurde auch dadurch erleichtert, dass gerade diese Ausführungen als zeitlos und gegenüber jeglichen „Modernisierungen“ des Strafverfahrensrechts immun gelten können. Gewünscht hätten wir uns, dass sich sowohl die Gesetzgebung als auch die Rechtsprechung mehr an eben diesen fundamentalen Erkenntnissen und Prinzipien der Erkenntnistheorie, der Hermeneutik und des dialogischen Charakters der Wahrheitsfindung orientieren. Stattdessen mussten wir weitere Entformalisierungen des Beweisantragsrechts verarbeiten. Das gilt sowohl für die im Zuge des allgemeinen Bedeutungsverlusts verfahrensrechtlicher Garantien von der Rechtsprechung vollzogene Aufweichung des abschließenden Katalogs der Zurückweisungsgründe für Beweisanträge (z.B. bei der Verschleppungsabsicht) als auch für die neuesten Eingriffe des Gesetzgebers (insbesondere die Änderung in § 244 Abs. 6 StPO).
In einem auffälligen Kontrast dazu steht die stetig wachsende Zahl von literarischen Darstellungen des Beweisantragsrechts in neuen StPO-Kommentaren und Monographien. Sie vollständig zu berücksichtigen, ist kaum mehr möglich. Nicht zu übersehen sind daneben auch die Folgen der fortschreitenden Digitalisierung. Sie zeigen sich praktisch u.a. in den neuen Vorschriften über die elektronische Akte, daneben aber auch in vielfältigen kleinen Veränderungen der Abläufe eines Strafverfahrens, die längst noch nicht alle prozessrechtlich eingeordnet sind. Eine Konsequenz dieser Entwicklung ist dabei, dass die Texte gerichtlicher Entscheidungen inzwischen wesentlich leichter verfügbar sind als bei Erscheinen der 1. und der 2. Auflage dieses Buches. Über Internet und Datenbanken kann die vollständige Fassung aktueller Urteile und Beschlüsse innerhalb kürzester Zeit abgerufen werden. Um den raschen Zugriff (auch) auf diese Quellen zu erleichtern, haben wir in den Fußnoten die Zitierweise bei Entscheidungen ab dem Jahr 2000 angepasst (Angabe des Entscheidungsdatums und des Aktenzeichens).
In der Neuauflage sind Literatur und Rechtsprechung bis zum November 2018 berücksichtigt. Bei der gesamten Überarbeitung des Werkes haben wir uns von dem Ziel leiten lassen, gerade die Entwicklungen darzustellen, die für die anwaltliche Tätigkeit in den verschiedenen Stadien eines Strafverfahrens von Bedeutung sind. Schon weil durch das Buch auch Wissen aus der Praxis weitergegeben werden soll, sind wir an einem fachlichen Austausch mit Kolleginnen und Kollegen immer interessiert. Kritik und Anregungen sind willkommen (E-Mail-Adresse: [email protected]).
Frankfurt im Dezember 2018
Rainer Hamm
Jürgen Pauly
a.A.
andere(r) Ansicht
a.a.O.
am angegebenen Ort
abgedr.
abgedruckt
a.E.
am Ende
a.F.
alte(r) Fassung
AG
Amtsgericht
AK
Alternativkommentar
allg.
allgemein(e)
a.M.
andere(r) Meinung
amtl.
amtlich
Anh.
Anhang
Anm.
Anmerkung
AT
Allgemeiner Teil
Aufl.
Auflage
Az.
Aktenzeichen
bay.
bayerische(r)
BayObLG
Bayerisches Oberstes Landesgericht
Bd.
Band
Begr.
Begründung
Beschl.
Beschluss
betr.
betreffend
BGB
Bürgerliches Gesetzbuch
BGBl.
Bundesgesetzblatt; (A) Bundesgesetzblatt (Österreich)
BGE
Amtliche Sammlung der Entscheidungen des schweizerischen Bundesgerichtes
BGH
Bundesgerichtshof
BGHSt
Entscheidungen des Bundesgerichtshofes in Strafsachen (amtliche Sammlung; zitiert nach Band und Seite)
BMJV
Bundesministerium der Justiz und Verbraucherschutz
BR- Drucks.
Bundesrat Drucksache
BT
Besonderer Teil
BT-Drucks.
Bundestag Drucksache
BVerfG
Bundesverfassungsgericht
BVerfGE
Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts (amtliche Sammlung; zitiert nach Band und Seite)
BvR
Aktenzeichen einer Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht
DAV
Deutscher Anwaltverein e.V.
Diss.
Dissertation
DRiZ
Deutsche Richterzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)
DVBl.
Deutsches Verwaltungsblatt
EG
Europäische Gemeinschaft
EV
Ermittlungsverfahren
FS
Festschrift
GA
Goltdammerʼs Archiv für Strafrecht (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)
gem.
gemäß
GG
Grundgesetz
ggf.
gegebenenfalls
H.
Heft
h.L.
herrschende Lehre
h.M.
herrschende Meinung
Hrsg.
Herausgeber
hrsgg.
herausgegeben
HV
Hauptverhandlung
i.d.R.
in der Regel
i.E.
im Einzelnen
i.d.F.
in der Fassung
insb.
insbesondere
IRG
Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
i.S.
im Sinn
i.S.d.
im Sinne des/der
JO
Journal Officiel (Gesetzblatt Frankreich)
JR
Juristische Rundschau (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)
Jura
Juristische Ausbildung (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)
JuS
Juristische Schulung (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)
JZ
Juristenzeitung (zitiert nach Jahr und Seite)
KG
Kammergericht
KK
Karlsruher Kommentar
Krim
Kriminalistik (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)
krit.
kritisch, mit Kritik
LS
Leitsatz
LB
Lehrbuch
LG
Landgericht
Lkw
Lastkraftwagen
MAH
Münchener Anwaltshandbuch
m. Anm.
mit Anmerkung
m.w.Bsp.
mit weiteren Beispielen
m.z.w.N.
mit zahlreichen weiteren Nachweisen
m.a.W.
mit anderen Worten
M. B.
Moniteur Belge (Gesetzblatt Belgien)
MDR
Monatsschrift für Deutsches Recht (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)
Mdt.
Mandant
N.
Nachweis
NdsRpfl
Niedersächsische Rechtspflege (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)
NJW-RR
NJW-Rechtsprechungs-Report (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)
n. rk.
nicht rechtskräftig
NStZ
Neue Zeitschrift für Strafrecht (zitiert nach Jahr und Seite)
NStZ-RR
NStZ-Rechtsprechungs-Report (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)
n. v.
nicht veröffentlicht(e)
NZV
Neue Zeitschrift für Verkehrsrecht (zitiert nach Jahr und Seite)
OGH
Oberster Gerichtshof (Österreich)
OLG
Oberlandesgericht
RbGeld
EU-Rahmenbeschluss zur gegenseitigen Anerkennung und Vollstreckung von Geldbußen und Geldstrafen
Rspr.
Rechtsprechung
RVG
Rechtsanwaltsvergütungsgesetz
S.
Seite, Satz
s.a.
siehe auch
sog.
sogenannt(e)
StA
Staatsanwaltschaft
StGB
Strafgesetzbuch
StPO
Strafprozessordnung
str.
streitig
StraFo
Strafverteidiger Forum (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)
StV
Strafverteidiger (Zeitschrift; zitiert nach Jahr und Seite)
SV
Sachverständiger
Teil-Bd.
Teilband
teilw.
teilweise
u.a.
und andere, unter anderem
u.a.m.
und andere mehr
umstr.
umstritten
unveröff.
unveröffentlicht(e)
Urt.
Urteil
u.U.
unter Umständen
u.v.a.
und viele andere
Verf.
Verfasser
veröff.
veröffentlicht(e)
VO
Verordnung
VVG
Versicherungsvertragsgesetz
Vwv
Verwaltungsvorschrift
zahlr.
zahlreich(e)
ZAP
Zeitschrift für die Anwaltspraxis (zitiert nach Fach und Seite)
Ziff.
Ziffer
zit.
zitiert
ZPO
Zivilprozessordnung
z.T.
zum Teil
zust.
zustimmend
z.Z.
zur Zeit
I.Das Beweisantragsrecht – ein Fremdkörper im Strafverfahren?
II.Die Etablierung des Beweisantragsrechts in der Geschichte der StPO
III.Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts
Teil 1 Theoretische Grundlagen › I. Das Beweisantragsrecht – ein Fremdkörper im Strafverfahren?
