Maja - die im Rollstuhl - Renate Baum - E-Book

Maja - die im Rollstuhl E-Book

Renate Baum

0,0

Beschreibung

Maja ist fünfzehn und ein hübsches Mädchen. Aber sie sitzt im Rollstuhl. Nach dem Umzug in eine andere Stadt kommt sie in eine neue Klasse. Dort findet sie schnell Freunde, aber auch wütende Ablehnung durch einen Mitschüler. Das kümmert Maja wenig. Sie ist selbstbewusst und unerschrocken. Wird es ihr gelingen, auch den aggressiven Mitschüler als Freund zu gewinnen?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 164

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Inhaltsverzeichnis

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

Kapitel

1.

Als die Tür sich öffnet, passiert erst mal gar nichts. Nur ein leises, hohes Sirren. Wie von einem wildgewordenen Insekt.

Und dann ist sie da. Ein Märchenbuchgesicht, denkt Markus. Komisch. Wieso fällt ihm ausgerechnet das Märchenbuch aus seinen Kindertagen ein?

Braune Locken. Dunkelblaue Augen. Die Wangen leicht gerötet ... Ja, jetzt weiß Markus, was ihn an das Märchenbuch erinnert. Genau so hat Rosenrot auf dem ganzseitigen Bild ausgesehen. Neben ihrer Schwester Schneeweißchen.

Nur - Rosenrot saß nicht im Rollstuhl.

„So, könnt ihr bitte mal eure wichtigen Diskussionen bis zur nächsten Pause verschieben“, beginnt Frau Siegert, die Klassenlehrerin. Klatscht in die Hände. Ein bewährtes Mittel, um sich Gehör zu verschaffen. „Das ist Maja Simon, eure neue Mitschülerin. Sie ist zwar ziemlich selbständig. Trotzdem wird sie ab und zu Hilfe brauchen, und es wäre schön, wenn ihr sie dann unterstützen könntet.“

Zu Maja gewandt, fährt Frau Siegert fort: „Ich denke, du kannst dich gleich hier vorne neben Karen setzen, Maja.“

Aber Maja sitzt ja schon. Als Frau Siegert ihren Irrtum bemerkt, wird sie ein bisschen rot. Lächelt verlegen und sagt: „Na ja, ich meine, du kannst hier den Platz neben Karen nehmen.“

Jetzt lächelt auch Maja. Aber gar nicht verlegen. Ganz offen. Fröhlich.

„Ja, ich glaube, das wird gehen“, sagt sie. Manövriert den Rollstuhl geschickt zum Tisch, bis sie ebenso wie Karen direkt davor sitzt. Jetzt fällt sie fast gar nicht mehr auf zwischen den anderen. Ist einfach ein Mädchen auf einem besonderen Stuhl.

2.

In der Pause haben es alle eilig hinauszukommen auf den Hof. Maja bemerkt sehr wohl, dass die meisten sie im Vorübergehen flüchtig mustern. Aber wenn sie aufschaut, wenden sich die neugierigen Augen rasch ab. Das kennt sie zur Genüge. Die meisten Menschen reagieren erst einmal so. Erst einmal. Wenn sie Maja kennen, ändert sich das.

Karen bleibt neben Maja sitzen.

„Hallo, Maja. Ich bin Karen. Das weißt du ja schon.“ Karen reicht der Neuen zur Begrüßung die Hand. Die zeigt wieder ihr offenes Lächeln. Ihr Händedruck ist warm und fest.

Und dann erfährt Karen, dass Maja erst seit kurzem in dieser Stadt lebt. Seit den großen Ferien. Ihr Vater hat eine Stellung als Wissenschaftler in einem Forschungsinstitut angenommen. Maja und ihre Mutter haben erst protestiert. Wollten nicht umziehen. Wollten nicht herausgerissen werden aus der gewohnten Umgebung: Maja aus der Schule, die Mutter aus ihrem beruflichen Umfeld und beide aus einem festen Freundeskreis. Natürlich vermisst Maja die Freunde. Die ungezwungenen, fröhlichen Treffen am Nachmittag. Die gemeinsamen Unternehmungen am Wochenende. „Ich wusste ja nicht, was mich hier erwartet. Vielleicht findet die Klasse eine im Rollstuhl blöd. Oder weiß nicht damit umzugehen – wie so viele Leute. Die schnell weggucken, wenn sie mich sehen. Oder die gleich das große Mitleid in die Augen bekommen. Zum Glück hab ich noch Anna. Meine beste Freundin dort. Jetzt können wir natürlich nur telefonieren oder simsen. Aber sie ist immer für mich da – und ich für sie.“

