Beziehungen - Renate Baum - E-Book

Beziehungen E-Book

Renate Baum

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Beschreibung

Bunte Mischung der verschiedenen Literaturformen Erzählung, Kurzgeschichte und Lyrik: eine späte Leidenschaft, ein Schauspieler-Porträt, eine politische Satire, die Träumerei einer Begeisterten, ein tragischer Unfall, ein paar Gedichte und mehr.

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INHALT

JENNY

HIMMELFAHRT

EINE GANZ UNMÖGLICHE GESCHICHTE

DAS PROBLEM

DER SCHAUSPIELER

DIE FRAU IN SCHWARZ

DAS TAGEBUCH

VERLORENE ZUKUNFT

ZELTLAGER

DER BRIEF

SPÄTE LEIDENSCHAFT

LYRIK

JENNY

»Pass uff die Kleene uff, Jenny! Ick muss noch mal los.«

Was das bedeutet, wenn die Mutter sagt, sie müsse noch mal los, ist sonnenklar.

*

Jenny war fast fünfzehn, zwei Monate fehlten noch. Ein auffallend hübsches Mädchen in dieser Umgebung, einer heruntergekommenen Hochhaussiedlung, die dringend eine Generalsanierung nötig hätte. Die Treppenhäuser verranzt, verdreckt, überall sorglos fallen-gelassener Abfall, Bonbonpapier, leere Bäckertüten und Fastfood-Schalen, benutzte Papiertaschentücher, ab und an auch mal etwas, das aussah wie ein Luftballon, aber keiner war. Die Fassaden bröckelten, im Erdgeschoss stank es hinter den Eingangstüren. Von den Aufzügen war meist nur einer in Betrieb.

*

»Ja, ja«, sagt Jenny gleichmütig und schlurft ins Bad. Mustert sich vor dem großen Spiegel, der in die Tür eingelassen ist. Das lange kastanienbraune Haar bindet sie im Nacken zusammen, geht nah an den Spiegel heran, schaut prüfend auf ihr gespiegeltes Ebenbild.

*

Sie ist ein schönes Mädchen, sagte man über sie immer wieder, aber das Schönste sind ihre Augen. Die das sagten, hatten Recht: Jennys Gesicht war auffallend ebenmäßig, ein nahezu makelloses Oval, eine wohlgeformte Nase, ein fast verführerischer Mund und – wirklich das Schönste – große Augen von einem tiefen, dunklen Blau, die einen, wenn Jenny ihr Gegenüber anschaute, in Trance versetzen konnten.

*

Nach einem Blick auf die Armbanduhr beginnt Jenny sich vor dem Spiegel zu drehen und zu wenden, auch ihre Figur ist tadellos, kleine feste Brüste, schmale Taille, nicht die Storchenbeine einer 14jährigen, sondern bereits die langen Beine einer jungen Frau. Ihr Traum, einmal Model zu werden, durch die Welt zu reisen und viel Geld zu verdienen, ist durchaus nicht unbegründet.

Zufrieden wendet sich Jenny vom Spiegel ab und geht hinüber in das Zimmer, das sie mit ihrer siebenjährigen Schwester Mathilda teilt. Mathilda schläft. Gut so. Jenny greift sich ihr kleines, buntes Dritte-Welt-Täschchen, zieht ihre Jeansjacke über, schließt leise die Tür des Gemeinschaftszimmers, die Schwester soll bloß nicht aufwachen!, und verlässt die Zweizimmer-Wohnung im achten Stock. Sie muss nicht fürchten, dass ihre Mutter vor ihr nach Hause kommen wird und feststellt, dass ihre »Große« nicht daheim ist.

Ausnahmsweise funktioniert ein Fahrstuhl. Um diese Zeit, es ist kurz vor neun, ist es im Treppenhaus ruhig. Die meisten sitzen jetzt vor der Glotze. Jenny begegnet niemandem, weder im Treppenhaus noch im Aufzug. Es ist wichtig, dass niemand sie sieht, denn, obwohl – oder weil – so viele Mieter in den zahllosen Wohnungen leben, wird viel gelauert und viel getratscht. Es wäre also durchaus möglich, dass jemand ihrer Mutter ihre, Jennys, nächtlichen Ausflüge steckt.