1
Das Recht, Beweisanträge zu stellen (§ 244 Abs. 3–6, § 245 Abs. 2 StPO), scheint ein Fremdkörper in der Verfahrenskonstruktion der Strafprozessordnung zu sein: Es bringt ein Verhandlungselement in ein Verfahren, das eigentlich auf dem Grundsatz der Inquisition aufgebaut ist. Das Beweisantragsrecht ist ein prominenter Beleg dafür, dass wir ein gemischtes Strafverfahren haben.
§ 244 Abs. 2 StPO, der die Pflicht zur Amtsaufklärung formuliert, steht in einem seltsamen Gegensatz zu den weiteren Absätzen dieser Norm. Wenn das Gericht wirklich, wie das Gesetz es befiehlt, die Beweisaufnahme „auf alle Tatsachen und Beweismittel“ erstreckt, „die für die Entscheidung von Bedeutung sind“, so scheint eine Erweiterung der Beweisaufnahme über diesen Rahmen hinaus sinnlos zu sein. § 244 Abs. 2 StPO umfasst schon nach seinem Wortlaut schlechthin alle nur denkbaren Gegenstände und Beweismittel, die als Grundlage eines Strafurteils in Betracht kommen können.
2
Gleichwohl erweitert § 244 Abs. 3–5 StPO den Umfang der gebotenen Beweisaufnahme offenbar beträchtlich.[1]
Diese Vorschriften führen jenes Verhandlungselement in das Verfahren ein, welches in die Konstruktion eines Strafprozesses wie des unsrigen nicht gut zu passen scheint.
Während § 244 Abs. 2 StPO dem Gericht die Pflicht zur Sachaufklärung positiv auferlegt, formulieren die Vorschriften zum Beweisantragsrecht negativ: Sie sagen nicht, was ein Beweisantrag ist, wer ihn wann und wie stellen darf, sondern nur, unter welchen Voraussetzungen ein Beweisantrag abgelehnt werden muss, darf oder kann. Diese Vorschriften gehen also offensichtlich davon aus, dass es das Phänomen von Beweisanträgen jenseits gesetzlicher Regelung bereits „gibt“, dass ausdrücklicher rechtlicher Regelung bedürftig nur das Ablehnungsverfahren sei.[2]
3
Dass die Wahrheitsfindung im Strafverfahren überhaupt von „Anträgen“ der Verfahrensbeteiligten abhängen soll, wäre in der Tat systemwidrig, wenn die folgenden wichtigen Grundsätze des Strafverfahrens wirklich ohne Einschränkung anerkannt wären:
Das Strafverfahren ist eine Veranstaltung im öffentlichen Interesse, nicht im Interesse von Verfahrensbeteiligten, auch nicht des Verbrechensopfers. Der Idee nach kann der Beschuldigte das Verfahren nicht – auch nicht durch ein Geständnis – abwenden oder abkürzen. Das Opfer ist regelmäßig in eine Zeugenrolle abgedrängt. Klageerzwingung, Privatklage und Nebenklage sind nur – teilweise – Ausnahmen, welche diese Regel bestätigen. Nicht die Parteien, sondern der Staat beginnt das Verfahren, führt es durch und bringt es zu einem Ende.
Außerdem ist das Strafverfahren dem Prinzip der materiellen Wahrheit verpflichtet. Diese „Wahrheit“ kann kein Gegenstand von „Verhandlung“ sein oder von „Anträgen“ abhängen, sie ist ein objektiv gegebenes Datum und muss mit objektiven Methoden gefunden, sie muss „erkannt“ werden.
Dies sind im Wesentlichen die Argumente und Sichtweisen der „Identitätslehre“.[3] Sie sieht die richterliche Pflicht zur Sachaufklärung und das Beweisantragsrecht als nahe verwandt bzw. identisch an und meint, dass das Beweisantragsrecht den Umfang der gerichtlichen Ermittlungspflicht nicht erweitern, sondern allenfalls konkretisieren könne.[4]
Eine solche Sicht kann das Beweisantragsrecht nur schwach begründen; es wäre nicht viel mehr als ein Anhängsel der Amtsaufklärungspflicht. Freilich ist sie nicht überzeugend: Sowohl die historische Entwicklung des Beweisantragsrechts als auch seine systematische Verankerung im richterlichen Erkenntnisverfahren legen eine andere Einschätzung nahe.
Mit zu beachten ist § 245 Abs. 2 StPO; vgl. weiterhin §§ 163a Abs. 2, 166, 219 StPO.
Dass es auch anders geht, zeigen die Vorschriften der §§ 163a Abs. 2, 166, 219 StPO.
Vgl. etwa Wessels JuS 1969, 3; Julius NStZ 1986, 62.
Vgl. zum Verhältnis von Amtsaufklärungspflicht und Beweisantragsrecht: Schulenburg Das Verbot der vorweggenommenen Beweiswürdigung im Strafprozess, S. 28 m.w.N.; Tenorth-Sperschneider Zur strukturellen Korrespondenz, S. 16/17.
Teil 1 Theoretische Grundlagen › II. Die Etablierung des Beweisantragsrechts in der Geschichte der StPO
4
Historisch und in längeren Zeiträumen betrachtet, ist die Geschichte des Beweisantragsrechts die seiner Verstärkung. Einschränkungen dieses Rechts, die es erst in jüngster Zeit gegeben hat, beruhen auf ökonomischen und justizpolitischen Gründen:
5
Das Beweisantragsrecht verdankt sich, wie viele andere Grundsätze unseres heutigen Strafverfahrens (etwa das Prinzip der Öffentlichkeit), dem Gedankengut der Aufklärung. In das reine Inquisitionsverfahren des gemeinen Rechts hätten Beweisanträge der Verfahrensbeteiligten nicht gepasst. Gestaltung und Fortgang des Verfahrens lagen in den Händen des Inquirenten, der Beschuldigte hatte kein Recht auf Intervention und Mitgestaltung des Verfahrens. Der gemeinrechtliche Inquisitionsprozess versprach sich die Aufklärung des Sachverhalts von einer regelgeleiteten Suche nach Wahrheit. Das Strafverfahren war eine Veranstaltung unter Fachleuten mit dem Beschuldigten als Objekt der Ausforschung. Dabei hätten die Öffentlichkeit, die Beteiligung von Laien und ein Beweisantragsrecht nur stören können.
6
Nicht die Hoffnung, man könne die Wahrheit besser finden, sondern die Entschlossenheit, die Rechtsstellung des Beschuldigten zu verbessern und das Strafverfahren öffentlicher Kontrolle zugänglich zu machen, steuerte die Reform des Strafprozesses in den Partikularrechten[1] des 19. Jahrhunderts. Das Veränderungsinteresse der Aufklärung war in diesem Bereich ein politisches, nicht ein erkenntnistheoretisches. Der Beschuldigte bekam die Möglichkeit, sich am Verfahren aktiv zu beteiligen. Er konnte Beweispersonen vorladen und hatte auch das Recht, die Beweisaufnahme mit eigenen Anträgen zu beeinflussen – freilich nur im Rahmen der Sachaufklärungspflicht des Gerichts.[2]
Dies war das Ende des reinen Inquisitionsprozesses. Das Recht des Beschuldigten, sich an der Wahrheitssuche zu beteiligen, hatte zwar nur eine unterstützende Funktion, weil Methoden und Grenzen dieser Suche der Beurteilung des Gerichts unterlagen. Die Verfahrensordnungen gingen aber nicht mehr davon aus, dass das Wissen um den richtigen Weg zur Wahrheit ausschließlich beim Gericht liegt. Die aktive Beteiligung des Beschuldigten konnte die Erkenntnismittel zumindest dadurch verbessern, dass sie sie vervollständigte.
7
Die Strafprozessordnung von 1877 hat das Beweisantragsrecht in bescheidenem Umfang gesetzlich begründet und dabei eine Unterscheidung eingeführt, die auch für spätere Gesetzesänderungen verbindlich blieb: die Unterscheidung zwischen Verfahren vor dem Amtsgericht und der landgerichtlichen Berufungsinstanz einerseits sowie vor höheren Gerichten andererseits. Im ersten Verfahrenstyp hatte das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme zu bestimmen (§ 244 Abs. 2 StPO a.F.) und durfte Beweisanträge ohne Begründung ablehnen (§ 243 Abs. 2 StPO a.F.). Das in erster und letzter Tatsacheninstanz zuständige Landgericht und das Oberlandesgericht hatten die Beweisaufnahme auf alle präsenten Beweismittel zu erstrecken (§ 244 Abs. 1 StPO a.F.).[3] Der Gesetzestext lautete:
(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.