Karen interessiert noch etwas. Sie ist unsicher, soll sie Maja fragen oder gehört sich das nicht. Ihre Mutter würde das vielleicht für ein bisschen „taktlos“ halten. Karen möchte es trotzdem wissen:

„Darf ich dich mal was fragen, Maja?“

„Ja. Klar.“

„Wie ist denn das passiert? Ich meine, das mit dem Rollstuhl.“

„Ich bin auf die Straße gelaufen, ohne nach links oder rechts zu sehen. Drüben auf der anderen Seite stand eine Freundin, der ich unbedingt was sagen wollte. Und dann kam da dieses Auto.“

Maja versucht ein Lächeln. Aber diesmal gerät es ein wenig schief.

„Und wann ist das passiert?“

„Vor gut einem Jahr.“

„Hat es sehr weh getan?“

„Nein, gar nicht. Ich habe gar nichts mitbekommen. Ich war ohnmächtig. Als ich aufgewacht bin, war ich schon im Krankenhaus.“

„Und wirst du nie wieder laufen können?“

„Nein, da müsste schon ein Wunder geschehen.“

„Du bist gar nicht traurig. Macht es dir nichts aus? Nicht laufen zu können, nicht schwimmen, nicht tanzen, nicht Schlittschuh laufen, na, was weiß ich, nichts eben.“

Maja sagt eine ganze Weile gar nichts. Schaut an Karen vorbei aus dem Fenster. Dann sieht sie Karen fest in die Augen.

„Doch, es macht mir was aus. Sehr viel sogar. Ich hab mir alles vermasselt. Bis an mein Lebensende. Aber soll ich jetzt dauernd dasitzen und heulen und mein Schicksal oder besser: meine Dummheit verfluchen? Ich muss doch versuchen, damit fertig zu werden. Ich hatte so viele Pläne und die meisten will ich immer noch verwirklichen. Trotzdem. Aber dafür muss ich mich anstrengen. Mehr als andere. Da bleibt keine Zeit zum Traurigsein.“

„Was hast du denn für Pläne?“

„Na, Pläne wie ihr alle wahrscheinlich auch – Abi machen, studieren, einen tollen Job und eine eigene Familie haben. Nur dass das für mich alles ein bisschen schwieriger sein wird als für euch. Aber ich weiß, ich werde es schaffen. Ganz bestimmt.“

Karen starrt auf die beschriebenen Blätter auf dem Tisch, ohne sie zu sehen. Nach einer Weile hebt sie den Blick und sagt:

„Ich wäre gern deine Freundin, Maja. Meinst du, das ist möglich?“

„Aber ja!“ Man hört Majas Stimme die Freude an. „Ja, natürlich. Das wäre schön. – Aber jetzt zeig mir bitte erst mal, wo die Toiletten sind.“

3.

„’ne Behinderte in unserer Klasse! Was will die hier?“ Sven stopft wütend die Fäuste in die Taschen seiner Jeansjacke. „So was hat uns grade noch gefehlt. So was gehört woanders hin. In ein Heim oder ’ne Behindertenschule.“

„Nicht so laut!“, zischt Torsten. „Die Siegert hat Aufsicht. Sie steht gleich hinter uns. Die kann dich hören.“

„Na, wenn schon. Soll sie ruhig. Is’ mir doch egal!“

Sven reckt den Kopf. Die hellen Haarstoppeln glitzern in der Sonne.

„Na ja, die wird sowieso nicht lange bleiben. Das schafft die nie. Hier das Abi zu machen. Im Rollstuhl.“

„Warum denn nicht?“, wagt Torsten zu widersprechen. „Die ist doch nicht blöd. Sie sitzt doch nur im Rollstuhl.“

„Wirst schon sehen, was passiert. Die wird hier nicht alt.“

Träge schlendern die beiden zum Schultor zurück, wo sich die Jüngeren schon drängeln. Die Pause ist zu Ende.

