Ende und Anfang - Renate Baum - E-Book

Ende und Anfang E-Book

Renate Baum

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Beschreibung

Zwei Handlungsstränge, die scheinbar nichts miteinander zu tun haben, am Ende der Geschichte aber zusammengeführt werden. Eine Tochter betreut ihre sterbende Mutter. Zwischen den beiden entwickeln sich Gespräche: alltägliche, kontroverse, auch verletzende. Gedanken und Erinnerungen zeichnen die Biografie vor allem der Tochter nach. Es geht um die Vergangenheit, um eine ambivalente Beziehung. Mitten im Krieg lernt eine junge Frau einen Soldaten auf Fronturlaub kennen. Sie beginnen eine heiße Liebesbeziehung: für die vier Tage des Fronturlaubs. Das Verhältnis bleibt nicht ohne Folgen. Die junge Frau hofft auf eine gemeinsame Zukunft. Aber der Soldat reagiert anders als gewünscht.

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Inhaltsverzeichnis

ERSTES KAPITEL

ZWEITES KAPITEL

DRITTES KAPITEL

VIERTES KAPITEL

FÜNFTES KAPITEL

SECHSTES KAPITEL

SIEBTES KAPITEL

ACHTES KAPITEL

NEUNTES KAPITEL

ZEHNTES KAPITEL

ELFTES KAPITEL

ZWÖLFTES KAPITEL

DREIZEHNTES KAPITEL

VIERZEHNTES KAPITEL

FÜNFZEHNTES KAPITEL

SECHZEHNTES KAPITEL

SIEBZEHNTES KAPITEL

ACHTZEHNTES KAPITEL

NEUNZEHNTES KAPITEL

ZWANZIGSTES KAPITEL

EINUNDZWANZIGSTES KAPITEL

ZWEIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

DREIUNDZWANZIGSTES KAPITEL

VIERUNDZWANZIGSTES KAPITEL

FÜNFUNDZWANZIGSTES KAPITEL

SECHSUNDZWANZIGSTES KAPITEL

SIEBENUNDZWANZIGSTES KAPITEL

ACHTUNDZWANZIGSTES KAPITEL

NEUNUNDZWANZIGSTES KAPITEL

DREISSIGSTES KAPITEL

EINUNDDREISSIGSTES KAPITEL

ZWEIUNDDREISSIGSTES KAPITEL

DREIUNDDREISSIGSTES KAPITEL

ERSTES KAPITEL

Du kannst mich doch jetzt nicht alleine lassen …« – Schwach und belegt wehte die Stimme aus dem Kissengebirge.

Reglos lag sie da. Ihr winziger Kopf vergraben zwischen Kissen und Decken. Das Bett passte ihr schon lange nicht mehr. War viel zu groß geworden.

Die Tochter hatte sich einen Stuhl ans Bett gezogen, die Hand der Mutter genommen. Diese blau durchfurchte Pergamenthand zu halten, betrachtete sie als ihre Pflicht. Jetzt hatte sie eigentlich aufstehen wollen.

»Du kannst mich doch jetzt nicht alleine lassen …« Doch nun wieder dieser Satz! Den kannte die Tochter zur Genüge. Ihr ganzes Leben hatte er sie begleitet. Seit jener Zeit, als sie begann, eigene Wünsche zu formulieren. Eigene Wege zu wagen. Wurde immer wieder gesprochen. Als das junge Mädchen viel Lust hatte auf Kino, Theater, Treffen mit Freundinnen, Tanzen mit Freunden. Als der Vater noch lebte und immer wieder reisen musste. Aus geschäftlichen Gründen. Vielleicht auch nicht nur aus geschäftlichen …

»Du kannst mich doch jetzt nicht alleine lassen. Gerade jetzt, wo Papi wegfährt.« Das immer wiederkehrende, gefürchtete Stereotyp, wenn der Vater wieder mal die Koffer packte. Nicht ein einziges Mal war es ihr erspart worden.

Es spielte keine Rolle, ob die Tochter sich bereits verabredet hatte. Ob sie einen Film sehen wollte, den man nur an diesem Tag zeigte. Ob eine Freundin oder ein Freund Geburtstag feierte und sie eingeladen war.

»Du kannst mich doch jetzt nicht alleine lassen …« Eingekeilt zwischen Angst, Wut, Enttäuschung und vorzeitiger Resignation wagte die Tochter einen letzten Versuch, sich zu entziehen. Vergeblich. »Ach Gott, du kannst noch so oft in deinem Leben ins Kino gehen!« oder – mit jenem gekünstelt neckischen Unterton, den die Mutter so gut einzusetzen wusste – »Deine Freundin hat doch nächstes Jahr wieder Geburtstag!«

Wenn der Mann schon nicht da war, musste wenigstens die Tochter bleiben. Vorhanden sein. Greifbar. Verfügbar.