(2) Es bedarf eines Gerichtsbeschlusses, wenn ein Beweisantrag abgelehnt werden soll, oder wenn die Vornahme einer Beweishandlung eine Aussetzung der Hauptverhandlung erforderlich macht.
(3) Das Gericht kann auf Antrag und von Amts wegen die Ladung von Zeugen und Sachverständigen sowie die Herbeischaffung anderer Beweismittel anordnen.
(1) Die Beweisaufnahme ist auf die sämtlichen vorgeladenen Zeugen und Sachverständigen sowie auf die anderen herbeigeschafften Beweismittel zu erstrecken. Von der Erhebung einzelner Beweise kann jedoch abgesehen werden, wenn die Staatsanwaltschaft und der Angeklagte hiermit einverstanden sind.
(2) In den Verhandlungen vor den Schöffengerichten und vor den Landgerichten in der Berufungsinstanz, sofern die Verhandlung vor letzteren eine Übertretung betrifft oder auf erhobene Privatklage erfolgt, bestimmt das Gericht den Umfang der Beweisaufnahme, ohne hierbei durch Anträge, Verzichte oder frühere Beschlüsse gebunden zu sein.
Damit waren Beweisanträge, ihre abgestufte Wirkung und die Bedeutung präsenter Beweismittel anerkannt. Und für die Ablehnung eines Beweisantrags musste zumindest eine gewisse Förmlichkeit beachtet werden, – auch wenn das Gesetz für den zwingend vorgeschriebenen Beschluss und seine etwaige Begründung keine inhaltlichen Vorgaben enthielt.
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Eine solche Konstellation – Anordnung eines Verfahrens zur Ablehnung von Beweisanträgen ohne Enumeration der Gründe, welche eine Ablehnung rechtfertigen – ist eine gute Ausgangsbedingung für die Herausbildung von Richterrecht, sie ruft es geradezu herauf. Das Reichsgericht hat seine Chance genutzt. Dogmatisch verankert in dem Revisionsgrund, die Verteidigung sei durch die Ablehnung eines Beweisantrags unzulässig beschränkt worden (heute § 338 Nr. 8 StPO), haben die Senate schrittweise ein System (allein) zulässiger Ablehnungsgründe entworfen, welches dann später[4] in die StPO eingefügt werden konnte.
Die Geburt eines formalisierten Beweisantragsrechts lässt sich gleich im ersten Band der Amtlichen Sammlung des Reichsgerichts studieren.
Die Entscheidung des I. Strafsenats vom 12.1.1880[5] fußt noch auf der damals nicht in Frage gestellten Überzeugung, dass die Ablehnung eines Beweisantrags nur im pflichtgemäßen Ermessen des Gerichts liegen könne, lässt aber schon Schwierigkeiten mit der Regelung zur Beachtung präsenter Beweise erkennen:
„Allein nicht jede Ablehnung eines Beweisantrags über einen Punkt, der für die Entscheidung wesentlich sein kann, ist darum als unzulässige Beschränkung der Verteidigung anzuerkennen. Das trifft nicht nur dann zu, wenn der Antrag aus richtigen Rechtsgründen abgelehnt ist, sondern auch dann, wenn ihm ohne Rechtsirrtum für den konkreten Fall die Erheblichkeit abgesprochen ist. Dass über den Umfang der Beweisaufnahme das Gericht zu befinden und von ganz zwecklosen Erhebungen Umgang zu nehmen hat, liegt so sehr im Wesen einer gesunden Strafrechtspflege begründet, dass es einer ausdrücklichen Aufnahme dieses Grundsatzes in der Strafprozessordnung gar nicht bedurfte, er ist aber auch als in den §§ 219 und 243 Satz 2 enthalten anzusehen und im § 244 Satz 1 nur insoweit verlassen, dass die vorgeladenen Zeugen etc. regelmäßig sämtlich zu vernehmen sind, hinsichtlich der abgelehnten also dem Angeklagten nur die eigne Ladung offen gelassen ist, keineswegs nach § 245 Satz 1 ihm das Recht auf Aussetzung der Hauptverhandlung durch die Befreiung der Beweisanträge von bestimmten Prozessstadien ganz allgemein gewährleistet ist“ (S. 62).
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Kurze Zeit später gelingt dem II. Strafsenat in seinem Urteil vom 6.2.1880[6] die Begründung des Verbots der Beweisantizipation, welches später für die Konstruktion des Beweisantragsrechts von grundlegender Bedeutung werden sollte.[7] Das Schwurgericht hatte es abgelehnt, nach der Einvernahme eines Zeugen einen weiteren Zeugen zu befragen, welcher der Aussage des ersten Zeugen widersprechen würde. Der Senat präzisiert, dass das Schwurgericht damit die Aussage des ersten Zeugen für so überzeugend erachtete,
„dass eine davon abweichende Aussage des (zweiten Zeugen) keinen Glauben verdienen würde. So verstanden beruht jener Grund auf einem Rechtsirrtum, indem dabei außer Acht gelassen wird, dass – von Ausnahmefällen abgesehen, die dann stets einer besonderen Begründung bedürfen – regelmäßig erst nach der vor dem erkennenden Richter stattfindenden Vernehmung sich beurteilen lässt, welchem von zwei sich widersprechenden Zeugen mehr Glauben geschenkt werden kann“ (S. 190).
Damit war entschieden, dass dem Gericht vorgängige Bewertungen einer Beweisaufnahme verwehrt sind: dass es die Beweisaufnahme also erst einmal durchführen muss, bevor es ihren Beweiswert einschätzt. Der Senat hatte den ersten Pflock eingeschlagen, an welchen das Ermessen des Gerichts bei der Ablehnung von Beweisanträgen gebunden war, und er musste dazu argumentativ nicht weit ausholen; eine einfache Logik reichte hin: Eine Beweiserhebung darf nicht deshalb unterlassen werden, weil man ihr Ergebnis schon zu kennen glaubt.
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Die allmähliche Ausformung des Beweisantragsrechts durch die Rechtsprechung wurde von Gesetzesänderungen begleitet, welche dieses Recht zuerst begründeten und ausbauten, dann aber wieder beschnitten und während der Zeit des Zweiten Weltkrieges ganz beseitigten. Die wechselvolle Geschichte des Beweisantragsrechts zeigt, dass dieses Institut ein sensibler Indikator für Liberalität und Rechtsstaatlichkeit des Strafverfahrens ist und dass seine mächtigsten Feinde in einer einseitigen Politik effektiver und funktionstüchtiger Strafrechtspflege, verbunden mit einer Geringschätzung von Beschuldigtenrechten, zu sehen sind.
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Das Gesetz zur Abänderung der StPO vom 22.12.1925[8] weitete das Beweisantragsrecht erheblich aus, indem es dem Gericht nur noch bei Privatklagesachen gestattete, den Umfang der Beweisaufnahme von sich aus zu bestimmen (§ 245 Abs. 2 StPO a.F.). Die erste Einschränkung[9] erfolgte bald und war nicht mehr als eine absehbare Randkorrektur: präsente Beweise durften abgelehnt werden, wenn sie der Prozessverschleppung dienten (§ 245 Abs. 1 Satz 1 StPO a.F.).
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Schon von ganz anderer Qualität war die Einschränkung des Beweisantragsrechts in der Verordnung des Reichspräsidenten auf dem Gebiete der Rechtspflege und der Verwaltung vom 14.6.1932[10], welche den Tatrichter am Amtsgericht sowie in Berufungssachen am Landgericht von der Erhebung präsenter Beweise freistellte und den Umfang der Beweisaufnahme in das Ermessen des Gerichts zurückgab; damit blieb von einem Recht, einen Beweis zu beantragen, nicht mehr viel. Schon aus der Konzentration dieser Gesetzesänderung auf bestimmte Gerichte lässt sich ablesen, dass dieser Schlag gegen das Beweisantragsrecht nicht aus grundsätzlichen, sondern aus ökonomischen Motiven geführt wurde. Es war die wirtschaftliche Not der Zeit, welche eine Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren nahe legte.[11] Diesem Ziel standen natürlich die Interventionsrechte des Beschuldigten, insbesondere das Beweisantragsrecht, im Wege; diese Rechte können das Verfahren verzögern und verteuern.