Auf dem Gang begegnen sie Karen und Maja. Die wollen gerade in die Klasse. Maja lenkt ihren Rollstuhl langsam in die Kurve. Da prescht Sven vor und tritt kurz, aber heftig gegen das Rad des Stuhls. Maja zuckt zusammen und blickt erstaunt in Svens Gesicht. Wut sieht sie darin. Und Hass. Sie selbst ist jetzt ganz ruhig. „Warum tust du das?“, fragt sie den Jungen fast freundlich. Sie versteht nicht, was er gegen sie hat. Er kennt sie doch noch gar nicht.

„Weil du nicht hierher gehörst! Behinderte haben hier nichts zu suchen!“

„Und warum nicht?“

Brüsk wendet sich Sven ab. Und ohne noch ein Wort zu sagen, geht er zu seinem Platz.

„Kümmer dich gar nicht um den!“ sagt Karen. Sie hat die Szene mit weit geöffneten Augen verfolgt. „Der Sven ist der Chaot der Klasse. Immer muss er stänkern. Jetzt hat er offenbar in dir ein neues Opfer gefunden. Ich weiß nicht, warum der so ist. Er lässt keinen an sich ran.“

Noch jemand hat beobachtet, was da gerade abgelaufen ist. Markus geht auf Maja zu. Reicht ihr die Hand:

„Hallo Maja, ich bin Markus. Schön, dass du zu uns gekommen bist. Und wenn du Hilfe brauchst,“ – er deutet in Svens Richtung – „dann sag mir Bescheid.“

„Danke, das ist nett von dir, Markus. Aber ich denke, ich werde allein mit diesem Problemchen fertig. Es ist ja nicht das erste Mal, dass ich solche Sprüche zu hören bekomme. Sollte es allerdings über Sprüche hinausgehen, werde ich gern auf dein Angebot zurückkommen.“ Maja schaut zu Markus hoch. Auf ihrem Gesicht erscheint das unwiderstehliche Lächeln.

Markus kann sich gar nicht von diesem „Rosenrot“-Gesicht lösen. Wie angewurzelt steht er vor dem Mädchen im Rollstuhl. Fühlt, wie ihm Röte in die Wangen steigt. Peinlich ist das. Aber es ist ihm egal.

„Markus, lässt du jetzt bitte Maja mal an ihren Platz fahren.“ Karens Stimme holt Markus aus seinem Märchen zurück.

„Oh, Verzeihung - natürlich!“ Markus muss lachen. Und Maja und Karen stimmen in das Lachen ein. „Bis später dann!“, sagt Markus noch und gibt den Weg frei. „Ja, bis später!“

4.

Als Sven nach Hause kommt, empfängt ihn seine Mutter. Mit deutlichem Ärger in der Stimme.

„Wo bleibst du denn, Sven? Ich warte schon seit einer Stunde auf dich. Du musst auf Lisa aufpassen. Ich will noch ein paar Sachen einkaufen.“

„Ich bin ein bisschen rumgelaufen. Einfach so. Kann ich nicht einkaufen gehen?“

„Nein, ich will nach einer warmen Jacke für Lisa gucken. Das muss ich schon selber machen. Und du könntest auch mal wieder einen neuen Pullover brauchen. Vielleicht gibt’s ja was im Angebot. Viel Geld hab ich nicht, dein Vater hat den Unterhalt noch nicht überwiesen. Aber vielleicht finde ich ja was Preiswertes.“

„Und ich soll wieder die ganze Zeit bei Lisa bleiben?“, fragt Sven ungehalten.

„Ja, natürlich. Du weißt doch, dass sie nicht allein bleiben kann.“

Ja, natürlich. Das „Mongölchen“, wie Vater sie bei seinen seltenen Besuchen zu Hause nennt. Das „Mongölchen“ darf nicht allein bleiben. Es könnte ja sonst was passieren. Wer weiß, was es anstellt. Und er, Sven, darf den Aufpasser spielen. Das Pfannkuchengesicht mit den Glupschaugen hüten und sich das raue Gestammel anhören! Wenn er doch noch eine Schwester hätte. Eine normale. Dann könnte die sich um Lisa kümmern.