An der Kneipe im Hochhaus gegenüber huscht sie, nur mit einem Blitzblick hinein, vorbei. Sie weiß ohnehin, dass ihre Mutter da am Tresen sitzt, in hündisch demütiger Nähe neben ihrem Typen, der seit drei Monaten bei ihnen wohnt und mit der Mutter auf der Klappcouch im Wohnzimmer schläft. Sie weiß auch, dass die Mutter sie draußen in der Dunkelheit nur schwer erkennen könnte. Aber sie will es nicht drauf ankommen lassen.

Als sie ihr Ziel erreicht hat – den umgitterten Fuß- und Basketballplatz zwischen den Hochhäusern –, haben sich die anderen schon versammelt. Eine bunte Meute aus dem Kiez, Kumpel aus Schule und Wohnblöcken. Zwischen 13 und 17 Jahre alt. Lässig paffend, manche immer wieder mit einer Flasche oder einer Dose an den Lippen.

Als Jenny die Gittertür öffnet und den Platz betritt, erhebt sich ein freudiges »Ah, die Jenny!«, was außer einer Begrüßung auch einen Hauch Bewunderung enthält. Ein Junge, schlank, aber kräftig, kaum größer als Jenny, schwarzes Wuschelhaar, schlendert auf Jenny zu. Legt den Arm um sie und will sie küssen. Aber Jenny windet sich aus seinem Arm, empfindet das als Umklammerung und erklärt: »Nee, Ennes, keinen Bock auf Liebe!« Ein paar Jungs, die in der Nähe stehen und Jennys Satz gehört haben, lachen. Teils über Jennys Formulierung, teils über ihre grundsätzliche Ablehnung. Denn hier würden alle gern mit Jenny schlafen, hätten gern so eine attraktive feste Freundin. Da freut man sich über jeden anderen, der nicht bei ihr landen kann. Ennes wird zwar für Jennys Freund gehalten. Ist es aber nicht. Denn Jenny hat zur Zeit keinen festen Freund. Will auch keinen. Sie hatte mal was mit einem Achtzehnjährigen aus dem Nachbarhaus, das war ganz schön, der ist dann aber zum Studium in eine andere Stadt gezogen. Und das war’s dann gewesen.

»Heute nix los hier«, stellt Jenny fest.

»Kann ja nich’ immer was los sein«, kommentiert Nils Jennys Beschwerde.

Der große Blonde, der älter wirkt als die übrigen der Gruppe, kommt auf Jenny zu, seine Freundin Sevgi, die ihm mal gerade bis zur Schulter reicht, fest im Arm.

»Is’ schon klar!«, gibt Jenny ihm Recht. »Hab aber heute keinen Bock auf nix los. Dann werd ich wohl wieder raufgehn.«

»Tu das! Niemand hält dich auf«, kontert Nils mit seiner Schmirgelpapierstimme.

Seit Jenny ihn vor einer Woche abblitzen ließ, als er sich an sie ranmachen wollte, versucht er, Jenny gar nicht zu beachten. Gelingt ihm nicht immer. Aber etwas anderes gelingt ihm: Immer, wenn er Jenny sieht, zieht er schnell seine neue Freundin ganz fest an sich in der Hoffnung, das würde Jenny eifersüchtig machen. Klappt aber nicht. Jenny nimmt die demonstrative Intimität gar nicht wahr, es interessiert sie überhaupt nicht. Er interessiert sie nicht.

Ein vager Handgruß in Richtung Gruppe. »Na denn, ciao, ciao, bis demnächst.« Jenny wendet sich um und geht.

Ihre Mutter – wie könnte es anders sein – hockt immer noch am Tresen, daneben nach wie vor ihr Lover. Gut so, hab ich Ruhe, wenigstens erst mal. Hoffentlich schläft Mathilda und nervt nicht wieder wie vorgestern.

Ja, Mathilda schläft tief und fest, schnarcht sogar ein wenig. Jenny lässt sich auf ihr Bett fallen und starrt an die Decke. Am liebsten würde sie für alle Zeit so liegen bleiben. Nie mehr aufstehen. Nie sich ausziehen. Vor allem nicht die Jeans.

Nach einer Weile rafft sie sich dann doch auf. Zieht sich aus. Auch die Jeans. Streift das Nachthemd über und schlüpft unter die Bettdecke. Macht das Licht aus. Hofft, dass sie in dieser Nacht allein bleibt. Wenigstens einmal – eine Nacht. Und schläft ein.