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Dass in den ersten Jahren nach 1933 die „Gleichschaltung“ der Justiz noch nicht vollständig gelang, dass vielmehr Reformbestrebungen aus der Weimarer Zeit noch eine Chance hatten, lässt sich auch im Beweisantragsrecht studieren. Das Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des GVG vom 28.6.1935[12] sah zwar eine Pflicht zur Erhebung präsenter Beweise nicht vor, übernahm aber für große Teile der Strafrechtspflege die vom Reichsgericht entwickelten Grundsätze zum Beweisantragsrecht. Vor dem Amtsgericht und dem Landgericht in Berufungssachen stellte das Gesetz die Beweisaufnahme in das Ermessen des Tatrichters. Für die anderen Tatgerichte wurden jedoch die möglichen Ablehnungsgründe für Beweisanträge formalisiert. Diese Formalisierung entsprach der Regelung, wie sie § 244 Abs. 3 StPO heute vorsieht. Der Gesetzestext erhielt folgende Fassung:
(1) Nach der Vernehmung des Angeklagten folgt die Beweisaufnahme.
(2) Das Gericht hat von Amts wegen alles zu tun, was zur Erforschung der Wahrheit notwendig ist.
(1) In Verhandlungen vor dem Amtsrichter, dem Schöffengericht und dem Landgericht in der Berufungsinstanz darf das Gericht einen Beweisantrag ablehnen, wenn es nach seinem freien Ermessen die Erhebung des Beweises zur Erforschung der Wahrheit nicht für erforderlich hält. Dies gilt auch in anderen Verhandlungen für den Beweis durch Augenschein oder durch Sachverständige.
(2) Im übrigen kann in der Verhandlung vor den Gerichten, bei denen nach dem Gesetz allgemein die Berufung ausgeschlossen ist, die Erhebung eines Beweises nur abgelehnt werden, wenn die Erhebung des Beweises unzulässig ist, wenn wegen Offenkundigkeit eine Beweiserhebung überflüssig ist, wenn die Tatsache, die bewiesen werden soll, für die Entscheidung ohne Bedeutung oder schon erwiesen ist, wenn das Beweismittel völlig ungeeignet oder wenn es unerreichbar ist, wenn der Antrag zum Zwecke der Prozessverschleppung gestellt ist oder wenn eine erhebliche Behauptung, die zur Entlastung des Angeklagten bewiesen werden soll, so behandelt werden kann, als wäre die behauptete Tatsache wahr.
(3) Die Ablehnung eines Beweisantrages bedarf eines Gerichtsbeschlusses.
14
Es überrascht nicht, dass das Beweisantragsrecht unter der nationalsozialistischen Rechtspolitik nicht überleben konnte; es passte nicht zu der harmonistischen Verkleisterung, die vorgaukelte, dass alle Beteiligten gemeinsam nach Wahrheit und Gerechtigkeit im Strafverfahren suchen sollen. Unter der Flagge der „Vereinfachung“ der Strafrechtspflege wurde das Beweisantragsrecht durch die Verordnung vom 1.9.1939[13] und durch die Verordnung vom 13.8.1942[14] ausradiert. Es begann mit der Aufhebung des Verbots der Beweisantizipation, was dem Beweisantragsrecht das Rückgrat brach. Ob der Richter einem Beweisantrag folgte, wurde in sein freies Ermessen gestellt; eine Ablehnung wurde erlaubt, wenn die Beweiserhebung nicht erforderlich war. 1942 folgte dann auch noch die Beseitigung des Rechts auf unmittelbare Ladung.[15]
15
Das „Vereinheitlichungsgesetz“ vom 12.9.1950[16] führte die Absätze 3–6 des § 244 StPO und damit das Beweisantragsrecht wieder ein. In § 245 i.V.m. § 220 StPO wurde die unmittelbare Ladung von Zeugen und Sachverständigen durch den Angeklagten normiert. Das Strafprozessänderungsgesetz vom 19.12.1964 dehnte § 166 StPO auf Vernehmungen durch die Ermittlungsbehörden aus (§ 163a Abs. 2 StPO) und das Strafverfahrensänderungsgesetz 1979 fasste § 245 StPO neu, indem es Beschränkungen bei der Erhebung präsenter Beweise vorsah.[17]
16
Auf alte Rezepte zurückgegriffen hat der Gesetzgeber dann im Zuge der Anfang der 80er Jahre einsetzenden Diskussion über die Notwendigkeit einer Justizentlastung.[18] Unter dem Eindruck einer Reihe langwieriger Großverfahren und vielfältiger Klagen aus der Praxis geriet das Beweisantragsrecht ins Schussfeld moderner Justizreformer. Der extensive Gebrauch dieses Rechts war nach Meinung mancher Autoren einer der Gründe für die Verzögerung vieler Strafverfahren. Zur Debatte standen deshalb außerordentlich weit reichende Einschränkungen des Beweisantragsrechts, ohne dass die dem zugrunde liegende Annahme, gerade der (wirkliche oder angebliche) Missbrauch des Beweisantragsrechts führe zu ungewollten Verfahrensverzögerungen, empirisch belegt war – heute gibt es Belege für das Gegenteil. Anlass zu Kritik mag dabei hintergründig auch die Kombination einer Androhung von Beweisanträgen mit Verhandlungen über eine einvernehmliche Verfahrensbeendigung gewesen sein.
Der Gesetzgeber hat sich im Ergebnis den aus der Praxis gestellten Forderungen nicht vollständig unterworfen; er hat sie jedoch auch nicht vollständig zurückgewiesen. Mit dem durch das Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege vom 11.1.1993[19] eingefügten § 244 Abs. 5 Satz 2 StPO hat der Tatrichter die Befugnis erhalten, einen Beweisantrag auf Vernehmung eines Zeugen, dessen Ladung im Ausland zu bewirken wäre, nach den Maßstäben der Aufklärungspflicht zu bescheiden, d.h. er ist nicht an die Ablehnungsgründe des § 244 Abs. 3 StPO gebunden, wenn er einen derartigen Antrag ablehnen will. Weitere Beschränkungen des Beweisantragsrechts enthalten § 420 Abs. 4 StPO für das beschleunigte Verfahren sowie § 411 Abs. 2 Satz 2 StPO für das Strafbefehlsverfahren, eingefügt durch das Verbrechensbekämpfungsgesetz vom 28.10.1994.[20]
17
Wiederum mit Blick auf eine erhoffte Entlastung der Justiz und eine Beschleunigung der Strafverfahren hat der Gesetzgeber im Jahr 2017 dann eine jahrzehntelang unangetastet gebliebene Grundnorm des Beweisantragsrechts nachhaltig verändert. Durch das Gesetz zur effektiveren und praxistauglicheren Ausgestaltung des Strafverfahrens vom 17.8.2017 wurde in § 244 Abs. 6 StPO dem Vorsitzenden die Befugnis eingeräumt, den Verfahrensbeteiligten eine Frist zur Stellung von Beweisanträgen zu setzen.[21] Wird nach Fristablauf ein Beweisantrag gestellt und dabei nicht hinreichend begründet, dass eine frühere Antragstellung nicht möglich war, darf das Gericht über diesen Antrag in den Urteilsgründen entscheiden. Der Antragsteller erfährt die Gründe für die Antragsablehnung mithin erst zu einem Zeitpunkt, zu dem er auf sie nicht mehr reagieren kann.[22]
18
Im Jahr 2017 wurde ferner § 244 Abs. 5 StPO geändert.[23] Der neu in das Gesetz aufgenommene Satz 3 muss im Zusammenhang mit der Vorschrift des § 32e StPO gelesen werden. Ob die Bestimmung große praktische Bedeutung erlangen wird, bleibt abzuwarten.
19
Im Ganzen macht die historische Entwicklung deutlich, dass das Beweisantragsrecht in Zeiten gedeiht, in denen Justizpolitik nicht vordringlich unter ökonomischen Zwängen betrieben wird und in denen eher die Rechtsposition des Beschuldigten im Strafverfahren als jener Wert, der gerne mit „die Effektivität und Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“[24] bezeichnet wird, die Leitlinien der Rechtspolitik bestimmt. Andererseits ist klar, dass das Beweisantragsrecht zu denjenigen strafprozessualen Institutionen gehört, welche einer auf „Vereinfachung“ und „Effektivierung“ bedachten Politik am ehesten anheim fallen.[25] Diese Erkenntnis erleichtert es, die Position des Beweisantragsrechts in einem kriminalpolitischen Klima zu verorten.