Aus dem Treffen mit den Kumpeln aus dem Wohnblock wird heute also nichts. Und ob die Mutter ihn am Abend noch mal ziehen lässt, ist mehr als fraglich. Nicht in der Woche, wenn Schule ist. Am Wochenende nimmt sie es nicht so genau. Aber wenn er früh zur Schule muss, versteht sie keinen Spaß. Er soll ein gutes Abi machen. Und später mal studieren. Bessere Chancen haben als sie und der Vater. Als ob man heute mit einem Studium bessere Chancen hätte! Die Mutter ist davon überzeugt. Also heißt es, zeitig ins Bett. Damit man morgens ausgeschlafen und frisch ist. Keine Diskussion!

Die Mutter ahnt nicht, dass er heimlich nachts noch fernsieht. Mit Ohrstöpseln natürlich. Manchmal gibt es Filme, da wäre die Mutter sicher entsetzt, wenn sie wüsste, dass er sich so was anguckt. Aber die Mutter merkt nichts davon. Geht selbst früh ins Bett. Sie ist abends immer ganz fertig, sagt sie, von der Beschäftigung mit Lisa. Sie möchte so gern, dass Lisa trotz allem was lernt. Hat sich deswegen einen Halbtagsjob gesucht. Mittags holt sie Lisa aus der Einrichtung ab, in die sie sie am Morgen gebracht hat. Und dann wird zu Hause das ganze Förderprogramm durchgezogen, das sich die Mutter von Spezialisten hat geben lassen. Vergebliche Liebesmüh’, denkt Sven.

Das „Mongölchen“, da ist er sich sicher, war auch der Grund dafür, dass der Vater ausgezogen ist. Er hat es nicht mehr ertragen, dass die Mutter von früh bis spät nur mit Lisa beschäftigt war. Nur von Lisa geredet hat. Immer drehte sich alles um diese behinderte Schwester. Was sie für Fortschritte gemacht hat. Was sie immer noch nicht kann. Wie lieb und anhänglich sie ist. Und so weiter und so weiter. Der Vater hat der Mutter die Schuld gegeben für diese Behinderung. Gespräche sind gelaufen zwischen den Eltern. Die hat Sven zufällig mitbekommen. Obwohl das ja Quatsch ist. Keiner ist schuld daran. Das weiß Sven. Aber der Vater nicht. Der ist zwar ein guter Kumpel. Aber so sehr weit her ist es nicht mit seiner Bildung. Fehlen tut er Sven trotzdem.

Mit einem Seufzer öffnet Sven die Tür zu Lisas Zimmer. „Swänni, Swänni!“ Mit breitem Strahlen und ausgebreiteten Armen stürzt Lisa dem Bruder entgegen.

5.

„Na, wie ist es gelaufen am ersten Tag?“, fragt Majas Mutter die Tochter, als der Rollstuhl im Kofferraum verstaut ist und sie beide im Auto sitzen.

„Ganz gut“, antwortet Maja.

„Das ist alles?“, hakt die Mutter nach. Und als

Maja schweigt: „Hat es Probleme gegeben?“

„Nein, nein. Ganz im Gegenteil. Ich habe schon eine Freundin gefunden, Karen heißt sie. Und vielleicht auch einen Freund.“

„Das ist doch wunderbar. Warum schaust du dann so unzufrieden aus?“

Warum schaust du dann so unzufrieden aus! Seit dem Unfall beobachtet die Mutter sie ständig. Nichts entgeht ihr. Und wenn sie mal nicht lacht, in Gedanken versunken ist, gleich fragt die Mutter: Warum schaust du so unzufrieden aus? Oder: Was hast du? Ist was nicht in Ordnung? Sie meint es gut. Das weiß Maja. Die Mutter hat einfach Angst, dass Maja in Traurigkeit versinken könnte. Aber es ist schrecklich, dauernd beobachtet zu werden. Immer ein fröhliches Gesicht zeigen zu müssen. Auch wenn einem gar nicht danach zumute ist.