Als sie erwacht, ist es stockfinster im Zimmer. Was sie geweckt hat, ist eine raue Hand, die sich unter ihr Höschen schiebt, sich langsam vorarbeitet zu dem weichen geheimen Ort, ihn vorsichtig öffnet und ihn dann druckvoll bearbeitet. Als sie sich von der unerwünschten, peinigenden Hand befreien will – schreien kann sie nicht, sie würde die Mutter, zumindest aber Mathilda wecken –, wälzt sich der schwere Körper auf ihr Bett und ersetzt die Hand durch etwas anderes, weitaus schmerzhafter, als es durch die noch enge und zarte Öffnung in sie eindringt. Nicht einmal vor Schmerz kann sie schreien, denn er hat seine große Hand auf ihren Mund gelegt, während er in ihr tobt. Endlich – für Jenny nach einer nie endenden Ewigkeit – hört sie dicht an ihrem Ohr sein lustvolles Stöhnen. Er zieht sein nun nicht mehr hartes Werkzeug zurück und verlässt wortlos das Kinderzimmer.

Ach ja! Ich erinnere mich. So sah mein Leben vor mehr als zehn Jahren aus. Jenny denkt ungern an diese Zeit, selbst wenn sie in einem anderen, von ihrem Leben völlig unabhängigen Zusammenhang erwähnt wird, reicht die Erwähnung dieser Zeit, um sie zu verstören.

Sie weiß nicht, weshalb gerade jetzt die in Verkrustung verschlossene Erinnerung aufbricht. Wurde die Jahreszahl eines Ereignisses in den Nachrichten genannt? Ach nein, es war ein Bericht über Missbrauch, den sie nur mit halbem Ohr und halbem Kopf wahrgenommen hatte und der sich jetzt unverschämt aufdringlich in ihr Bewusstsein zwängt.

Das Telefon befreit sie aus ihren unangenehmen Gedanken. Ihre Freundin Ania, hektisch wie immer: »Jenny, du hast doch momentan keinen festen Job, oder?«

»Neeiiin«, Jenny verharrt in Habachtstellung. Wenn Ania so beginnt, muss man auf Überraschungen gefasst sein.

»Super! Ich hab grade eine Anzeige gelesen. Kunze & Frey sucht dringend ein Model für die Fashion Week. Ihr Topmodel fällt aus wegen Krankheit.«

»Kunze & was, bitte? Die kenn ich nicht. Wer soll denn das sein?« Jenny ist skeptisch. Ania hat öfter so spontane Einfälle. Sie, Jenny, hat einen losen Vertrag mit Mittermann und einigen anderen kleinen Häusern, die sie nach Bedarf immer wieder anfordern. Das reicht ihr.

»Die produzieren vor allem Kleider. Und Röcke. Alles erste Klasse! Sie wollen die neue Kollektion vorstellen. Das wär doch was für dich. Da könnte ein fester Vertrag rausspringen.«

»Vielleicht will ich ja gar keinen festen Vertrag. Mit ständigen Fototerminen, Anproben und dem ganzen Tralala. Die Buchung von Zeit zu Zeit gefällt mir ganz gut.«

»Du kannst doch nicht dein ganzes Leben mit losen Buchungen verbringen.«

»Warum nicht? Wenn’s zum Leben reicht.« Jenny teilt Anias Besorgnis nicht.

»Ach, Jenny! Sei doch nicht so stur! Wenn’s dir dort nicht passt, kannst du ja nach der Präsentation wieder aussteigen. Aber nutz doch wenigstens die Chance!«

»Okay. Dann gib mir halt die Daten«, stöhnt Jenny. Sie weiß, Ania wird keine Ruhe geben.

*

Also ist Jenny tatsächlich Model geworden. Es war ja schon zu vermuten, als sie 14 war. In die internationale Riege hat sie es zwar nicht geschafft, aber sie konnte von gelegentlichen Buchungen bei dieser oder jener Modefirma ganz gut leben. Mal ein Katalog, mal eine Modenschau. Im mittleren Segment war sie durchaus bekannt. Und wegen ihrer Zuverlässigkeit und Natürlichkeit geschätzt und beliebt.