Der Gang der Reform im Überblick ist nachzulesen bei Rüping/Jerouscheck Grundriss der Strafrechtsgeschichte, 1998, S. 80 ff. und 86 ff.; detaillierter bei Eb. Schmidt Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 1983, §§ 284 ff., 287 ff.
Vgl. zur unterschiedlichen Rechtslage in Preußen, Sachsen und Bayern die instruktive Darstellung bei Schatz Beweisantragsrecht, S. 42 ff.; zur Rechtslage in Hessen-Nassau: Hoffmann Der unerreichbare Zeuge, S. 37 ff.
Vgl. zur Entstehungsgeschichte der gesetzlichen Regelungen: Schatz Beweisantragsrecht, S. 57 ff.
Im Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafverfahrens und des GVG vom 28.6.1935, RGBl. I, 844; zu den Reformbestrebungen um die Jahrhundertwende: Schatz Beweisantragsrecht, S. 72 ff.
RGSt 1, 61.
RGSt 1, 189; weitere Nachweise aus der reichsgerichtlichen Rechtsprechung bei Schatz Beweisantragsrecht, S. 85.
Vgl. hierzu Rn. 249 ff.
RGBl. 1925 I, 475.
Im Gesetz zur Abänderung der StPO vom 27.12.1926, RGBl. 1926 I, 529.
RGBl. 1932 I, 285.
Vgl. hierzu Schatz Beweisantragsrecht, S. 102/103. Zeitgenössische Kommentare: Hellwig JW 1932, 2672; von Pestalozza JW 1932, 2675; Koffka JW 1932 1930.
RGBl. 1935 I, 844.
RGBl. 1939 I, 1658.
RGBl. 1942 I, 508.
Zur Reaktion der Rechtsprechung auf diese Gesetzesänderungen vgl. Schatz Beweisantragsrecht S. 117 ff.
BGBl. 1950 I, 455, 629.
BGBl. 1979 I, 1645.
Siehe auch Hamm NJW 1993, 289, 293.
BGBl. 1993 I, 50.
BGBl. 1994 I, 3186.
BGBl. 2017 I, 3202, 3209; hierzu: Börner JZ 2018, 232.
Vgl. hierzu Hamm StV 2018, 535.
Gesetz zur Einführung der elektronischen Akte in der Justiz und zur weiteren Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs vom 5.7.2017, BGBl. I, S. 2208.
Hierzu Hassemer StV 1982, 275 ff.
Teil 1 Theoretische Grundlagen › III. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts
20
Seiner Funktion nach ist das Beweisantragsrecht nicht lediglich eine menschen(rechts)freundliche Verbesserung der Interventionsrechte des Beschuldigten im Strafverfahren und auch nicht lediglich eine Ergänzung der richterlichen Aufklärungspflicht; es bezweckt nicht nur eine Konkretisierung dieser Pflicht. Es ist viel tiefer begründet; es folgt nämlich zwingend aus der menschlichen Wahrnehmungs- und Beurteilungsfähigkeit sowie aus dem verfassungsrechtlich gestützten Prinzip, dass der Beschuldigte nicht nur Objekt, sondern auch Subjekt des Verfahrens ist.
Teil 1 Theoretische Grundlagen › III. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 1. Vorurteil und Sinnerwartung
21
Das Beweisantragsrecht ist ein Teil der Beweisaufnahme im Strafverfahren und ein Instrument der Wahrheitsfindung. In der Beweisaufnahme hat das Gericht die Tatsachen festzustellen, welche als empirische Grundlage des Urteilsspruchs benötigt werden. Hier geht es also um „Wahrheit“, um empirische Erkenntnis. Nur ein Urteil, dessen Tatsachenfeststellungen den Tatsachen entsprechen, kann auch gerecht sein. Tatsachenfeststellung ist fast immer ein komplizierter Prozess mit vielen Fehlerquellen. Das Beweisantragsrecht lässt sich verstehen als Konsequenz aus der Einsicht, dass die menschliche Fähigkeit, Tatsachen richtig zu erkennen und festzustellen, begrenzt und vielfach gestört ist.
Die modernen Wissenschaften vom Menschen, seiner Wahrnehmungs- und seiner Erkenntnisfähigkeit haben alte Einsichten der philosophischen Erkenntnistheorie ausdifferenziert, neu bestätigt und begründet. Was wir für wahr halten, ist nicht nur das Ergebnis von Erkenntnis und Wahrnehmung der Welt, sondern auch von Vorurteil und Sinnerwartung, nicht nur von Anschauung, sondern auch von Auseinandersetzung:
Teil 1 Theoretische Grundlagen › III. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 2. Konvergenzphilosophie
22
Die Überzeugung, dass der Mensch einer Sache niemals vollständig und adäquat habhaft werden kann, gehört nicht nur zur Tradition der europäischen Philosophie. Sie durchzieht die philosophische Anthropologie aller Kulturvölker: Es fehlt nicht nur ein hinlänglicher Beweis für die Existenz einer Außenwelt, es gibt auch keine Methode, sich dieser Außenwelt verlässlich zu vergewissern. Auch gehört es zu unseren Alltagserfahrungen, dass Dinge, Gegenstände, Tatsachen für unterschiedliche Betrachter Unterschiedliches bedeuten. Was wir bei der Feststellung von Tatsachen erwarten können, ist nicht Objektivität, sondern bestenfalls Intersubjektivität.
23
Auf diese Erfahrung antwortet eine lange Tradition europäischer Erkenntnistheorie mit der „Konvergenzhypothese“[1]. Sie geht davon aus, dass sich auch die empirisch wahrnehmbare Welt – um die es in der Beweisaufnahme ja geht – dem einzelnen Beobachter nur von der Seite her präsentiert, von der her er die Dinge anschaut. Folglich darf dieser Beobachter nicht hoffen, dass ihm die Anschauung der Dinge vollständig, dass sie ihm adäquat gelinge. Er ist vielmehr – will er sich der Gegenstände verlässlich vergewissern – auf die Beobachtung derselben Gegenstände durch andere zwingend angewiesen. Also wird von ihm Austausch, Kommunikation verlangt. Nicht schon von der Sicht eines einzelnen Beobachters, sondern erst von der Konvergenz der unterschiedlichen Zugänge zu einem Gegenstand darf Verlässlichkeit erwartet werden. Auch diese Verlässlichkeit ist freilich nur eine historische und relative: menschliche Erkenntnis ist immer verbesserungsbedürftig, sie kann sich ihres Gegenstands niemals vollständig, sondern nur asymptotisch vergewissern.
24
Daraus folgt, dass „wahre“ Erkenntnis nicht erhofft werden kann von den Beobachtungen eines einzelnen Individuums – und seien sie auch noch so sorgfältig. Erkennen ist vielmehr ein Annäherungsprozess, an dem unterschiedliche Sichtweisen beteiligt sein müssen und der auf eine Konvergenz dieser Sichtweisen abzielt. Dabei kommt es nicht darauf an, dass die Beobachter sich untereinander konfliktfrei oder „friedfertig“ austauschen; auch im Streit kann sich Konvergenz herstellen, so lange die streitenden Beobachter sich auf die Sache beziehen. Auf diese Sicht menschlicher Erkenntnisfähigkeit kann sich zwanglos berufen, wer das Beweisantragsrecht im Strafprozess begründen will.
Teil 1 Theoretische Grundlagen › III. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 3. Konsensustheorie der Wahrheit
25
Die „Kritische Theorie“ der Frankfurter Schule hat den Grundgedanken der Konvergenzphilosophie differenziert und weiter ausgebaut.[2] Auch diese „Konsensustheorie der Wahrheit“ vermag die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts im Strafverfahren einsichtig zu machen.