Irgendwann hatte die Tochter die nutzlosen Versuche aufgegeben. Hatte von sich aus alles abgesagt. Auf alles verzichtet, sobald der Vater eine Reise ankündigte. Den Triumph ihrer Niederlage hatte sie der Mutter nicht gegönnt. Und sich selbst die Enttäuschung ersparen wollen.

»Du kannst mich doch jetzt nicht alleine lassen« war auch später der ständige Begleiter. Als Männer verschiedenen Alters erschienen, die sich für die Tochter interessierten. Und – vor allem – für die sich die Tochter interessierte.

Zu dieser Zeit war der Vater, der sie manches Mal gerettet hatte vor den Launen der Mutter, zu dieser Zeit war er bereits tot. Nur noch Gesprächspartner für die Mutter. Weggesperrt in dunkle, kühle Tiefe. Ein williger, wehrloser Partner, der mit allem einverstanden war. Nicht mehr widersprechen konnte wie zu seinen Lebzeiten.

An jedem Mann im Leben der Tochter hatte die Mutter etwas auszusetzen gehabt. Zu jung. Zu alt. Zu schön. Zu nichtssagend. Nicht seriös genug. Humorlos und ohne Witz. Zu wenig Ehrgeiz. Karrieregeil. Ein Windhund. Ein Spießer. Ein Herzensbrecher. Ein Stoffel.

Der eine oder andere hatte der Tochter gefallen. Trotzdem. Auch wenn die Mutter kein gutes Haar an ihm ließ. Am Ende aber, wenn es drohte, ernst zu werden, lief es immer auf diesen einen Satz hinaus, der die Tür zur Welt krachend zuschlug.

Und nun wieder: »Du kannst mich doch jetzt nicht alleine lassen.«

Wilde Glut kochte tief innen auf. Breitete sich aus. Durchflutete den Körper. Stieg bis in den Kopf. Um ein böses Wort zu vermeiden, löste die Tochter die Hand der Mutter aus der ihren. Legte sie beherrscht behutsam auf die Decke und verließ ihren Posten am Sterbebett. Gefangen in einem Netz widerstreitender Gefühle ging sie zum Fenster. Schaute hinaus in die Welt. Mit dem Blick in das rotgelbbraun flammende Farbenspiel des Gartens zerfiel die heiße Glut in ihr allmählich zu Asche.

Blaubeermilchhimmel. Wie wunderschön da draußen alles war! Und sie hier in ihrem Käfig aus Verantwortung, Mitleid und Schwäche. Seit Tagen war sie die Gefangene, die nicht wagte sich zu rühren. Wie in Schreckstarre verharrte. Warten auf den Dieb, der seinen Besuch angekündigt hatte, aber ein unberechenbarer Gast war. Lässig schlenderte er herum. Zog immer engere Kreise. Aber den Zeitpunkt seines Besuchs ließ er in der Schwebe.

»Durst! Ich habe Durst!« Die heisere Stimme klang unerwartet kräftig.

»Ja, Mutti. Ich bringe dir gleich Tee.« Die Tochter machte keine Anstalten, das Zimmer zu verlassen. Blieb am Fenster stehen, rührte sich nicht, starrte in den vor ihr ausgebreiteten Herbst, schob eine Strähne ihres glatten, dunklen Haars zurück, die ihr ins Gesicht gefallen war.

»Ich habe Durst!« Fast gar nicht mehr heiser klang die Stimme.

»Ja, Mutti, ich geh ja schon.« Zögernd, wie in Zeitlupe, löste sich die Tochter von ihrem Aussichtsplatz und ging in die Küche. Füllte vorbereiteten Tee aus der Thermoskanne in die bereitstehende Schnabeltasse.

Als sie wieder am Bett stand, waren die Augen der Mutter geschlossen. Aber die Bettdecke hob und senkte sich noch. Der kleine Schreck der Tochter verflog gleich wieder.

»Hier, Mutti, dein Tee.«

Die Mutter bewegte sich, und wie ein Blitz schlug ihr Blick in die Augen der Tochter ein. So viel Blick ertrug die Tochter nicht. Sie wandte sich ab, wollte fliehen.