*

Am Morgen, beim Aufstehen, ist der Schmerz immer am heftigsten. Vor allem Sitzen geht erst mal gar nicht. Jenny beißt die Zähne zusammen und kommt so schnell wie möglich auf die Beine. Stehen ist nicht ganz so schlimm. Im Bad entfernt sie die blutigen Reste der nächtlichen Aktion von den Schenkeln und wäscht sich vorsichtig. Ein Wunder, dass die Mutter nichts zu den Blutflecken auf dem Laken gesagt hat. Hat sie wohl für Menstruationsblut gehalten. Jenny hat auch nichts gesagt. So verliebt, wie die Mutter zur Zeit ist, hätte sie ihr sowieso nicht geglaubt. Und ihren Lover zur Rede zu stellen oder gar sich von ihm zu trennen – das war jetzt absolut außerhalb jeder Vorstellung. Da ist sich Jenny sicher.

*

Aber sie musste sich ernsthaft überlegen, wie sie diesen nächtlichen Besuchen entkommen konnte. Niemand wusste etwas von dem Horror, dem sie fast jede Nacht ausgesetzt war. Selbst ihrer besten Freundin hatte sie nichts erzählt. Der Klassenlehrerin wollte sie sich auf keinen Fall anvertrauen. Was sollte die über ihre Familie denken, wenn sie das erführe? Ja, es gab Kinderschutz-Organisationen, aber sie war doch gar kein Kind mehr. Der nächtliche Peiniger hatte ihre Kindheit jäh beendet. Viele Nächte hielt sie das nicht mehr aus.

*

»Wo haben Sie bisher gearbeitet?«, erkundigt sich die Directrice von Kunze & Frey. Jenny nennt Namen von Modehäusern, zeigt Fotos und Unterlagen. Die Directrice mustert sie kritisch von oben bis unten. »Das sieht alles ganz gut aus«, erklärt sie schließlich.

»Meint sie die Papiere oder mich?«, fragt sich Jenny.

»Aber ich muss das noch mit meiner Chefin klären«, sagt die Directrice abschließend, »wir melden uns bei Ihnen.«

Jenny ist einverstanden. Sie hat keine Eile. Es wäre ohnehin eine zusätzliche Buchung. Ganz willkommen, aber nicht unbedingt notwendig.

Zu Hause in ihrer kleinen, gemütlichen Wohnung findet sie einen Anruf von ihrem Freund Christian auf dem AB vor. Tief atmen. Muss ich zurückrufen, soll ich zurückrufen, will ich zurückrufen? Eigentlich keins von allem. Aber ich habe schon seit einer Woche nicht auf seine Anrufe reagiert.

*

Nicht ausnahmslos jede Nacht musste Jenny seine Gewalt ertragen. In der einen oder anderen Nacht erschien er nicht – vielleicht war sein Begehren zu schwach oder die Mutter war noch wach und er fürchtete, »erwischt« zu werden – und sie konnte ungestört in Ruhe bis zum Morgen durchschlafen. Und dann kam die eine entscheidende Nacht, die alles veränderte, vor allem Jennys Leben.

*

Gerade ist Jenny eingeschlafen, hat ausnahmsweise einen bunten, fröhlichen Traum, als die verhasste Hand an den gewünschten Platz kriecht und sie hochschreckt. Sie macht sich ganz steif. Stellt sich schlafend. Gerade will der Peiniger sich auf sie wälzen, als plötzlich die Tür aufgeht. Licht vom Flur fällt ins Kinderzimmer. Im Türrahmen – im Gegenlicht nur zu erahnen – die Mutter.

»Was machst du hier?«, schreit sie. Ohne Rücksicht auf die schlafende Mathilda.

Ihr Lover schreckt hoch. Rappelt sich auf. Richtet den Slip. Baut sich auf zu voller Größe und erklärt: »Ick musste pinkeln, und da hab ick jesehn, dass Jenny noch nich schläft. Wollte nur fragen, ob alles okay is.«

Einen Moment zögert die Mutter, lässt nicht erkennen, ob sie dieser lächerlichen Erklärung glaubt. Dann fragt sie: »Und? Is alles okay?«

»Ja.«

»Dann komm jetzt ins Bett.«

Abrupt wendet sie sich um, wirft noch einen Blick über die Schulter zurück, prüfend, ob er ihr auch folgt, und stapft auf nackten, auf dem Laminat platschenden Füßen zurück zu ihrer Ausziehcouch im Wohnzimmer.