„Es muss doch irgendwas vorgefallen sein, Maja.“ Maja hört die Ungeduld in der Stimme der Mutter. „Nun sag schon, was ist passiert?“

„Nichts Aufregendes. Ein Junge hat gemeint, ich gehöre nicht in diese Schule. Er mag wohl keine Behinderten.“ Den Tritt gegen den Rollstuhl erwähnt Maja nicht.

„Das ist ja unglaublich“, regt sich die Mutter auf. „Und das an einem Gymnasium. Man sollte meinen, dass da die Leute toleranter sind. Was hat denn eure Klassenlehrerin dazu gesagt?“

„Die hat das gar nicht mitgekriegt. Es war in der Pause. Und es ist auch nicht weiter wichtig. Ich hab dir ja gesagt: Ich habe schon eine Freundin. Und vielleicht auch einen Freund. Das ist wichtig.“

„Ich denke, ich werde trotzdem mit eurer Klassenlehrerin sprechen. Sie soll dafür sorgen, dass so etwas nicht mehr vorkommt. Wie heißt denn der Junge?“

„Das weiß ich nicht“, lügt Maja. „Und komm bitte nicht auf die Idee, in der Schule zu erscheinen, Mama. Ich werde allein damit fertig. Du musst mich nicht behandeln wie ein Kleinkind, nur weil ich im Rollstuhl sitze.“

„Ich will dir doch nur helfen, Maja-Mädchen!“

Maja hat die Mutter verletzt. Es tut ihr Leid. Aber sie kann nicht anders. Das ständige Behüten, Bemuttern nervt sie. Ja, sie sitzt im Rollstuhl. Ja, sie braucht manchmal Hilfe. Aber sonst hat sich doch nichts geändert. Sie ist ein ganz normales Mädchen. So wie alle anderen Fünfzehnjährigen. Sie hat ihre eigenen Gedanken und Meinungen und Träume. Ihre eigene Vorstellung vom Leben. Und sie ist durchaus in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen.

Vor dem Unfall hat ihr doch die Mutter in vielen Dingen freie Hand gelassen. Aber danach hat sie sich verändert. Ist zu einer richtigen Glucke geworden. Zum Glück bremst sie der Vater oft, wenn die Tochter wieder einmal unter ihrer Fürsorge zu ersticken droht.

„Ja, Mama, ich weiß, du meinst es gut“, lenkt Maja ein. „Aber ich kann viele Dinge selbst regeln. Ich bin kein kleines Kind mehr. Und ich bin nicht so hilflos, wie du denkst. Mit diesem Jungen werde ich schon allein fertig.“

6.

Als er die Wohnung betritt, ist Markus sofort klar: niemand zu Hause. Die Stille, die ihn empfängt, ist ungewohnt. Im Allgemeinen herrscht hier so gut wie nie Ruhe. Frank, zwei Jahre älter als er, dröhnt sich zu mit Musik oder spielt geräuschvoll am Computer. Sarah, nur ein Jahr jünger, hängt am Handy oder vor dem Fernseher. Die Mutter ist zu dieser Zeit nie zu Hause. Sie arbeitet in einer Computer-Firma. 25 Stunden die Woche. Aber vor vier Uhr nachmittags kommt sie nie nach Hause. Eigentlich müsste der Vater daheim sein. Er hat eine leitende Stellung in einem kleinen Familien-Unternehmen gehabt. Vor vier Monaten hat der Inhaber der Firma den Betrieb verkauft und sich zur Ruhe gesetzt. Der neue Inhaber hat eigene Mitarbeiter mitgebracht, und so ist der Vater arbeitslos geworden. Wahrscheinlich ist er unterwegs. Wieder einmal zu einem Vorstellungsgespräch.

In seinem Zimmer lässt sich Markus auf sein Bett fallen. Eine ganze Weile liegt er da, ohne sich zu rühren. Starrt an die Decke, ohne etwas zu sehen. Seine Gedanken rennen ungeordnet durcheinander. Schlagen Purzelbäume. Obwohl er ganz ruhig auf dem Bett liegt, klopft sein Herz wie wild. Was bringt ihn nur so aus der Fassung?