»Danke, mein Kind. Setz dich zu mir. Erzähl mir was.«

Widerwillig gehorsam ließ sich die Tochter auf der Bettkante nieder. Was, bitte, soll ich erzählen? Seit einer knappen Woche, um genau zu sein: seit fünf Tagen, habe ich die gemeinsame Wohnung nicht verlassen. Habe Urlaub genommen. Und die nötigen Lebensmittel vom Lieferservice des nahegelegenen Supermarkts schicken lassen. Was also gibt es zu erzählen?

»Eigentlich hätte ich gern eine eigene Wohnung gehabt.« Die Tochter wusste selbst nicht, wie ihr dieser Satz plötzlich in den Sinn gekommen war. Fast war es, als hätte eine andere ihn gesprochen.

Auch für die Mutter kamen die Worte überraschend, sie verstand nicht. Wollte auch gar nicht verstehen. Was fiel der Tochter ein, was sollte dieser Satz? Immer flogen ihr falsche Gedanken durch den Kopf, falsche Gedanken zur falschen Zeit. Sie, die Mutter, lag im Sterben, machte es nicht mehr lange, das wusste sie. Und das wusste auch die Tochter. Und da kam die mit so einem Satz.

»Na, demnächst wirst du ja deine eigene Wohnung haben!« Der Sarkasmus in dieser einfachen Feststellung der Mutter überrumpelte die Tochter, sie fand nicht sofort eine passende Entgegnung.

Deshalb nutzte die Mutter das Schweigen der Tochter: »Ich weiß nicht, worüber du dich beklagst. Du hast es doch gut gehabt hier bei mir. Brauchtest dich um nichts zu kümmern. Einen eigenen Haushalt führen, das hättest du doch gar nicht fertiggebracht. So chaotisch wie du bist.«

»Wie willst du das wissen, Mutti? Du hast es mich ja nicht mal probieren lassen.«

»Wie hättest du das denn alles vereinbaren wollen, Beruf und Haushalt und alles andere? Das wäre dir sehr schnell über den Kopf gewachsen, da bin ich sicher. Sei froh, dass du jemand hattest, der dir den Haushalt abgenommen hat.« Es war klar, wen die Mutter mit »jemand« meinte.

»Du kannst das überhaupt nicht beurteilen, Mutti. Ich hatte ja nie die Gelegenheit, es auszuprobieren. Mit Sicherheit hätte ich das geschafft, so wie Millionen Menschen das auch schaffen. Es muss sich ja nicht alles im Leben ums Putzen drehen, es muss ja nicht jeder Staubkrümel sofort beseitigt werden. Man muss nicht vom Fußboden essen, wenn es Tische gibt.«

So, die Tochter wurde also noch ironisch! Probte den Aufstand. Das war also der Dank dafür, dass sie jahrzehntelang die Wohnung in tadellosem Zustand gehalten, gesaugt und gebohnert, geputzt und gewienert, gewischt und gewaschen, genäht und gebügelt, gekocht und gebacken hatte. Zu nichts anderem mehr war sie gekommen. Aufgeopfert hatte sie sich, erst für Mann und Tochter, dann nur noch für die Tochter. Und die vergalt es ihr jetzt mit Ironie. Am Totenbett!

»Wenn ich mich nicht um alles gekümmert hätte«, aha, jetzt wurde diese Platte aufgelegt, »du und dein Vater, ihr wärt in Dreck und Chaos erstickt. Wer hat denn für Sauberkeit und Ordnung gesorgt, wer hat denn seine Hemden und deine Blusen gebügelt, eure Wäsche gewaschen, jeden Tag für euch gekocht, Geschirr gespült – ach, was hab ich nicht alles für euch getan. Und für mich auf alles verzichtet.«

Die Tochter war beeindruckt. Erstaunlich, welche Energie die Wut in der Mutter freisetzte. In den letzten Tagen hatte sie nur das Nötigste gesprochen, schwach und heiser die Stimme, apathisch in den Kissen versunken, die Augen meist geschlossen. Und nun diese Tiraden!

Ein prüfender Blick fiel auf die Mutter. War die Schwäche der letzten Tage, die Hinfälligkeit, nur Theater gewesen? Ging es ihr gar nicht so schlecht? Tat sie nur so, stellte sich krank und schwach wie so oft, wenn sie im Kampf gegen Mann und Tochter etwas erreichen wollte. Wenn Mann und Tochter ihr den Gehorsam verweigert, die getane Arbeit nicht genügend gewürdigt oder ihre Weltsicht nicht geteilt hatten. Dann hatte es Magenkrämpfe gegeben, Herzattacken, Nervenkrisen, Migräneanfälle, Fieberschübe – die natürlich die beiden Verbündeten zu verantworten hatten –, bis die Verstockten wieder auf Linie gebracht waren und die Einheit der Familie wieder hergestellt.