Gemeinsamer Ausgangspunkt ist, dass es Wahrheit aus bloßer Anschauung nicht geben kann, wie dies noch die frühe „Korrespondenztheorie der Wahrheit“ behauptet hatte. Dort war die Wahrheit der Erkenntnis durch die schlichte Übereinstimmung zwischen Sache und erkennendem Subjekt bestimmt worden („adaequatio rei et intellectus“); die Sichtweise der Korrespondenztheorie ist freilich zu simpel. Eine solche Übereinstimmung (und damit die Wahrheit) lässt sich nämlich nur feststellen, wenn die Sache, die „res“, außerhalb des Erkenntnisprozesses zur Verfügung steht – wie sonst sollte eine „adaequatio“, eine Übereinstimmung, erkannt werden können? Eine solche Voraussetzung ist nie erfüllbar. Es gibt kein Maß außerhalb unserer Erkenntnis, an welchem sich diese Erkenntnis als „wahr“ erweisen könnte.
26
Wenn nicht in der Korrespondenz von Beobachtungsgegenstand und Beobachtung – wo sonst ist dann die Wahrheit von Erkenntnis begründet? Die Antwort der Frankfurter Schule, dass es nämlich um den Konsens der beteiligten Beobachter geht, ist eigentlich zwingend. Denn wenn es kein objektives Kriterium wahrer Erkenntnis gibt, so muss die Übereinstimmung der beteiligten Subjekte das Wahr-Zeichen sein. Oder anders gedacht: Wenn die Wahrheit nicht in den Inhalten, den Gegenständen liegt, so muss man sie im Verfahren suchen, welches sich mit diesen Gegenständen befasst.
Dass sich, nach Ansicht der Kritischen Theorie, die Wahrheit im „herrschaftsfreien Diskurs“ der Beteiligten herstellt, diskreditiert diese Theorie nicht etwa deshalb, weil es im Strafverfahren niemals „herrschaftsfrei“ zugehen könnte. Das ist zwar heute richtig und mag möglicherweise für immer richtig sein, ändert aber nichts daran, dass Wahrheit nur in einem diskursiven Vorgehen aller Beteiligten erwartet werden darf. Man kann die Verfahrensregeln der StPO, und speziell auch die des Beweisantragsrechts, durchaus verstehen als Regulierungen einer Auseinandersetzung, welche Fairness und Waffengleichheit herstellen sollen. Dass es nicht um einen „privaten“ oder freiwillig geführten Diskurs, sondern um Auseinandersetzung innerhalb einer Institution geht, ändert nichts daran, dass die Auseinandersetzung regelgeleitet sein muss. Nur wenn diese Regeln jedem Beteiligten eine faire Chance der Intervention geben, kann sich die Auseinandersetzung auf die Herstellung, anstatt auf die Unterdrückung, von Wahrheit zubewegen. Dass es am Ende nicht um „Konsens“ in einem alltäglichen Verständnis gehen kann, ist klar. Es geht vielmehr – im Strafverfahren – eher um eine regelgeleitete Verarbeitung von Dissens.
Einer der wichtigsten Bestandteile dieser Regeln ist das Beweisantragsrecht. Es ordnet die Auseinandersetzung um den richtigen Weg zur Erkenntnis von Tatsachen, die als wahr, als bestätigt, als verlässlich gelten dürfen. Es geht davon aus, dass an der Auseinandersetzung um diesen Weg kontroverse Sichtweisen beteiligt sind, und es teilt jeder dieser Sichtweisen Durchsetzungschancen zu. Es reguliert – etwa in § 244 Abs. 3–5 StPO –, welche Wege zur Feststellung von Tatsachen nicht begangen werden dürfen, und es ordnet – etwa in § 244 Abs. 6 StPO – ein Verfahren für die Verarbeitung von Dissensen an.
Teil 1 Theoretische Grundlagen › III. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 4. Wahrnehmungsphysiologie, Wahrnehmungspsychologie
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Dass nicht die Inquisition eines einzelnen Beobachters, sondern die Auseinandersetzung mehrerer Beteiligter der richtige Weg zur Feststellung von Tatsachen ist, wird auch von modernen Erkenntnissen der Physiologie und Psychologie der Wahrnehmung bestätigt. Diese Erkenntnisse belegen ebenfalls, wie wenig verlässlich die Wahrnehmung des Menschen ist.
Ausgangspunkt ist die einfache Erkenntnis, dass es nicht menschenmöglich ist, sämtliche Informationen aus der Außenwelt zu verarbeiten, die im jeweiligen Zeitpunkt der Beobachtung zur Verfügung stehen. Selbst innerhalb der kleinsten Zeiteinheit, in der wir die Außenwelt wahrnehmen, steht uns eine übergroße Zahl an möglichen Informationen zur Verfügung, die wir nur der Möglichkeit nach, nicht aber in Wirklichkeit verarbeiten können: im Gerichtssaal beispielsweise Einzelheiten der Kleidung oder der Mimik aller Anwesenden, Einzelheiten des Raumes, in dem verhandelt wird, des Lichts, der Farben, Geräusche und Gerüche, unwillkürlichhe Körperreaktionen usw.
Wir sind gewohnt, den übergroßen Teil dieser Informationen als „irrelevant“ gar nicht erst in die Wahrnehmung einzubeziehen. In der Sprache der modernen systemtheoretischen Handlungslehre[3] heißt das „Reduktion von Komplexität“. Damit ist gemeint, dass jedes System – und so auch das handelnde und wahrnehmende Individuum – die Informationen aus seiner Außenwelt reduzieren muss, weil sie sonst in ihrer übergroßen Komplexität nicht verarbeitet werden könnten. Dies bedeutet zwar nicht, dass unsere Wahrnehmung „falsch“ ist; jedenfalls aber ist sie unausweichlich selektiv. Wie aber lässt sich diese Selektion sichern?
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Die Vernünftigkeit und Verlässlichkeit jeglicher Wahrheitssuche besteht in der vernünftigen und verlässlichen Unterscheidung von relevanten und bedeutungslosen Informationen aus der Außenwelt. Die Vernünftigkeit und Verlässlichkeit jeglicher Selektion von Informationen aus der Außenwelt steht und fällt ihrerseits mit der Vernünftigkeit und Verlässlichkeit des Kriteriums, mit dessen Hilfe die Auswahl vorgenommen wird. Selektion ohne Kriterien gibt es nicht – und sei es das Kriterium des Zufalls, welcher die Auswahl steuert, welcher die eine Information als relevant auswählt und die andere als bedeutungslos verwirft. Werden die falschen Informationen ausgewählt und die richtigen verworfen, so sind Chaos und Desorientierung die notwendige Folge.
Natürlich überlassen wir im Alltagsleben die Wahrnehmungsselektion nicht dem Zufall. Und wir können auch unsere Selektionskriterien nicht jeweils von Fall zu Fall neu bilden, weil wir sonst die Kontinuität und die Intersubjektivität unserer Wahrnehmung nicht herstellen könnten. Die Orientierung jedes Einzelnen im Alltag und die Verständigung unter Menschen setzen vielmehr voraus, dass die Kriterien der Selektion auf Dauer gestellt sind und dass sie – jedenfalls zu einem guten Teil – allen gemeinsam sind, die miteinander umgehen. Sehr allgemein betrachtet, folgen wir bei der Auswahl für uns relevanter Informationen einer „Erwartung“. Wir beziehen das mit in unsere Wahrnehmung ein, was wir erwarten, wir achten auf „Sinn“ oder auf „Gestalt“ und reduzieren die Komplexität unserer Umwelt hinsichtlich der Informationen, welche in unsere Sinnerwartung nicht „passen“.
Dies bedeutet nicht, dass es keine Veränderung in den Auswahlkriterien für Informationen gäbe oder dass die Selektionskriterien für alle Individuen einheitlich verbindlich wären. Es bedeutet aber, dass Veränderungsprozesse der Sichtweisen langsam vonstatten gehen und dass die Kriterien der Auswahl zu derselben Zeit und in demselben Kulturkreis in einem hohen Maße allgemein verbindlich sind. Eine Chance für „Fortschritt“ und „Vielfalt“ von Erkenntnis liegt mithin in Kommunikation und Austausch. Übertragen auf das Strafverfahren, widerspricht diese Einsicht dem Prinzip der Inquisition und der Hoffnung, die pure gerichtliche Sachaufklärung sei der Königsweg zur Wahrheit; sie schließt aus, dass es eine bestimmte Wahrheit „gebe“, die nur zu „finden“ sei.