Was ist denn dran an diesem neuen Mädchen, der Maja? Hübsch ist sie – ja. Aber Karen mit ihren langen blonden Haaren ist auch hübsch. Und Vanessa mit ihrem roten Feuerkopf auch. Eigentlich sind alle Mädchen aus der Klasse ganz ansehnlich. Und sie sitzen nicht im Rollstuhl. Ein Rollstuhl macht alles so kompliziert.

Was ist bloß dran an diesem neuen Mädchen?

Markus steht auf und geht zum Bücherregal. Das nimmt, prall gefüllt, fast eine ganze Wand ein. Über ordentlich aufgestellten Bänden liegen weitere Bücher und Zeitschriften kreuz und quer auf den Borden. Irgendwo muss doch noch das alte Märchenbuch stehen. Das hat er jetzt davon, dass er die Bücher immer ordnen wollte und es nie getan hat! Die Sucherei wird dauern. Das Buch hatte einen roten Rücken. Daran kann er sich noch erinnern. Aber andere Bücher haben auch rote Rücken.

Nach einer ganzen Weile hält er das Märchenbuch endlich in den Händen. „Schneeweißchen und Rosenrot“ – Seite 77. Er blättert. Hat den Anfang des Märchens gefunden. Blättert weiter – und da ist es, das ganzseitige Bild mit den beiden Mädchen. Schneeweißchen mit blonden und Rosenrot mit braunen Locken. Ja, tatsächlich. Ein bisschen ähnlich sieht Maja dem Mädchen Rosenrot schon. Aber nur ein bisschen. Längst nicht so sehr, wie er es sich vorgestellt hat. Majas Gesicht ist viel schmaler. Nicht so pausbäckig. Und so einen Kussmund wie das Mädchen auf dem Bild hat sie auch nicht. Eher so einen breiten wie Julia Roberts, die Schauspielerin.

Warum nur ist ihm trotzdem gleich das Märchenbuch in den Sinn gekommen, als er Maja gesehen hat? Markus stellt das Buch zurück ins Regal und legt sich wieder auf sein Bett. Schließt die Augen. Sieht Maja ganz klar vor sich. Aber je mehr er sich auf das Bild konzentriert, desto weiter entfernt es sich von ihm. Wird unscharf bis zur Unkenntlichkeit.

Dass sich die Bilder immer so schnell verflüchtigen! Wenn man sie doch halten könnte. In einem Winkel gleich hinter der Stirn aufbewahren. Und dann jederzeit wieder aus dem Versteck hervorholen! Wie Wäsche aus dem Schrank. Die liegt immer da. Griffbereit. Aber Majas Bild ist nun ganz verschwunden. Wann es zu ihm zurückkehren wird, wer weiß das schon? Eigenwillig hält es sich verborgen. Und da hilft auch nicht, dass Markus es mit aller Kraft zurückholen will.

„Ist jemand zu Hause?“ Die Stimme des Vaters aus dem Flur. Ausgerechnet jetzt.

7.

Auf dem Weg zum „Hexenhäuschen“ der Großmutter ist Karen tief in Gedanken versunken. Weshalb hat sie Svens Pöbelei gegen Maja einfach geschehen lassen? Sie hat daneben gestanden und war entsetzt. Hat aber nicht eingegriffen. Sven nicht angebrüllt oder wenigstens zurechtgewiesen. Tatenlos hat sie zugesehen, wie ein Mädchen im Rollstuhl, das gerade ihre Freundin geworden war, attackiert wurde. Was ist von ihr als Freundin zu halten? Wenn sie bei der ersten kritischen Situation versagt. Dabei hätte sie überhaupt nichts riskiert. Geschlagen hätte Sven sie garantiert nicht. Höchstens ein paar dumme Sprüche abgelassen.

Aber alles kam so plötzlich. So völlig unerwartet. Sie war wie gelähmt gewesen. Mit einem Angriff hatte sie überhaupt nicht gerechnet.

Trotzdem – das ist keine Entschuldigung. Markus, der viel weiter weg gestanden und den Zwischenfall nur aus der Ferne und wahrscheinlich gar nicht von Anfang an verfolgt hat, Markus ist gleich zu Maja gekommen. Hat seine Hilfe angeboten. Er hat sofort reagiert.

Und ich? Hinterher, als alles vorbei war, habe ich auch noch versucht, Svens Attacke zu erklären.