Die Mutter hatte also auf alles verzichtet. Auf was denn? Auch wenn es der Mutter schlecht ging, auch wenn es mit ihr zu Ende ging – das wollte die Tochter jetzt doch noch wissen:

»Auf was hast du denn verzichtet, Mutti? Du hast doch immer alles bekommen, was du haben wolltest. Papi hat dir doch jeden Wunsch erfüllt. Und immer hast du deinen Willen durchgesetzt.« Die Stimme der Tochter überschlug sich leicht vor Erregung. Ihre Hand nestelte an einem Knopf der Bluse.

»Wie kannst du so mit mir reden? Siehst du nicht, wie schwach ich bin? Ich werde bald sterben. Niemals nimmst du Rücksicht!« Auch die Stimme der Mutter hechelte jetzt vor Empörung.

Wieso niemals?!

»Und außerdem«, sprühte es weiter Protest aus den Kissen, bevor die Tochter dieses »Niemals« klären konnte, »ich hätte vielleicht auch gern was anderes gemacht. Du weißt, ich hatte früher, vor deiner Geburt, eine gute Stellung, mit viel Verantwortung. Ich hätte mir wieder Arbeit suchen können. Stattdessen habe ich Mann und Tochter von vorne bis hinten bedient. Und auf eine eigene Karriere, auf eigenes Geld verzichtet. Ich hätte vielleicht auch irgendwelche Kurse besuchen können, an der Uni oder an der Volkshochschule. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie langweilig es manchmal zu Hause war.«

»Das hättest du alles tun können, Mutti. Ich hab mich sowieso oft gefragt, warum du nicht wieder arbeiten gegangen bist, wenigstens halbtags, als ich in die Schule kam. Und abends zur Volkshochschule – das wäre doch überhaupt kein Problem gewesen.«

»Ach, Kind, du weißt ja gar nicht, wie müde ich oft war von der ganzen Hausarbeit. Du und dein Vater, ihr habt doch nur immer die frischen Sachen aus dem Schrank genommen und euch an den gedeckten Tisch gesetzt, ohne zu fragen, wie viel Arbeit das alles gemacht hat.«

Die Tochter hielt es nicht mehr aus am Bett. Sie sprang auf und ging erneut zum Fenster. Wieder flog eine dunkle Haarsträhne aus der Stirn. Die Tochter schaute hinaus in das farbensprühende Herbstspiel. Ein paar Wolken zogen träge über den Himmel, als befänden sie sich auf einem gemütlichen Spaziergang. Sehnsüchtig schaute die Tochter ihnen hinterher. Bewegung, Leben findet immer anderswo statt. Immer da, wo ich nicht bin.

»Und wenn ich nun geheiratet hätte? Dann hätte ich einen eigenen Haushalt führen müssen«, setzte die Tochter, immer noch aufgebracht, das Gespräch, das sie eigentlich beenden wollte, vom Fenster aus fort.

»Hast du aber nicht.«

»Weil du an jedem Mann, der sich für mich interessierte, was zu mäkeln hattest.«

»Deine Männer taugten doch alle nichts. Du hattest deinen Beruf, deine gute Stellung. Und mich. Was brauchtest du einen Mann?«

»Hättest du nicht gern Enkelkinder gehabt?«

»Ach, Kind, meine Liebe zu deinem Vater und zu dir war so groß, da wäre kaum was übrig geblieben für Enkelkinder.«

Mit einer heftigen Bewegung löste sich die Tochter vom Fenster. Was hatte sie da gesagt, die Mutter? Hatte sie »Liebe« gesagt? Hatte sie wirklich das Wort »Liebe« benutzt? Hielt sie die ständige wuselnde Fürsorge, die Bevormundung von Mann und Tochter, die verletzende, immer »wohlmeinende« Kritik an beiden für Liebe?

Nun stand sie wieder am Bett, wollte etwas auf diese Behauptung erwidern, aber die Mutter hatte inzwischen die Augen wieder geschlossen. Gespräch beendet.