Teil 1 Theoretische Grundlagen › III. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 5. Hermeneutik
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Die Lehre vom Verstehen, die Hermeneutik, hat diese Einsichten in die Selektivität unserer Erkenntnis intensiv begründet und sie – in der Variante der „juristischen Hermeneutik“ – auch in den Zusammenhang des Rechts und rechtlicher Verfahren gestellt.[4]
Es geht um Verstehen: von Texten, von Menschen, von historischen Situationen, von Prozessen. Es geht also auch um die Beweisaufnahme im Strafverfahren. Die wichtigste Botschaft der Hermeneutik hierzu ist: Es gibt kein Verstehen ohne Vor-Verständnis, kein Urteil ohne Vor-Urteil und kein Erkennen ohne Sinnerwartung.
„Vorverständnis“ und „Vor-Urteil“ sind nicht abwertend gemeint. Damit ist vielmehr zum Ausdruck gebracht, dass kein Mensch irgendetwas verstehen kann auf der tabula rasa einer je neuen und originären Zuwendung zur Sache, die verstanden werden soll. Verstehen kann er nur aufgrund der Fragen, welche er an die Sache hat, nur aufgrund der Vorverständnisse und Erwartungen, mit denen er an solche Sachen heranzugehen gewohnt ist. Solche Vor-Urteile sind durchaus auch Besonderheiten, die aus der jeweiligen individuellen Lebensgeschichte resultieren; es sind darüber hinaus im Wesentlichen aber auch die Sedimente unserer Kultur, unserer Tradition und unserer jeweiligen Schicht.
Dies ist andererseits aber auch weniger harmlos als es klingt. Wenn der Prozess des Verstehens nicht nur von der Sache geleitet wird, welche verstanden werden soll, sondern auch von Vorverständnissen, welche an diese Sache herangetragen werden und außerhalb ihrer bestehen, so kann man auf ein „reines“ oder „wahres“ Verstehen nicht hoffen. Das, was wir verstehen, ist zumindest teilweise auch das Produkt unserer Vorurteile, es ist nicht nur abgeschaut, sondern auch konstituiert.
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Als Ausweg aus diesem Dilemma empfiehlt die Hermeneutik nicht, man solle seine Vor-Urteile ablegen. Dies kann sie schon deshalb nicht empfehlen, weil sie zuvor gezeigt hat, dass es ohne Vor-Urteil ein Verstehen nicht geben kann. Es wäre aber auch naiv, dem Menschen ein Aussteigen aus seiner eigenen Geschichte und aus seiner kulturellen Tradition, seiner Welt-Sicht zu empfehlen. Derjenige, welcher von sich behauptet, er sei ohne Vor-Urteil, ist wohl dessen erstes Opfer. Der richtige Umgang mit dem Vorverständnis besteht – für das verstehende Individuum – in der Entschlossenheit, das Vorverständnis zu erkennen und transparent zu halten, sowie – für die Beteiligten am Verstehensprozess – darin, unterschiedliche Vor-Urteile zueinander in Vergleich und Konkurrenz zu setzen und ein Verfahren einzurichten, in welchem sämtliche Vorverständnisse eine faire Chance der Durchsetzung haben.
Teil 1 Theoretische Grundlagen › III. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 6. Konsequenzen
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Was allen diesen Einsichten in den menschlichen Erkenntnisprozess gemeinsam ist, lässt sich leicht sehen. Es ist auf der einen Seite die Relativität, Selektivität und Subjektivität menschlicher Erkenntnis, auf der anderen Seite die Empfehlung, diese Begrenzungen durch ein regelgeleitetes Verfahren zu überschreiten, in welchem jede einzelne Erkenntnis eine Chance hat, sich zur Geltung zu bringen.
Übertragen auf das Erkenntnisverfahren im Strafprozess, sprechen diese Einsichten eine deutliche Sprache. Sie erweisen ein reines Inquisitionsverfahren bzw. die alleinige Zuständigkeit des Gerichts für die Aufklärung des Sachverhalts als naiv. Sie votieren demgegenüber für einen Prozess der Wahrheitsfindung, an dem mehrere unterschiedliche Vorverständnisse und Sinnerwartungen und damit mehrere Sichtweisen des Geschehens (und sogar Interessen) gleichmäßig beteiligt sind. Es versteht sich, dass der institutionelle Diskurs des Strafverfahrens die letzte Entscheidung über den richtigen Weg der Wahrheitssuche auch institutionell zuteilen muss (vgl. § 244 Abs. 6 Satz 1 StPO). Vor dieser Entscheidung muss sich, nach dieser Betrachtungsweise, ein Prozess der Konkurrenz von Vorverständnissen regelgeleitet abgespielt haben.
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Vor diesem Hintergrund kann man das Beweisantragsrecht verstehen als den gesetzlich garantierten Versuch, Wahrnehmungsfixierungen des am Ende entscheidenden Gerichts dadurch aufzubrechen und bis zum Ende der Wahrheitssuche offen zu halten, dass konkurrierende Verständnisse in den Prozess der Wahrheitsfindung eingebracht, dass sie für die Wahrheitsfindung und ihr Ergebnis folgenreich und bedeutsam gemacht werden. Die Suche nach Wahrheit wird auf mehrere Wahrnehmende differenziert verteilt und einem transparenten Verfahren unterworfen. Das Beweisantragsrecht und seine Unentbehrlichkeit lassen sich vor diesem Hintergrund stark begründen. Es ist nicht nur eingerichtet im Interesse dessen, dem dieses Recht zusteht, sondern auch im Interesse des Beweisverfahrens, dem es auf die Feststellung der „wahren“ Tatsachen ankommt, auf die größtmögliche prozedurale Annäherung an das, was wir als die materielle Wahrheit niemals vollständig erreichen können, den Urteilen im Strafverfahren aber gleichwohl zugrunde legen müssen. Das Beweisantragsrecht ist eingerichtet im Interesse eines fairen, auf Wahrheit verpflichteten Verfahrens.
Teil 1 Theoretische Grundlagen › III. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts › 7. Justizförmigkeit der Wahrheitssuche
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Wie die Gerechtigkeit das Ethos des materiellen Rechts, so ist die Wahrheit das Ethos des Verfahrensrechts. Wenn die im Strafverfahren erarbeiteten Tatsachenfeststellungen nicht „wahr“ im beschriebenen Sinne sind, so ist schon damit ein gerechtes Urteil ausgeschlossen.[5] Es ist deshalb nicht falsch zu sagen, im Strafverfahren gehe es um die Suche nach „materieller Wahrheit“; es ist aber zu wenig differenziert, und es ist unvorsichtig.
Die weiterführende Frage lautet: Stört das Beweisantragsrecht die Suche nach der „materiellen Wahrheit“, oder befördert es sie? Oder: Passen Beweisantragsrecht und „materielle Wahrheit“ zusammen?
Zwei Überlegungen scheinen zu begründen, dass das Beweisantragsrecht insoweit nichts als ein Störfaktor ist (den man wegen der verfassungsrechtlich gebotenen Subjektstellung des Beschuldigten missbilligend in Kauf nehmen muss). Zum einen ist die Pflicht des Gerichts zur Sachaufklärung in § 244 Abs. 2 StPO so umfangreich und umsichtig ausgestattet, dass alles, was darüber hinausgeht, als bloße Störung erscheinen muss. Zum anderen ist schwer einzusehen, wie man über die „materielle Wahrheit“ verhandeln und abstimmen kann; schließlich stimmen ja auch Mathematiker nicht ab, sondern rechnen und finden ein Ergebnis.
Dass das so nicht richtig sein kann, haben schon die Überlegungen zu den Grenzen menschlicher Erkenntnis[6] gezeigt. Die Unverzichtbarkeit des Beweisantragsrechts ergibt sich aber darüber hinaus auch aus einem genaueren Blick auf das, was im Strafverfahren „Wahrheit“ heißen kann. Dabei stellt sich heraus, dass das Beweisantragsrecht sich nicht nur auf „menschliche Erkenntnis“ berufen kann, sondern auch auf „Rechtsstaat“, nicht nur auf die empirischen Bedingungen von Wahrheitssuche, sondern auch auf die normativen Verbürgungen für die Wahrheitssuche aus der strafrechtlichen Tradition und aus der Verfassung:
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Wenn man, wie gerade skizziert, ein Beweisantragsrecht (insbesondere mit Blick auf seine Wahrnehmung durch den Angeklagten) als Störfaktor im Rahmen der Suche nach materieller Wahrheit versteht – und dies war in der Tat das Verständnis des reinen Inquisitionsprozesses, in dem auch gleich die Verteidigung als überflüssig galt –, dann kommt man schon in Schwierigkeiten, wenn man sich bemüht, überhaupt den Sinn von Strafverteidigung zu verstehen oder gar zu begründen. Wenn schon das Gericht alle Tatsachen und Beweismittel aufzuklären hat, die für die Entscheidung von Bedeutung sind (§ 244 Abs. 2 StPO), wenn darüber hinaus die Staatsanwaltschaft auch zugunsten des Beschuldigten zu ermitteln hat (§ 160 Abs. 2 StPO), so wäre eigentlich nicht einzusehen, was in einer solchen Verfahrenskonstruktion noch eine Verteidigung soll – gar die notwendige (§§ 140 ff. StPO). So verstanden, kann eine Verteidigung im Rahmen der umfassenden und auch die Interessen des Beschuldigten berücksichtigenden Aufklärung des Falles durch Staatsanwaltschaft und Gericht nur stören.