Als sich die Tür hinter dem gehassten Mann geschlossen hat, starrt Jenny mit weit aufgerissenen Augen in die Dunkelheit. Was war das denn? Hat die Mutter nicht gesehen, was ihr Typ da mit ihrer Tochter trieb? Es war doch ganz offensichtlich. Er hat doch schon halb auf ihr gelegen. So fragt man doch nicht, ob alles okay ist. Heißt das, dass die Mutter nichts sehen will. Sie, Jenny, hat es ja geahnt – oder sogar gewusst? – dass die Mutter ihr nicht glauben würde, und deshalb nichts gesagt. Nun, da alles klar ist, kann sie nicht bleiben. Sie muss weg. Denn da sie keine Hilfe bekommt, werden die nächtlichen Besuche und Torturen weitergehen. Immer weiter. Bis in alle Ewigkeit. Mindestens aber bis zum Ende der Affäre ihrer Mutter. Und wann das sein wird, ist nicht abzusehen.

*

Damals, nach diesem Vorfall, hat Jenny am Morgen die Schulsachen aus dem Rucksack genommen und ein paar Sachen zum Anziehen – Slips, T-Shirts, einen Pullover usw. – eingepackt und ist nicht in die Schule gegangen und auch nie wieder nach Hause zurückgekehrt. Ihre Mutter hat lustlos halbherzig eine Vermisstenanzeige aufgegeben, aber da zu dieser Zeit etliche Jugendliche ihr Zuhause verlassen hatten, war die Suche der Polizei nicht sehr intensiv. Jennys Mutter vermisste ihre Tochter nicht wirklich. War erleichtert, keine attraktive Konkurrenz so dicht vor der Nase zu haben. An die kleine Schwester traute sich der Lover der Mutter nicht heran, das war ihm zu heikel, denn Mathilda war noch ein Kind, und er musste befürchten, dass sie schreien und nach ihrer Mutter rufen würde.

*

Ich wusste, dass am Bahnhof Zoo immer was los ist, eine verschworene Gemeinschaft von Trebern, also bin ich dahin gegangen, erinnert sich Jenny. Ich durfte mich nur nicht von einer Polizeistreife erwischen lassen, denn die hätte mich sofort wieder zurückgebracht in die Hölle. Am Zoo ist es mir ganz gut gegangen, ich bekam schnell Kontakt zu anderen jungen Leuten, die auch von zu Hause abgehauen waren.

»Ej, du bist neu hier?«

»Ja.«

»Klar ist die neu hier, das siehste doch an den Klamotten, die sind noch sauber und gebügelt. Weshalb biste hier?«

»Kann ich nich sagen.«

»Warum nich?«

»Is zu schlimm.«

»Okay, dann war’s der Stiefvater oder der Onkel, alles klar.«

Jenny erinnert sich, dass sie zwar vor Scham ganz rot geworden war, aber sich auch erleichtert fühlte, weil sie nun keine Erklärung mehr zu liefern brauchte. Ein bisschen wunderte sie sich allerdings, dass das, was sie erlebt hatte, in dieser Runde für alle so offenkundig und eindeutig war.

»Setz dich zu uns! Haste Hunger?«

»Ja, ein bisschen. Hab heute noch nichts gegessen.«

»Hier haste was, damit de nich gleich verhungerst. Aber ab morgen musste selber für dich sorgen. Klaro?«

»Klar. Und wie?«

»Na, mit Schnorren. Bistn Mädchen und ganz hübsch, da geben die Leute gerne was. Ficken für Geld wär auch noch möglich, aber das kommt wohl für dich im Moment nich in Frage.«

Die Direktheit des Jungen, der gleich auf sie zugegangen war, hatte sie gleichzeitig abgestoßen und fasziniert. Ganz schnell wurde er zu ihrem Freund und Beschützer. Wenn ich es recht bedenke, war er meine erste große Liebe, wird Jenny jetzt nach so vielen Jahren bewusst, denn, ohne dass ich es erklären musste, akzeptierte er meine Abneigung gegenüber jeder Art von Sex. Ich wollte, ich konnte mit niemandem schlafen, ich ekelte mich vor dem männlichen Geschlechtsteil, ich ekelte mich vor zudringlichen Männerfingern. Außerdem mussten die Verletzungen, die der Lover meiner Mutter mir zugefügt hatte, erst noch verheilen. Und dieser Junge, Alex, höchstens ein oder zwei Jahre älter als ich, verstand, rührte mich nicht an, respektierte meinen Ekel, nahm mich manchmal zärtlich in den Arm, wie ein Bruder, ließ aber die Finger von mir.