Mit einer Mischung aus Ärger und Interesse betrachtete die Tochter das Gesicht der Mutter. Es war mit den Jahren klein geworden. Tief lagen die Augen in dunklen Höhlen, aber nur wenige Falten durchzogen die Pergamenthaut – lediglich zwei tiefe Furchen schnitten ein Trapez zwischen der spitzen Nase und den strichdünnen Lippen, ein paar weniger tiefe wellten sich auf der Stirn. Sie muss hübsch gewesen sein, dachte die Tochter, als junges Mädchen, junge Frau, ich kenne sie ja bewusst erst als Mittvierzigerin oder noch später, geboren hat sie mich, als sie vierundvierzig war. Als ich Kind war, hatten ihre Züge schon eine gewisse Schärfe, sie wirkte ständig angespannt, schien unter Strom zu stehen. Alles musste perfekt sein, das Urteil der Reihenhausnachbarn war unendlich wichtig. Und der Verwandten und Bekannten sowieso.

Plötzlich waren die Augen der Mutter wieder geöffnet. »Was schaust du mich so an?« Verhaltener Ärger schwang in der Frage.

Ohne sie zu beantworten, stellte die Tochter ihrerseits eine Frage: »Wolltest du gar nicht, dass ich glücklich bin, mit einem Mann, vielleicht auch mit Kindern?«

»Ich hatte nie den Eindruck, dass du unglücklich bist.«

»Nein, nicht direkt unglücklich, aber auch weit entfernt von glücklich. Hast du dir nie die Frage gestellt, es könnte mir etwas fehlen?«

»Etwas fehlen? Was sollte dir denn gefehlt haben? Wir haben doch ein schönes Leben gehabt. Ich hatte die gute Rente von Papi und du dein fürstliches Gehalt. Wir brauchten uns nicht einzuschränken, konnten uns viele Wünsche erfüllen, denk allein an den wunderbaren Schmuck, den du dir in all den Jahren zugelegt hast. Und Reisen haben wir gemacht, herrliche Reisen, wir beide zusammen haben viel von der Welt gesehen. Was sollte dir denn gefehlt haben?«

»Die Reisen hast du gemacht, Mutti. Mich hast du mitgenommen.«

»Was soll das denn heißen?«

»Du hast bestimmt, wohin die Reise geht. Immer. Ohne mich zu fragen, ob mir das von dir gewählte Ziel zusagt. Ob ich vielleicht ganz woandershin fahren wollte.«

»Ich habe gedacht, du wärst einverstanden, denn du hast nie widersprochen, wenn ich unseren Urlaub geplant habe.«

»Das wäre ja wohl auch zwecklos gewesen.«

»Wieso zwecklos?«

»Weil«, erklärte die Tochter jetzt mit Nachdruck, »ganz egal, um was es ging, immer alles nach deiner Nase ging. Dein ganzes Leben lang hast du bestimmt, was andere tun oder lassen sollten. Vaters und meine Wünsche haben dich nie interessiert. Nein, viel schlimmer, du hast gar nicht für möglich gehalten, dass wir eigene Wünsche haben könnten.«

Was sagt sie da?! Was fällt ihr ein? Was mutet sie mir zu? Mehr als fünfzig Jahre habe ich sie umsorgt, war von früh bis spät für sie da, alle meine Gedanken haben sich um sie gedreht, sie war mein Leben. Und nun muss ich mir diese Vorwürfe anhören, jetzt, am Ende meines Lebens! Das ist also der Dank für alles, was ich für sie getan habe!

Das lange Schweigen der Mutter irritierte die Tochter, weckte Erinnerungen. Diese Pausen kannte sie. Sie verhießen nichts Gutes. Gleich würde …

»Schämst du dich nicht!« Obwohl sie es erwartet hatte, zuckte die Tochter zusammen, als die Stimme der Mutter sie scharf und erstaunlich laut überfiel. »Mich so zu behandeln! Was bist du für ein undankbares Geschöpf! Wenn ich das geahnt hätte …«

Hier brach die Stimme plötzlich ab, weil die Mutter von einem der heftigen Hustenanfälle geschüttelt wurde, die sie in regelmäßigen Abständen packten. Wie jedes Mal drohte sie zu ersticken. Die Tochter half ihr, sich aufzurichten, und musste dann hilflos mit ansehen, wie dieses metallische Gebell den dürftigen Körper fast zerriss.

Als der Anfall endlich vorüber war, sank die Mutter ermattet in die Kissen zurück und fiel augenblicklich in einen tiefen Erschöpfungsschlaf.

ZWEITES KAPITEL

Lass uns noch was trinken gehen!« Lachend hakt sich Inge bei der Freundin unter. »Noch keine Lust auf zu Hause. Bei dieser Affenhitze ist es schrecklich in meinem Zimmer unterm Dach.«