Schwierigkeiten hätte ein solches Verständnis auch mit dem Akkusationsprinzip in unserem Strafverfahren. Warum soll man die Einleitung und Durchführung eines Verfahrens auf mehrere institutionelle Rollen verteilen, wenn jede dieser Rollen schon ausreichend ausgestattet ist, die Wahrheit umfassend (und überdies auch beschuldigtenfreundlich) herauszufinden? Hinter einer solchen Frage steht nichts anderes als die Ideologie des Inquisitionsprozesses: Der Inquirent weiß alles und macht alles richtig, wenn man ihn nur mit allen notwendigen Befugnissen der Wahrheitserforschung ausstattet und Störmanöver anderer Verfahrensbeteiligter unterbindet.
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Ein solches Verständnis entspricht der Konstruktion unseres Strafverfahrens nicht. Unser Strafverfahren ist eine agonale und kompliziert angelegte Veranstaltung.[7]
Das Gesetz schreibt keine ungestörte Suche nach der Wahrheit vor, sondern es installiert im Strafverfahren konflikthafte Konstellationen, indem es die Störfaktoren für die Wahrheitssuche nutzbar macht. Nicht die Harmonie, sondern der Streit ist das Grundmuster des Strafprozesses. Gerade dadurch zeichnet es sich in einem modernen Sinne als rechtsstaatlich und liberal aus, was man an den Tendenzen der nationalsozialistischen Strafgesetzgeber, die Konflikte unter einer Schein-Harmonie zu verdecken,[8] gut studieren kann.
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Ein Verständnis, welches das Beweisantragsrecht als Störfaktor der Wahrheitssuche qualifiziert, hat aber auch einen zu naiven Begriff von „Wahrheit“ als Ziel des Strafverfahrens. Die Rechtsprechung sowohl des BVerfG[9] als auch des BGH[10] hält zu Recht fest, dass es nicht um „Wahrheitssuche um jeden Preis“ gehen kann. Auch in der Literatur[11] hat sich durchgesetzt, von „forensischer Wahrheit“ zu sprechen[12] und damit zum Ausdruck zu bringen, dass rechtsstaatliche Wahrheitssuche spezifische Bedingungen und Grenzen hat, was sich auf Art und Qualität der dann gefundenen „Wahrheit“ zwangsläufig auswirkt. Ein Blick auf die Zeugnisverweigerungsrechte, die Beweiserhebungs-, Beweisverwertungs- oder Beweisthemaverbote zeigt, dass die Strafprozessordnung fundamentale Regelungen enthält, welche gerade verhindern können, dass herauskommt, „wie es wirklich war“.
Am Prinzip der „materiellen Wahrheit“ ist richtig, dass zur Grundlage des Urteils nichts gemacht werden darf, was sich so nicht zugetragen hat wie festgestellt. Falsch aber wäre es anzunehmen, dass Aufgabe der prozessualen Tatsachenfeststellung die Auffindung der „wirklichen“ Tatsachen wäre. Herauszufinden ist vielmehr die „forensische Wahrheit“; diese kann nichts anderes sein als die justizförmig gefundene Wahrheit. Und zu dieser Justizförmigkeit gehört auch das Beweisantragsrecht, dessen Regelungen freilich auch zum Ausdruck bringen, dass der Abstand zwischen der „materiellen Wahrheit“ und der „forensischen Wahrheit“ nicht zulasten, sondern immer nur zugunsten des Angeklagten als rechtstaatlich verträglich anzusehen ist. Den Rest muss dann eine saubere und begründbare Beweiswürdigung des Gerichts unter Beachtung des Zweifelssatzes (in dubio pro reo) leisten.[13]
Darstellung und Nachweise bei Arthur Kaufmann Gedanken zur Überwindung des rechtsphilosophischen Relativismus, in: ders. Rechtsphilosophie im Wandel. Stationen eines Weges, 1984, S. 51 ff., 57 ff.; sowie Kaufmann/von der Pfordten in: Hassemer/Neumann/Saliger Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, S. 132.
Klassischer Text: Habermas Wahrheitstheorien, in: Wirklichkeit und Reflexion, FS für Walter Schulz, 1974, S. 211 ff.; s.a. Habermas Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des Rechts und des demokratischen Rechtsstaates, 1992; zur Anwendung auf das Strafverfahren: Hassemer Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, S. 118 ff.
Luhmann Rechtssoziologie, 1980; zu Komplexität und Reduktion von Komplexität u.a. S. 31 ff.
Überblick und Nachweise bei Hassemer Juristische Hermeneutik, in: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1986, S. 195, wieder abgedruckt in Hassemer Freiheitliches Strafrecht, 2001, S. 15 ff.; Erwin Fromm Zeitschrift für Tarifrecht 2002, 216.
Nach der Rechtsprechung des BVerfG folgt aus dem materiellen Schuldprinzip, dass die Ermittlung des wahren Sachverhalts als „das zentrale Anliegen des Strafprozesses“ anzusehen ist (vgl. BVerfGE 140, 317, 345; BVerfGE 133, 168, 199; BVerfGE 130, 1, 26; BVerfGE 122, 248, 270; BVerfGE 118, 212, 231). Zum Ziel des Strafverfahrens heißt es in anderen Entscheidungen des BVerfG: „Die Aufklärung von Straftaten, die Ermittlung des Täters, die Feststellung seiner Schuld und seine Bestrafung wie auch der Freispruch des Unschuldigen sind die wesentlichen Aufgaben der Strafrechtspflege, die zum Schutz der Bürger den staatlichen Strafanspruch in einem justizförmigen und auf die Ermittlung der Wahrheit ausgerichteten Verfahren in gleichförmiger Weise durchsetzen soll.“ (BVerfG Beschl. v. 12.4.2005 – 2 BvR 1027/02, Rn. 111; ebenso BVerfGE 107, 104, 118/119).
Oben Rn. 21 ff.
Vgl. Mauz Das Spiel von Schuld und Sühne. Die Zukunft der Strafjustiz, 1975, S. 5 ff.
Vgl. Marxen Der Kampf gegen das liberale Strafrecht. Eine Studie zum Antiliberalismus in der Strafrechtswissenschaft der zwanziger und dreißiger Jahre, 1975, S. 171 ff.; über den nationalsozialistischen Gesetzgeber gibt Marxen allerdings weniger Auskunft als über die Strafrechtswissenschaft jener Zeit.
BVerfG StV 1990, 1, 2; BVerfGE 34, 238, 247; vgl. auch BVerfGK 18, 194, 203 und BVerfGK 18, 444, 448.
Vgl. etwa BGHSt 38, 214, 220 und BGHSt 14, 358, 365.
Vgl. Meyer-Goßner/Schmitt § 261 Rn. 1; s. ergänzend auch Kühne in: Löwe-Rosenberg, Einleitung Abschnitt H, Rn. 26.
Ausführlich dazu Hassemer Einführung in die Grundlagen des Strafrechts, 1990, S. 153 ff.; vgl. ferner Volk in: FS Salger, S. 411; Lampe in: FS Pfeiffer, S. 353 ff.
Zu den verfassungsrechtlichen Grundlagen des Beweisantragsrechts vgl. Pohlreich Das rechtliche Gehör im Strafverfahren, S. 136 ff.; Jahn in FS für Hassemer, 2010, 1029 ff.
I.Formlose Informationsweitergabe und Beweiserbieten
II.Beweisanregung
III.Beweisermittlungsanträge
IV.Der bedingte Beweisantrag
V.Beweisanträge im engeren Sinne
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