*

Zwei Jahre lang war der Bahnhof Zoologischer Garten Treff- und Mittelpunkt in Jennys Leben. Anfangs fiel es ihr schwer, ihren Lebensunterhalt mit »Schnorren« zu verdienen. Es kostete sie einige Überwindung, Fremde anzusprechen und um etwas Geld zu bitten. Aber mit der Zeit hatte sie immer eine neue traurige Geschichte parat, die die Angesprochenen fast zu Tränen rührte, sodass sie bereitwillig ihr Portemonnaie zückten. Sie achtete darauf, sauber und ordentlich auszusehen. Alkohol und Drogen kamen für sie nicht in Frage. Sie hatte das abstoßende Vorbild ihrer Mutter. Und ihr »Beschützer« wachte über sie wie ein Bodyguard, dass niemand sie zu irgendwelchen Substanzen verführte. Und schließlich war sie ja ein ausgesprochen ansehnliches Mädchen. Wenn sie einen Polizisten entdeckte, tauchte sie rasch in der Menge unter. Aber es schien sie sowieso niemand zu suchen.

*

Und dann kam ein Tag, der zum zweiten Mal alles veränderte.

Beim Gedanken daran muss Jenny lächeln.

Das Telefon klingelt. Jenny will eigentlich gar nicht abnehmen. Sicher wieder Christian. Was soll ich ihm sagen? Zur Zeit habe ich keine Lust auf ihn. Aber – –

Auf dem Display nicht Christians, eine fremde Nummer. Mal hören, wer das ist.

Hallo Jenny, hier ist Sibylle, Sibylle Schulz, die Directrice von Kunze & Frey. Ich hatte versprochen, Sie anzurufen. Inzwischen habe ich mit der Chefin gesprochen, sie ist beeindruckt von Ihren Papieren und Fotos und einverstanden, dass Sie erst einmal einspringen für unsere erkrankte Dame. Können Sie morgen vorbeikommen, damit wir alles besprechen, Anproben und Vertrag machen?

Jenny sagt nichts. Eine ganze Weile lang nichts. Was hat ihr Ania da bloß eingebrockt? Bis die Directrice nachhakt:

»Haben Sie es sich anders überlegt, Jenny? Kein Interesse mehr?«

»Doch, doch, natürlich komme ich morgen zu Ihnen. Wann soll ich denn bei Ihnen erscheinen, ich meine, um wie viel Uhr?«

»Wäre Ihnen 11 Uhr recht?«

»Ja, klar.«

»Wunderbar! Dann sehen wir uns morgen. Einen schönen Abend noch und bis dann. Auf Wiedersehen, Jenny!«

»Ja, auf Wiedersehen! – Sibylle!«, schiebt Jenny noch nach, aber die Directrice hat bereits aufgelegt.

Seufzend lässt sich Jenny in einen Sessel fallen. Soll sie nun Ania dankbar sein? Oder sie verfluchen? Sie ist doch gar nicht interessiert an einem festen Vertrag. Aber diese Sibylle hat da was angedeutet: »erst einmal einspringen«. Was kommt denn nach dem »erst einmal«? Dass sie sich auch immer wieder von Ania manipulieren lässt! Sie muss endlich lernen, energisch »nein« zu sagen, wenn ihr etwas nicht passt. Sie muss endlich erwachsen werden, schließlich geht sie so langsam auf die Dreißig zu.

*

Jenny lernte Ania nach einer Vorführung in einem Modehaus kennen, bei der elegante Cocktail- und Abendkleider gezeigt wurden. Jenny war als Model gebucht worden, und Ania suchte etwas Passendes für eine Hochzeit, zu der sie eingeladen war. Nach der Schau hatte Jenny die ziemlich unentschlossene Ania beraten, hatte nach eingehender Prüfung von Typ, Teint, Haar- und Augenfarbe ein schlichtes, aber raffiniert geschnittenes Midi-Kleid in zartem Lila ausgewählt. Ania hatte es anprobiert und war sofort begeistert. Sie sah auch wirklich umwerfend darin aus. Aus Dankbarkeit lud Ania Jenny danach zu einem Glas Wein in ein Gartenlokal ein. Dort blieb es nicht bei einem Glas, denn, wie sich herausstellte, hatten sie viel zu besprechen. So begann ihre Freundschaft.

*

Dass sie damals nicht »nein«, sondern »ja« gesagt hatte, war ihr Glück gewesen. Noch heute durchströmt Jenny ein warmes Gefühl, wenn sie an diesen Tag denkt. Sie war knapp 17, lebte seit fast zwei Jahren auf der Straße und war gerade, schlendernd durch die Menschentrauben, in der Eingangshalle des Bahnhofs unterwegs auf der Suche nach edlen Spendern, als eine Frau mittleren Alters – sehr gepflegte Erscheinung, geschmackvoll gekleidet, dezent geschminkt – sie ansprach.

»Hallo, junge Dame, sind Sie schon »Sie« oder noch »Du«?«

»Das kommt drauf an.« Jenny ist schon damals nie um eine Antwort verlegen.

»Worauf?«

»Was Sie von mir wollen.«

Die fremde Frau lachte: »Ich will mich ein bisschen mit Ihnen unterhalten.«

»Dann bleibt es erst mal auch beim »Sie«.«

Wieder lachte die Fremde: »Sie wissen, was Sie wollen. Das gefällt mir. Ich möchte mit Ihnen einen Kaffee trinken. Vielleicht oben im Kranzler?«

Jenny erinnert sich – sie war misstrauisch gewesen. Wieso wollte eine wildfremde Person sie zu einem Kaffee ins Kranzler einladen. Was hatte sie vor? War das eine Falle? Sollte sie irgendwohin gelockt werden?

Die Dame hatte ihr Zögern bemerkt: »Nein, nein, keine Angst, es besteht keine Gefahr. Ich will mich nur mit Ihnen unterhalten und Ihnen eventuell, wenn Sie einverstanden sind, ein Angebot machen.«

Nun war Jenny erst richtig alarmiert gewesen. Ein Angebot? Ist das ’ne Puffmutter, die Frischfleisch braucht? Sie muss damals einen entsetzten Eindruck gemacht haben, denn die Fremde war nun auch erschrocken über ihre anscheinend irreführende Formulierung.

»Nein, bitte vertrauen Sie mir, es handelt sich um nichts Unmoralisches oder gar Kriminelles. Ich möchte nur, dass Sie mir zuhören. Danach können Sie wieder gehen, wohin Sie wollen. Ich heiße übrigens Manuela – Manuela Hinrichs.«

»Also gut«, hatte Jenny zu sich und dann zu der Frau laut gesagt. »Ich heiße Jenny. « Sie hatte sich umgeschaut und gedacht, was soll mir schon passieren mitten unter so vielen Leuten. Im Kranzler wird’s auch nicht gerade leer sein.

Und so war es auch. Sie hatten Mühe, einen freien Tisch zu finden. Als die fremde Frau die Bestellung aufgegeben hatte, zog sie aus ihrer voluminösen Tasche, die Jenny gleich aufgefallen war und erstaunt hatte, weil sie zu dem Erscheinungsbild der Dame so gar nicht passte, eine Mappe, die sie auf dem Tisch aufklappte.

»Was sehen Sie hier?«, fragte die Frau.

»Hübsche Mädchen.« Sie, Jenny, hatte so ein »Album« noch nie gesehen.

»Ja, in der Tat, hübsche Mädchen. Hören Sie zu, Jenny, ich habe eine Modelagentur und bin ständig auf der Suche nach geeigneten Mädchen, denn die, die sich von sich aus bei mir vorstellen, sind meist alles andere als geeignet. Ich habe Sie im Bahnhof entdeckt und schon eine Weile beobachtet. Sie sind ein attraktives Mädchen, nein, Sie sind eine schöne junge Frau, und ich würde mich freuen, wenn ich Sie in meine Kartei aufnehmen könnte. Ich weiß nicht, was Sie sonst so machen, ob Sie noch zur Schule gehen oder schon berufstätig sind, aber wenn Sie in meiner Kartei stehen, heißt das nicht, dass Sie den ganzen Tag für mich arbeiten. Nur wenn einer meiner Kunden – überwiegend Modehäuser – Sie bucht, müssen Sie an bestimmten Terminen für den Kunden arbeiten, und danach sind Sie wieder frei.«